12 Wir brauchen ein neues Ethos
Chorafas-1974 13174-190-203
Moralische Verantwortung
Jahrtausende haben Moses' Zehn Gebote ihren Dienst getan, wer aber soll den neuen Verhaltenskodex schaffen, der der Massengesellschaft entspricht, in der wir heute leben? In der Industriegesellschaft wachsen ständig neue Wünsche und Bedürfnisse nach, wie die neun Köpfe der Hydra. Die Massenmedien haben gesellschaftliche Leitbilder geschaffen, die Energie, Durchsetzungsvermögen, Leistungsdrang, kurz den Erfolgsmenschen preisen, aber dahinter stehen keine sittlichen Grundsätze. Diese Wertmaßstäbe zu schaffen ist eine ebenso mühsame wie schwierige und dringende Aufgabe. Vor allem aber ist sie ungemein komplex, von einer noch nie dagewesenen Größenordnung.
Ein »freier« Geist, der keine Grenzen und Schranken beachtet, handelt nach seinen Impulsen; nach Eingebungen, die er aus der Gesamtheit der Ideen innerhalb des Rahmens seiner Welt auswählt. Ein »unfreier« Geist hingegen beachtet sowohl die von Sitte und Recht gezogenen Grenzen als auch die Maßstäbe, die er selbst für sein Denken und Handeln entwickelt hat. Dieses selektive Vorgehen wird durch Erfahrung verstärkt.
Überlegtes Verhalten heißt, daß der Betreffende, ehe er einen Entschluß faßt, bedenkt, was er selbst oder jemand anders in einem vergleichbaren Fall getan oder als geeignet empfohlen hat, und daß er danach handelt. Ein ethisches Richtmaß kann, wie Rudolf Steiner sagt, nicht wie ein Naturgesetz entdeckt, sondern es muß geschaffen werden. Erst dann kann es zum Gegenstand der Erkenntnis werden. Allgemeine ethische Leitlinien liefern Sitten, Gesetze und Gebote.
Gerade weil die Technologie unsere Welt so rasch vorantreibt, verlangen die moralischen und rechtlichen Gesichtspunkte ein gründlicheres Nachdenken als in jeder früheren soziologischen Struktur. Wir können diese Pflicht nicht mit dem Argument abtun, daß es Dringenderes zu tun gibt; die Grundprobleme, von denen Freiheit und Würde des Menschen abhängen, müssen jetzt gelöst werden. Um nur ein Beispiel zu nennen, die ethischen Aspekte der modernen Technik sind selbst in wissenschaftlichen Kreisen noch nicht ins volle Bewußtsein getreten.
Dr. Louis Fieser, der Erfinder des Napalms, erklärte kühl: »Ich habe kein Recht, die moralische Seite von Napalm zu beurteilen, nur weil ich es erfunden habe.« Ein Forscher, so argumentierte er, könne nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was andere Leute mit seiner Erfindung anfangen. »Man weiß doch nicht, was kommt. Ich arbeitete an einem technischen Problem, das als dringend galt. Ich würde es wieder tun, wenn es zur Verteidigung meines Landes notwendig ist.«
Wie unzuverlässig die Voraussagen von Wissenschaftlern über die Nebenwirkungen technischer Erfindungen und wie schwach die kulturellen oder institutionellen Sicherungen in diesem Fall entwickelt sind, zeigt sich nirgends deutlicher als an den Problemen des Persönlichkeitsschutzes, die wir im vorhergehenden Kapitel erörtert haben. Neue ethische Werte müßten eine Explosion der Informationstechnik verhüten, bevor diese die menschliche Persönlichkeit beeinträchtigt. Wissenschaftler sind ebenso wie jeder Sterbliche menschlichen Schwächen und Denkfehlern ausgesetzt. Ihr Ansehen beruht auf der Genauigkeit ihrer Arbeit und der Tradition der Logik, die ihr Denken bestimmt; das Problem liegt darin, daß die neue Informationstechnik der Wissenschaft Instrumente und Medien zur Verfügung gestellt hat, die, selbst bei normalem Gebrauch, zu einer öffentlichen Gefahr werden können.
Die Ethik erfüllt uns mit Skepsis, weil sie so oft nichts bewirkt, die Wissenschaft mit Bewunderung wegen ihrer Erfolge. Aber auch die Ethik besitzt eine Arbeitsmethodik, die eine ebenso positive Analyse verdient wie die Wissenschaft. Dies ist bisher noch nicht richtig erkannt worden; die Bücher, die sich mit der Ethik beschäftigen, konzentrieren sich zumeist auf die ungelösten Probleme, die Gründe, warum sie dem Menschen nicht so zwingend einleuchtet wie die Wissenschaft, auf ihren Mangel an Einheitlichkeit, ihre sogenannte Relativität, auf die Konflikte, die sie nicht zu lösen vermag, und darauf, daß sie ohne Verbindung mit der Religion nichts ausrichte.
Nur selten wird heute die offenkundige Tatsache anerkannt, daß eine menschliche Gesellschaft ohne geregelte Ordnung, Produkt eines bestimmten Ethos, gar nicht existieren könnte und daß die ethische Komponente den Menschen über die Natur erhebt und es ihm damit überhaupt erst möglich macht, geistige Schöpfungen wie die Wissenschaft hervorzubringen. In unserer Kultur ist die Wissenschaft der Beweis für den Besitz von Wissen, und der Fortschritt der Wissenschaft erweist sich an der Entdeckung neuer und der Neuinterpretation alter Wahrheiten. Diese Entdeckungen müssen sittlichen Richtwerten und Grenznormen entsprechen.
Das Fehlen präziser sittlicher Maßstäbe zur Bewertung der raschen Entwicklung, welche die Menschheit nimmt, hätte man vor einer Generation vielleicht noch in Kauf nehmen können. Wenn damals eine Entdeckung gemacht wurde, konnte man damit rechnen, daß die Entwicklung so langsam
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vorangehen werde, daß das Gleichgewicht nicht gestört wurde. Inzwischen aber hat sich das Tempo ungeheuer beschleunigt, und wir stehen, nicht ohne ein gewisses Unbehagen, auf der Schwelle einer neuen Ära. Das Unbekannte enthüllt sich rasch, aber wir wissen nicht, wie wir es ordnen sollen.
Die Entscheidungen, die wir treffen müssen, bevor wir die Türen aufstoßen, lassen sich in dem Satz zusammenfassen, daß die menschlichen Leistungen in Wissenschaft und Technik uns nichts Positives einbringen, wenn wir uns nicht mit den daraus entstehenden Folgen beschäftigen. Dies zu unterlassen, würde heißen, daß wir eigentlich nicht die notwendige Erfahrung besitzen, die der Weg in die Zukunft verlangt. Vor einem Jahrzehnt glaubte man noch, das ernsteste soziale Problem sei der Wandel der materiellen Lebensbedingungen, die scheinbare Verdrängung des Menschen durch Maschinen und Automaten. In Wahrheit aber betreffen die schwierigsten Fragen für die Gesellschaft biologische Probleme, die Umwelt des Menschen und das Verständnis der psychischen Prozesse.
Kosten und Nutzen
Erst in letzter Zeit wird sich die Wissenschaft bewußt, daß sie die moralische Verantwortung für ihre Arbeit auf sich nehmen muß. 1970, nach einem Vierteljahrhundert gewaltigen Fortschritts in der Forschung, schlössen sich fünfundzwanzig Wissenschaftler, unter ihnen fünf Nobelpreisträger, zu einer Vereinigung zusammen, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Bewußtsein der Wissenschaftler, namentlich der Biologen, für die politischen und sozialen Auswirkungen ihrer Arbeit zu schärfen. Dieser »Council for Biology in Human Affairs«, von einer so namhaften Organisation wie dem Salk Institute getragen, verdankt sein Entstehen der Erkenntnis, daß sich in den letzten Jahren das Schwergewicht in der wissenschaftlichen Forschung von der Physik zur Biologie verlagert, was sich unmittelbar auf Leben und Sozialverhalten des Menschen auswirkt.
Die Schaffung neuer ethischer Wertmaßstäbe muß Menschen anvertraut werden, die in dieser Arbeit eine Lebensaufgabe sehen. Der »Council of Biology« in den USA und das »Institut de la Vie« in Frankreich haben sich zum Ziel gesetzt, bei der Analyse einiger wichtiger soziobiologischer Probleme unsere Zeit wie Bevölkerungskontrolle, Drogenabhängigkeit, biologische Kriegführung und genetische Regulierung mitzuwirken, um zu verhüten, daß sie eine krisenhafte Entwicklung nehmen. Die beiden genannten und ähnliche Organisationen planen, diese Probleme durch einige der größten Wissenschaftler der Gegenwart klären und ein Aktionsprogramm entwerfen zu lassen. Wie wird ein solches Rezept die Zukunft bestimmen?
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Die Kosten-Nutzen-Rechnung in dieser oder jener Form ist zwar Teil unserer industriellen Gesellschaft, wird aber nicht planmäßig genug eingesetzt. In der Privatwirtschaft wird sie auf technischem Gebiet angewandt, wenn ein Unternehmen Aufwand und Ertrag einer Investition berechnet, die zur Anschaffung einer neuen Anlage oder der erweiterten Anwendung einer bereits vorhandenen dient. Im staatlichen Bereich kommt sie zur Anwendung, wenn eine Behörde darüber entscheidet, ob eine neue Technologie eingesetzt werden soll. Bei diesem Verfahren geht es nicht um ein ethisches, sondern um ein wirtschaftliches Problem: Geschätzte Aufwendungen werden in Beziehung zum erwarteten Nutzen gesetzt. Bisher wurden dabei die sozialen Kosten übersehen. Diese Einstellung mag zwar dem Eigeninteresse einer bestimmten Firma oder Behörde entsprechen, ignoriert aber sowohl die menschliche Umwelt als auch das Gesamtinteresse der Gesellschaft, das Gemeinwohl.
Deshalb brauchen wir eine neue Kosten-Nutzen-Rechnung für die Technologie, in der das Hauptgewicht auf den ethischen Aspekten liegt. »Aufwand« und »Ertrag« auf dem Gebiet der Technik müssen fortan anders errechnet werden. Weder Privatwirtschaft noch öffentliche Verwaltung dürfen in Zukunft die Nebenwirkungen wie Luftverschmutzung, Verunreinigung des Wassers, Lärmbelästigung durch Düsenflugzeuge und dergleichen einfach zur Seite schieben, wenn es um technische Fragen geht. Ebensowenig darf außer acht gelassen werden, daß technologische Neuerungen vielfach die »Nebenwirkung« gesellschaftlicher Spannungen haben.
Bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird die Erzeugung atomarer Energie dazu führen, daß rund zehntausend Reaktoren schätzungsweise 40 000 Tonnen radioaktive Abfallstoffe jährlich produzieren. Und jeder dieser Reaktoren wird nach dreißig Jahren - der maximalen Lebensdauer - als radioaktiver Schutthaufen in der Landschaft liegen. (Bislang befinden sich andere Reaktortypen, wie die Schnellen Brüter, die nur geringfügig radioaktiven Abfall produzieren und demontiert werden könnten, wenn sie nicht mehr verwendbar sind, noch im Experimentierstadium.) Dazu kommt noch, daß man die Auswirkungen niedriger Strahlungsdosen auf Kleinkinder und Ungeborene noch nicht ernsthaft untersucht hat; ja, eine gründliche Prüfung dieser Frage könnte ergeben, daß die Risiken der Kernenergieproduktion für die Gesellschaft untragbar sind, wie Ernest J. Sternglass meint*.
* Ernest J. Sternglass, »Low-Level Radiation«, New York 1972
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Fehler in wissenschaftlichen Experimenten
»Fehler« ist eines der Wörter, die vielfach mit unterschiedlicher Bedeutung, ja sogar widersprüchlich verwendet werden. In der Informationstheorie ist ein Fehler integraler Bestandteil des untersuchten Prozesses. Fehler sind zulässig, aber sie müssen zur Korrektur führen, bevor ihre Wirkungen sich verbreitern. »Es ist unklug, sich in derselben Sache zweimal zu irren«, sagt ein altes griechisches Sprichwort. Beim Menschen liegt das Problem darin, daß er, statt seine Fehler einzusehen, sich zu ihnen zu bekennen und sie zu korrigieren, immer nach Sündenböcken sucht - zum Beispiel Wissenschaft und Technik.
Während Wissenschaft und Technik das Universum erweitern, lassen sie den Menschen verkümmern. Durch sie ist er sich fremder geworden als jemals zuvor, seitdem er sich ein geistiges Wesen nennen kann. Während er die Welt eroberte, verlor er auf seltsame Weise den Kontakt mit sich selber; er strebt von seinen Ursprüngen fort und hat die Einsamkeit der freien Wildbahn mit der schrecklichen Einsamkeit in seiner Psyche vertauscht. Man muß es noch einmal wiederholen: Je mehr Wissenschaft und Technik das Universum erweitern, um so mehr lassen sie den Menschen verkümmern.
Leben und Tun des Wissenschaftlers werden von den »idees recues« seiner Zeit bestimmt; seine Grundeinstellungen, seine Fragen sind geprägt von dem gesellschaftlichen und strukturellen Bild, das ihm die Erziehung vermittelt hat. Aber diese Ausbildung, die er vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren erhielt, entspricht natürlich in keiner Weise den Anforderungen und Gefährdungen von heute. Man hat festgestellt, daß bei Kindern, deren Mütter während des ersten Drittels der Schwangerschaft geröntgt wurden, im Vergleich zu anderen Kindern die zehnmal höhere Wahrscheinlichkeit einer späteren Krebserkrankung besteht. Die Risiken, die radioaktive Niederschläge von Kernexplosionen mit sich bringen, werden vermehrt durch die Neigung bestimmter radioaktiver Elemente wie Jod und Strontium, sich in lebenswichtigen Körperorganen zu konzentrieren. Strahlung von niedriger Dosis kann zu Mißbildungen, Leukämie, Gehirn- und Nierentumoren führen. Niemand vermag zu sagen, welche Katastrophen uns die entfesselte Wissenschaft als nächstes bringen mag.
Instrumente einer Raumsonde enthüllten 1958, daß die Erde weit außerhalb der Atmosphäre von Elektronenschichten umgeben ist, die heute den Namen Van-Allen-Gürtel tragen. Kurz danach zündeten die Vereinigten Staaten zwischen diesen Schichten eine Wasserstoffbombe, wodurch, entgegen den optimistischen Vorhersagen der Wissenschaftler, ein zusätzlicher Gürtel geladener Teilchen entstand, der die Arbeitsbedingungen für die Astronomen bedeutsam veränderte. Bis es so weit ist, daß die Raumfahrt-
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technik bemannte Beobachtungsstationen in den Weltraum schicken kann, werden Nuklearexplosionen und andere unüberlegte Experimente möglicherweise sämtliche Radioteleskope auf der Erde nutzlos gemacht haben.
Neue ethische Normen sollten darauf ausgerichtet sein, die schädlichen Nebenwirkungen von Wissenschaft und Technik auf ein Minimum zu reduzieren und zugleich die positiven Leistungen der Wissenschaft für die Menschheit zu erhalten. Dies ist durchaus möglich, denn die moderne Technologie vermehrt nicht nur die sozialen Kosten und Erträge, sondern auch die verfügbaren Wahlmöglichkeiten. Eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte wird die Lösung sozioökonomischer und technostruktureller Probleme von atemberaubender Komplexität sein; die schwierigste Aufgabe jedoch wird darin bestehen, einen neuen ethischen Verhaltenskodex zu schaffen und durchzusetzen.
Diese Aufgabe muß gelöst werden. Es ist undenkbar, daß ein großer Teil der Menschheit vom Wohlstand ausgeschlossen bleibt, ohne daß es zu einer politischen und sozialen Eruption von noch nicht dagewesener Heftigkeit kommt, die das gesamte Weltsystem vernichten könnte. Wenn die Planung dieses wahrhaft universellen Unternehmens sofort in Angriff genommen werden soll, müssen wir alle verfügbare menschliche Geisteskraft dafür aufbieten.
Fehlerprobleme in der Medizin
Eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit ist, was die Gesellschaft für die Gesundheit ihrer Mitglieder tun will. In den meisten Ländern, die wir im Rahmen unserer Untersuchung bereisten, stellten wir fest, daß viele Ärzte der alten Schule die Frage fehlerhafter Diagnosen behandeln, als wollten sie einen dunklen Punkt verbergen, sogar vor sich selbst, statt Fehler kühl zu überprüfen. Aber die Zeiten ändern sich. Man kann voraussagen, daß in den kommenden Jahren eine große Zahl medizinischer Theorien und Labor-Prozeduren einschneidende Veränderungen erfahren werden. Dies wird allerdings großen Mut verlangen. Um so mehr, als der ärztliche Beruf bei dieser Entrümpelung auch einige heikle Fragen nach seiner professionellen Qualität in der jüngeren Vergangenheit zu beantworten haben wird.
Auf manchen Gebieten und in etlichen Fällen weist diese »Vergangenheit« gewaltige Qualitätsmängel auf. Hier sind einige Beispiele. Aufgrund einer ärztlichen Diagnose wurde in einer »angesehenen Klinik« in den USA einer Frau die Brust abgenommen; aber die Brustkrebs-Diagnose war falsch. In einem anderen Fall diagnostizierte man bei 33 Personen Malaria, wobei einem der Patienten nicht weniger als achtmal eine Knochenmarkprobe ent-
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nommen wurde. Das »Zentrum für übertragbare Krankheiten« in Atlanta, dem Testproben der 33 Patienten zur Überprüfung vorgelegt wurden, stellte dann fest, daß der Verdacht auf Malaria in keinem einzigen Fall begründet war.
In einem Krankenhaus wurde bei einer Patientin Blutgruppe B, Rh-positiv »festgestellt«, während sie in Wahrheit die Gruppe 0, Rh-positiv hatte. Daraufhin erhielt die Patientin im Zusammenhang mit einem operativen Eingriff eine Transfusion von anderthalb Litern Blut der verkehrten Blutgruppe. Sie erlitt einen bleibenden Nierenschaden*. Eine in Kalifornien durchgeführte Untersuchung von 328 Fällen, in denen Patienten an einer Blutkrankheit gestorben waren, ergab, daß in 35 Prozent »vermeidbare Labor-Faktoren« beteiligt waren, darunter ungenügend geschultes Personal, unzureichende Ausrüstung, fehlerhafte Methoden und mangelhafte Weitergabe von Testergebnissen.
In England ereignete sich folgender Fall: Eine Patientin suchte das Krankenhaus in Ost-Birmingham auf, um sich das linke Bein amputieren zu lassen, wo man ihr aber versehentlich das rechte abnahm. Sie zeigte Verständnis. »Es war ein furchtbarer Schock, als ich erfuhr, was geschehen war«, sagte sie, »aber ich will dem Krankenhaus keine Vorwürfe machen. Die Ärzte und Schwestern waren reizend zu mir.« Wozu das Verlangen nach einem staatlichen Gesundheitswesen provozieren, wenn man nicht einmal ein anständiges medizinisches Niveau garantieren kann?
Technische Mängel, unzulängliche Unterlagen, unleserliche ärztliche Anweisungen und das Fehlen präziser Vorschriften sind vor allem verantwortlich für die hohe Zahl von Diagnoseirrtümern und ärztlichen Kunstfehlern. Überprüfungen werden nur sporadisch und oft unzulänglich durchgeführt, und das gleiche gilt für Fehler von Technikern, mangelhafte Instrumente oder Tests. Wie schneiden andere Länder im Vergleich dazu ab?
Im Verlauf unserer Untersuchungen in Skandinavien, die wir zwischen 1967 und 1970 durchführten, erhielten wir von gutinformierten Ärzten die Auskunft, die schwedischen Laboratorien arbeiteten besser als die amerikanischen, allerdings nur geringfügig. Eine Untersuchung erbrachte das besorgniserregende Resultat, daß die Fehlerrate der Laborergebnisse an »Spitzentagen« zwölf Prozent erreichte. Diese Spitzentage sind der Sonnabend - an dem die Labors unterbesetzt sind - und der Montag - wegen des Patientenansturms am Wochenbeginn, der zur Überlastung des Personals führt.
* Nach Angaben von Dr. David J. Sencer vom »National Communicable Disease Center« in Atlanta kommt es in den Vereinigten Staaten jedes Jahr infolge von Transfusionsirrtümern zu 50 000 bis 250 000 ernsten und manchmal sogar tödlichen Reaktionen.
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Eine gewissenhaftere Krankenbehandlung, die die Fehlerquote senkt, ist eine so fundamentale Forderung, daß es darüber keine Diskussion geben kann. Sobald dieses Problem gelöst ist, kommt als nächstwichtiges der Sieg über die Krankheit, was jedoch voraussetzt, daß die Medizin mit viel höherer Präzision als gegenwärtig arbeitet. Reiche Länder können sich vielleicht heute noch Ineffizienz im Gesundheitssektor leisten, sicher aber nicht mehr sehr lange.
