Start     Weiter 

16  DIE TECHNOSTRUKTUR       Chorafas-1974   17

 

232-257

Technostruktur - was ist das?

Nahezu alle Zukunftsprojektionen gehen von zwei Grundannahmen aus: Alle werden reicher werden und deshalb mehr persönliche Entscheidungsfreiheit haben, und die heutigen gesellschaftlichen Institutionen werden ohne radikale Veränderung ihres Charakters auch weiterhin über die kollektiven Entscheidungen der Menschheit bestimmen. Die Tatsache, daß eine genaue Prüfung des derzeitigen Systems - der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung - auf ihren möglichen Zusammenbruch schließen läßt, wird zumeist mit der Antwort abgetan, es handle sich nur um eine vorübergehende Malaise. Doch dies ist keineswegs so sicher, wie wir im folgenden sehen werden.

Wenn der wirtschaftliche Fortschritt anhalten soll, ist es nicht mit theoretischen Denkspielen getan. Praktisches Handeln ist erforderlich. Friedliche Koexistenz zwischen Ost und West ist nicht nur notwendig, um die Wirtschaft der beiden industriell entwickelten Zentren der Welt durch internationalen Handel zu erhalten und weiterzuentwickeln, sondern sie hat vor allem die Funktion, zu verhindern, daß eine der beiden Weltmächte, wenn es mit ihr wirtschaftlich bergab geht, sich in ein verzweifeltes militärisches Abenteuer stürzen muß, um sich daraus zu retten. Daneben gibt es noch einen zweiten Grund, der für eine friedliche Kooperation zwischen Kapitalismus und Nationalkommunismus spricht: Ob es uns gefällt oder nicht, die beiden Systeme nähern sich in mehreren Aspekten einander an. Dazu zählen die Technostruktur und die Wissensrevolution*.

Mit dem Aufstieg der soziologischen Großstruktur für Produktion, Verteilung und Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen wie für die Regulierung des Produktions-Konsumtions-Prozesses als Gesamtheit wurde es notwendig, ein Korps von Spezialisten aufzubauen, das mit Problemen dieser Größenordnung umzugehen verstand. Anders ausgedrückt, die organisatorische Komplexität, die durch die moderne Technologie verursacht wurde, verstärkte den Bedarf an Steuerung, Personalführung, Projektplanung und ähnlichem in einem derartigen Maß, das die Fähigkeiten jedes einzelnen bei weitem übersteigt. Diese Lücke wird geschlossen durch die sogenannte Technostruktur.

* Siehe auch vom gleichen Verfasser »The Knowledge Revolution«, London, New York 1968 (dt. Ausg., »Verdummt Europa?«, München 1969).

In den Großunternehmen umfaßt die Technostruktur den Vorstand mit den Verantwortlichen für den Personalbereich und die einzelnen Abteilungen sowie die wichtigsten Berater. In der Regierung ist der innere Kreis der Technostruktur viel größer; er beginnt mit dem Kabinett und den Beratern der Regierungsspitze und reicht bis zu den Behördenleitern der einzelnen Ressorts, deren Funktion darin besteht, erteilte Weisungen mehr oder weniger mechanisch auszuführen oder für die Abwicklung der Routinearbeiten zu sorgen.

Die Technostruktur schließt mithin alle jene ein, die in den kollektiven Entscheidungsprozeß spezielle Kenntnisse, Begabung, Erfahrung und Sachverstand einbringen. Sie stellt eine steuernde kumulative Intelligenz zur Verfügung, aber diese Intelligenz führt nicht unbedingt zu praktischem Handeln. John Kenneth Galbraith bemerkt: »Nichts spart soviel Mühe und Intelligenzaufwand . .. wie das Wissen, daß man nichts tun kann.« Dies mag eine Übertreibung sein, aber sie trifft den Punkt: Nicht alle Technostrukturen arbeiten so effektiv, wie man allgemein annimmt.

Über Erfolg und Mißerfolg der Technostruktur für die Entwicklung eines Landes legen zwei konservative Regime Zeugnis ab: Brasilien und die UdSSR. Brasilien wird seit der Mitte der sechziger Jahre von einer Technostruktur gesteuert, die höchst erfolgreich arbeitet. Die Männer an der Spitze des Landes sind augenscheinlich wohlinformiert und verstehen ihr Handwerk; sie analysieren mit kühler Logik, sind fähig, die schwachen Punkte herauszufinden und die entsprechende Medizin zu benennen, die sie dann mutig anwenden; sie haben das richtige Gespür, der Öffentlichkeit Informationen zu präsentieren - und dies führt dazu, daß die Allgemeinheit sich einbezogen fühlt und meist mit positivem Verständnis reagiert.

So etwa sollte eine staatliche Technostruktur arbeiten; nur die Resultate können zeigen, ob sie erfolgreich funktioniert oder nicht, und neben diesem Erfolgsmaßstab gibt es nichts, was ihr als Richtmaß dienen könnte. Der heute im Westen herrschende Wohlstand geht zwar auf eine sinnvolle Koordinierung der produktiven Elemente zurück, aber andererseits weist die Technostruktur, welche die Russen geschaffen haben, grundsätzlich keine großen Mängel außer ihrer Schwerfälligkeit und Trägheit auf. Apathie und Trägheit sind die Ursachen, warum der sorgfältige Beobachter den Eindruck gewinnt, die Resultate ließen nicht auf einen Erfolg schließen.

233


Wir brauchen eine Anthropologie der Arbeit

Die Technostruktur gibt dem totalitären Staat einen neuen Sinn. Jahrhundertelang glaubte man, ein Diktator verstünde alles am besten, weil er große positive Eigenschaften besitze; heute gelten die Technokraten als die Leute, die alles am besten verstehen, weil sie über so großes Wissen verfügen. Das griechische Wort »techno« bedeutet Talent, Geschicklichkeit oder Kunst, und somit ist die Technostruktur eine Struktur, die von Talent und Können regiert wird, die - so der heutige Gebrauch des Wortes - fähig ist, Wirtschaft, Finanz- und Erziehungswesen und die öffentliche Verwaltung, ja das ganze gesellschaftliche Gefüge zu rationalisieren. Dieses System neigt zu einer autoritären Haltung: Die Experten verstehen alles am besten.

