14 Eine Krise der Leistung
Chorafas-1974 15
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Arbeit, Arbeit, Arbeit
Während die Gemeinschaft, in der der einzelne lebt, nach einer neuen Lebensform sucht, zieht die soziale Desorientierung des Individuums das Gleichgewicht, das solange seine Arbeit und sein Tun bestimmte, in Mitleidenschaft. Dies führt zu neuen Unsicherheiten, was die schöpferische Zukunft des Menschen betrifft. Um dieser Unsicherheit und dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit zu entrinnen, stürzt man sich in hektische Aktivität. Die Leistung erhält einen neuen Sinn: Sie soll den Selbstzweifel und das Gefühl der Machtlosigkeit überwinden. Indem der Mensch in der Welt etwas erschafft, schafft er vor allem Vertrauen zu sich selbst und Vertrauen bei anderen.
Die hochentwickelten Länder stehen vor dem Dilemma, daß qualifizierte Arbeit immer wichtiger wird, was wiederum dazu führt, daß eine zahlenmäßig schrumpfende Gruppe zunehmend mit Arbeit belastet wird. Untersuchungen, die sich mit diesem Problem beschäftigen, zeigen, welchen Preis exzessive Arbeitsleistung, Sorgenlast und Konsumabhängigkeit fordern. Nehmen wir das Beispiel der USA: Bei den amerikanischen luden liegt der Prozentsatz der Herzkranken höher als bei den in Israel lebenden, und dasselbe gilt für die Amerikaner japanischer Abstammung. Die höchsten Ziffern weisen Rhode Island, New York und Pennsylvania auf - Bundesstaaten mit starker städtischer Konzentration und der entsprechenden Streßbelastung, Übervölkerung und Umweltverschmutzung.
Die modernen Arbeitsgewohnheiten haben Nebenwirkungen gezeigt, von denen wir uns vor Jahren nichts hätten träumen lassen. Vance Packard* verweist vor allem auf die Entwicklung zu einer Art Nomadendasein und zur Anonymität. »Die Menschen werden aggressiver, wenn sie eine anonyme Rolle spielen«, schreibt er. Diese Phänomene führten zu Gleichgültigkeit gegen alle engen Bindungen und erzeugten »eine reduzierte Fähigkeit zu sozialem Kontakt«.
* »A Nation of Strangers«, New York 1972.
Dieser Trend zur Nomadenexistenz wird vor allem in den USA durch die weitverzweigte Geschäftstätigkeit der großen Firmen gefördert. Manager beispielsweise werden so oft in weit entfernte Städte versetzt, daß, wie Pak-kard zitiert, IBM-Angehörige den Namen ihres Konzerns als Kürzel für »Ive Been Moved« (Ich bin versetzt worden) bezeichnen. Aber auch außerhalb des wirtschaftlichen Bereichs wächst die Entwurzelung. Pensionäre ziehen sich ins sonnige Florida oder nach Kalifornien zurück, die Jugend strebt von den Eltern fort, so daß heute in den Vereinigten Staaten jeweils die Hälfte der Achtzehn- bis Zwanzigjährigen außerhalb des Elternhauses lebt. Der amerikanische Bürger zieht im Lauf seines Lebens durchschnittlich vierzehnmal um, der Japaner hingegen nur fünfmal. Ungefähr fünfzig Millionen US-Bürger wechseln ihre Adresse mindestens einmal jährlich; in zahlreichen Städten zieht ein volles Drittel der Einwohner jedes Jahr um, manche Schulen verlieren alljährlich siebzig Prozent ihrer Schüler und dreißig Prozent der Lehrer.
Beruf und Leistung stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Lebenserwartung. Durchschnittlich am längsten leben Geistliche und Lehrer. Dagegen zeigte eine Untersuchung über Journalisten, die im »Who's Who« verzeichnet sind, daß bei diesen die Sterberate doppelt so hoch liegt wie bei anderen Berufen, die in diesem Register vertreten sind. Unabhängig vom jeweils ausgeübten Beruf oder Job gilt, daß die Lebenserwartung im allgemeinen höher ist, wenn die Betreffenden nicht mit sechzig oder fünfundsechzig Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen und zu einem leeren Rentnerdasein verurteilt sind. Für einen alternden Menschen bedeutet es eine wichtige körperliche und geistige Stimulation, wenn er eine sinnvolle Rolle in der Gesellschaft behält.
Eine der großen Gefahren der neuen Linkstendenzen ist ihre Leistungsfeindlichkeit (nicht so sehr ihre Anti-Establishment-Haltung). Wenn man einem Menschen den inneren Antrieb zu Arbeit und Leistung nimmt, beraubt man ihn der besten Chance, seine individuellen Fähigkeiten zur Geltung zu bringen und damit seine Freiheit zu gestalten. Eine Abschaffung der Leistungsbefriedigung, die der Mensch durch seine Arbeit erhält, weckt ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Erbitterung. Sie zerstört das Selbstvertrauen, zeugt Selbstverachtung und vernichtet schließlich die Grundlagen einer Tradition, aus der die Persönlichkeit des Menschen seit Jahrhunderten ihre Kraft bezog.
Das soll nicht heißen, daß das Ideal darin bestünde, aus purem Streben nach Macht und Geltung Leistung zu »sammeln«, wenn auch die Geschichte zeigt, daß der Leistungswille es weiter bringt als der Müßiggang. Nur die Leistungswilligen waren produktiv und nur die Produktiven frei. Wie kann man den Menschen beibringen, ihre Arbeit wieder mehr an der Leistung zu orientieren, nicht allein am materiellen Entgelt? Hätten der Mensch des Paläolithikums und seine Nachfahren nicht eine asketische Einstellung zur Arbeit besessen, hätte sie nicht das Verlangen beseelt, die Früchte dieser Arbeit in dieser oder jener Form zu »investieren«, dann wäre der Fortschritt zu mehr Freiheit von zum Stillstand gekommen.
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Freiheit von der Gleichmacherei
Die Arbeit stärkt und stützt von allen Freiheiten des Menschen vor allem die, die seiner Würde am meisten zugute kommt: die Freiheit, ungleich zu sein. Wenn jemals der sozialistische Traum vom allgemeinen materiellen Glück Wirklichkeit werden sollte, werden die Menschen plötzlich innewerden, daß ihnen von einem lebenswerten Leben, der geistigen und Willensfreiheit, der individuellen Unabhängigkeit kaum etwas geblieben ist. Freiheit und Menschenwürde sind ihnen geraubt worden, vom Staat, von der Masse, der Gemeinschaft.
Die Egalisierung des Menschen, ein Widerspruch gegen das Gesetz der natürlichen Selektion, ist nur möglich, wenn eine allmächtige Gemeinschaft die fundamentalsten Charaktereigenschaften unterdrückt, Begabung, Wißbegier und Ausdauer, die geistige Kreativität überhaupt erst ermöglichen. Zwangsmäßige Gleichmacherei ist blanker Unsinn. Die Realität des Lebens spricht für das genaue Gegenteil. Je größer die Begabung, um so höher die Verantwortung, die sich damit verbindet, zumal in Machtpositionen. Ebenso wie die geistige Elite eine höhere Verantwortung für die rücksichtslose Erforschung und Offenlegung von Realität und Wahrheit trägt, so muß die politische Führung das Recht des Menschen auf Wissen und auf eine eigene Meinung garantieren - zwei machtvolle Faktoren in der Bildung des menschlichen Geistes.
Leistung ist und bleibt ein Maßstab persönlicher Tüchtigkeit. Peer Gustav Gyllenhammer, ein ehemaliger Schüler von mir und heute Präsident der schwedischen Automobilfirma Volvo, sagte, nachdem er seinen Posten als Direktor bei der Versicherungsgesellschaft Scandia mit seiner neuen Aufgabe vertauscht hatte: »Meine wichtigste Aufgabe besteht darin, eine Philosophie für das Unternehmen zu entwerfen, die uns ins nächste Jahrhundert führt. Dies betrifft zu einem wesentlichen Teil Lösungen für gesellschaftliche Probleme - die Umwelt, wo die Menschen arbeiten, wie sie arbeiten.« Und über seine eigene Einstellung bemerkte er: »Wenn Sie mich in eine Stadtrandsiedlung steckten und mir einen 6-Stunden-Arbeitstag gäben, würde ich einen Herzanfall bekommen.«
Hunderte qualifizierter junger Leute aus dem Führungsnachwuchs und Universitätsabsolventen geben eine möglicherweise glänzende Berufskarriere
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auf, weil sie sich in ihrer Tätigkeit nicht engagieren können. Engagement ist der Schlüssel zum Erfolg, selbst wenn es utopische Ziele verfolgt - und jedes gesellschaftliche Konzept sollte auch Raum für Zukunftsträume lassen. Vor einer Generation sprach Karl Mannheim warnend aus, welchen Verlust es bedeuten würde, wenn im sozialen und kulturellen Leben der Gedanke des Utopischen, jedes transzendentale Denken fehlte. Wir müßten in einer kalten, öden Welt leben, in einer Welt, der jeder Sinn genommen ist. In einer Welt ohne Utopien gibt es nur Konformismus, können nur Konformisten leben.
Gleichgültig, wie fremdartig die »neuen Regeln« künftiger Strukturen sein werden, grundsätzlich sind wir überzeugt, daß es möglich ist, die Denkart von Individuen zu verändern. Dies kann durch direkte Beeinflussung der Anschauungen von Einzelpersonen oder Gruppen geschehen; durch »Erziehung« und durch die Massenmedien. Manipulierte Erziehung ist Freiheitsverlust par excellence. Eine politische Führung, welche die Macht ohne Skrupel ausübt, kann, vor allem durch die Massenmedien, die Bevölkerung durch gezielte - sogar falsche - Informationen beeinflussen. Immer wird man dann erklären, vielleicht sogar guten Glaubens, solcher Gebrauch der Macht sei konstruktiv, denn er solle ja nur Einstellungen in einer Richtung verändern, die vernünftig und »gesund« sei und dem »Gemeinwohl« diene.