Kältekonservierung
Beinahe über Nacht hat der ärztliche Stand entdeckt, daß es an präzisen Maßstäben fehlt, mit denen sich Situationen lösen lassen, in denen es um Fragen von Leben oder Tod geht. Dieses Gebiet ist - vor allem durch den Fortschritt der Wissenschaft - derart komplex geworden, daß in manchen Fällen auch die Medizin nicht weiter weiß. Schwerwiegende Entscheidungen stehen zur Debatte: Soll ein besonders befähigter Mensch eher gerettet werden als ein »normaler Sterblicher«? Darf jemand, der sich in einer ausweglosen Situation befindet, sein Herz verkaufen?
Der Arzt kann im allgemeinen nur handeln, wenn der Patient ausdrücklich oder unausgesprochen seine Einwilligung erteilt. Doch es gibt Dinge, die der Kranke nicht entscheiden kann, zum Beispiel, was die von der modernen Medizin entwickelte Technik der Wiederbelebung betrifft. Die Wiederbelebung geht über das normale Maß ärztlicher Tätigkeit hinaus, denn sie berührt ethische Fragen von großer Tragweite. Wenn die Bemühungen um die Erhaltung des Lebens eines Patienten eingestellt werden, so führt dies zwar zum Stillstand des Kreislaufs, stellt jedoch nur eine indirekte Todesursache dar. Die Ärzte wenden in diesem Fall das Prinzip des Doppeleffekts und den Grundsatz »voluntarium in causa« an. Die entscheidende Frage ist, ob das, was für die künstliche Wiederbelebung gilt, auch auf die Verlängerung des Lebens von Patienten zutrifft, die hilflos dahindämmern, künstlich ernährt werden müssen und keinerlei Bewußtsein ihrer Existenz haben. Hier wird der Grenzbereich zur Euthanasie erreicht.
Heikle Fragen werfen auch andere medizinische Fortschritte wie die Kryo-biologie auf. Die Kältekonservierung ist ein neues Gebiet der Wissenschaft, das sich mit dem Einfrieren von Kranken befaßt, wobei man hofft, daß die in der Kälte konservierten Toten eines Tages - wenn für die Krankheit, an der sie starben, eine Heilungsmöglichkeit gefunden ist - wieder zum Leben erweckt oder sogar verjüngt werden können.
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Die Anhänger dieser Methode vertreten die Ansicht, daß die Kältekonservierung den ersten ernsthaften Versuch darstelle, den Tod zu besiegen und körperliche Unsterblichkeit zu erreichen. Skeptiker dagegen sehen in dem Verfahren einen abstoßenden Schwindel an den Toten und ihren Angehörigen. Für die Allgemeinheit gehört diese Technik dem Reich der Science-fiction an: geheimnisvoll und ungemein aufregend.
Der Kältekonservierung liegt die Theorie zugrunde, daß Einfrieren im Augenblick des klinischen Todes - Aussetzen von Herzschlag, Atmung und Gehirnströmen - das Absterben der Zellen aufhalten kann. Die irreversible Auflösung oder Zerstörung der einzelnen Körperzellen ist normalerweise frühestens zwei Tage nach dem klinischen Tod abgeschlossen. »Es ist ganz einfach so«, schreibt Professor Ettinger vom Hiland Park College, Detroit, »daß der biologische Tod nicht nur vom Zustand des Körpers, sondern auch vom Stand der ärztlichen Kunst abhängt. Man könnte sagen, daß die Leiche von heute möglicherweise der Patient von morgen ist. Wenn wir also verhindern können, daß der Zustand einer Leiche sich verschlechtert, wird es vielleicht eines Tages möglich, den >Toten< zu heilen - von allem, einschließlich dessen, was man heute als Alter bezeichnet.«
Ein Sprichwort sagt, daß alte Soldaten niemals sterben; steht uns eine Welt bevor, in der dies für alle alten Leute gelten wird? Falls die Einfrie-rungsmethode Erfolg haben sollte - und bislang sieht es nicht danach aus -, würden ernste ethische Probleme entstehen. Wer wird das Recht haben, durch Einfrieren »Unsterblichkeit« zu erlangen? Nur der Mächtige oder auch der einfache Bürger? Nur die Funktionäre oder auch das Fußvolk? Die Reichen und die Armen? Die Jungen und die Alten? Der Begabte und der Durchschnittsmensch? Die Elite oder auch das Mittelmaß?
Wollen wir wirklich den natürlichen Kreislauf von Verfall und Wiedergeburt anhalten, wie wir es schon mit den Produkten der Chemie, wie den Kunststoffen, getan haben? Es wäre möglich, daß unsere Erwartungen enttäuscht werden. Wenn die Gesellschaft beschließen sollte, ihre großen Wissenschaftler einzufrieren und etwa nach einem Jahrhundert wieder zum Leben zu erwecken, würde sie vielleicht betroffen feststellen, daß diese Männer der neuen Zeit nicht mehr entsprechen, daß sie inzwischen zu geistigen Zwergen geworden sind. Das Wissen von heute ist in vier, fünf Generationen vielleicht Schrott, und ein solches Schicksal wäre für einen großen Forscher oder Technokraten kläglich, ja tragikomisch.
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Richtwerte für die biologische Forschung
Euthanasie, Kältekonservierung und Organverpflanzung werfen eine Fülle moralischer und rechtlicher Probleme auf. Ihre Wirkung auf die Zukunft abzuschätzen ist ungeheuer schwierig, und dennoch besteht die dringende Notwendigkeit, Definitionen und Leitlinien festzulegen, die nicht nur die Ärzte, sondern auch Geistliche, Juristen und Laien brauchen.
Die Schlüsselfrage lautet: Wann tritt der Tod ein? Wir brauchen dafür eine neue, klarere Definition. Zum Teil werden sich die Fragen allerdings in den nächsten Jahren erledigen, da, was die Transplantationen angeht, das Problem der Organlagerung vermutlich bald gelöst wird. Dann können sich Chirurgen bei einer entsprechenden »Bank« die Organe besorgen, die benötigt werden, um ein Menschenleben zu retten. Wenn es soweit ist, hängt das Weiterleben eines Menschen nicht mehr vom Tod eines andern ab.
Man hofft, daß Organ- und Gewebebanken in Zukunft mehr zeitlichen Spielraum geben werden. Die Ärzte werden dann in der Lage sein, diese langen und komplizierten Operationen durchzuführen, ohne Personal und Operationssäle in ständiger Alarmbereitschaft halten zu müssen. Dennoch müssen in Theorie und Praxis moralische Maßstäbe und Verhaltensnormen geschaffen werden, bevor eine Umwälzung auf diesem Gebiet Wirklichkeit wird. Ein kleines Team muß wichtige Entscheidungen fällen, die den Organspender wie -empfänger betreffen. Nach welchen Vorschriften hat es sich dabei zu richten?
Welcher Personenkreis kommt beispielsweise für eine Herzverpflanzung in Betracht? Wie soll ein Erfolg auf Dauer garantiert werden? Wie ist zu verhindern, daß die »Abenteuer« von heute, die morgen zum Alltag gehören werden, das Prestige der Medizin gefährden und Opfer fordern, die nicht verantwortet werden können?
Moralische und sittliche Fragen kann kein Computer beantworten. Im Februar 1968 kam die Nachricht, russische Wissenschaftler hätten entdeckt, daß Kaninchen, denen man Blut anderer Tiere injiziert hatte, Nachwuchs mit ausgeprägten genetischen Veränderungen produzieren. Was würde es für die Zukunft unserer eigenen Spezies bedeuten, wenn man versuchte, die menschliche Evolution mittels einer ähnlichen Transfusionstechnik zu beeinflussen? Können nicht auf diese Weise genetische Veränderungen bewirkt werden, ohne daß wir davon eine Ahnung haben? Soll über eine derartige Transfusion ein Team von Ärzten entscheiden, die wir nicht kennen, die Zentrale der herrschenden Partei oder ein Computer?
Zur gleichen Zeit kam aus London die Meldung, mit Hilfe von Computern sei es gelungen, eine Hybridform weißer Kaninchen zu züchten, die besonders kopulierfreudig seien; sie bilden heute den Grundstock eines aufstre-
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benden Industriezweiges. Dem »fast perfekten« Kaninchen wurden in der betreffenden Zeitungsmeldung folgende Eigenschaften zugeschrieben: gedrungene Körperform, fleischig, knochenarm, große Würfe und frühe Fruchtbarkeit. Der Computer ist heute der entscheidende Hebel für den Fortschritt der Technik, und der Mensch muß mit ihm leben, auf Gedeih und Verderb. Natürlich wird von Wissenschaft und Technologie immer mehr erwartet, doch sollte dies nicht dazu führen, daß die ethischen Maßstäbe auch nur im geringsten aufgeweicht werden - wozu es zweifellos kommen wird, wenn wir uns einem reinen Nützlichkeitsdenken verschreiben. Wenn wir nicht wachsam sind, bleiben die computergesteuerten biologischen Experimente nicht bei Kaninchen stehen. Auf einem Kongreß, der kürzlich stattfand, berichtete Professor Marois* von biologischen Forschungsarbeiten, die sich mit dem idealen Astronauten beschäftigen. Man sei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Beine - die fast die Hälfte des Körpergewichts ausmachen - zur Steuerung eines Raumfahrzeugs überflüssig seien. Als Astronauten würden sich mithin am besten Menschen eignen, die nach Unfällen oder durch künstliche Mutationen »amputiert« wurden. Der perfekte Raumfahrer wäre ein Mann ohne Beine und mit einem verkümmerten Becken. Professor J. B. S. Haidane ergänzte diese alptraumhafte Zukunftsvision durch die Feststellung, es könnte sein, daß in späterer Zeit die Elite der Wissenschaft aus Krüppeln bestehe. Vielleicht wird eines Tages die Züchtung eines solchen Menschen zur höchsten Errungenschaft des Fortschritts - eine schöne Welt für künftige Generationen.
Die Teratologie auf dem Vormarsch
Professor Haldanes Bemerkung, daß die Elite der künftigen Gesellschaft aus Mißwüchsigen bestehen könnte, sollte nachdenklich stimmen. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, das menschliche Erbgut zu verändern, etwa durch die Herbeiführung von Mutationen mit chemischen Mitteln, Röntgenbestrahlung und so weiter. Vielleicht kommt es auch zur synthetischen Entwicklung neuartiger Gene, die in menschliche Chromosomen eingebaut werden, was die Sache immens rationalisieren würde.
Heute beschränkt sich die Teratologie nicht auf Embryologie und Pathologie, sondern schließt außerdem eine Vielfalt biologischer Spezialgebiete ein, die alle zum Grundwissen beitragen, das für die Erforschung abnormer körperlicher Entwicklungen und angeborener Mißbildungen, hervorgerufen durch Drogen, Bestrahlungen oder andere Ursachen, notwendig ist. Ein wichtiger Teilaspekt der Teratologie sind Mißbildungen, die erst nach der Geburt auftreten, ausgenommen Tumoren, Wucherungen und eine Vielzahl weiterer Abnormitäten, die nicht teratologisch verursacht sind.