Mit anderen Worten: Es besteht eine frappierende Ähnlichkeit zwischen technokratisch regierten Staaten und totalitären Regimen.

Da jede Technostruktur die autoritäre Haltung dessen, »der alles am besten weiß«, einnimmt, entfernt sie sich von den demokratischen Grundsätzen, obwohl sie in den westlichen Demokratien höchstes Ansehen genießt und von liberalen Wirtschaftstheoretikern wie Kenneth Galbraith als »Messias« begrüßt wird.

Eine Unzahl von Gründen spricht dafür, daß der Westen das Heil von der Technostruktur erwartet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreichten die Industriestaaten Wirtschaftsstabilität und -Wachstum dank komplexer Mechanismen und Maßnahmen, die das Spiel des Marktes mit einem gewissen Maß staatlicher Planung und Lenkung verbanden. Der Staat wie die Privatwirtschaft hat sich ausgebreitet, nicht nur im Umfang, sondern auch nach den Funktionen. Ihre Tätigkeitsbereiche überlagern einander vielfach, wodurch ein Geflecht staatlicher, privatwirtschaftlicher und gemischter Entscheidungsorgane entstanden ist - Planungsstäbe, Preiskommissionen und so fort -, die das wahre Rückgrat einer modernen Nation und ihrer Technostruktur bilden. Was kann der Wähler mit seiner Stimme noch bewirken, wenn die Experten die Informationen besitzen und für sich behalten?

Die Menschen, sagt Galbraith, werden entweder von der Organisation getragen oder sie tragen diese. Sie werden wegen der Organisation oder die Organisation wird ihretwegen geschätzt. Und er fügt hinzu, es sei bekannt, daß Pensionierung, Tod oder Kündigung nur den Betroffenen tangiere, aber für General Motors oder sonst ein Großunternehmen völlig belanglos sei. Das gleiche gilt für den modernen Überstaat. Die Technostruktur, die Stalin geschaffen hat, beherrscht noch heute das Land; Malenkow, Chruschtschow und Breschnew haben einander abgelöst wie die Präsidenten von General Motors, sonst hat sich nichts geändert.

234


Folgendermaßen äußert sich ein angesehener Technokrat über die Seele des Systems, dem er angehört: Nicht Gleichgültigkeit, sondern Gefühl für andere, nicht Individualismus, sondern Anpassung an die Organisation, nicht Konkurrenzdenken, sondern enge und stetige Zusammenarbeit seien die Grundvoraussetzungen für das Handeln in der Gruppe. Dies gilt für das Management jeder Gemeinschaft, sei es nun ein Großkonzern oder ein großer Staat. Schließlich ist der Unterschied ja nicht so bedeutend. 1965 lag der Umsatz von drei US-Gesellschaften, Genera.1 Motors, Standard Oil of New Jersey und Ford, über dem aller landwirtschaftlichen Betriebe in den Vereinigten Staaten zusammengenommen. Drei Jahre später übertraf der Handelswert der IBM-Aktien an der New Yorker Börse die Kapitalausstattung der gesamten westdeutschen Industrie.

Stärke und Schwächen einer Technostruktur

Die gegenwärtige Entwicklung in Richtung auf Großorganisationen steigert noch den Bedarf an geschulten Experten. Die Macht der Technostruktur wird in dem Maß wachsen, wie ihre Spezialisten mit gesellschaftlichen Problemen in Berührung kommen, Regierung wie Industrie auf Versäumnisse in diesem oder jenem Bereich hinweisen. Zum Beispiel, daß der bisher erzielte Fortschritt im Lebensstandard zunichte gemacht werden kann, wenn mit ihm nicht ein ähnlicher Fortschritt in der Verwaltung unserer Städte, des Staates und in der Maschinerie des internationalen Handels, des Währungssystems, des Nachrichtenwesens und vor allem der Friedenssicherung einhergeht.

Wichtig für eine funktionierende Gesellschaft und übrigens auch eine Anthropologie der Arbeit ist das Problem der Befriedigung durch die Arbeit. Die Industrieforschung hat in den letzten beiden Dekaden in Westeuropa wie in den Vereinigten Staaten einen raschen Aufschwung genommen, aber trotzdem hierzu keinen bemerkenswerten Beitrag geleistet. Das Gefühl persönlicher Leistung, Anerkennung, Verantwortlichkeit, persönliche Bereicherung und Aufstiegsmöglichkeiten sind unabdingbar. Aber wann und wie soll dies alles verwirklicht werden?

Vor einiger Zeit veröffentlichte die amerikanische Zeitschrift »Fortune« das Ergebnis einer Umfrage unter mehr als dreihundert leitenden Angestellten der größten amerikanischen Industriefirmen. Daraus geht hervor, daß für gute Manager Erfüllung durch die Arbeit, Verantwortung und Leistungswille fast ebenso wichtige Motivationen sind wie Gehalt und Position. Die

235


Antwort der Wirtschaft darauf: Man müsse die Basis des Managements verbreitern, die Zahl der Führungsstellungen erhöhen, bessere Wege finden, Mensch und Arbeitsplatz aufeinander abzustimmen, der Mitbestimmung im Management mehr Raum geben, die Anreize zur Arbeit durch Erweiterung des Tätigkeits- und Verantwortungsbereiches verstärken, bessere Aufstiegsmöglichkeiten schaffen und die individuelle Leistung anerkennen.