Beeinflussung dieser Art wurde und wird von demokratischen wie von totalitären Regierungen angewandt. Der Inhaber einer unbestrittenen Machtstellung kann mit den richtigen Methoden Denkhaltungen verändern, gleichgültig, ob er als Diktator die Nachrichtenmedien und die Staatsmaschinerie kontrolliert oder ob er den gleichen Zweck dadurch erreicht, daß er die Medien bezahlt. Wenn heute ein Land ein anderes besiegt, ist es nicht mehr nötig, die Bevölkerung auszurotten, um die Herrschaft der Eroberer zu sichern. Es genügt die Beherrschung von Rundfunk, Fernsehen, Presse und Erziehungswesen, und binnen zwanzig Jahren sind die Unterworfenen umerzogen.
Die Zunahme des Tempos der vom Menschen verursachten Veränderungen - einer der stabilsten Faktoren der menschlichen Existenz - wirft heute die Frage auf, ob wir überhaupt noch imstande sind, die Folgen unseres eigenen Handelns zu überleben. Millionen psychisch normaler Menschen erleben plötzlich einen Zusammenstoß mit den Mitteln, die eingesetzt werden, um ihre Zukunft zu beeinflussen. Im allgemeinen lassen sich am leichtesten solche Menschen in ihren Anschauungen und Urteilen beeinflussen, die wenig über sich selbst wissen, defensiv eingestellt sind, eine Fassade zeigen müssen. Sie sind starrer in ihren Ansichten; sie neigen zur Autoritätshörigkeit; sie haben ein tief sitzendes, wenn auch verheimlichtes Gefühl des eigenen Unwerts, ein schwach entwickeltes Ich und wenig Selbstvertrauen. Dies gilt für die Mehrheit der Bevölkerung, in jedem Land.
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Anders Menschen, die ihr Verhalten und Urteil nach der eigenen Erfahrung ausrichten. Sie besitzen ein gutentwickeltes Selbst-Verständnis, erfassen ihre eigenen Gefühle und Motive. Sie legen Gelassenheit, Selbstvertrauen an den Tag und haben ein starkes Ich. Sie sind flexibel, können sich auf jede Situation einstellen und zeigen psychische Reife. Dies ist weder den Psychologen noch dem Bewußtsein des »Systems« entgangen, das diese Erkenntnis nutzt, wenn es Mittel entwickelt, um das menschliche Verhalten wirksam zu steuern: Notfalls entledigt es sich solch »unerwünschter Elemente«.
Demokratie in der Wirtschaft?
Der menschliche Charakter wird in einem gewissen Maß von Umwelteinflüssen und dem Vorrat seiner Erfahrungen geformt. Das Grundgefühl der Verantwortung, das menschliches Verhalten in aufgeklärten Zeiten charakterisiert, scheint unserer Generation verlorengegangen zu sein, wie die Unzufriedenheit der Arbeiter zeigt, die gegenwärtig zum Ausdruck kommt. Wilde Streiks sind längst nicht mehr eine auf England beschränkte Erscheinung, sondern haben inzwischen auch auf die relativ disziplinierten Arbeiter in der Bundesrepublik und sogar in Schweden übergegriffen, das lange Zeit als das Musterland friedlicher Beziehungen zwischen den Sozialpartnern galt.
Viel schlimmer noch sind die Zustände in Italien, wo seit der Ausbreitung der Arbeitsniederlegungen, die im »heißen Herbst« 1969 begannen, eine politische Labilität herrscht, die an ein Chaos grenzt.
In der ganzen judäisch-christlichen Welt, wo »demokratische Regierungen« am Ruder sind, fordern die Arbeiter höhere Löhne, was die Lohnkosten über den Produktivitätszuwachs hinaus erhöht und damit das wirtschaftliche Gleichgewicht in Gefahr bringt. Und während exzessive Lohnforderungen die Kosten immer mehr in die Höhe trieben, führte die wirtschaftliche Expansion, die Westeuropa in den fünfziger und sechziger Jahren erlebte, zu einem ernsten Mangel an Arbeitskräften, der eine wahre Völkerwanderung auslöste: Mehr als sechs Millionen Gastarbeiter aus Südeuropa, dem Nahen Osten und Nordafrika setzten sich nach Norden in Bewegung.
Allein in Frankreich sollen heute drei Millionen Gastarbeiter beschäftigt sein. In der Schweiz stellen sie ein volles Sechstel der Bevölkerung. Diese Wanderungsbewegung mildert zwar den Arbeitskräftemangel, schafft aber in ganz Europa neue soziale Probleme. Der ungedeckte Personalbedarf, der das ganze Wirtschaftssystem, bis hinauf zur Ebene der Manager, erfaßt, hat
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verschiedene Entwicklungen ausgelöst, beispielsweise die Verlängerung des Schulbesuchs, Verkürzung der Arbeitszeit und mehr Urlaub für Arbeiter und Angestellte. So kann es nicht immerfort weitergehen.
Nun aber scheint das Pendel langsam zurückzuschwingen. Die Zeiten der Überforderung des Arbeitsmarktes sind vielleicht schon bald vorbei, und das gilt nicht nur für ungelernte Kräfte. In den nächsten zwei Jahrzehnten wird Arbeit zur Mangelware werden, wie Amerika es schon seit drei Jahren erlebt. Die Überbeschäftigung, noch vor kurzem eine Selbstverständlichkeit, wird von Beschäftigungsmangel abgelöst werden; in den Vereinigten Staaten liegt die Arbeitslosenquote, die als noch annehmbar gilt, in der Nähe von fünf Prozent. Diese Maßzahl wird schon bald auch in Europa gelten. Die dann zur Verfügung stehenden Beschäftigungsmöglichkeiten werden Qualifikationen verlangen, die ein großer Teil der Arbeiter nicht besitzt und auch nicht erreichen kann. Ist dies das Gegenteil von »Demokratie in der Wirtschaft«, oder wird es sie fördern?
»Demokratie in der Wirtschaft« hat niemals bedeutet, daß jeder Arbeiter hat. Für viele reduzierte sich dieser Begriff auf ein irrationales Recht zum Streiken. Bevor de Gaulle ans Ruder kam, war es um die Arbeitsmoral in Frankreich traurig bestellt; überall herrschte Lässigkeit, bei den Straßenkehrern, den Briefträgern, den Fabrikarbeitern; selten kam es vor, daß Busse oder die Eisenbahn sich an die Fahrpläne hielten. Aber auch die heute herrschende Mentalität wird vielleicht bald ein Ende nehmen, wenn es nur noch in beschränktem Maße Arbeit gibt.
Das neue Proletariat
Die apokalyptischste aller Zukunftsprojektionen teilt die produktiv tätige Bevölkerung in drei Gruppen ein: an der Spitze eine überarbeitete Minderheit, in der Mitte die Mehrheit, der es bei mäßiger Arbeit wirtschaftlich gutgeht, und am Fuß der Pyramide eine ausgeschlossene, beschäftigungslose Schicht - der Menschen aus allen Bereichen des Lebens angehören werden, auch Angehörige akademischer Berufe, die nicht mehr gefragt sind. Da diese Entwicklung sich erst langsam anbahnt, läßt sie sich heute noch nicht untersuchen. Sicher aber ist, daß sie schon bald spürbar sein wird.
Die erzwungene Untätigkeit wird möglicherweise alle Berufszweige erfassen. Während des ganzen Jahrzehnts nach dem ersten Sputnik-Start herrschte in den USA ein beispielloser Bedarf an Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern, die entsprechend gut bezahlt wurden, was auch zu einem gewaltigen Brain drain aus Europa führte. 1970 aber war dieser Wissenschaftler-Boom zu Ende. Infolge einer drastischen Kürzung der Mittel
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für das Raumfahrtprogramm, der stiefmütterlichen Behandlung der Grundlagenforschung durch die Regierung in Washington und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten allgemein erlebt die amerikanische Wissenschaft gegenwärtig eine ausgeprägte Rezession.
Am stärksten betroffen sind die Fachkräfte in den Industriezweigen, die Aufträge für das Verteidigungsministerium oder andere Regierungsstellen ausführen. Die Arbeitslosenziffer in diesem Bereich liegt heute zwischen 60 000 und 100 000. Die technologische Rezession beschränkt sich nicht nur auf die Luft- und Raumfahrtindustrie in Südkalifornien und im Bundesstaat Washington. In Massachusetts, wo ein großer Teil der elektronischen Industrie konzentriert ist, sind gegenwärtig schätzungsweise zwanzig Prozent der Fachleute beschäftigungslos. Auf Kap Kennedy hat sich die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze um vierzig Prozent vermindert. Von dieser Entwicklung blieb nicht einmal die einstige Elite der amerikanischen Wissenschaft verschont. 1971/72 waren von den 20 000 promovierten Physikern des Landes mindestens 3000 ohne Beschäftigung, und etwa die Hälfte der Arbeitsuchenden bestand aus Universitätsabgängern. Ein beträchtlicher Prozentsatz nahm schließlich eine Stellung im Ausland oder in vielen Fällen eine berufsfremde Tätigkeit an.
Amerika hat an seinen Universitäten ein Heer von Akademikern und Forschem herangezogen, das um dreißig bis fünfzig Prozent größer ist, als in den siebziger und Anfang der achtziger lahre benötigt wird und untergebracht werden kann. Eine lange Ausbildung bereichert zwar den Bestand menschlichen Wissens und gibt persönliche Befriedigung, doch was den Arbeitsmarkt betrifft, schafft eine Flut von Akademikern fast unlösbare Probleme.
»Akademisches Proletariat« ist mehr als ein sensationelles Schlagwort. Es könnte zum schwierigsten und hartnäckigsten Sozialproblem der kommenden Jahre werden. Seine Symptome umspannen eine weite Skala: Zukunftsangst, depressive Stimmungen, Krankheiten, Feindseligkeit gegenüber der herrschenden Gesellschaftsstruktur, sinnlose Gewalttätigkeit oder selbstzerstörerische Apathie. Theodore Roszak* schlägt zur Lösung dieser Probleme eine neue wirtschaftliche Einstellung vor, die vor allem den Konsum zurückschraubt. Ist dies die einzige Wahl, die uns noch bleibt?