• Direktor des »Institut de la Vie«, Paris.
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Seit der Zeit, als der Mensch begann, Zeugnisse seiner Existenz zu hinterlassen, haben mißgestaltete Menschen anscheinend immer besonderes Interesse erregt. Schon auf frühen Höhlenzeichnungen finden sich nicht selten entsprechende Darstellungen. Mit angeborenen Mißbildungen verbanden sich in früheren Zeiten vor allem zwei Vorstellungskomplexe - entweder zeigten sie, wie die Babylonier glaubten, eine prophetische Begabung an, oder sie galten als sichtbarer Ausdruck des »göttlichen Zorns«, woran sich eine Fülle religiöser und astrologischer Spekulationen knüpfte.
Fötale Abnormitäten sind schon seit dem Altertum bekannt. Auf ägyptischen Fresken findet man hypophysäre Zwerge abgebildet. Jahrhundertelang galten mißgestaltete Menschen als von Dämonen besessen, man stieß sie aus der Gesellschaft aus, häufig wurden sie auch zusammen mit ihren Angehörigen verbrannt. Die These, Mißbildungen könnten vererbt oder durch Umweltfaktoren hervorgerufen werden, wurde zum erstenmal 1678 aufgestellt. Aber erst im 19. Jahrhundert gelang es Wissenschaftlern, fötale Abnormitäten bei Entenembryos künstlich zu erzeugen, indem sie die Eierschale durchstachen. Hundert Jahre später wurden dann wichtige Experi-mentalversuche an Hühnerembryos durchgeführt, wobei man Röntgenbestrahlung als traumatisches Agens benutzte.
Wie in der Vergangenheit stehen auch heute der Verwendung von Menschen zu teratologischen Untersuchungen moralische und gesellschaftliche Faktoren entgegen. Laborversuche beschränken sich auf Tiere, besonders Arten mit relativ kurzer Tragezeit, bekannter embryologischer Entwicklung, einem stabilen genetischen Hintergrund und Jungen, die einerseits groß genug sind, um ohne Schwierigkeit makroskopische Untersuchungen der Weichteile zu gestatten, aber andererseits klein genug, um solche des Skeletts leicht zu gestalten. Diesen Kriterien entsprechen am besten Kaninchen, Ratten, Hamster, Mäuse, Hunde, Schweine und Affen.
Es ist nicht völlig undenkbar, daß bei der raschen Entwicklung, welche die Wissenschaft nimmt, auch der Mensch bald in den Kreis der Versuchskaninchen aufgenommen wird. Professor Klein* stellte auf einem Kongreß** fest: »Ich möchte hier kurz etwas aus meiner eigenen Erfahrung anmerken. Manchmal widerfährt einem im Berufsleben etwas, was die ganze Denkeinstellung verändert. So erging es auch mir. Ich war ein volles Jahr im schlimmsten Konzentrationslager, Auschwitz Stammlager, wo es eine Experimentierstation gab, die ein Endokrinologe namens Clauberg leitete. Als ich in das Lager kam, schärfte man mir ein, ich dürfe nie ein Wort davon
* Direktor des Instituts für medizinische Biologie an der Universität Straßburg.
* Thema »Der Mensch und seine Zukunft«, Buchausgabe London 1967.
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sagen, daß ich Endokrinologe sei, sonst würde ich wahrscheinlich in Clau-bergs Team gesteckt werden. Wie heute allgemein bekannt ist, wurden dort umfangreiche Sterilisationsversuche an Männern und Frauen durchgeführt. Wenn man einmal mit eigenen Augen gesehen hat, wohin diese Dinge führen können, ist man immer sehr vorsichtig, auch wenn sich derartige Experimente noch ganz im Anfangsstadium befinden.«
Ein anderes Problem, das den Ehrgeiz von Wissenschaftlern beflügelt, ist die Wiedererlangung verlorengegangener menschlicher Eigenschaften. Wir haben im Verlauf unserer Evolution vermutlich etliche solcher Merkmale eingebüßt, beispielsweise die Wundheilung mit sehr geringer Narbenbildung, die auf lockere Haut zurückgeführt wird. Auf chirurgischem Weg könnten dem Menschen der Zukunft Eigenschaften anderer Arten »eingebaut« werden. Der »Fortschritt« hat noch einen langen Weg vor sich, vorwärts oder rückwärts. Eine Regression per Mutation zur Beschaffenheit unserer Vorfahren in der Mittelperiode des Pliozäns, mit Greiffüßen, kaum entwickelten Fersen und einem affenähnlichen Becken, so könnte der Traum von einem idealen Astronauten der Zukunft aussehen.
Natürlich wäre Widerstandsfähigkeit gegen Strahlungen bei Astronauten sehr wünschenswert. Dies ist ein seltenes Erbmerkmal, das bei einigen Bakterien, nicht aber beim Menschen zu finden ist. Sollte es zu einem Atomkrieg kommen, würde die natürliche Selektion in Tätigkeit treten, und die Überlebenden der Katastrophe wären Vorzugskandidaten für Raumfahrtunternehmen. Der Astronom Carl Sagan und der Physiker George Müllen prophezeien angesichts der Möglichkeit, daß die Erde eines Tages von einem »Treibhaus-Effekt« heimgesucht werden könnte - wenn sich der Gehalt an Kohlendioxid und anderen bei Verbrennungsprozessen anfallenden Gasen in der Atmosphäre gefährlich verstärkt -, daß die irdische Atmosphäre der der Venus und des Mars eines Tages ähnlich werden könne. Die beiden Wissenschaftler resümieren: »Sollte es in dieser fernen Epoche noch irgendwelche Organismen auf unserem Planeten geben, werden sie sich vielleicht diesen Zufall zunutze machen wollen.« Von hier ist es nur noch ein Schritt zu der makabren Feststellung, daß ein paar Nuklearkriege eine gute Einübung für einen Massenexodus zu anderen Gestirnen wären.
Gefahren für die Ungeborenen
Die Contergan-Tragödie hatte zur Wirkung, daß man sich in verstärktem Maße mit der Erforschung der Mißbildungsursachen, der Teratogenese, beschäftigte, mit besonderer Beachtung der prä- und neonatalen Phase. Diese Periode erstreckt sich vom Abschluß der embryonalen Differenzierung bis
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zum ersten Monat der extrauterinen Existenz nach der Geburt. Diese Spanne zeigt eine starke Wachstums- und Entwicklungsrate, verbunden mit biochemischen und physiologischen Veränderungen, wie sie in der ganzen späteren Lebensspanne des Säugetiers nie mehr auftritt.
Die unterschiedlichen Reaktionen von Fötussen und Neugeborenen auf Pharmaka, die auf Grund von Untersuchungen an Erwachsenen verschrieben wurden, sind wiederholt demonstriert worden. Sie zeigen häufig zugleich eine qualitative und quantitative Abweichung.
Abgesehen von Bluttransfusionen, die jüngst versuchsweise direkt in die Bauchhöhle des Fötus vorgenommen wurden, müssen chemische Agenzien, die auf den Fötus einwirken, nach Verabreichung an die Mutter erst die Plazenta passieren. Jede Diskussion über den Weg, den Pharmaka von der schwangeren Mutter zum Fötus nehmen, muß die Unzulänglichkeit des gegenwärtigen Wissensstandes berücksichtigen. Dies betrifft vor allem quantitative kinetische Daten, welche die Errechnung von Übertragungsgeschwindigkeiten erlauben würden.
Am empfindlichsten für teratogene Einflüsse ist das Stadium der embryonalen Entwicklung, beginnend mit der Bildung der Keimschichten, die annähernd mit der Zeit der Einnistung in die Gebärmutterwand zusammenfällt und sich durch die gesamte Periode der Organbildung erstreckt, der Zeit maximaler Eiweißsynthese. Eine solche extreme Empfindlichkeit ist häufig kurz nach dem Beginn dieser Periode festzustellen, möglicherweise weil etwa um diese Zeit mehrere komplexe embryologische Ereignisse auftreten. Diese noch junge Erkenntnis stellt ethische Probleme von enormem Ausmaß.
Teratologische Interaktionen lassen sich in drei große Gruppen einteilen: zwischen Genen, zwischen Genen und Umweltreizen und zwischen chemischen Substanzen, die teratogen sind.
Zu den möglichen Verursachern von Mißbildungen gehören die genetischen Mechanismen, Mutationen, chromosomale Abweichungen und Mitosen. Heute haben zehn Prozent der Neugeborenen in aller Welt irgendeine Schädigung, und in jedem zehnten Fall handelt es sich um eine ernste Mißbildung.
Was die Krankheit die Gesellschaft kostet
Die Medizin war immer eine Kunst, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, und erlebt heute, dank der Unterstützung der Naturwissenschaften, eine gewaltige Erweiterung und Vertiefung. Das Anwachsen des theoretischen Wissens über die Krankheiten des menschlichen Körpers brachte große Verbesserungen in der Krankenhausbehandlung, der ärztlichen Fürsorge für die Tauben, die Stummen, die Blinden, die Geisteskranken - trotzdem aber wird noch mehr von der Heilkunst verlangt.
Erst in jüngster Zeit wird den »gesellschaftlichen Kosten« der Krankheit mehr Beachtung geschenkt. Dabei geht es um die Auswirkungen auf die Wirtschaft, denn irgend jemand muß ja schließlich die Rechnung bezahlen. Chronische Krankheiten, die zu partieller oder völliger Invalidität führen, sind nicht nur ein ernstes persönliches Problem für alle Altersgruppen, sondern verursachen auch jedem Land gewaltige Kosten, die, zusätzlich zu anderen wichtigen Ausgaben - wie etwa für die Erziehung -, nur schwer aufzubringen sind. In den Vereinigten Staaten liegt die Kostenlast, die Krankheiten mit sich bringen, fast auf gleicher Höhe mit den gesamten Verteidigungsausgaben einschließlich der Aufwendungen für »Kleinkriege« und nukleare Rüstung.
Wir nähern uns rasch einer Krise in der Medizin. Das medizinische Fachwissen verdoppelt sich alle fünf Jahre, aber die Ausbildungsmethoden halten damit nicht Schritt. Der Arzt könnte den Computer als Werkzeug benützen, das ihm medizinische Daten geordneter, effizienter und von zuverlässiger Qualität liefert. Doch wäre es ein Unding, von der Technologie zu erwarten, daß sie der Ärzteschaft korrekte Antworten gibt, wenn diesen fehlerhafte Daten oder Methoden zugrunde liegen, die nicht auf der Höhe ihrer Zeit sind - wie die Beispiele demonstrieren, die wir weiter oben angeführt haben.