Die Verwirklichung von Zielsetzungen in unserer fortgeschrittenen Industriegesellschaft ist nur möglich, wenn alle Einzelglieder zusammenwirken und die Probleme sozusagen mit einem Laser-Strahl ausleuchten. Menschen-und Unternehmensführung erfordert ein hohes Niveau verfeinerter Methoden, wenn optimale Resultate erzielt werden sollen, und deshalb müssen Theorie und Praxis des Managements laufend revidiert und geschärft werden.

Dies rückt die Technostruktur wieder ins Scheinwerferlicht. Entwicklungen dieser Art verlangen nicht nur eine adäquate Klasse von Managern, die das Zeug besitzen, die Armeen, die in riesigen Konzernen arbeiten, zu organisieren und zu lenken, sondern sie erfordern daneben auch eine eigene Gruppe engagierter Mitarbeiter, die sogenannte »dritte Dimension«. Es gibt noch viel zu lernen: Wie grundlegend wichtig der menschliche Faktor ist, wie man den Beitrag des Menschen in einer automatisierten Gesellschaft behandeln soll, daß der Mensch in einem modernen Unternehmen das größte Kapital oder das heikelste Problem darstellen kann, je nach seinem Platz und seiner Rolle in der Struktur und im Entscheidungsprozeß.

Manche Firmenleitungen sind sich der Notwendigkeit einer Planung bewußt, die sowohl den Menschen als auch die Zukunft berücksichtigt. Als 1969 die Algemeine Bank von Amsterdam beschloß, ihre neue Zentrale an den Stadtrand zu plazieren, untersuchte die Direktion zuerst den vermutlichen Informationsbedarf eines finanziellen Großunternehmens im Jahr 2000. Wenn die neue Zentrale, erklärte der Vorstandsvorsitzer der Bank, genauso gute Dienste leisten solle wie ihre Vorgängerin aus den frühen zwanziger Jahren, müsse sie mindestens fünfzig Jahre verwendet werden können, und das Jahr 2000 liege nur in der Mitte dieser Periode. Dies ist ein Beispiel von Planung, die sich an der Zukunft orientiert.

Doch Planung kann auch, wenn sie fehlerhaft durchgeführt wird, unheilvolle Folgen auslösen, die eine Technostruktur in ihren Grundfesten erschüttern. Stanley Brown berichtet über den Kollaps der amerikanischen Flugzeugfirma Ling-Temco Vought Aircraft in Dallas*. Aufgrund von Voraussagen seiner Unterdirektoren sei der Firmenchef Ling noch im Herbst 1969 des Glaubens gewesen, daß der Jahresgewinn der Firma bei vierzig Millionen Dollar oder noch darüber liegen werde, während er dann in

* »Ling«, New York 1972.

236


Wahrheit nur zwei Millionen betrug - nicht mehr als ein Zwanzigstel des errechneten Ertrags. »Die schreckliche Bescherung«, schreibt der Autor untertreibend, »hatte ihren Grund darin, daß seine Unterdirektoren ihn [Ling] entweder belogen oder daß sie keine Ahnung gehabt hatten, wie schlecht es der Firma wirklich ging, beziehungsweise in beidem.« In all den Jahren seiner steilen Karriere hatte Ling sich wie eine Mischung aus Er-weckungsprediger, Computer und Superplaner gegeben, und nun erwies sich, daß er nichts von alledem war.

Nicht einmal die Bankfachleute begriffen ganz, wie Ling seine Prophezeiungen von künftigen Riesenprofiten wahrmachen wollte, doch sie rissen sich förmlich darum, ihm Geld vorzustrecken, weil sie blind glaubten, was der neue Apostel verkündete. Um sich gegen solche Tagträumereien auf der Ebene, wo die Entscheidungen fallen, abzusichern, braucht die moderne Organisation nicht nur ein Konzept des Managements, sondern ebenso ein Konzept ihres geschäftlichen Tätigkeitsbereichs, ein präzises Bild des Marktes, auf dem sie operiert.

Erfolgreiche Organisationen müssen sich in den kommenden Jahren bewußt sein, daß die Funktion der menschlichen Komponente in einer modernen Gesellschaft im Übergang vom industriellen zum nachindustriellen Stadium einem raschen Wandel unterliegt: von einer Verwendung des Menschen als Maschinenelement zu einer neuen Rolle, für die in erster Linie die soziale Nützlichkeit zählt. Die Rolle, auf welche sich die Menschen in dieser Periode mit ihrem geschärften sozialen Bewußtsein einstellen müssen, ist nicht mehr die eines Helden der Produktion in einem Zeitalter der Sicherheit oder des fügsamen Konsumenten in einer Periode des Wohlstands, sondern die des Problemlösers, wie wir sie in den folgenden Kapiteln beschreiben werden.

Die Frage nach dem Sinn

Es ist noch immer unzeitgemäß und kaum seriös zu behaupten, daß der Mensch für ein Ziel lebt, und doch läßt sich nicht bestreiten, daß menschliche Gesellschaften selbstgesetzte Ziele haben sollten und ja auch haben, ob explizit oder nicht. Eine Organisation, die effizient arbeitet, verfügt über zielgerichtete Strukturen und Befehlskanäle, eine rasch funktionierende Steuerung und Kontrolle durch ihr Management und ein System von Strafen und Belohnungen. All dies setzt ein Ziel voraus.

Die Maschine, beginnend mit der Dampfmaschine, trat als ein Widersacher der menschlichen Arbeitskraft auf, aber die Zeiten haben sich radikal gewandelt, und mit ihnen die Einstellung zum Konkurrenten Maschine. Als

237


Anfang der fünfziger Jahre in West Virginia die Zechen automatisiert wurden, steuerte der streitbare, aber weitblickende Gewerkschaftsführer John Lewis sogar Mittel seiner Organisation bei. Der Mensch und die Maschine werden in Zukunft Partner sein; nur Stalin befand, der Computer dehumanisiere den Menschen, und untersagte von der hohen Warte seines Exper-tentums jegliche Entwicklungsarbeit an elektronischen Rechenanlagen in seinem Imperium. Die Folge davon ist, daß die Sowjets heute gegenüber den USA und Westeuropa in der Computer-Entwicklung zwei System-Generationen zurückliegen und sich ebenso hektisch wie erfolglos bemühen, den Vorsprung des Westens aufzuholen. Der Reichtum der Länder mit Produktionssystemen, die von Computern gesteuert werden, ist der Traum aller sowjetischen Technokraten.