Die Antwort ist »nein«, und doch geben die Zahlen über die Arbeitslosigkeit von Universitätsabsolventen zu ernster Sorge Anlaß. Die Reaktionen an den Universitäten selbst reichen von apathischer Gleichgültigkeit bis zu Panik und Zorn - der sich in vielen Fällen gegen die Hochschulen richtet, die ihre Studenten scheinbar sinnlos ausbilden. Mitte 1971 verließ die in der
• »Where the Wasteland Ends«, New York 1972.
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amerikanischen Geschichte noch nie dagewesene Zahl von 820 000 Absolventen beiderlei Geschlechts die Universitäten und Colleges, um ins Berufsleben einzutreten, und mußte zu ihrer Betroffenheit und Empörung feststellen, daß in der diplomgläubigen Gesellschaft Amerikas ein akademischer Grad durchaus nicht garantiert, daß man eine entsprechende Stellung findet. Das Universitätsdiplom scheint ebenso abgewertet zu sein wie der Dollar.
Zwischen Fort- und Rückschritt
Was die USA heute erleben, ist vielleicht noch schlimmer, als es sich anhört. Dieser Zustand geht darauf zurück, daß man es bisher an einer langfristigen Planung des Arbeitspotentials fehlen ließ. Nach dem ersten Sputnik-Start kam es zu einer Hochkonjunktur für Wissenschaftler und Ingenieure; Dutzende von Regierungsbehörden gewährten mit einem erheblichen Einsatz öffentlicher Mittel Studenten und Universitäten Förderungszuwendungen. Wenn auch nie ausdrücklich gesagt wurde, daß ein akademischer Grad automatisch eine Anstellung garantiere, so war es doch ohne ein Diplom nahezu aussichtslos, irgendwo unterzukommen. Diese Politik von Zuckerbrot und Peitsche erzeugte eine wahre Flut diplomierter junger Wissenschaftler, die dann bestürzt erleben mußten, daß ihnen das Zuckerbrot wieder genommen wurde. Man sollte sich an dieses Beispiel erinnern, wenn es um Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit weniger qualifizierter Kräfte geht, bei denen ja mehr die Peitsche als das Zuckerbrot Anwendung findet.
Eines ergibt sich ganz klar aus dem Studium aller möglichen Systeme: Kein Trend, buchstäblich kein einziger Trend verläuft auf unbegrenzte Zeit in derselben Richtung, am allerwenigsten einer, der einen exponentiellen Verlauf nimmt. Deshalb sollte man jedem, der aufgrund der Annahme, ein derartiger Trend werde anhalten, Vorschläge machen, die Frage stellen, welche vernünftigen Gründe ihn zu der Erwartung brächten, die Tendenz werde so lange vorhalten, daß seine Vorschläge oder Argumente ihre Rechtfertigung fänden. Darauf konnte bisher weder im wissenschaftsgläubigen Amerika noch in Deutschland oder sonstwo eine stichhaltige Antwort gegeben werden.
Wenn im akademischen Bereich eine schwerwiegende Fehlberechnung zur »Überproduktion« führte, so haben andererseits die Gewerkschaften sich nicht auf die neue Situation einzustellen vermocht und weitgehend den Kontakt zu den Arbeitern verloren. Seit einiger Zeit zeigt sich in westlichen Ländern der Trend, daß die »Basis« Tarifverträge ablehnt, die die Gewerk-
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schaft mit den Arbeitgebern ausgehandelt hat. Allein in den USA wurde in den vergangenen Jahren jeder fünfte ausgehandelte Tarifvertrag von der Belegschaft abgelehnt. Eine landesweite Untersuchung erbrachte interessante Ergebnisse. In fast der Hälfte der Fälle (genau 47 Prozent) war Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen der Grund für die Ablehnung eines Tarifabkommens. Diese Unzufriedenheit umfaßte Betriebsvorschriften, Beschwerden und ihre Behandlung, Arbeitszeit und Überstundenarbeit.
Die Produktivität der US-Wirtschaft - ein Halbgott in jeder Industriegesellschaft - stagniert seit geraumer Zeit. Seit 1965, als die Produktivitätsrate nicht mehr merklich wuchs, ist in den Vereinigten Staaten eine Reihe fundamentaler sozialer Veränderungen eingetreten, die auf lange Sicht die Produktivität sinken lassen werden, wenn man keine Vorkehrungen dagegen trifft. Heute sind sich Regierung, Industrie und sogar die Gewerkschaften darin einig, daß etwas geschehen muß, um die Produktivität zu steigern, wenn die Preissituation stabilisiert und Amerikas Wettbewerbsposition im Ausland verbessert werden soll.
Wichtig ist vor allem, daß ein Wandel in der Einstellung zu Arbeit und Leistung mit einem Wandel der Denkart in den Firmenleitungen einhergeht, und in vielen Fällen ändert sich hier bereits einiges. Bemühungen, den Beschäftigten mehr Befriedigung an ihrer Tätigkeit zu geben und ihre Motivation durch ein höheres Maß an Verantwortung zu stärken, kommen sowohl den Betriebsangehörigen als auch den Firmen selbst zugute. Solche Beispiele empfehlen sich zur Nachahmung.
Das Problem der Ablehnung von Tarifabkommen durch die Belegschaft demonstriert die sich verbreiternde Kluft zwischen Management und Gewerkschaftsspitze einerseits und den Arbeitern anderseits. Die inneren Schwierigkeiten für die Gewerkschaften gehen vor allem auf den Zustrom jüngerer Mitglieder zurück, die die alten Regeln ablehnen. Die jungen Arbeiter stellen ein beträchtliches Kontingent derer, die krank feiern, und tragen damit zur Steigerung der Rate nicht abgeleisteter Arbeitszeit bei, die sich in den USA während der letzten zehn Jahre verdoppelt hat. In den amerikanischen Betrieben von General Motors* beispielsweise bleiben täglich fünf Prozent der Belegschaft unentschuldigt der Arbeit fern.
Es hat den Anschein, daß Krankfeiern immer rascher zu einer Selbstverständlichkeit wird, während andererseits Streiks den Volkswirtschaften zunehmend zu schaffen machen. Allein im Jahr 1969 belief sich in Italien die Zahl der Streiktage auf 37 800 000, in England betrug der Ausfall sieben Millionen, in Frankreich zweieinviertel, in Deutschland dagegen nur eine Viertelmillion, und in der Schweiz wurde fast überhaupt nicht gestreikt.
* General Motors ist, an Umsatz beziehungsweise »Bruttosozialprodukt« gemessen, der zehntgrößte Staat der westlichen Welt.
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Um nicht hinter ihren italienischen Kollegen zurückzustehen, strengten sich die englischen Arbeiter mehr an und konnten einige Jahre später den Abstand verringern. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1972 kosteten wilde Streiks und andere Arbeitsniederlegungen die britische Wirtschaft genau 15 460 000 Arbeitstage - mehr als in jedem vollen Jahr seit 1926, das den großen Generalstreik brachte. Vorteilhaft (zumindest in diesem Punkt) hebt sich dagegen die Situation in der Sowjetunion und in Osteuropa ab.
In den Vereinigten Staaten und den übrigen westlichen Ländern erscheinen immer mehr Beschäftigte zu spät im Betrieb. Beschwerden über schlechte Arbeit nehmen rasch zu, ebenso wie Disziplin- und andere Probleme. Auch der Arbeitsplatzwechsel weist eine steigende Tendenz auf. Freiheit ist zu Verantwortungslosigkeit entartet. Das alte amerikanische Sprichwort »Wenn dir deine Firma nicht paßt, dann geh!« zieht heute nicht mehr. Aus einem jüngst veröffentlichten Bericht geht hervor, daß in den USA der Arbeiter in der Privatwirtschaft - ausgenommen die Landwirtschaft -während seines Berufslebens durchschnittlich fünfmal die Firma wechselt.
Freiheit wurde zu Unrecht ausgelegt als Freiheit zum Nichtstun, zum Streiken, zum Fernbleiben von der Arbeit, zur Rücksichtslosigkeit auf die, für die die Güter und Dienstleistungen der Wirtschaft bestimmt sind. Die Arbeiter erkennen und verstehen nicht, daß der Mißbrauch von Wesen und Macht der Freiheit zu leicht dazu führen kann, daß die Freiheit von verlorengeht.
Der steigende Lebensstandard
In den vergangenen zehn Jahren ist der Lebensstandard der Arbeiter rascher gestiegen als der der Mittelschichten. Arbeiter sind heute großenteils jüngere Menschen mit einer besseren schulischen und beruflichen Ausbildung. Es wird geschätzt, daß 1985 in den USA diese Bevölkerungsgruppe zu mehr als fünfzig Prozent aus Menschen unter 35 Jahren bestehen wird. Dies wird zweifellos bedeutsame Veränderungen zur Folge haben.
Die Arbeiter von heute haben ganz andere Ansprüche als ihre Vorgeneration. Und sie bringen ihre Ansprüche viel energischer, militanter vor. Sie wollen nicht nur bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen, sie streben nach mehr Mitspracherechten und mehr Befriedigung durch die Arbeit. Wer soll diese Wünsche befriedigen?
Nicht eine Industrie, die starr am Hergebrachten festhält. Die Industrie produziert, um nur ein Beispiel zu nennen, noch immer Verbrennungsmotoren, die giftige Gase erzeugen. Das Auto fordert heute allein in den USA 56 000 Tote pro Jahr und etwa 45 Millionen Verletzte, abgesehen von den
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Vermögensschäden in Höhe von zwanzig Milliarden Dollar. Diese Schrek-kensbilanz konnte eine Autofirma nicht davon abhalten, ein neues Modell auf den makabren Namen »Marauder« zu taufen, was nichts anderes als Wegelagerer bedeutet.