Verbunden mit der Frage, wo und wie der Mensch leben soll, ist das Problem einer Ernährung, welche die Gesundheit nicht gefährdet. Bis vor kurzem wurden in den Vereinigten Staaten Nahrungsmittel und Getränke mit Cyclamat-Zusatz im Wert von etwa einer Milliarde Dollar jährlich produziert. Schätzungsweise fünfundsiebzig Prozent der Bevölkerung konsumierten diese Produkte, bis die Regierung der Industrie die Verwendung von Cyclamat untersagte und Anweisung erteilte, sämtliche Produkte mit einem Zusatz dieses Süßstoffs schrittweise aus dem Markt zu ziehen. Dieser Schritt war ein schwerer Schlag für einen großen Teil der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, aber rechtlich nicht anzufechten. Experimente an Ratten hatten ergeben, daß starke Cyclamat-Gaben, mit denen Versuchstiere regelmäßig gefüttert wurden, bösartige Blasengeschwüre auslösten.
Die vorrangigen Pflichten des ärztlichen Standes sind grundsätzlich ethischer Natur. Die moderne Medizin sollte nicht in erster Linie nach großartigen Siegen über die Natur streben, sondern nach Erfolgen, mit denen dem Menschen am meisten geholfen ist. Probleme, die heute noch scheinbar belanglos für das Leben des Durchschnittsmenschen sind, werden die ernstesten Ausmaße für künftige Generationen annehmen. Immer wenn es der menschlichen Gesellschaft an festverankerten Werten fehlte, an die sie sich halten, von denen sie sich leiten lassen konnte, hat sie es teuer bezahlen müssen.
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13 MENSCH UND ARBEIT
Der Begriff der Arbeit
Wissenschaftliche und technische Erfolge schaffen Probleme, welche die menschliche Umwelt, den Menschen selbst und die Gesellschaft verändern. Während des vergangenen Vierteljahrhunderts galt der »Fortschritt« fast ausnahmslos als »gut« oder »wünschenswert«. Dabei wurde nicht erkannt, daß Wissenschaft und Technik, wenn wir sie nicht zügeln, uns in ein neues Mittelalter führen, ohne daß es uns bewußt wird. So stehen wir heute vor drei großen Entscheidungen.
Erstens: Wie sollen wir uns zu den Folgewirkungen der modernen Technik stellen? Wie sollen wir unsere Ziele in dieser sich wandelnden Realität bestimmen? Wie sollen wir die Ziele quantifizieren, denen unsere Arbeit gilt, als Individuen, als Glieder der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt? Die Wissenschaft und die menschliche Fähigkeit, Form und Gehalt von Dingen zu verändern, haben uns unsere Stärke gegeben, aber diese Stärke kann sich auch als Schwäche erweisen.
Zweitens: Wie sollen wir die Menschen, namentlich die jüngere Generation, auf die tiefgreifenden und weitgehend unbekannten Konsequenzen vorbereiten, welche diese große Umwälzung mit sich bringen muß? Wie können wir sie dazu bringen, daß sie sich beteiligen an der Bewältigung ständig neuer Situationen, mit denen wir alle konfrontiert werden?
Drittens: Wie sollen wir den neuen Charakter des Arbeitsplatzes bestimmen und in die Praxis umsetzen? Der Begriffskomplex Arbeit umschließt eine Vielfalt von Dingen: Nutzen, Begabung, Organisation, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Wiederholung und - erst in jüngerer Zeit - Planung und Steuerung von Handlungen, die Produktion und Produktionsprozeß betreffen, von der Herstellung von Stehlampen bis zur Produktion von Computern oder Atomenergie.
Die Arbeit, die der Mensch verrichtet, formt ihn selbst. Arbeit ist Mühe oder Bemühung, darauf gerichtet, ein bestimmtes Erzeugnis zu produzieren oder bestimmte Aufgaben auszuführen. Sie verlangt Anstrengung, eine gewisse Ausdauer und zuweilen Denken. Auch das Resultat von Anstren-
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gung - Leistung - wird als Arbeit definiert. Der Ort, an dem Arbeit verrichtet und Aufgaben ausgeführt werden, ist der »Arbeitsplatz«. Der Begriff der Freiheit ist verbunden mit dem Arbeitsplatz und mit den Leistungen des Menschen.
Die Probleme des Komplexes Mensch - Arbeitsplatz - Freiheit müssen von Grund auf untersucht werden. In unserem Kulturkreis, dem westlichen, besteht die Tradition, in der Notwendigkeit der Arbeit ein Unglück zu sehen und die Freiheit als ein natürliches Recht oder zumindest als ein verdientes Geschenk zu betrachten. Der »vergessenen Mehrheit« stellt sich die Arbeit als ein notwendiges Übel dar, ohne das man seinen Lebensunterhalt nicht verdienen könnte. Man hat ihr das Streben nach Freiheit als Befreiung vom Zwang zur Arbeit dargestellt, und dies war ein folgenschwerer Fehler.
Ein verlorenes Paradies
Der Mythos vom Garten Eden hat es schon immer dem Menschen schwer gemacht, in seiner Arbeit Befriedigung zu finden. Die vergessene Mehrheit, die in der Schule von einem »verlorenen Paradies« gehört hat, vermag nicht zu erkennen, daß die Arbeit zusammen mit der Sprache ein Mittel der Humanisierung ist. Ohne Arbeit, ohne Begabung, ohne Denken ist ein Mensch nicht existent: Solange es eine zivilisierte Gesellschaft gibt, konnte nur die Produktion von Waren und Dienstleistungen jenseits derer, die die Natur zur Verfügung stellte, den Menschen frei machen.
Arbeitsplatz und Arbeitsprodukt haben von jeher die persönliche Freiheit bestimmt, ihr Maß, ihre Färbung, ihre Auslegung. Ob wir arbeiten, um Textilien, Getreide, Raketen, Computer, Bücher oder große Kunstwerke zu produzieren, ob wir unsere Rolle in der materiellen oder in der geistigen Sphäre der Gesellschaft spielen, immer und überall steht unsere Freiheit und menschliche Würde in direkter Beziehung zu dem, was wir zu schaffen vermögen und wie sehr wir uns damit von unseren Mitmenschen abheben.
Die Unterschiede in der Arbeit, die Menschen leisten, haben dazu geführt, daß die Gesellschaft sich in Klassen oder Kasten teilte. In der Stammesgemeinschaft gab es keine Klassen, weil der Begriff des Grundeigentums fehlte. »Der erste, dem es in den Sinn kam, ein Grundstück einzuhegen und zu behaupten: das gehört mir, und der Menschen fand, die - einfältig genug - ihm glaubten, war der eigentliche Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Mordtaten, Elend und Niederträchtigkeiten hätte der Mann dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen, den Graben eingeebnet und seinen Mitmenschen zugerufen
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hätte: >Hütet euch, diesem Betrüger zu glauben! Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem!«<*
Sobald der vorhandene Grund verteilt war, konnte der Mensch sich nur noch auf Kosten eines anderen ausdehnen. Damit entstanden Herrschaft, Sklaverei, Gewalt und Raub. Der Mensch lieferte sich der Habsucht, dem Ehrgeiz und dem Laster aus.
Ehrgeiz und Stolz wuchsen in direktem Verhältnis zur Entwicklung des Intellekts und damit des Zweifels an der Zukunft. Sokrates, Piaton und Aristoteles erhoben den Zweifel zur Denkmethode, und Jahrhunderte später institutionalisierte Descartes diesen Prozeß. Sokrates, dessen Mutter eine Hebamme war, hatte gesagt: »Ich gehe mit dem menschlichen Denken um wie meine Mutter mit den Neugeborenen.« Ein großer Denker sucht erst nach dem Fundament, das dem Zweifel widersteht, und baut dann sein System darauf auf.
Neben dem Erscheinen des kundigen, wissenden Menschen war die Entwicklung der Produktivkräfte eine wesentliche Ursache für die Schichtenbildung in der Gesellschaft. Irgendwann in seiner Geschichte begann der Mensch mehr zu erzeugen, als seinem unmittelbaren Bedarf entsprach. Dies bot einer Gruppe die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt mit dem Einsatz, der Leitung und Vermehrung von Fremdarbeit zu bestreiten. Ein Hauptgrund für das Auftreten der Klassenstruktur war mithin das Herausbilden öffentlichen oder privaten Eigentums an den Produktionsmitteln im großen Maßstab.
Die Klassenbildung hängt eng mit Auftreten und Entwicklung der Arbeitsteilung in der Gesellschaft zusammen. Zum erstenmal kam es zu einer Arbeitsteilung großen Umfangs, als sich aus der Masse der Stämme Hirtenstämme herausbildeten. Damit wurden Hirten und Ackerbauern zu Tauschpartnern, was den gesellschaftlichen Wohlstand förderte und die Klassenschichtung begünstigte. Der zweite große Schritt im Prozeß der Arbeitsteilung trat ein, als das Handwerk sich vom Ackerbau löste. Damit vertiefte sich die wirtschaftliche Spaltung in der Gemeinschaft noch mehr.
Später kam es zur Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. Diese wurde von der herrschenden Klasse monopolisiert, die die Aufsicht über Produktion, Staatsverwaltung, das religiöse Kultwesen, Wissenschaft, Kunst, Philosophie und so weiter an sich zog. Die körperliche Arbeit blieb der großen Masse. Sklaverei war die erste Form der Ausbeutung, gefolgt von der Leibeigenschaft im Feudalsystem und Lohnarbeit in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese historischen Unterteilungsprozesse prägten das Klassensystem. Ihr Unterschied liegt in der Natur der Arbeit selbst und in der Stellung, die sie in einer Gesellschaft einnimmt, die nach materiellen
* Jean-Jacques Rousseau, »Discours sur l'origine de l'inegalite des hommes«
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Werten strebt - denn allen idealistischen und sozialistischen Vorstellungen zum Trotz gibt es für die meisten kein höheres Ziel als dieses. Wie Alexander Solschenizyn anschaulich zeigt, gibt es selbst in der Sklaverei Klassenunterschiede, entsprechend der Arbeit, die der Sklave verrichtet. Solschenizyns Darstellung beruht großenteils auf persönlichen Erlebnissen in einem Zwangsarbeitslager, einem geheimen Sowjetgefängnis für Wissenschaftler und der Krebsstation eines Krankenhauses in Taschkent. Diese eindrucksvollen Schilderungen des Kastensystems in Zwangslagern wurden aus dem inneren Bedürfnis niedergeschrieben, ein Zeugnis zu geben, wie das Gesicht unserer Zeit aussieht. Und Zeugnis legen sie wahrhaft ab: Das Mekka des Sozialismus hat dem Menschen nicht nur mehr Freiheit von versagt, worauf sich sein latentes Verlangen richtete, sondern ihm auch jede Freiheit zu genommen.