Aristoteles träumte von einer Zukunft, in der Maschinen dem Menschen alle Arbeit abnehmen würden. In der Frühzeit der Gesellschaft, als manuelle Arbeit allein Produkte schaffen konnte, wurden die Sklaven bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit ausgebeutet, aber Sklavenarbeit war so billig, daß es für den Besitzer keine Rolle spielte, wie sehr die Intensivierung der Leistung das Leben seiner Arbeitskräfte verkürzte. Der Sinn der Arbeit veränderte sich nur wenig, wenn auch die alten Griechen den Begriff erweiterten.

Eine expandierende Wirtschaft verlangt, einer wachsenden Zahl von Menschen zu suggerieren, daß sie eine wachsende Zahl von Produkten konsumieren möchten. Nun aber sind wir zu der Erkenntnis gekommen, daß die Konsumexplosion ebenso Grenzen hat wie beispielsweise die Bevölkerungsexplosion. Heute, da wir an die Schwelle wirtschaftlichen Widersinns gelangt sind, wird die Notwendigkeit offenbar, ein System zu schaffen, das die qualitative Befriedigung menschlicher Wünsche zum Ziel hat - im materiellen, geistigen, physiologischen und psychometabolischen Bereich.

Die Papiertiger

L. M. K. Boelter, der verstorbene Dekan und Professor an der University of California, sagte, wir lebten im »Zeitalter des Papiers«. Das »Zeitalter der Raumfahrt«, die »Ära des Computers«, die »nukleare Epoche«, dies alles seien nur Aspekte des Papier-Reichs, das wir errichtet hätten. Diese Ansicht läßt sich durch viele Beispiele belegen. Eines liefert IBM, das Imperium der Computertechnik - vermeintlich eine Welt ohne Papier; ein anderes bietet der von Regierungen unterstützte Bereich Forschung und Entwicklung.

238


1972 erhob die amerikanische Regierung Klage gegen den Konzern, in der IBM schwerwiegender Verstöße gegen die Monopolvorschriften beschuldigt wurde. Die Firma präsentierte daraufhin dem Justizministerium nicht weniger als 17 Millionen (!) entlastender Schriftstücke. Darauf ließ der Konzern im Monatsdurchschnitt je eine weitere Million Unterlagen folgen, bis schließlich die Bundesregierung infolge der Klage 27 Millionen »Entlastungsdokumente« vom IBM in den Händen hatte. So demonstriert ein Unternehmen, das - angeblich papiersparende - Computer produziert, die Glorie des Papier-Zeitalters.

Ähnliches gilt für die wissenschaftliche Forschung. Das wissenschaftliche Personal privater wie staatlicher Forschungsstätten und die wissenschaftlichen Publikationen, die es hervorbringt, verdoppeln sich nach den Statistiken alle zehn Jahre. Mehrere Generationen hindurch stiegen die Investitionen im wissenschaftlichen Bereich im Quadrat der dort beschäftigten Menschen, das heißt, sie verdoppelten sich alle fünf Jahre. Wie lange kann das noch so weitergehen? Immerhin scheint sich, nach Lord Rothschilds Bericht* zu schließen, der Wind allmählich zu drehen. Wissenschaft und Technik sowie den wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die sie hervorgebracht haben, droht die Gefahr des Entzugs weiterer finanzieller Unterstützung, weil sie gesellschaftlich keinen konkreten Gewinn erbringen.

Der Beitrag der Wissenschaft zu den großen Leistungen Amerikas während des Zweiten Weltkriegs - Radar, Lenkwaffen und Atombombe - war in Wahrheit den Technikern zu verdanken, der Verbesserung der Produktions- und der Durchsetzung neuer Management-Methoden. Daraus hätte man nicht folgern sollen, daß große Forschungsstätten das Entwicklungstempo der Wissenschaft forcieren, sondern daß Wissenschaftler in der Substruktur sehr gute Dienste leisten können. Dies ist keine subalterne Aufgabe. Der Unterbau muß richtig organisiert werden, wenn große Leistungen möglich werden sollen. Alexander und seine Mazedonier wären ohne die großartigen logistischen Leistungen der Griechen, die er um sich versammelt hatte, niemals nach Asien gelangt; und Hitler hätte es ohne das organisatorische und strategische Vermächtnis von Clausewitz und Moltke niemals geschafft, sich zeitweise vierzig Prozent der russischen Bevölkerung zu unterwerfen.

Die gegenwärtige Situation von Wissenschaft und Technik (zumindest in den Vereinigten Staaten) läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Erstens, da bei anhaltender Geldentwertung die großen Zuschüsse für wissenschaftliche Forschung anscheinend stagnieren, nimmt die Industrieforschung im Umfang realiter ab - in diesem Jahrzehnt um zehn bis fünfzehn Prozent, verglichen mit der letzten Dekade; zweitens nehmen die Umweltpro-

* Lord Rothschild war Vorsitzender einer von der englischen Regierung eingesetzten Kommission, die den Ertrag staatlicher Investitionen im Forschungsbereich untersuchen sollte.

239


bleme immer mehr Mittel in Anspruch; und drittens muß die Wissenschaft durch die Erschließung neuer Problembereiche - wie beispielsweise der Erforschung der menschlichen Psyche - neue Anreize erhalten. Die Zeit ist reif für eine Neuorientierung.