Riesen sind, wie der Dinosaurier uns lehrt, unfähig, sich zu entwickeln und anzupassen. Arthur K. Watson, Sohn des Gründers von IBM, bemerkte über die »Aufgeschlossenheit« seiner Firma für Neuerungen: »Der Plattenspeicher, das Herzstück des heutigen >Random<-Zugriffs-Computer, war nicht die logische Folge einer Entscheidung des IBM-Managements. Er wurde in einer unserer Forschungsabteilungen heimlich entwickelt - trotz der strengen Anweisung von oben, das Projekt wegen Etatschwierigkeiten fallenzulassen. Eine Handvoll Männer ignorierte die Weisung. Sie riskierten ihren Job, weil sie an die Idee glaubten.« Ideen, an die jemand glaubt, sind nicht nur in der Industrie, sondern auch in gesellschaftlichen Systemen die Kräfte der Erneuerung.
Die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit
Streiks, übermäßige Forderungen, ein bestimmtes Pensionsalter, das auch der Produktive nicht überschreiten kann, Familiengelder - all dies sind Dinge, die nicht mehr in unsere Zeit passen und den Menschen seiner Arbeit nur noch mehr entfremden. Sie führen dazu, daß der Begriff der Arbeit herabgewürdigt wird. Wir brauchen dringend eine neue Sinngebung für Begriffe wie das Recht auf Arbeit, das vielfach durch die Gewerkschaften wie durch den Staat schwer beeinträchtigt wird. Wir brauchen eine Neudefinition des Streikrechts, das derart überstrapaziert wurde, daß es nachgerade seinen Sinn verloren hat. Und wir müssen das ganze System der Tarifbeziehungen neu regeln, das heißt, vom Machtdenken befreien und viel mehr als bisher an der Freiheit orientieren.
Vor einem Vierteljahrhundert unterbreiteten in den USA zwei Männer einen Vorschlag zur Lösung dieses Problems: der inzwischen verstorbene Charles E. Wilson, der seinen Posten als Präsident von General Motors aufgab, um in der Regierung Eisenhower das Verteidigungsressort zu übernehmen, und der gleichfalls verstorbene Walter P. Reuther, damals Chef der amerikanischen Automobilarbeitergewerkschaft. 1948 schlossen sie einen zukunftsweisenden Vertrag über eine »gemeinsame Gestaltung des Fortschritts«. Was ist daraus geworden?
Dieser Vertrag legte als Basis für Lohnerhöhungen eine dreiprozentige jährliche Zunahme der Produktivität und die Schmälerung der Reallöhne durch den Anstieg der Lebenshaltungskosten fest. Dabei handelte es sich um
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relativ maßvolle Steigerungen, wenn auch die eingebaute Gleitklausel in gewissem Maße inflationär wirkte. Immerhin wurden damit exorbitante Lohnforderungen ausgeschlossen. Hinter dem Reuther-Wilson-Abkommen standen zwei Grundüberlegungen: Erstens, daß es die Aufgabe des Staates sei, durch die Steuer- und Geldpolitik den Geldwert einigermaßen stabil zu halten; und zweitens, daß die Arbeiter einen Anspruch auf einen angemessenen Anteil am Produktivitätsfortschritt der Wirtschaft in Form einer Garantie erhalten sollten, daß die Kaufkraft ihrer Löhne jährlich um drei Prozent steigt.
Soziale und wirtschaftliche Faktoren verhinderten, daß der Wilson-Reuther-Plan wie vorgesehen funktionierte. Das stärkste Hindernis bildeten die Gewerkschaften, die unter dem ständigen Druck der Basis stehen; sie strapazierten und entwerteten die Wilson-Reuther-Formel, indem sie immer wieder Zusatzleistungen forderten. Da heute diese Leistungen - Zuschüsse zur Altersversorgung, zur Arbeitslosenversicherung, Urlaubsgelder und ähnliches - in den verschiedenen Ländern fünfundzwanzig bis fünfundsiebzig Prozent der gesamten Lohnsumme ausmachen, bewirkt allein dies schon einen inflationären Schub*.
Der zweite wichtige Grund, warum das Wilson-Reuther-Abkommen sein Ziel verfehlte, ist darin zu suchen, daß die amerikanische Regierung im Kampf gegen den Geldwertschwund immer wieder unterlag. Die enorme Steigerung der Verteidigungsausgaben, zuerst für den Korea-, dann für den Vietnamkrieg, in Verbindung mit einer unglücklichen Steuer- und Geldpolitik löste eine derartige Preis- und Lohnexpansion aus, daß die Gleitklausel sich, entgegen der ursprünglichen Absicht, zu einem Motor der galoppierenden Inflation entwickelte. In den meisten europäischen Ländern ist aus der trabenden inzwischen ebenfalls eine galoppierende Inflation geworden; die Bundesrepublik zeigte lange Zeit eine bemerkenswerte Preisstabilität, bis 1969 die sozialliberale Koalition ans Ruder kam und sich bei ihren Wählern durch eine sorglose Konjunkturpolitik bedankte.
Die Mäßigung des Konservativen
Die meisten von uns hätten gern eine Philosophie, die dem Menschen eine Ausnahmestellung in der Welt gibt, ohne daß er sich geistig und körperlich besonders anstrengen muß, eine Philosophie, die ihm schmeichelt und für Wachstum sorgt. Man hat uns beigebracht, Wachstum bedeute Glück, sei
* Der Prozentsatz schwankt je nach dem betreffenden Land. In den USA liegt er näher bei fünfundzwanzig, in Italien näher bei fünfundsiebzig Prozent.
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ein Allheilmittel für alle Leiden und der Grundstein der Hoffnung. »Nächstes Jahr wird unsere Familie reicher, unsere Firma größer, unser Land mächtiger sein.« Diese Denkart wird durch die Maschine gestützt und gefördert.
Die Maschine, meint Marx im »Kapital«, sei nicht nur eine überlegene Konkurrentin für den Menschen, die ihn überflüssig zu machen drohe, sondern auch eine menschenfeindliche Macht, die ihn mißbrauche. Sie sei die schärfste Waffe zur Unterdrückung von Streiks, mit denen sich die werktätige Klasse von Zeit zu Zeit gegen die Autokratie des Kapitals auflehne. Was haben die sozialistischen Staaten bisher getan, um diese Zwangsherrschaft zu mildern? Die Antwort liegt auf der Hand: nichts! Ja, sie haben diese Herrschaft sogar noch gestärkt, indem sie der politischen Macht die alleinige Verfügungsgewalt über das Kapital gaben und damit die »Versklavung« des Menschen durch die Maschine noch beschleunigten.
»Versklavung« ist natürlich ein zu starkes Wort; weder im Osten noch im Westen versklavt die Maschine den Menschen, ganz im Widerspruch zu Marx' Prophezeiungen. Im Gegenteil, sie macht den Menschen frei für andere Aufgaben, doch da wir die Zeit, die wir haben, nicht zu nutzen verstehen, können nur wenige diese Wirkung würdigen.
Wenn wir die vom Menschen geschaffenen Systeme und die mögliche Beeinflussung durch die Maschine untersuchen, müssen wir Ursachen und Wirkungen genau analysieren. Was größere soziale Auswirkungen betrifft, so geht es unter anderem um den Einfluß der Maschine auf die Anforderungen, die an die Qualifikation von Arbeitskräften gestellt werden. Man sollte nicht vergessen, daß wir in den vergangenen zwanzig Jahren zu unserer Überraschung erkennen mußten, daß der technische Fortschritt die Qualitätsansprüche keineswegs senkt, sondern steigert.
Deutschland braucht heute, trotz der Selbstdisziplin und überdurchschnittlichen Produktionskraft seiner Arbeiter, ausländische Arbeitskräfte, um das Wachstum der Industrieproduktion aufrechtzuerhalten. Die Gastarbeiter, die vor allem aus Südeuropa kommen, sind zumeist in untergeordneten Stellungen beschäftigt, was es deutschen Arbeitern ermöglicht, in höhere Positionen aufzurücken. Dies führt - unerfreulich, aber unvermeidlich - zu einer Teilung der Beschäftigten in solche erster und solche zweiter Kategorie. Das gleiche Phänomen ist schon lange in den USA (und inzwischen auch in Japan) zu beobachten. Farbige, Mexikaner und Puertorikaner nehmen in wachsendem Maß die einfachen und schlechter entlohnten Jobs ein, was anderen Arbeitskräften die Möglichkeit gibt, in eine einträglichere Stellung überzuwechseln - beziehungsweise, sie werden auf die Straße gesetzt.
Die Maschine, Teufel oder Gott, hat in sämtlichen Industriestaaten eine Kategorie von Bürgern zweiter Klasse entstehen lassen. Nicht bewußte so-
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ziale Diskriminierung, sondern wirtschaftliche Faktoren waren dafür bestimmend. Ist die Maschine oder die Gemeinschaft wirklich dafür verantwortlich? Als Individuum ist der Mensch unwichtig für die Gemeinschaft, ob sie nun als Staat, Industrie, Gewerkschaft oder Einzelhandelsimperium auftritt. Er ist nur wichtig als eine Nummer, als gesichtsloser Konsument oder als ein unwesentliches Element der Organisation, der er angehört.
Daß man der Maschine die Schuld an allen Übeln gibt, hat zum Teil rein historische Gründe. Zwischen 1850 und 1871 verlagerte sich der wirtschaftliche Schwerpunkt von den Hauptproduktionszweigen der Industriellen Revolution - Kohle, Dampf, Textilien und Werkzeugmaschinen - auf neue Branchen: Stahl, Elektrizität, organische Chemie und, später, Verbrennungsmotoren. Heute, ein Jahrhundert später, befinden wir uns in der Anfangsphase eines ähnlichen und ebenso tiefgreifenden Wandels, der nicht nur neue Technologien, sondern auch eine neue Entwicklung in Wissenschaft und Logik sowie veränderte Einstellungen bringen wird.
Der Einsatz von Maschinen trägt seit Jahrzehnten zu einem raschen Wachstum an Arbeitsmöglichkeiten, Einkommen, Lebensstandard und auch an Lebensansprüchen bei. Die Gefahr liegt nicht in der Maschine selbst, sondern darin, wie der Mensch sich ihrer bedient. Das Leitprinzip der zügellosen Massenproduktion ist der Wahn, daß es für das Wachstum keine Grenzen gebe. Der Mensch, nicht die Maschine, übersieht, daß es Grenzen gibt, jenseits deren das Wachstum zur Gefahr wird, daß unser Planet diese Entwicklung nicht mehr lange verkraften kann, die unvermeidlich einen sozialen und biologischen Kollaps heraufbeschwören wird.