Die unscharfe Dichotomie zwischen Arbeit, die der Freiheit von gilt, und solcher, für die Freiheit zu bestimmend ist, wie sie eine so große Rolle in den Religions-Systemen babylonischer Herkunft spielt, ist auch vielen gesellschaftlichen Systemen eigen. Aber das gleiche läßt sich - was kaum eine Überraschung ist - nicht von der Arbeit der Gesetzgeber sagen. Im Gegensatz zu der unscharfen Auslegung dieser beiden Begriffe im Religiösen und Gesellschaftlichen basieren die Gesetze, die unser soziales Leben regeln, auf der unteilbaren Zweiheit von »Arbeit« und »Freiheit«. Im übrigen ist derjenige, der mehr und bessere Qualität produziert, freier als jener, der weniger leistet; ein besonders begabter Mensch kann sich innerhalb der Grenzen von Legalität und staatlicher Ordnung freier bewegen als die große Masse.
Dies ist eine ungeschriebene Regel, deren Tiefen- und Breitenwirkung dem sorgfältigen Beobachter klarwird, wenn er gerichtliche Entscheidungen unter die Lupe nimmt. Nur wird es nicht so deutlich gesagt, daß jeder es verstehen könnte. So hält sich die unzutreffende Anschauung, daß in unserer Gesellschaft jeder vor dem Gesetz gleich und daß das Gesetz für alle gleich sei. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt als das.
Die judäisch-christliche Kultur und ihre Nachfolger
Das Recht entwickelte sich aus uralten Sitten und religiösen Gebräuchen. In der Frühzeit glaubte die Gesellschaft, die Gesetze, die ihr Verhalten regelten, stünden unter dem Schutz einer Gottheit. Recht und Religion entstammen ursprünglich derselben Wurzel, auch wenn sie sich später trennten und eigene, oft konkurrierende Systeme schufen. Wie bereits gesagt, handelten die frühen Gesetzgeber wie Lykurg, Solon und Moses, als seien ihre Gesetze Ausfluß göttlicher Eingebung. Manche großen Denker wandten sich
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gegen diese Vorstellung, aber ihre Ansicht galt zuerst als Blasphemie, dann als unerträgliche Kritik, während sie in Wahrheit tiefe Sorge um die Gesellschaft bewegte.
Im Lauf der Zeit festigten sich die Fundamente des Gemeinschaftslebens durch Strafen und Belohnungen, die sich je nach dem Bedürfnis der Gesellschaft wandelten, Sanktionen zu verhängen oder Ansporn zu geben. Die Strenge der Babylonier und die Grausamkeit der Assyrer spiegeln sich im Wortlaut ihrer Gesetze wider. Das »abendländische System« des Gemeinschaftslebens ist eine Fortsetzung des babylonischen, wurzelt in der babylonischen Kultur. Verschiedene Lösungen und Systeme des sozialen Zusammenlebens verbanden sich schließlich zur judäisch-christlichen Kultur, die bis heute besteht.
Der Marxismus hat als Leitgedanken der gesellschaftlichen Entwicklung immer am judäisch-christlichen Bild der Ausgestoßenen und Erniedrigten festgehalten, denen das Himmelreich gehören werde. Aber seine Anhänger haben nicht zu beweisen vermocht, daß ihre abstrakten Ideen, wie das Proletariat vom gesellschaftlichen Druck zu befreien und zur bestimmenden Kraft der Sozietät zu machen sei, effektiver und »humaner« in gesellschaftliches Handeln umzusetzen seien als die »bürgerlichen« Vorstellungen im Westen. Dies ist einer der Gründe, warum Theorie und Romantik des Sozialismus heute veraltet sind.
Der gesellschaftliche Kodex besteht bekanntlich aus einem Ensemble von Gesetzen und Regeln für das menschliche Verhalten, geformt von politischen Institutionen, ökonomisch-industriellen Strukturen, religiösen Anschauungen und den kulturellen Traditionen von Völkern, Städten und Ländern, die westlich von Elam* zur Blüte gediehen. Dieses System bildet das Fundament der Entwicklung in Europa, in Teilen des Nahen Ostens, in beiden Amerika und in Australien. Seine Elemente stehen in gegenseitiger Abhängigkeit und treiben durch ihr Wechselspiel die Gesellschaft voran. Die Sumerer, Elams Nachbarn, ihrerseits selbst Opfer der semitischen Übermacht und Organisationsbegabung, öffneten den Weg zur Bildung eines babylonischen Reiches.
Babylonier, Assyrer und Sumerer waren vertraut mit räumlichen und zeitlichen Messungen. Auf dieser Basis wurden der Kalender und die Sternkunde entwickelt. Die Rechenkunst förderte Handel und Wirtschaft in gewaltigem Maß. Die Erfindung des Geldes ermöglichte Spekulationen, große Umsätze und das System der Besteuerung.
Die »Technodemokratie«, in der wir leben, ist eine Fortentwicklung die-
* frühgeschichtliches Zentrum der Zivilisation, dessen Hauptstadt Susa war, im Süden des heutigen Iran gelegen.
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ses Systems. Ihre Stützpfeiler sind der Einschaft-orientierte und der Ge-meinschaft-orientierte Sektor. Der zweite, der öffentliche Bereich, übte früher eine Reglerfunktion aus, indem er Normen aufstellte und für ihre Beachtung sorgte. Der erste, besser bekannt als Privatsektor, umfaßte die kreativen Elemente der Gesellschaft, insbesondere die praktischen Spitzenberufe. Diese klare Unterscheidung von Aufgaben und Zuständigkeiten wurde infolge des Massen-Effekts weitgehend verwischt.
Regierende und Regierte
Für die Denkart der breiten Massen unserer Gesellschaft, ganz im Bann aufgebauschter Berichte über ständige Höchstleistungen der Wissenschaft, paßt nichts besser in dieses technische Zeitalter als die Legende von einem neuen, himmelstürmenden Helden, einem modernen Prometheus, der es den Menschen ermöglicht, ihr Schicksal auf eine neue Bahn zu lenken, indem sie vorläufig noch unbekannte, wunderbare Energiequellen nutzen. Aber die gesellschaftlichen Organisationen arbeiten anders. Keine wissenschaftliche oder technische Entdeckung oder Erfindung hat jemals aus sich allein das Gesicht der Erde verändert. Ja, zahlreiche Pionierleistungen - unter ihnen viele wichtige - haben überhaupt nichts bewirkt, weil sie ungenutzt blieben; nur jene, die gesellschaftliche Wurzeln schlugen, konnten sich behaupten und fortwirken. Von der Entdeckung des Feuers bis zur Erfindung des Dieselmotors, der Eisenbahn, des Flugzeugs, des Telephons oder des Computers - in jedem Fall setzte sich die Neuerung nur durch, weil die Gesellschaft sie annahm. Für die Gläubigen einer theoretischen Sozialwissenschaft ist es vielleicht eine grausame Ironie, daß alle menschlichen Erfindungen und Entdeckungen - also Leistungen, die eigentlich der Freiheit von zugute kommen müßten - dazu dienen, den Menschen noch enger an das Räderwerk einer gesellschaftlichen Maschinerie zu binden, die sich dadurch, daß eine neue Erfindung akzeptiert und dem Konsumstreben dienstbar gemacht wird, immer mehr aufbläht.
Man darf nicht glauben, dies sei nur eine Anomalie der Gesellschaftsordnung, welche die westliche Demokratie hervorgebracht hat. Wenn es sich -und das ist keineswegs sicher - um eine Anomalie handelt, dann findet sie sich in viel stärkerem Maße in autokratischen Regimen. Die Autokratie, vom assyrischen Reich bis zum Kommunismus und Faschismus, bezieht ihre Stärke aus einer Elite, die es versteht, sich von den Massen abzuheben und abzugrenzen und sie dafür von Zeit zu Zeit mit einer neuen Stadtmauer, einer neuen Kathedrale oder dem Start einer Raumsonde zur Venus zu beglücken.
Die Ungleichheit steigt ins Übermaß, da die Elite nicht nur über den Arbeitsplatz bestimmt, sondern sogar über das Recht der Massen zu konsumieren, zu denken, ja, zu existieren.
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Ob mit oder ohne Wissenschaft, mit oder ohne Technik, Regierende und Regierte hat es immer gegeben und wird es immer geben. Die Wurzeln der Ungleichheit liegen in einem charakteristischen menschlichen Wesenszug: Der Mensch liebt die Macht, geheime Machenschaften; er sucht nach Möglichkeiten, seinen eigenen Kopf, seine eigenen Pläne ungestört durchzusetzen. Dieses Verlangen und der Zwang zur Unterordnung bestimmen die Grenzen, innerhalb deren eine Elite entsteht und geformt wird.
Der Einzelmensch wird damit besonders verwundbar. Er ist fortan einer Macht unterstellt und arbeitspflichtig, die er nicht sieht, von der er nur hört, einer Macht, die er nicht begreift, an die er aber glauben soll und der er Gehorsam schuldet. Sozialrevolutionäre sagen ihm, dies sei eine historische Notwendigkeit, tief im Wirtschaftsleben der Gesellschaft verankert.
Im Augenblick befinden wir uns in einer Phase, in der wir uns vom bisherigen Schema psychosozialer und wissenschaftlicher Organisation lösen und eine neue Ordnung finden müssen. Aber das Prinzip von Befehl und Gehorsam kann nicht aufgegeben werden, weil sonst ein Chaos entstünde. Wir müssen die Relationen zwischen Regierenden und Regierten noch genauer untersuchen, um die möglichen Entwicklungen der Zukunft rechtzeitig und konkret herauszuarbeiten.
Wie wird die nächste Phase aussehen? Werden noch viele Menschen ihre Arbeit - im herkömmlichen Sinn - verlieren, weil die Arbeit immer mehr technisiert und automatisiert wird? Wenn es dazu kommt, müssen wir immer mehr Menschen damit beschäftigen, ihre eigenen inneren Möglichkeiten, ihren inneren Raum zu erkunden. Aber dies würde eine lebenslange, ungeheuer intensive Schulung erfordern und dauerte sicher etliche Generationen. Der Weg muß abgekürzt werden: Wir können zwar nicht die Erdbevölkerung beseitigen, aber wir können und sollten die ungehemmte Fortpflanzung der Menschheit begrenzen.