Auch andere, wenig bekannte Fakten verdienen ins Licht gerückt zu werden. Der Aufstieg der modernen wissenschaftlichen Forschung geht weniger auf irgendeine besondere Experimentaltechnik, sondern auf die Erfindung der »Wissenskumulation« zurück. Wie bereits erwähnt, hat sich in der Vergangenheit der wissenschaftliche Output alle zehn Jahre verdoppelt, was zu sehr interessanten Konsequenzen führte. Betrachten wir die Informationsmaschinen: Sie können miteinander sprechen, ihre Sprachen sind mit der menschlichen kompatibel, und ihre Kommunikation untereinander ist unvergleichlich besser als die zwischen Menschen.

Die möglichen Auswirkungen der beschleunigten technischen Entwicklung können die Einschaft und die Freiheit zu insgesamt ernstlich bedrohen. Wenn es der Technologie gelänge, auf neurophysiologischem Wege, mittels eines Mechanismus, eine Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Maschine ohne Inanspruchnahme der Organe des Sprechens und Hörens zu ermöglichen, ließe sich eine Gleichschaltung des Denkens mit der Maschine und anderen Menschen, die daran angeschlossen sind, bewerkstelligen.

Derartige Möglichkeiten werden gegenwärtig im Osten wie im Westen wissenschaftlich untersucht und könnten, falls sie praktisch zu verwirklichen sind, zum größten Triumph der Gemeinschaft werden: Nicht nur hätte die Gesellschaft ein »multiples« Gehirn, sondern die Menschen als Individuen wären auch »befreit« von der willkürlichen Verteilung der Begabungen durch die Natur, verbunden nur mit dem geringfügigen Nachteil, daß niemandem auch nur das kleinste Restchen persönlicher Freiheit bliebe.

Für die Nation, der diese Gehirn-Koppelung zuerst gelingt, wird das Auswirkungen haben. Wird sie dadurch solche »Super-Anlagen« erwerben, daß sie alles erfinden wird, was dann noch zu erfinden bleibt, natürlich - zuerst - wie anders? - neue Waffen. Wir können nur hoffen, daß dieser Tag niemals kommen wird. Eine solche Erfindung hätte auf die gesamte Menschheit tiefer reichende Wirkungen als Raumfahrt, Kernenergie, Interkontinentalraketen und Computer zusammengenommen.

Man kann diese pessimistische Feststellung auch anders ausdrücken: Alles, was heute geleistet wird, geschieht ohne ethische Orientierung, ohne neue sittliche Grundsätze, die uns den Weg weisen könnten, und daher haben wir wenig Grund zur Zufriedenheit mit unseren Leistungen. Es gibt kein böses Fatum, das uns vorantreibt, der Mensch bestimmt sein eigenes Schicksal, und alles, was sein gedankenloses Mühen ihm heute einbringt, wird noch einen gewaltigen Preis fordern, von dieser und von den kommenden Generationen.

240


Der wirtschaftlichen Ungleichheit entgegen

Neben der Schaffung einer neuen Ethik, zugeschnitten auf unsere Zeit, besteht - je nach Standort - die Hauptaufgabe der Soziologie darin, die Menschen für Wachstum oder Wachstumsstopp zu engagieren; so daß sie sich aktiv beteiligt fühlen. Trotz der Motivationsschwierigkeiten ist es immer noch leichter, die Menschen zur Arbeit für ein erträumtes schöneres Leben anzuspornen als die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme zu lösen, die die geplante, vernünftige Entwicklung eines Landes mit sich bringt.

Von 1961 bis 1966 wuchs die Bevölkerung Indiens um schätzungsweise fünfzig Millionen. Es ist schlechterdings unmöglich, die Institutionen zu schaffen, die notwendig wären, um auch nur einem Minimum der Bedürfnisse und Wünsche dieses gewaltigen Zuwachses Rechnung zu tragen. Frankreich hat, bei seiner heutigen Einwohnerzahl von knapp über fünfzig Millionen, nicht fünf lahre, sondern lahrhunderte gebraucht, um die Institutionen und den Unterbau hervorzubringen, die das Land zu einer großen Nation machen.

Wie Lord Snow feststellte, gibt die gegenwärtige Entwicklung wenig Anlaß zu der Hoffnung, daß die reicheren Länder sich jemals auf die Kooperation einigen werden, die notwendig ist, um eine Katastrophe abzuwenden, zu der das rapide Bevölkerungswachstum bei einem begrenzten Nahrungsmittelangebot führen muß. »Die unterrichteten Kreise«, erklärte Lord Snow, »glauben überwiegend, daß die Katastrophe eintreten wird. Im besten Fall wird es zunächst nur zu lokalen Hungersnöten kommen. Schlimmstenfalls werden diese lokalen Hungersnöte sich zu einem Meer des Hungers vereinigen.« Diese hoffnungsvolle Prophezeiung soll nach Snows Angaben zwischen 1975 und 1980 eintreten. Etwa um diese Zeit wird sich - möglicherweise - Europa zusammenschließen. So könnte es sein, daß das endlich vereinigte Europa in einer Ära weltweiten Hungers geboren wird, der, wenn nicht rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen werden, die ganze Welt bis zum Ende des Jahrhunderts in ein neues Mittelalter stürzen wird.

Was heute geschieht, läßt freilich nicht darauf schließen, daß wir unsere Zeit an Dinge wie eine vernünftige Zukunftsplanung, einschließlich Bevölkerungskontrolle, verschwenden. Man registriert keine weitsichtige Bemühung der sogenannten reichen Länder, den armen bei der Planung zu helfen (wofür es allerdings gute Gründe gibt), keine nachhaltige Anstrengung der armen Staaten, ihre Nahrungsmittelversorgung entscheidend zu verbessern, und keinerlei ernsthaften Versuch, die Bevölkerungszunahme in aller Welt einzuschränken. Und doch ist die Zukunftsplanung eine der Aufgaben, die eine Technostruktur reizen müßte, da sie eine Entscheidung zwischen verschiedenen Zielsetzungen, Methoden und Programmen erfordert, die bestimmen, wie die Welt von morgen aussehen wird.