Das Wachstum folgt einem exponentiellen Verlauf, es multipliziert sich. Dies gilt mehr oder weniger für die Bevölkerung, die Industrieproduktion, die Umweltverschmutzung und für die Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe, um einige der für die ganze Erde wichtigsten Faktoren zu nennen. Exponentielles Wachstum ist eine trügerische Sache: Lange Zeit hält es den Menschen in der Illusion befangen, die Entwicklung gehe langsam vor sich, aber dann überstürzt sich alles mit einemmal. Dies ist der Grund, warum die Allgemeinheit kaum erkennt, wie rasch wir uns vielleicht schon den Grenzen der Expansion nähern. Während des Dreißigjährigen Krieges hat auch niemand erkannt, wie rasch sich für die Bevölkerung Mitteleuropas die Gefahr der Selbstvernichtung näherte.
Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges waren eine Lektion, die nicht so bald vergessen wurde. Mehr als ein Jahrhundert widerstanden die Staatsmänner und Feldherren Europas der Versuchung, ihr militärisches Potential bis an die Grenze des Zerstörerischen einzusetzen, bis zur endgültigen Vernichtung des Gegners. Die europäischen Staaten waren natürlich nach wie vor aggressiv, habgierig und ruhmsüchtig, aber sie waren auch vorsichtig und konservativ. Sie wollten um jeden Preis ihre Welt intakt und lebensfähig erhalten.
Unser Jahrhundert hingegen sieht anders aus. Seit dreißig Jahren gibt es keine vorsichtigen Konservativen mehr, nur radikale Nationalisten auf der Linken und radikale Nationalisten auf der Rechten, Umweltzerstörer, Over-killer, Ausbeuter der irdischen Schätze, die wähnen, der Raubbau in Krieg und Frieden könne ewig so weitergehen. Einer der letzten wahrhaft konservativ gesinnten war der fünfte Marquess of Lansdowne, der während des Ersten Weltkriegs in einem Leserbrief an die »Times« vorschlug, man solle den Weltkonflikt mit einem Kompromiß beenden, wie es im 18. Jahrhundert üblich war. Aber diese einstmals konservative Zeitung lehnte den Abdruck der Zuschrift ab. Niemand fiel den nationalistischen Radikalen in den Arm, und wir alle kennen die Folgen: Bolschewismus, Faschismus, Inflation, Weltwirtschaftskrise, Hitler, Stalin, der Zweite Weltkrieg und beinahe weltweiter Hunger.
Viel von dem, was die menschliche Spezies zum Überleben braucht, kann uns das Kulturerbe geben, nicht aber zügellose Freiheit. Die Pflicht muß wieder mehr gelten als Vorrechte. Sie hat schließlich immer ihre Rolle im menschlichen Leben gespielt. Freiheit und Verpflichtung gehören zusammen. Ohne eine gewisse menschliche Freiheit herrschten Apathie und Stagnation. Und ohne das selbstverständliche Bekenntnis zu Pflicht und Verantwortung herrschte das Chaos.
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Zwangsarbeit
Seit den Anfängen einer organisierten Landwirtschaft hat der Mensch Arbeitsformen geschaffen, die immer mächtiger, immer komplexer und immer unpersönlicher wurden. Vom Ackerbauern zum Handwerker, vom Industriearbeiter zum leitenden Angestellten - die Vor- und Nachteile von Arbeitsprozessen haben sich vervielfacht. Der Mensch hat das Verständigungsproblem durch die Erfindung der Sprache gelöst, er erzielt Leistung durch Arbeit, und die nächste große Aufgabe, die er sich gestellt hat, geht darum, wie die Umwelt seinen Bedürfnissen, Wünschen und Träumen anzupassen sei. Eines der Produkte der Arbeit ist der Mensch selbst, im positiven wie im negativen Sinn. Die Arbeit formt den Menschen und zugleich zerstört sie ihn auch. Sie gibt ihm einen Sinn, bringt ihm aber auch Entfremdung und zwingt ihn zur Unterordnung.
Seit den ersten Anfängen des Ackerbaus ist die Welt Zeuge menschlicher Bestrebungen, »niedrigere« Arbeiten durch Tiere verrichten zu lassen. Fron-und Zwangsarbeit ließen die Vorstellung aufkommen, es bestehe vielleicht eine Ähnlichkeit zwischen den Diensten, für die Tiere eingesetzt werden, und bestimmten Arten menschlicher Arbeit. Immer wieder haben Menschen andere Menschen als eine Art Währung benützt, wenn auch Bedeutung und Rolle der Sklaverei je nach den Zeiten stark schwankten.
Die Art und Weise, wie die Araber mit den Negern verfuhren, fand Nachahmung und ließ den europäischen Sklavenhandel entstehen. Zuerst erwachte der Geschäftseifer der Portugiesen, die als erstes europäisches Land zum Zweck des Sklavenfangs Forts an der afrikanischen Westküste bauten und von dort Negersklaven nach Europa und später in die amerikanischen Kolonien verschifften. Der erste Engländer, der in dieses Geschäft einstieg, war Sir John Hawkins, der ein Vermögen mit Schwarzen machte, die er an der Küste Westafrikas einfing und mit seinem Schiff »Jesus« über den Atlantik transportierte.
Die Abschaffung der Sklaverei im Westen erhöhte das Ansehen des Arbeitsplatzes. Die Größe der Arbeit liegt in der Fähigkeit des Menschen, Aufgaben unterschiedlicher Komplexität innerhalb einer von ihm festgesetzten Zeit zu bewältigen.
Die menschliche Arbeit hat jedoch von jeher ein Doppelgesicht.
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Die rituellen Wesensmerkmale der großen Kulturen der Vergangenheit wurzelten in der überlegenen Stellung einer Minderheit, die sich die Mehrheit unterordnet und diese zur Arbeit zwingt.
Die ägyptischen Pyramiden, die griechischen Tempel und die mittelalterlichen Kathedralen gaben dem abstrakten Zwangsarbeitssystem Ziele, die für die große Mehrheit annehmbarer waren und den Anschein erweckten, als sei ihre Arbeit durch die Resultate gerechtfertigt. Die Sklaverei wurde, wenn man es genau nimmt, nur dem Namen nach abgeschafft. Die modernen Sklaven sind die »Angestellten«, die Krawatte, einen gutgebügelten dunklen Anzug, weißes Hemd und schwer an ihren ehelichen Problemen tragen. Das Los des Durchschnittsmenschen, so sagt man uns, habe sich verbessert. Unsere Produzenten-Konsumenten-»Ideologie« hat zwar einen Schritt zur Humanisierung getan und dem Konsumenten die Früchte der Arbeit des Produzenten nähergebracht. Dafür aber wurden die großen Leistungen der Vergangenheit durch die Verbreitung der Mittelmäßigkeit ersetzt.
Die Arbeit innerhalb einer großen Organisation hat ihre Nachteile, und dennoch ist sie das Ziel, das qualifizierte Kräfte und begabte Köpfe anstreben. Selbst Wissenschaftler wollen für jemanden arbeiten. Paradoxerweise, schreibt William Whyte jr.*, beschränke sich heute der alte Traum von wirtschaftlicher Selbständigkeit ausschließlich auf die Fabrikarbeiter, die ihn am wenigsten wahrmachen können. Damit stimmt überein, daß sich weniger als fünf Prozent der Universitätsabgänger in den USA selbständig machen wollen. Zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent beabsichtigen in die väterliche Firma einzutreten. Die übrigen haben zumeist ein einfaches Ziel: Arbeit in einem Großunternehmen - also Gemeinschaft par excellence. Der Universitätsabsolvent würde, wenn befragt, vermutlich argumentieren, er scheue sich nicht vor dem Risiko, aber er wolle es dort eingehen, wo am meisten herausspringe. Beim Staat und in den Konzernen gebe es große Laboratorien, Marktforschungsabteilungen, zahlreiche gehobene Verwaltungspositionen und vor allem Sicherheit für die leitenden Angestellten.
Erster Hauch eines wissenschaftlichen Zeitalters
Von Kernreaktoren, Computern und Raketen abgesehen, hat die Wissenschaft weder phantasievolle neue Produkte noch große gesellschaftliche Zukunftsperspektiven beigesteuert. Kein Wunder, wenn sich heute abzeichnet,
* »The Organisation Man«, New York 1956.
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daß einige Regierungen allmählich zu der Erkenntnis kommen, die Förderung, die sie mehr als ein Vierteljahrhundert der »Superwissenschaft« angedeihen ließen, um so die schöne, großartige neue Welt schneller Wirklichkeit werden zu lassen, habe sich nicht bezahlt gemacht.
Die Wissenschaft hat nur geringen Anteil an der Entwicklung von Automobil und Flugzeug; die meisten Maschinen, die heute zum Alltag gehören, sind Früchte praktischer, handwerklicher Erfahrung. Edison war weit mehr ein Handwerker alten Schlags als ein Forscher. Lediglich in der industriellen Physik und Chemie hat die Arbeit von Erfindern mit Universitätsausbildung Früchte getragen.
Das »Manhattan-Projekt« - die Konstruktion der ersten Atombombe - rückte die Wissenschaft mächtig ins Licht. Peenemünde war der zweite Grundstein des großen wissenschaftlichen Unternehmens, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts begann und noch heute anhält, mit Niveau- und Temposchwankungen je nach dem betreffenden Land und der zeitlichen Periode. Die Einäscherung von Hiroshima und die Landung auf dem Mond sind zwei Beispiele der gegensätzlichen Resultate, zu denen die großzügige finanzielle Förderung wissenschaftlicher Forschungs- und Entwicklungsprojekte führen kann. Beide haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen, aber ihr Wert für die menschliche Gesellschaft war negativ oder gleich Null. Wie sehen die Resultate aus? Der nüchterne Beobachter stellt fest, daß das Abenteuer der Wissenschaft enttäuschend, aber voller Überraschungen war. Der Durchschnittsbürger hingegen ist noch nicht bereit, diesen negativen Aspekt zu sehen.