Jedes Staatswesen beruht auf dem menschlichen Fundament, auf der Arbeit des Menschen so gut wie auf Gesetzen und allgemeinverbindlichen Wertbegriffen. Eine Gesellschaft wird immer von einer Elite regiert, gleichgültig, ob diese gewählt oder selbsternannt ist. Seit den Anfängen unseres Geschlechts hat sich jeder, der seine eigene Gebrechlichkeit spürte, nach einem Stärkeren, Edleren gesehnt, der mehr Sicherheit besitzt, an den er glauben und dem er seine Zukunft anvertrauen kann. Die Menschen klammerten sich an (einen) Gott, erhoben Sterbliche in den Rang von Heroen und verliehen ihresgleichen Macht und Herrlichkeit. Die Geschichte ist vor allem die Geschichte von Menschen, häßlich und schön, erbärmlich und imposant.
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Seit undenklichen Zeiten spielten die Männer, die der Geschichte ihren Stempel aufgeprägt haben, ihre Rolle mit erstaunlichem Mut und Geschick, mit bewundernswerter Geduld, um sich über die Elite emporzuschwingen. So wurden sie zu »Beherrschern der Beherrscher«. Dies gilt für alle Bereiche, in Politik, Religion und Militärwesen so gut wie im Geistesleben, in der Wirtschaft und der Wissenschaft. In einer Betrachtung über die Prinzipien der wissenschaftlichen Forschung schreibt Albert Einstein*, solche Menschen würden sich, wenn es darauf ankäme, .auf jedem Gebiet menschlichen Tuns auszeichnen; ob als Offizier, Geschäftsmann oder Wissenschaftler, es komme nur auf die Umstände an.
Die Naturwissenschaft als Helferin der herrschenden Elite ist eine der jüngsten gesellschaftlichen Entdeckungen. Sie ist heute auf dem besten Wege, eine »Garde« von Beratern aufzubauen, welche die Außen-, Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gestalten, ohne einem Parlament oder der Bevölkerung Rechenschaft schuldig zu sein. Sie wird damit zu einer autonomen Macht.
Auf der Suche nach einem neuen Fundament der Gesellschaft
Die Gesellschaft ist auf der Suche nach einer neuen Basis. Die Lösung dieses Problems wäre die bewußte Erschließung eines neuen Weges zu künftigem Wachstum. Doch dies fällt uns schwer, denn wir wissen nicht, welche Richtung wir einschlagen sollen. Und ebensowenig sind wir uns schon im klaren darüber, welche Art Leben wir uns erhoffen. Es gab eine Zeit, in der der Mensch im Einklang mit einer unverseuchten Umwelt, in Zufriedenheit mit einem begrenzten Wirkungskreis lebte. Er hatte seine Mythen, seine Rituale, seine Visionen, ein beschränktes Verständnis der Natur und des Platzes, den er in ihr einnahm. Dann ergab er sich der Vernunft, die seither sein Leitstern ist. Dies bedeutet, daß die Gesellschaft schwerlich eine tragfähige neue Basis finden dürfte, solange wir keine Ordnung in unsere Ziele und Wünsche gebracht haben.
Bevor wir uns damit befassen, wie wir mit den großen Problemen fertig werden, vor denen die Menschheit steht, sollten wir studieren, wie die Natur vorgeht. Die einzigen wirklich interessanten Maschinen sind die großen »Maschinen« der Natur, beispielsweise die atomaren Prozesse innerhalb der Sterne; ein Stern stellt eine viel bessere Maschine mit Selbstregulierung dar, als der Mensch je eine gebaut hat. Die Tatsache, daß wir aus natürlichen Prozessen wissen, wie ungeheuer schwierig es ist, große Quantitäten identischer Einheiten anders als gruppenhierarchisch zu organisieren, ist das beste Argument für die Gemeinschaft. Selbst ein Stern, dem dies mißlingt, zerplatzt zu einer Supernova und muß dann zu einer neuen Ordnung zurückfinden.
* »Essays in Science«, New York 1934.
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Eine neue Sklaverei am Horizont?
Nachdem die wissenschaftliche Forschung dem Menschen die Mittel gegeben hat, sein Schicksal zu gestalten, sieht es nun so aus, als sei sie im Begriff, ihm diese Freiheit wieder zu nehmen. Die Geistesfreiheit, Grundsubstanz jeglichen Fortschritts, ist allen Orthodoxien des 20. Jahrhunderts verhaßt; im Namen der Wissenschaft oder eines zügellosen Freiheitswahns wollen sie den Menschen entmündigen.
Die heutige Demokratie und das industriell-politische System, in dem wir leben, entstanden in und aus der Auflehnung gegen den monarchisch regierten Staat. Erleichtert begrüßten die Völker die parlamentarische Demokratie. Im liberalen 19. Jahrhundert galt die Gemeinschaft als Stück einer bösen Vergangenheit, die Einschaft schien zukunftbestimmend. Doch die Zeiten haben sich wieder geändert und brachten neue Monstren der soziologischen Organisation hervor, die dem menschlichen Geist seine visionären Kräfte nehmen wollen.
Wir sind von einer echten Lösung der sozialen Probleme noch himmelweit entfernt. Überall aber werden Pseudo-Lösungen feilgeboten, die die Gefahr beinhalten, den Menschen und die Natur zu wertlosen Elementen zu degradieren. Eine umfassende Analyse, die zu den Fundamenten vorstößt, könnte hingegen brauchbare Resultate liefern, aber sie muß bald in Angriff genommen werden. Diese Analyse muß mit dem Menschen selbst und seinem Arbeitsplatz beginnen, sie muß die politischen Strukturen und das Problem der Eliten untersuchen. Die aus dem 19. Jahrhundert überkommenen politischen Begriffe rechts und links sind überholt, unbrauchbar für die Gestaltung der Zukunft. Da sich keine neuen Konzeptionen der Arbeit durchsetzten, geriet der Mensch plötzlich in eine bedrohliche Zwangslage. In der Industrie setzte ein Konzentrationsprozeß ein, die Gewerkschaften schlössen sich zusammen und wurden zum Staat im Staat, die politischen Systeme blähten sich gigantisch auf. Alle Ideologien, die den Liberalismus bekämpften, vom Sozialismus bis zum Nationalsozialismus, sahen in der Zentralisierung die erste Phase einer Entwicklung, die schließlich den totalen Staat herbeiführen werde, der sich sämtliche »souveränen« Befugnisse von Industrie und Gewerkschaften aneignet und schließlich die Allgemeinheit unter seine Botmäßigkeit bringt. Die Gemeinschaft ist wiedergeboren, bedrohlicher und kafkaesker denn je.
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Fast jede Sozialtheorie tabuiert den Zwang, und dennoch wird er weithin geübt. Nun wird zu seiner Unterstützung auch die Wissenschaft aufgeboten. Eine neue Sklaverei ist nicht undenkbar. Vom Sozialismus zum Nationalsozialismus und Kommunismus haben autoritäre Regierungsformen zweifelsfrei bewiesen, daß eine von der Technik beherrschte Gesellschaft ohne neue Strukturen unfähig ist, das menschliche Zusammenleben rational zu organisieren.
Fast jedes politische oder wirtschaftliche System enthält die Ansätze von Sklaverei; und die künftigen Gesellschaftssysteme befinden sich heute schon im Stadium des Entwurfs, ohne daß wir etwas davon wissen. Roland Huntford führt in seinem Buch »The New Totalitarians« das heutige Schweden als Beispiel dieser Entwicklung an. Die gepriesenen Vorzüge des Systems -politische Neutralität, Sachlichkeit und wirtschaftliche Tüchtigkeit - seien nicht Frucht eines aufgeklärten Denkens, sondern einer tiefen Unsicherheit und Einförmigkeit. Die ununterbrochene vierzigjährige Herrschaft einer Partei hat die Stellung des Parlaments unterminiert und eine aufgeblähte, mächtige Bürokratie entstehen lassen. Der Mensch ist zum willfährigen Spielzeug einer entfesselten Computer-Herrschaft herabgesunken. Alles ist auf die Bedürfnisse einer unterbrochen expandierenden Staatsmaschinerie zugeschnitten, die dafür den Bürger mit wirtschaftlicher Prosperität und sozialen Leistungen belohnt.
Behaviorismus
Wie läßt sich eine Kultur entwerfen, die Zukunft hat? Bevor wir an die Lösung dieses Problems herangehen, müssen wir erst klären, wie wir den Fortbestand unserer Art zu sichern gedenken. Dafür ist konkretes, nicht abstrakt-theoretisches Denken notwendig.
Jede Organisation, gleichgültig welcher Form oder politischen Richtung, ist bestrebt, sich eine treue Anhängerschaft von Menschen zu schaffen, die leicht zu beeinflussen sind und keinerlei Selbständigkeit zeigen. Dieses Streben kann, in übertriebener Form, dazu führen, daß Menschen als Maschinen, als willenlose Automaten betrachtet und behandelt werden. Dies ist ein Schlag gegen die Grundfesten der menschlichen Würde.
Würde ist noble, charaktervolle Gesinnung, die sich äußerlich im täglichen Verhalten und innerlich an der geistigen Einstellung zeigt. Würde ist
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kein Luxus, den wir uns nicht leisten können, sie ist sogar unverzichtbar für den Fortbestand unserer Gesellschaft. Skinner und seine Schule möchten uns einreden, menschliche Würde sei nicht nötig und wir sollten uns auf gesellschaftliche Lösungen einstellen, in denen sie keine Rolle mehr spielt. Solche Argumente sind kurzsichtig, denn sie übersehen die gesellige Natur des Menschen. Menschen und Ratten sind zwar vielleicht biologisch gleicher Herkunft, aber im Gegensatz zur Ratte hat der Mensch in den vergangenen Jahrtausenden seinen Intellekt entwickelt. Die Behavioristen müßten schon eine umwerfende Entdeckung präsentieren, um uns von den angeblichen Ähnlichkeiten zwischen einer konditionierten Ratte und einem konditionierten Menschen zu überzeugen, wozu sie bislang entweder nicht imstande oder nicht willens waren.
Ein Rattendasein stürzt den Menschen in Langeweile und Depression. Er verkümmert geistig und charaktermäßig und empfindet sich als ein belangloses Element in einer amorphen Masse. Langeweile, eine allgemein unterschätzte historische Kraft, ist nicht Leichtfertigkeit. Sie ist nicht Produkt von Wohlstand oder materieller Not, sondern von geistiger Leere. Der amorphen Masse ist eine Frustration eingebaut, gegen die sich bis heute kein wirksames Medikament gefunden hat. Die Psychiatrie sieht sich nicht imstande, eine Lösung anzubieten, außer der Warnung, daß ein »schönes Leben« dem Menschen rauben kann, was seit fünf Jahrtausenden der Sinn seines Lebens ist.