241


Snow kommt zu dem Ergebnis, daß eine Hilfsaktion, welche die armen Nationen auf eine gesündere Basis stellen könnte, die reichen Staaten gewaltige Summen kosten würde, möglicherweise zwanzig Prozent ihres Bruttosozialprodukts, eingeschlossen enorme Abstriche an den Verteidigungsausgaben. Eine solche gewaltige Anstrengung wäre nur mit echter Kooperation - nicht nur durch eine unsichere Koexistenz - zwischen den Vereinigten Staaten, Westeuropa, Japan und der Sowjetunion möglich, und diese Staaten müßten erst einsehen, daß sie für den Luxus anderer Leute mit dem Schweiß ihrer Bürger zu bezahlen haben. Der schwedische Wissenschaftler und Autor Gunnar Myrdal führt diesen Gedanken noch weiter; er glaubt, daß Unterstützung von außen nur marginale Besserung bringen könne. Länder wie Indien müßten vor allem eine radikale Reform in der Landwirtschaft, der Volkserziehung und der Bevölkerungsplanung durchführen. »Die großen Entscheidungen«, meint Myrdal, »müssen diese Länder selbst treffen.«

Myrdal äußert sich besonders kritisch über das Problem der Erziehung beziehungsweise der Fehlerziehung. »In ganz Asien«, stellt er fest, »findet man eine traditionelle Verachtung der manuellen Arbeit, und die Gebildeten neigen dazu, in ihrer Erziehung eine Auszeichnung zu sehen, die ihnen jede Verpflichtung abnimmt, ihre Hände zu beschmutzen. Dies ist ein ernstes Hindernis für die Entwicklung.« Im Westen mache man sich ein falsches Bild vom asiatischen Sozialismus, meint Myrdal, der nichts anderes sei als eine verschwommene Bezeichnung für eine Modernisierungsideologie. Der asiatische »Sozialismus« ist vor allem dort anzutreffen, wo es nur wenig Privatinitiative gibt, aber nirgends hat er die Kollektivierung der Landwirtschaft ins Visier genommen. Außerdem hat die Rücksicht, die man in Amerika und Westeuropa auf die Empfindlichkeiten der Asiaten nimmt, nur das Problem verwischt, das mit unbefangenem Pragmatismus angegangen werden muß. Planung ist grundsätzlich immer eine Wahl zwischen Optionen, und ein Planungsproblem entsteht dann, wenn sich ein alternatives Vorgehen anbietet. Welche Entscheidung wird unsere »technostrukturierte« Gesellschaft treffen?

242


Eine Evolution des Denkens

Technik und Wissenschaft haben die Idylle eines geordneten, bürgerlichen Lebens gründlich erschüttert. Das explosionsartige Wachstum des Wissens verschlingt altgewordene Institutionen; es rührt an die Fundamente, auf denen die Begriffe gut und böse, Familie und Gemeinschaft, Profit und Dienst, Ordnung und Nation ruhen. Doch dürfte das Wissen auf längere Sicht einen positiven Beitrag leisten; denn es setzt Dinge in Gang, die sonst nicht geschehen würden. Durch die ganze Geschichte sind Perioden der Krise mit einer Evolution des Denkens einhergegangen.

Die Gesellschaft im Westen muß Macht mit Phantasie verschmelzen. Das stolze Bild des allmächtigen, unverletzlichen, wohlmeinenden, an Welt- und Menschenkenntnis reichen Weisen ist beschädigt durch seine Unfähigkeit, mit der Veränderung fertig zu werden. Die Gesellschaft, ihre Zielvorstellungen, ihre Struktur und ihr Instrumentarium müssen umgeformt werden, damit sie der veränderten Denkart und den neuen Wünschen der Menschen zu entsprechen vermögen; aber auch diese Denkart und Wünsche haben sich der Zeit anzupassen, in der wir leben. Die Entwicklung der Gesellschaft erfordert eine umfassende, wertende Perspektive und Methoden, Institutionen und Programme, in denen diese Bilanz ihren Ausdruck findet. Die westlichen Regierungen müssen sich gewaltig anstrengen, die juristischen, wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen zu konstruieren, die das Gemeinwohl zu sichern imstande sind. Doch nicht nur harte Arbeit ist vonnöten, sondern auch die Kontinuität, welche die effiziente Durchführung des Zukunftsprogramms ermöglicht.

Das beliebte Gegenargument derer, die unbedingt am Bestehenden festhalten wollen: »Wenn der Normalbürger einsähe, wie sehr sich die Lebensbedingungen seit dem Zweiten Weltkrieg gebessert haben, hätte er heute weniger Verdauungsbeschwerden«, ist blanker Unsinn. Einsicht hin, Einsicht her, der Normalbürger im Osten wie im Westen steht ratlos vor dem gesellschaftlichen Umbruch, der sich heute vollzieht. An dieser Ratlosigkeit trägt niemand mehr Schuld als die Männer am Ruder und die hinter ihnen stehende Technostruktur. Sie haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Bevölkerung nicht geführt, sondern sich mitziehen lassen. Sie haben immer nur auf die Meinungsumfragen geblickt und sich gehütet, irgendeiner Gruppe oder Interessenlobby im Lande auf die Füße zu treten. Der Wunsch, etwas Schöpferisches zu leisten, war das Letzte, woran die Politiker und ihre Gehilfen dachten.