Seit dem Augenblick, da die Wissenschaft zum erstenmal dem Gewinnstreben nutzbar gemacht wurde, ist das Wissen zur zentralen Hilfsquelle geworden. Aber dies heißt nicht, daß die Wissenschaft einen Weg entdeckt hätte, zur Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele beizutragen, was ihr freilich in den kommenden Jahrzehnten gelingen könnte. Die Erfahrung zeigt immerhin eines ganz klar: Lebenslanges Lernen ist der Schlüssel zu einer Zukunft, die im Zeichen der Wissenschaft steht. Allerdings kann die Aneignung von Wissen allein niemals die Erfahrung ersetzen, die traditionell durch eine lange »Lehre« erworben wird. Wissen und Erfahrung müssen sich verbünden.
Wenn man die Pforten des Unbekannten aufschließen will, darf man die Lehren aus der Vergangenheit und die Verwirklichung gesellschaftlicher Zielsetzungen nicht aus dem Blick verlieren. Wissenschaftsintensive Industriezweige unterscheiden sich von herkömmlichen dadurch, daß in ihnen mehr Wissens- als manuelle Arbeit geleistet wird. Dies ist ein Charakteristikum der Wissensrevolution: Die Produktivität des Arbeiters hängt von seiner Fähigkeit ab, die erlernten Ideen und Theorien in die Praxis umzuset-
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zen. Allerdings kann ein Land nicht über Nacht seine Wirtschaft, die bisher vorwiegend von manueller Arbeit bestimmt wurde, auf Wissensbasis umstellen, und selbst wenn diese Umstellung vollzogen wird, stellt sich die Frage: Wer wird das Produkt kaufen?
Die »Wissensindustrie«, die statt Waren und Dienstleistungen Ideen und Informationen produziert und verteilt, bestritt 1955 ein Viertel des amerikanischen Bruttosozialprodukts, das Dreifache des Anteils vom Jahr 1900. Schon 1965 entfiel ein volles Drittel des inzwischen stark angewachsenen Bruttosozialprodukts auf den Wissenssektor, und bis zum Ende der siebziger Jahre könnte sich der Anteil durchaus auf fünfzig Prozent vergrößern. Diese Zahlen sind eindrucksvoll. Wissen wird zum Schlüssel für Konkurrenzfähigkeit und wirtschaftliche Leistung.
Wir können diese Zahlen anzweifeln; nicht bezweifeln läßt sich dagegen unser Unvermögen, einige einfache Grundfragen zu beantworten, bevor wir uns auf folgenschwere Unternehmungen einlassen: Was sind unsere Ziele? Wohin geht die Reise? Nach welchen Regeln? Denn blindlings auf ein unbekanntes Ziel zuzustürmen kann heißen, sich ins Verhängnis zu stürzen. Die Verfechter eines wissenschaftlichen Großabenteuers werden sagen, die Menschheit habe eine glanzvolle Zukunft vor sich, da heute neunzig Prozent der Wissenschaftler und Techniker, die es in der ganzen Geschichte gegeben habe, an der Arbeit seien. Aber was heißt das schon? Eine gigantische Ansammlung menschlicher Denkkraft, die ohne feste Richtungsangabe in Bewegung gesetzt wird, läßt sich mit einem Fahrzeug vergleichen, das mit zweihundert Stundenkilometer Tempo durch dichten Nebel rast.
Die Zentralisierung von Entscheidungen
Eines der wichtigsten Probleme, die sich in den kommenden Jahrzehnten stellen werden, ist die Zentralisierung von Entscheidungsprozessen. Die Entwicklung der Computertechnologie bewirkt, daß die Entscheidungen in zunehmendem Maß auf eine kleine Elite konzentriert werden, während in weniger wichtigen Fragen die Mitbestimmung innerhalb der Organisationsstruktur zunehmen wird. Männer, die das Zeug für Führungspositionen haben, werden weniger Wert auf eigenes Spezialistentum legen, sondern sich bemühen, im Team zu arbeiten. Computer sind mächtige Helfer bei der Problemlösung, aber doch nicht mehr als Mittel zum Zweck. Bedeutung gibt ihrer Rolle, daß die Probleme, mit denen wir es allgemein wie auch im wissenschaftlichen und öffentlichen Bereich zu tun haben, immer komplexer und unübersichtlicher werden. Während der Mensch sich bemüht, Probleme zu lösen, schafft er neue und immer größere.
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Für die meisten Ensembles der Natur gilt, daß wir bis jetzt noch nicht wirklich verstehen, was im Innern der Systeme vor sich geht. Wir stehen sozusagen vor einer Kaskade von Inputs und Outputs, von Ursachen und Wirkungen. Der Grund dafür liegt nicht nur in der Schwierigkeit des Themas an sich, sondern auch, wenn nicht hauptsächlich, in der traditionellen Denkart und Ausbildung der Fachleute. Schon das Problem, wie Wissenschaft und Technologie den Code der Natur brechen sollen, wird recht naiv gesehen. Wir haben im Lauf der Jahrhunderte ein System von Theorien und Verfahren entwickelt, das für den Bereich der Physik funktioniert, sich aber nur schwerfällig auf den Umgang mit der Biomechanik einstellen kann.
Ähnlich ist es um das Studium von Ursache und Wirkung im gesellschaftlichen Bereich bestellt; intuitive Lösungen komplexer Probleme zeitigen oft andere als die erwarteten Wirkungen. Der jüngst verstorbene Professor J. W. Forrester vom Massachusetts Institute of Technology hat gezeigt, daß die Verbesserung der sanitären Verhältnisse in Slums die Geburtenziffer hochtreibt und damit die Lebensbedingungen noch elender macht. Solche Beispiele veranlassen Karl Steinbuch zu der Frage, ob es möglich sei, komplexe technische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen gefühlsmäßig oder mittels unkontrollierter Erfahrung zu steuern. Brauchen wir nicht vielleicht ein neues, effizientes, breitgefächertes Instrumentarium der Systemtheorie?
Steinbuch beantwortet seine Frage mit der Feststellung, die künftige Forschung müsse qualitativ bessere Entscheidungen ermöglichen. Um unerfüllbare Erwartungen von vornherein auszuschließen, sollte die Systemarbeit die Untersuchung der Realität von der Begründung eines Wertsystems trennen. Immer wenn zwischen diesen beiden Aspekten nicht unterschieden wird, ist die Folge Unklarheit; Phantasie und ein falsches Realitätsverständnis verschwimmen zu einem unrealistischen Ganzen. Die Systemforschung kann sich auf technische, soziale, wirtschaftliche, politische Systeme und so weiter konzentrieren, aber in keinem Fall darf die Beschäftigung mit der Zukunft in einer verantwortungslosen Tagträumerei bestehen. Sie muß ständig ihre früheren Prognosen und Entwürfe überprüfen und notfalls ihre Methoden entschlossen ändern.
Der Computer
Ob auf die heutigen Bedürfnisse oder auf die Anforderungen der Zukunft ausgerichtet, Management-Entscheidungen hängen von Informationen ab. Wenn die Gesellschaft sich auf eine im Wandel begriffene Welt einstellen soll, braucht das Management rasch bereitgestellte, zuverlässige Daten; und
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dies wiederum verlangt Systemanalyse, die sachgerechte Durchführung der entsprechenden Methoden, unterstützt durch die Anwendung der richtigen Mittel. Computer leisten, wenn sie zweckentsprechend eingesetzt sind, einen bedeutenden Beitrag zur Umformung der Substruktur der Massengesellschaft, was wichtig ist in einer Zeit, da viele hergebrachte Werte wanken. Die Informationsverarbeitung muß sich darauf einstellen, daß das Management selbst in einem Übergang vom »Status quo« zu einem Zustand permanenter Umwandlung begriffen ist. Der Veränderungsprozeß in der Praxis des Managements trägt dem Umstand Rechnung, daß Forschung, Entwicklung, Produktion, Marketing, jede Phase des Prozesses, Informationen und effiziente, wirkungsvolle Methoden für die Verarbeitung dieser Daten erfordern: ein Informationssystem für das Management, das heißt, eine integrierte, auf Computer-Basis beruhende Konfiguration von Menschen, Methoden und Arbeitsgerät zur Bereitstellung von Informationen, die stichhaltige Entscheidungen über Prognosen und optimalen Mitteleinsatz möglich macht. Die kritischsten Komponenten eines solchen Systems sind intelligente Analyse und Weitblick der Perspektive. Der Computer ist lediglich die Apparatur, deren sich Informationssysteme bedienen; sein Platz ist im Hintergrund, dennoch bleibt er ein wichtiger Teil des Ganzen.
Die Leistung des Managements in der Massengesellschaft von morgen läßt sich voraussagen, wenn man prüft, wie es heute in bestimmten Unternehmen, Ländern oder Ländergruppen um die Informationstechnik bestellt ist. In Osteuropa, einschließlich der Sowjetunion, besteht ein Rückstand im Computer-Management. Erst jetzt erkennt man in diesem Teil der Welt allmählich, daß die Information das Element der Veränderung ist.
Großsysteme sind anscheinend nicht in nennenswertem Ausmaß vorhanden, und wenn, dann werden sie offenbar nicht im Bereich von Handel und Industrie (ausgenommen militärische und Raumforschung) eingesetzt. Schwächen weist vor allem der Input-Output-Bereich auf: Computer-Graphiken sind unbekannt; ebenso interaktive Datenstationen; die verfügbaren Drucker arbeiten zu langsam und verwenden kein »Leporello«-Papier, so daß es den Output nur in Form eines Originals der Hard-Copy gibt. Dies macht zwar technische Berechnungen nicht unmöglich, stellt aber ein großes Hindernis für Management-Programme dar. Für ein nationalkommunistisches Regime bedeutet es ganz gewiß ein ernstes Handikap: Je stärker in einer Organisationsstruktur die Entscheidungen zentralisiert sind, um so größer ist der Appetit auf »Leporello«-Papier.