Soziologen, die nur ihre abstrakten Theorien im Kopf haben, und Psychologen, die auf der gleichen Linie liegen, geben mit ihrer Interpretation der menschlichen Natur ein schiefes Bild. Wenn die Psychologen nur die mechanischsten Formen des Verhaltens untersuchen - so daß bisweilen sogar Ratten ihre höheren Eigenschaften nicht zeigen können - und dann ihre lächerlichen »Forschungsergebnisse« als ein wahres Bild der menschlichen Psyche ausgeben, bringen sie die Menschen dazu, sich selber als wertlose und verantwortungsfreie Automaten zu betrachten, was kaum ohne Auswirkungen auf das soziale Klima bleiben kann. Freud, Adler und Jung, schreibt Stanislaw Andreski*, hätten zwar viele grundlegende Erkenntnisse über reale Lebenssituationen gewonnen, aber es fehle ihnen das Gefühl für das rechte Maß. Ihre Spekulationen ließen den Leser im leeren Raum zwischen quantifizierten Trivialitäten und faszinierenden, aber völlig unkontrollierten Phantastereien.
Andreski wendet sich besonders gegen die »quantifizierten Trivialitäten«, die für die Sozialwissenschaften charakteristisch seien. Er ist der Ansicht, daß die wirklich wichtigen menschlichen Wesenszüge überhaupt nicht meßbar seien und daß das meiste von dem, was sich zahlenmäßig erfassen läßt
»Social Science as Sorcery«, London 1973.
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- zum Beispiel Antworten auf Fragebogen, wie sie die Soziologen so gerne verteilen -, keine Bedeutung habe. Manche Verhaltensexperten, meint Andreski, benutzen einen »pseudo mathematischen Aufputz«, um ihren Arbeiten ein wissenschaftliches Aussehen zu geben. Es handle sich gewissermaßen um »halluzinogene Beschwörungen, welche die trügerische Vorstellung erzeugen, das menschliche Bewußtsein sei zu computerartigen Ausmaßen erweitert worden«.
Immer größere Ausmaße nimmt dagegen das von Menschen geschaffene menschliche Elend an. Unter hoffnungslosen Verhältnissen vegetieren Millionen in Slums, Tausende suchen durch die Droge »Befreiung« und »Erlösung«. Solche Fakten müssen in die Computer gefüttert werden, wenn ein großer Entwurf für die schöne neue Welt von morgen erstellt werden soll.
Die soziale Umwelt, räumt auch Skinner ein, ist offensichtlich von Menschen gemacht. Sie bringt die Sprache hervor, die wir sprechen, die Sitten, nach denen wir uns richten, und das Verhalten, das wir gegenüber den ethischen, religiösen, wirtschaftlichen und pädagogischen Institutionen, die den Menschen leiten, an den Tag legen. Manche Wissenschaftler und Psychologen vertreten die Ansicht, daß die gewaltigen Probleme, denen wir in der Welt von heute gegenüberstehen, nur zu lösen seien, wenn man besser mit dem menschlichen Verhalten umzugehen wisse, und sie ziehen daraus den Schluß, daß das Verhalten selbst einer Änderung unterzogen werden müsse. Verhalten ist die Gesamtheit der zu beobachtenden Reaktionen eines Organismus auf innere und äußere Reize. Der Behaviorismus begann als eine puritanische Revolte gegen die übermäßige Anwendung introspektiver Methoden in einigen älteren psychologischen Schulen, welche die Ansicht vertraten, die Hauptaufgabe des Psychologen sei die Beschreibung und Erklärung von Bewußtseinsebenen.
Das Bewußtsein, wandten die Behavioristen dagegen ein, sei ein Begriff, den man nicht definieren und mit dem man auch nicht arbeiten könne; es handle sich dabei lediglich um ein anderes Wort für den uralten Ausdruck »Seele«. Seele und Bewußtsein seien beide nicht faßbar. Demgemäß gingen die Behavioristen von der unbewiesenen (und wahrscheinlich unbegründeten) Vorstellung aus, in der Psychologie könne man vorgehen wie in der klassischen Physik. Ihre Methoden basierten auf den atomistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, die in allen anderen Zweigen der modernen Wissenschaft längst aufgegeben wurden. Alle Aktivitäten des Menschen, so die behavioristische Auffassung, Sprache und Denken eingeschlossen, ließen sich in elementare Reiz- und Reaktionseinheiten zergliedern. Ein neugeborener Organismus komme mit einer gewissen Zahl einfacher Reflexe zur Welt, und was er während seiner Lebensspanne hinzuerwerbe und lerne, nehme er durch Pawlowsche Konditionierung auf - eine Theorie, die heute in der Physiologie und Psychologie zum alten Eisen gehört.
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Natürlich können sich wissenschaftliche Theorien verändern, doch was heißt all dies im Kern? Man kann es so zusammenfassen: Die Wissenschaft vom Menschen als Individuum ist heute noch nicht weiter als zu den Zeiten Sokrates' und Platons. Es könnte sein, daß wir weiterhin mit der Desorientierung des einzelnen und dem Verlust seiner Persönlichkeit bezahlen müssen, bis wir eine bessere Theorie besitzen, die uns hilft, die menschliche Natur zu verstehen. Es ist ein teurer Preis.
Lösungsvorschläge und Theorien müssen auf die Zukunft ausgerichtet sein. Selbst wenn wir auf die Kultur früherer Gesellschaften blicken, dürfen wir nicht vergessen, daß niemand in die Vergangenheit zurückgehen will. Aber ist die Massengesellschaft die einzige Zukunftsperspektive? Das Problem der Masse bringt jede Kultur in Schwierigkeiten. Noch schlimmer als das ökologische Desaster könnte die gesellschaftliche Katastrophe werden.
Die Konditionierung und ihre Folgen
Das Wachstum des gesellschaftlichen Systems bringt uns dazu, unsere Kräfte zu überspannen; in allem, was wir tun, gehen wir zu weit. Die heute bestehenden Strukturen wurden für viel kleinere Gemeinschaften geschaffen; eine Zeitlang helfen Provisorien weiter, doch schließlich wird ein völliger Umbau des Systems unausweichlich, wenn nicht eine Entwicklung eintreten soll, die zu einer allumfassenden Katastrophe führt.
Der Schock, den einschneidende, abrupte Veränderungen im menschlichen Psychometabolismus hervorrufen, ist einer der wichtigen Faktoren im Hintergrund, die den Aufstieg reaktionärer Bewegungen möglich machen. Wenn die Frustration eine bestimmte Schwelle überschreitet, kehrt der Mensch zum Tribalismus, in seine Frühzeit zurück, die in den Tiefenschichten seiner Psyche noch immer gegenwärtig ist. Krasse soziale Reaktionen werden ebenso durch Mangel an Chancen wie durch ein Fehlen echter Zukunftsperspektiven ausgelöst. John Gardner hat es einmal in die Sätze gefaßt: »Der Mensch muß Wünsche haben. Was ist heute sein Wunsch? Wenn das höchste Ziel, das uns einfällt, darin besteht, ein bißchen mehr Fett anzusetzen, dann sind unsere Tage gezählt.« Dieser Mangel an klar umrisse-nen Zielen ist offensichtlich ein starkes Hemmnis bei der Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Gleichgewicht, einem phantasievolleren Leben, als wir es heute führen. Unglücklicherweise könnte dieses Manko von Dauer sein. Erschwerend kommt noch hinzu, daß die soziale Disziplin heute an vielen Stellen zusammenbricht.
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Das Gefühl des Menschen, Entscheidungsfreiheit zu besitzen, kann durch die Behavioristen nicht geschmälert werden; es hat wenig damit zu tun, ob unser Handeln erklärbar ist oder nicht. Wir sind so frei, wie wir uns fühlen. Der Behaviorismus scheint zu meinen, daß wir ähnlich wie Hunde konditioniert seien, dem Schäfer oder dem Gewehr zu gehorchen. Wird es dem Menschen gelingen, den Menschen so abzurichten, daß künftige Generationen nicht mehr von einer menschlichen, sondern von einer Rattengesellschaft sprechen?
Nicht die Intelligenz, sondern das Gefühl gebe dem Leben seine Bedeutung, sagt Alexis Carrel. Die Dichter seien dem Leben näher als die Wissenschaftler, denn diese suchten in der Wissenschaft nach der Antwort auf das »Warum« der Existenz. Die große Leistung einer Einschaft-Kultur liegt in der Befreiung der dem menschlichen Geist innewohnenden Kräfte. Eine gesunde Gesellschaft zeigt Männlichkeit in ihrem Alltagsleben, in ihrer Kunst und in ihrem Denken. Eine Gesellschaft, die auf Konsensus basiert, ordnet ihren Willen den Massenmedien unter. Die Massenmedien wurden, je nach der Auffassung von ihrer Funktion, mit Lob oder Tadel bedacht, unbestreitbar aber ist, daß sie weder die besten Köpfe noch die frischesten Talente beschäftigen, daß sie wirklich anregende Beiträge weder drucken noch senden, daß sie es sich nicht leisten können, irgend jemandem auf die Zehen zu treten, und daß sie ihre Pflicht schuldig bleiben, die Öffentlichkeit über die ernsten Fragen unserer Zeit zu unterrichten.
Die Massenmedien entwickelten sich zu ihrer heutigen Größe durch das unersättliche Verlangen nach Kommunikation und trugen damit ihr Teil zur Konditionierung des Menschen bei. Ihr ästhetisches Niveau ist erbärmlich; die Wahrheit wird dem Happy-End geopfert, Flucht aus der Wirklichkeit, Kitsch und Brutalität beherrschen die Szene. Die Medien korrumpieren den Geschmack und erziehen ihr Publikum dazu, an der billigsten und seichtesten Unterhaltung die höchste Wonne zu finden.
Diese Verhältnisse will die neue Linke in den Vereinigten Staaten damit erklären, daß die Medien rein nach Profitgesichtspunkten arbeiteten. Aber diese Interpretation ist nicht stichhaltig. In West- wie in Osteuropa, wo Rundfunk und Fernsehen weitgehend vom Staat kontrolliert werden, liegen die Dinge nicht viel anders. Hier wie in den USA stumpfen die Medien in der Bevölkerung jedes Gefühl für die überwältigenden Gefahren ab, die uns bedrohen. Sie vernebeln uns nicht nur den Blick, sondern sorgen auch dafür, daß wir unbeteiligt, ohne Zorn und Empörung, hinnehmen, was wir um uns erleben. Sie fördern die Vermassung und wirken gegen eine Rückkehr zur Einschaft. Aber solange wir unseren Blick nicht wieder auf die Einschaft richten, wird unsere Kultur so schal, seicht und banal bleiben, wie sie es heute ist.
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