In allen Gesellschaftsordnungen, die es heute gibt, im Kapitalismus wie im Kommunismus, sind die »vergessenen Bürger« die Angehörigen der mitt-

243


leren Einkommensschicht, Facharbeiter oder Angestellte. Sie haben die Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs ertragen, geheiratet und zwei oder drei Kinder gezeugt. Sie wohnen in einem mittelmäßigen Quartier in der Innenstadt oder in einer Sozialwohnung in einem Satelliten-Vorort, sie essen Hähnchen (die mit Hormongaben gemästet wurden), fahren einen Serienwagen, sitzen abends vor dem Fernsehschirm und werden vom Staat ignoriert. Sie stöhnen unter einer ständig wachsenden Steuerlast, während ihre Frauen über die steigenden Preise jammern, weil sie mit dem Haushaltsgeld nicht mehr auskommen.

In Frankreich setzte sich die V. Republik durch, weil sie diesen Mittelschichten versprach, daß eine neue Technokratie der stiefmütterlichen Behandlung ein Ende bereiten werde. Die Reaktion war einhellige Zustimmung; selten machte sich der Groll gegen die politischen Pfründeninhaber so deutlich Luft wie in den Wahlen, die auf die Regierungsübernahme durch de Gaulle folgten. Es war keine Überraschung, daß in den ersten Jahren eine beträchtliche Zahl alternder Politiker aus ihren Sinekuren vertrieben wurden. Das neue Regime fand die richtige »Psychologie«, die ihm half, festen Fuß zu fassen. Die französische Technostruktur, deren Unfähigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg das Land noch heute das schlechteste Telephonsystem in Europa verdankt, wurde einer Verjüngungskur unterzogen. Als de Gaulle durch den Niedergang der IV. Republik an die Macht zurückkehrte, war er entschlossen, Frankreich wieder stark und unabhängig zu machen. Er war auch entschlossen, für die notwendige Kontinuität zu sorgen, damit seine Anstrengungen dauerhafte Früchte trugen. Seine Willensstärke und relativ klare Sicht der Ziele, die er anstrebte, trugen ihm verdiente Erfolge ein.

Das erste Jahrzehnt des gaullistischen Regimes war von einer erstaunlichen politischen Stabilität geprägt. Georges Pompidou, im Unterschied zu seinem damaligen Chef ein erfahrener und geschickter Verwaltungsfachmann, hatte das Amt des Ministerpräsidenten länger inne als irgendeiner seiner Vorgänger in zwei Jahrhunderten. Nur ein einziger Außenminister in der ganzen französischen Geschichte verwaltete sein Ressort länger als Couve de Murville. 1958 beliefen sich die Devisenreserven auf 500 Millionen Dollar, das Bruttosozialprodukt war auf die stolze Höhe von 250 Milliarden Franc gestiegen. 1968 hatten, neben den Devisenbeständen, die Goldvorräte der französischen Zentralbank den Wert von dreißig Milliarden Franc erreicht, während das Bruttosozialprodukt auf 540 Milliarden angewachsen war.

Dies sind, wie man es auch betrachtet, imponierende Leistungen, und sie hätten vielleicht auch die gerechte Würdigung der Geschichte erfahren, wäre es nicht 1968 zu den Mai-Unruhen gekommen. Die Krawalle und Streiks, die damals Frankreich erschütterten, demonstrierten, daß entschlossene Minderheitsgruppen eine Technostruktur rascher, als man glaubt, schwächen können und daß letztere noch nicht die richtigen Mittel gefunden hat, um derartige Schläge abzuwehren. Der Mai 1968 setzte hinter die soziale Fortschrittlichkeit einer Technostruktur ein deutliches Fragezeichen.

Carlo Pesenti, Präsident des italienischen Konzerns Italcementi-Italmobi-liare, bemerkte einmal treffend, man könne ein Vermögen auf dreierlei Arten verschleudern: am raschesten am Spieltisch, am angenehmsten mit schönen Frauen und am zuverlässigsten durch Technokraten. Es wird Zeit, daß die Technokraten in aller Welt, voll Gier nach Macht und Supergröße, begreifen lernen, was Leistungskontrolle ist. Ob man es gern hört oder nicht, die Schwäche der heutigen Gemeinschaft liegt in der Qualitätskontrolle, welche die Schule und die Universität, die Beamtenschaft und die Ministerien, die Privatwirtschaft und die verstaatlichte Industrie anzubieten haben. Die Technostruktur selbst entartet mitunter, denkt nur an Gigantismus, verfällt dem Produktionswahn, statt für zukunftweisende Leitwerte zu sorgen und diese den Menschen einzuprägen, die zu schulen und zu bilden ihre Aufgabe ist. Auf Qualität, Begabung und Weitblick, nicht auf Gigantismus muß sich der intellektuelle Ehrgeiz unseres Jahrhunderts richten.

244-245

#


17  PERSPEKTIVEN DER ERZIEHUNG

 

Harmonie der Bildung

Die Geschichte der Erziehung umfaßt drei Perioden: die antike, die klassische und die moderne. Wie die Erziehung im Altertum arbeitete, zeigt sich an ihren Früchten, an den Lehren Sokrates', Piatons und an den wissenschaftlichen Leistungen jener Zeit. Charakteristisch für die Wissenschaft der Antike, repräsentiert durch die aristotelische Naturphilosophie, die euklidische Geometrie und die ptolemäische Kosmologie, war das absolute Vertrauen in menschliches Denken und menschliche Vernunftbegabung. Die Philosophen waren von keinem Zweifel angefochten, daß die Welt vielleicht nicht so sei, wie sie sie sahen. Sie waren überzeugt, daß das, was sie sahen, die Wirklichkeit schlechthin sei.

Die Erziehung in der griechischen Antike hatte die universale Bildung des Menschen zum Ziel, die Vermittlung von Kenntnissen auf vielen Gebieten. Ein Baumeister war zugleich sein eigener Architekt, bildhauerischer Gestalter, Innendekorateur und Städteplaner. Historiker, sogar Bühnendichter übernahmen militärische Posten; Thukydides kommandierte Soldaten im Peloponnesischen Krieg, und Sophokles befehligte athenisches Fußvolk während der Rebellion auf Samos. Die Erziehung verfolgte andere Ziele als heute. Die Schüler, die sich um Sokrates scharten, wollten nicht den gelehrten Vortrag eines »Fachidioten« hören, sondern kamen in seine »Vorlesungen«, weil er sie ausfragte, sich jedes Argument anhörte und sie dann anleitete, ihre Schwächen und Stärken zu entdecken und auf eigenem Weg sich der Wahrheit zu nähern.