Die neue Management-Technik, die in den vergangenen zehn Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde, ist auf den Computer angewiesen. Dies erklärt den Niveauunterschied der Managementleistung im Osten und im Westen. Aber Lösungen auf Computer-Basis beschränken sich nicht nur auf die Nutzung vorhandener Anlagen, sie verlangen auch, daß die
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Management-Informationssysteme einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden, um einen effizienten Informationsfluß zu gewährleisten, der die Strukturveränderung berücksichtigt. Der Abstand zwischen den kommunistischen Staaten und Westeuropa zeigt sich deutlich am Mangel an Hardware. Westeuropa hat zwar noch nicht die gleiche Dichte des Computer-Potentials wie die USA, doch vergrößert sich der Bestand an Anlagen mit jedem Jahr, was sich wiederum auf die Management-Methodik auswirkt. Anders als in der Sowjetunion, wo es an Hardware fehlt, besteht das Problem in den USA und Europa nicht so sehr im Mangel an Ausrüstung, sondern an Know-how. Mitte der siebziger Jahre werden in Europa schätzungsweise 250.000 Computer-Fachleute fehlen, eine Zahl, die sich bis Ende des Jahrzehnts verdoppeln dürfte. In Holland beispielsweise, wo gegenwärtig 20.000 Fachkräfte an Computern arbeiten, rechnet man für 1975 mit dem anderthalbfachen Bedarf. Computer-Experten werden vor allem von den Firmen gebraucht werden, deren Management den Wagemut besitzt, das Informationssystem neuzugestalten und damit die ganze Organisationsstruktur umzubauen.
Projekt-Management
Die Arbeit des Menschen als Forscher, die auf die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet ist, kreist von Anfang bis Ende um ein Hauptthema: die Bewertung von Talent, Wissen und Können bei jedem großen Unternehmen. Ein Beispiel dafür geben die wissenschaftlichen Projekte, die im letzten Weltkrieg in Deutschland in Angriff genommen wurden. Alles, was wir mit eindeutiger Sicherheit über die deutsche Kernforschung in der Kriegszeit wissen, zeigt klar, daß die Einstellung der Arbeiten an der Atombombe keineswegs eine völlige Fehlberechnung war. Es mangelte an zahlreichen Hilfsquellen, die zur Durchführung des Projekts nötig waren, vor allem aber war man außerstande, das erforderliche geistige Potential aufzubieten.
Zu viele Projekte und Programme hatten damals einen gefräßigen Appetit auf Talent und Wissen entwickelt, und zudem war eine große Zahl von Wissenschaftlern aus Deutschland, Ungarn und anderen mitteleuropäischen Staaten wegen des wachsenden Antisemitismus nach England und Amerika ausgewandert. Das Klima war für die Wissenschaft ungünstig; Rosenberg wetterte gegen die »verjudete Physik«, womit er die Kernforschung meinte, und selbst in der Schule mied man das Thema, weil man sich nicht exponieren wollte. Und dabei hätten die jüdischen Wissenschaftler bei anständiger Behandlung Hitler helfen können, den Krieg zu gewinnen.
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Eine Fülle von Anschauungsmaterial zeigt die ernsten Folgen, die der Mangel an Brainpower im Zweiten Weltkrieg in Deutschland hervorrief. Ein Beispiel gibt die »Heimatfront« nach dem Beginn der schweren alliierten Luftangriffe. Professor Albert Speer berichtete darüber in einem Gespräch, das wir im September 1971 in Heidelberg mit ihm führten. Zum Schutz der Städte mußte die Flak verstärkt werden, personell und in der Ausrüstung mit Geschützen und Munition. Dies ging vor allem auf Kosten der Ostfront, beispielsweise was elektronische Geräte betraf. Achtzig Prozent der Produktionskapazität der Elektroindustrie waren allein dem Bedarf der Luftabwehr vorbehalten. Die intensive Arbeit an der Verbesserung des Flak-Systems verhinderte, daß die Bodentruppen in ausreichendem Maß mit modernem elektronischem Nachrichtengerät versorgt wurden, so daß die Infanterie an der Front in Rußland wie im Ersten Weltkrieg per Draht Verbindung halten mußte.
Die schwierige Situation der deutschen Wissenschaft im Krieg, die Entfremdung der Wissenschaftler, die Verfemung jüdischer Forscher und Industrieller, all dies war das Resultat eines fundamentalen Fehlers. Hitler hatte keinen Ratgeber vom Format eines Professor Lindemann, auf dessen Kenntnisse und Erfahrung sich Churchill während des ganzen Krieges stützte. Er mußte auf das Können von Männern wie v. Neumann, Fermi, Kistiakowski, Bohr, Teller und Szilard verzichten, die in Amerika Zuflucht gesucht hatten.
Organisatorisch hatte das Deutschland der dreißiger Jahre von dem des Jahres 1918 viel zu lernen. Albert Speer berichtete, die Industrie habe im Krieg ohne ein klares, konsequentes staatliches Programm arbeiten müssen, ständig behindert von neuen Projekten, von Aufgabenstellungen, die jeden Monat wechselten. Von einer Produktionsplanung, die diesen Namen verdiente, habe keine Rede sein können. Wenn ein neues Projekt in Angriff genommen wurde, litten andere darunter, und die gesamte Zeitplanung wurde über den Haufen geworfen.
Wenn der Mensch über seine Zukunft bestimmen will, muß die Einsicht Raum gewinnen, daß unsere Gesellschaft unmerklich das industrielle Zeitalter verlassen hat und in das nachindustrielle - die »Epoche des Wissens« -eingetreten ist. Heute bemißt sich Erfolg oder Mißerfolg an der Produktion und am Einsatz von Wissen. Die Evolution der Zukunft wird im menschlichen Gehirn stattfinden: Wissen bestimmt das Schicksal von Nationen, Städten und Menschen.
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Das Beispiel Walther Rathenau
Walther Rathenau* ist das beste Beispiel eines Mannes, der die kreative Seite der Arbeit und die Notwendigkeit erkannte, an die Lösung komplexer Probleme mit bewußter Planung heranzugehen. In seiner Stellung als Leiter der Rohstoffversorgung während des Ersten Weltkriegs entwickelte er einen Grundsatz, aus dem das heutige »Projekt-Management« hervorgegangen ist. Darin spiegelt sich Rathenaus Überzeugung, daß Arbeit und Produktion zentral gesteuert, vor allem aber, daß Denkprozeß und Zeitnutzung rational organisiert werden können.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die deutsche Wirtschaft eine der dynamischsten in der europäischen Industriegesellschaft. Beweis dafür waren die rapiden Anpassungsentwicklungen in ihren Strukturen und ihre flexible Reaktion auf die technischen, sozialen und politischen Veränderungen der damaligen Zeit.
Rathenaus gesellschaftliches Konzept begriff die moderne Welt als einen industriellen und geistigen Gesamtmechanismus, der nur oberflächlich durch nationale Grenzen und innere Klassenunterschiede geteilt war. Diese Auffassung verlangte vor allen Dingen die Beseitigung all dieser unnatürlichen Schranken, welche die volle Entfaltung des Reichtum schaffenden Kapazitätspotentials des modernen Industriesystems behinderten. Geschäftliches oder politisches Genie, schreibt er, erkläre sich nur daraus, daß in der Camera obscura des Geistes ein Bild der Welt entstehe, in dem sich sämtliche Grundgesetze und -bezüge spiegelten. Diese ließen sich dann bis zu einer gewissen Grenze experimentell neu ordnen, so daß sich, die menschliche Begrenztheit eingerechnet, sogar ein Bild der Zukunft ergeben könne.
1913 schrieb Rathenau in der »Neuen Freien Presse« in einem Aufsatz, der sich mit der Zukunft Europas beschäftigte, es gebe noch eine Möglichkeit, eine industrielle Zollunion zu schaffen, der früher oder später die westeuropäischen Staaten angehören würden. Europa zum Freihandel zu bekehren sei zwar ein schwieriges, aber nicht unlösbares Unterfangen. Damit werde ein Wirtschaftsgebilde geschaffen, das es mit den Vereinigten Staaten aufnehmen könne, sie vielleicht sogar übertreffen werde. Rückständige oder unproduktive Regionen innerhalb dieses Wirtschaftsraumes werde es über kurz oder lang nicht mehr geben.
Dies würde auch, meinte Rathenau, die wichtigste Ursache von Mißgunst und Feindschaft zwischen den Nationen beseitigen. Machtstreben, Imperialismus und Expansionsgelüste seien sekundäre Gründe für das fehlende Vertrauen zwischen den Nationen, im Grunde gehe es um wirtschaftliche Fragen. Eine Vereinigung der europäischen Industriemacht - zu der es früher kommen werde, als man glaube - werde auch zu einer Harmonisierung der politischen Interessen führen.
* 1915-1919 Präsident der AEG, zu Beginn des Ersten Weltkriegs Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium, 1922 bis zu seiner Ermordung Reichsaußenminister.
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Die Ereignisse, die seither eingetreten sind, haben Rathenau als einen vorzüglichen Propheten erwiesen. Eine Prophezeiung ist eine Abschätzung künftiger Entwicklungen. Es ist schwieriger, die Zukunft präzise zu prognostizieren, als eine Vorhersage auf bloße Extrapolation zu beschränken. Trotzdem braucht jedes Management - in der Wirtschaft wie im Staat - für seine Entscheidungen Vorhersagen. Eine Prognose, mit der man arbeiten kann, muß einen annehmbaren Grad an Präzision aufweisen, auch wenn Annahmen über künftige Veränderungen niemals völlig korrekt sein können. Ihre Aufgabe besteht darin, eine Basis für Entscheidungen zu liefern, die die Zukunft betreffen. Eine Vorhersage, die es Deutschland erlaubt hätte, sich auf den künftigen Gemeinsamen Markt einzustellen, hätte ihm einen phantastischen wirtschaftlichen Vorteil verschafft.
Der Westen und die Welt
In diesem Jahrzehnt und den kommenden Dekaden müssen wir Bevölkerungsplanung, regionale Spezialisierung und das industrielle Wachstum harmonisch integrieren. Wir müssen das Sozialprodukt gerechter für die erstrebten Ziele einsetzen. Dies ist die Aufgabe der Staaten, die heute in das nachindustrielle Stadium eintreten, und ihrer intellektuellen Kapazitäten; denn sie - die ein Zehntel der Weltbevölkerung umfassen - besitzen 75 Prozent der gesamten Wirtschaftskraft der Erde und erzeugen achtzig Prozent der Nahrungsmittelproduktion; neunzig Prozent der Erdbevölkerung müssen sich dagegen mit zehn Prozent des irdischen Bruttosozialprodukts begnügen. Dies sind einige der Gründe, warum, in westlicher Sicht, die weniger entwickelten Gebiete auf unserem Planeten eine so große Herausforderung darstellen.
Das Raumschiff, auf dem wir leben, wird immer kleiner, und deshalb können wir es uns nicht erlauben, unsere Nachbarn zu vergessen, gleichgültig, wie viele Tausende von Kilometern sie von uns entfernt sind; wir schulden es der Zukunft, uns gründlich mit den Problemen anderer Nationen und Länder zu befassen. Wenn wir uns dieser Aufgabe nicht gewachsen zeigen, droht uns ein Erdbeben größten Ausmaßes. Und sowenig sich gegen ein Erdbeben ausrichten läßt, so wenig werden die Erschütterungen, die Hunger, Unbildung und ein Leben in Armut und Not auslösen, durch Verteidigungswaffen, wie tödlich sie auch seien, einzudämmen sein.
Das Problem muß im weltweiten Maßstab gesehen werden, sonst wird
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unsere Zukunft begleitet sein von gewalttätigen Ausbrüchen, in denen sich wirtschaftliche Not Luft macht. Sicherheit bedeutet Entwicklung, und Entwicklung erfordert Zielsetzungen und planvolles Handeln, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Gemessen an den heute gültigen Wohlstandsbegriffen sind pragmatische Maßnahmen notwendig, um die drohenden Gefahren abzuwenden; wir brauchen eine Neuorientierung der Ziele, wir müssen unsere Aufmerksamkeit den wichtigsten Aufgaben widmen, und wir müssen jede Energievergeudung ausschalten. Der Fortbestand der Menschheit ist nicht mit Tatenlosigkeit zu sichern, er verlangt einen großen Einsatz von Können und Phantasie.
Die Kommunikationsmittel - Computer, Satelliten, Fernsprechkabel und Funk - haben die entwickelten mit den unterentwickelten Ländern verbunden, ohne sie einander wirklich näherzubringen. Ja, gerade die Verbesserung der Nachrichtenverbindungen hat den Unterschied zwischen den verschiedenen Teilen der Welt noch verstärkt und ungewollt dazu beigetragen, daß die unterentwickelten Länder immer weiter zurückbleiben. Plötzlich ist in ganzen Gesellschaften das Bewußtsein einer Realität erwacht, das bisher geschlummert hat, doch sie haben nicht erkannt, daß der Fortschritt gleichsam ein Balanceakt ist - sie kennen nur die eine Seite der Medaille.
Europa sieht sich heute gleich mehreren Herausforderungen gegenüber. Die erste kommt aus seiner eigenen Mitte. Die Gesellschaft selbst - ihre Stellung, ihr Wohlergehen, aber auch ihre Versteinerung - sieht sich heute angefochten, in Frage gestellt. Das entscheidende Problem für die westeuropäische Gesellschaft besteht heute darin, für eine geordnete Umwandlung der Institutionen zu sorgen, neue Wertmaßstäbe zu schaffen und dem Leben im Wohlstand einen neuen Sinn zu geben.
Die Gesellschaft der Zukunft muß bei ihrem ungeheuren Bedarf an ausgebildeten Fachkräften dem Begabten mehr Entscheidungsspielraum geben und ihn an der Verantwortung im Management beteiligen. Länder, die dieser Voraussetzung nicht entsprechen, werden es sehr schwer haben, ihre gesellschaftlichen Probleme zu lösen.
Wenn man hochkarätige Fachleute will, muß man etwas dafür tun. Dies verlangt Talentpflege und eine angenehme Umwelt für den einzelnen, die seine Motivierung stimuliert und ihn elastisch und für Neuerungen aufgeschlossen erhält. Eine solche soziale Umwelt sollte Möglichkeiten der Selbstkritik einräumen, eine Atmosphäre, die unbequeme Fragen zuläßt, in ihrer Struktur elastisch und anpassungsfähig sein und über ein entsprechendes inneres Kommunikationssystem verfügen.
Für Westeuropa, Amerika oder die Dritte Welt gilt gleichermaßen, daß die soziale Unruhe, soll sie behoben werden, energisches Handeln verlangt,
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das den Einsatz der erforderlichen Brainpower mit Phantasie verbindet. Probleme sind der Preis des Fortschritts, und wir haben inzwischen erkannt, daß die rein technischen Fragen nur einen kleinen Teil der Gesamtproblematik darstellen. Am schwierigsten sind die gesellschaftlichen Fragen, und wir müssen viel Begabung aufbieten, wollen wir eine Antwort für sie finden. Die Technologie muß uns soziale Vorteile verschaffen, die die »Zivilisationsschäden« - Umweltverschmutzung, tägliche Hetze, Übervölkerung, Lärmbelästigung und den inneren Verfall der Gesellschaft - wettmachen. Eine soziale Erneuerung muß uns auch entschädigen für Dinge, die wir unwiederbringlich verloren haben - das einst allgemeine Gefühl für den Zusammenhang der menschlichen Hand mit dem Werkstoff, mit Formung und Gebrauch und vor allem die schlichte Freude an einfachen, gewöhnlichen Dingen des Lebens.
J. Robert Oppenheimer hat einmal bemerkt, das einzig Neue an unserer Zeit sei die Vorherrschaft des Neuen, die Veränderung im Tempo des Wandels, der die Welt verändere, während wir sie durchschreiten. Wenn wir schon die gesellschaftlichen Strukturen verändern müssen, warum sie dann nicht so umgestalten, daß das Leben wieder einen Sinn erhält?
Habitat für eine gesunde Gesellschaft
Neben einem erweiterten Horizont des Arbeitsplatzes und den damit verbundenen größeren Aufstiegschancen muß sich die Systemforschung dem menschlichen Zuhause und seiner Verbesserung zuwenden. Eines der bekanntesten Phänomene der amerikanischen Massengesellschaft ist die Flucht des Mittelstandes in die Randsiedlungen der Städte. Wissenschaft und Technik haben dazu geführt, daß die Bevölkerungsexplosion in der Megapolis noch viel schlimmer ist als die Zunahme der Erdbevölkerung insgesamt. An der Ost- und Westküste der Vereinigten Staaten, besonders in den großstädtischen Ballungsräumen, wächst die Bevölkerung noch rascher als in Indien. Zwar ist die amerikanische Geburtenrate im letzten Jahrzehnt sogar zurückgegangen, aber das Verhältnis zwischen Geburten- und Sterberate bewirkt, daß die Bevölkerung immer noch zunimmt und mit ihr die Wanderungsbewegung in die Großstädte. Verbrechen, Umweltverschmutzung, Verkehrsstauungen, Parkplatzmangel, Unterernährung, allgemeine Reizbarkeit, Rassenkrawalle sind einige der Spannungserscheinungen, die von dieser Drift ausgelöst werden.
Ein Hauptnachteil der städtischen Zivilisation liegt darin, daß sie gigantische Städte wie London, New York, Tokio und Los Angeles hervorgebracht hat, die längst über ihre technische Nützlichkeit hinausgewachsen sind.
Dichtbewohnte Großstadtgebilde hatten vielleicht ihren Sinn zu der Zeit, als die Eisenbahn aufkam, dies gilt aber nicht mehr im modernen Zeitalter der Kommunikation. Heute kann sich auch eine Gemeinde von 30.000 bis 100.000 Einwohnern Industrie und Geschäfte, Bibliotheken und Konzerte, mithin all das wirtschaftliche und kulturelle Zubehör der Großstadt, leisten, das früher nur in den Riesenstädten zu finden war.
Wir könnten diese Beispiele nach Belieben erweitern, auf dem industriellen wie dem kulturellen Gebiet. Die Zunahme der Automatisierung, die Revolution im Gesundheitswesen, die kürzer gewordenen Entfernungen und der Zeitverlust durch den Pendelverkehr zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, all dies sind Gründe, warum in den kommenden Jahrzehnten kleinere städtische Siedlungen vermutlich ebenso lebensfähig und kulturell lebendig sein werden wie die Mammutstädte der Vergangenheit und Gegenwart.
Diese Entwicklungsperspektive bietet Lösungen für die modernen Getto-Probleme, die immer akuter werden. Die Produzenten-Konsumenten, die aus den Innenstädten flüchten, schaffen ein Vakuum, das immer mehr Familien mit geringem Einkommen und alte Leute anzieht. Dieser Exodus erzeugt nicht nur die geschilderte Sogwirkung, sondern leitet auch den Verfall der Stadtzentren ein. Die Gewalttätigkeit breitet sich aus, und ganz allgemein entsteht ein Klima, das für die Entwicklung der jungen Generation höchst schädlich ist.
Die Stadtstaaten des alten Griechenlands und auch die großen mittelalterlichen Städte in Italien und Mitteleuropa waren zu ihrer Zeit bedeutende Brenn- und Sammelpunkte. Sie gaben dem menschlichen Leben eine Richtung, waren Bezugspunkte, förderten Institutionen und Bindungen, die den Charakter der Menschen formten. Das gleiche läßt sich schwerlich von der modernen Riesenstadt sagen, die für Millionen Menschen mehr ein überdimensioniertes Wohnheim als ein Kulturzentrum darstellt. Der Niedergang eines Zentrums schwächt immer die Bindungen zwischen den Menschen. Diese Entwicklung geht anscheinend heute in allen Ländern vor sich.
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