Dies war eine erstklassige Schulung, in deren Genuß aber nur wenige kamen; für die große Mehrheit der Bürger Athens bestand kaum die Möglichkeit einer geregelten Ausbildung. Abgesehen von Sparta, wo der Staat für den Unterricht sorgte, gab es anscheinend nirgends in Griechenland ein Erziehungssystem, das diesen Namen verdient hätte, öffentliche Schulen oder Kollegien waren unbekannt; die Erziehung lag ausschließlich in privaten Händen. Ein gebildeter Sklave - der »pedagogos« - besorgte den Unterricht der jungen Knaben. Wenn sie sechs Jahre alt waren, gingen sie zu einem »grammatistes«, der ihnen Grammatik und Rechnen beibrachte, und zum »kitharistes«, bei dem sie Musik und Gedichtvortrag lernten. Mit öffentlichen Geldern wurden Stadien, Sportstätten und Theater gebaut, nicht aber Schulen.

246


Allmählich hat die Erziehung ihren Wirkungskreis erweitert: Um eine bessere Welterkenntnis zu gewinnen, müssen wir unsere Sinne durch Werkzeuge und unsere Denkfähigkeit durch sorgfältiges Beobachten, Vergleichen, Experimentieren und durch genaue Berechnungen unterstützen. Dies war das unausgesprochene Ziel der klassischen Erziehung, deren Leistung in den Arbeiten Newtons und einer »goldenen Horde« yon Naturphilosophen gipfelte, die viele Irrtümer der Vergangenheit korrigierten und das Weltbild des Menschen bedeutend erweiterten. Der Mangel der klassischen Erziehung besteht darin, daß sie nur vermittelte, was der Mensch mit Erfahrungen der Vergangenheit verknüpfen und so verstehen konnte.

Die Geschichte der modernen Erziehung beginnt in diesem Jahrhundert; sie wurde vorangetrieben durch die Wissenschaft und brachte ihrerseits wieder Wissenschaft und Technik weiter. Die moderne Wissenschaft enthüllte die Existenz einer ganz neuen Welt, von der der Mensch nichts geahnt hatte. Die Erziehung brauchte neue Horizonte, denn der Durchschnitt der Menschen hat noch viel an sich zu arbeiten. Er muß die Welt verstehen lernen, die die Wissenschaft entdeckt hat; er muß lernen, welche Konsequenzen seine Arbeit für die fernere Zukunft hat; er muß sich bewußt dem begeisternden Abenteuer der Menschheit anschließen und echte Befriedigung empfinden, daß er dabei eine konstruktive Rolle spielt - denn sonst wird er unabwendbar zu einem immer weniger wichtigen Rädchen in der gewaltigen Maschinerie der Wissenschaft.

Von der Antike bis heute hat die Erziehung das Ziel verfolgt, die geistigen Anlagen des Menschen zu entwickeln, ihm die notwendigen Voraussetzungen für das Leben in der Gesellschaft zu vermitteln und zugleich seine körperliche Konstitution zu erhalten oder möglichst zu verbessern. Diese Konzeption könnte sich in der Zukunft verbreitern. Sie wird vielleicht sogar eine Erforschung des individuellen Chromosomenmusters erforderlich machen. Aber eine gezielte Steuerung menschlicher Entwicklung sollte vorläufig noch der Zukunft überlassen bleiben, bis sie ausgereift ist. Ein Genetiker sagte dazu auf einem Kongreß: »Man kann sich schwer vorstellen, daß Eltern ein Kind planen. Heute können sie sich ja noch nicht einmal entscheiden, wie es heißen soll.«

Eine naheliegende Aufgabe, die angepackt werden muß, ist die wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Potentials. Heute gilt mehr als jemals zuvor, daß die Menschen in ihrer Mehrzahl ihre Möglichkeiten nicht nutzen, weil sie in Unwissenheit und Aberglauben befangen, unterernährt, zu einem pausenlosen Kampf um eine sinnleere Existenz verdammt sind.

247


Die Kultur und ihre Weitergabe

Vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung war es niemals das Ziel der Erziehung, einen mystischen Übermenschen zu züchten, sondern Denken zu vermitteln. Aber dieses Ziel wird nur selten erreicht und auch nur selten richtig erfaßt. Seit Tausenden von Jahren haben die Menschen in ihrer großen Mehrzahl weder Zeit noch Lust zu denken. Dabei hat wahre Erziehung nicht nur die Jugend zum Objekt; sie schließt alle Altersgruppen ein und wird damit zu einem Prozeß, der nie ein Ende findet. In einer Epoche atemberaubender wissenschaftlicher und technischer Entwicklung ist ein Mensch, der nicht denkt, nutzlos, ein wertloses Glied der Gemeinschaft. Das Denken sollte sich nicht auf die enge Sphäre der eigenen Arbeit beschränken, sondern auch einschließen, wie die Arbeit, die man verrichtet, Arbeit und Leben anderer beeinflußt.

Einfach und ohne große Zukunftsperspektive ausgedrückt: Die Erziehung würde ihrer Aufgabe genügen, wenn sie dazu beitrüge, das psychometaboli-sche System der Gesellschaft zu steuern und zu entwickeln. Wir wissen, daß menschliches Verhalten - und damit menschliche Leistung - ebenso von der Umwelt wie vom Erbgut bestimmt wird. Die soziale Umwelt formt vor allem durch das Instrument der Ausbildung.

Die Erziehung hat ungeheure Möglichkeiten, Kreativität, Intelligenz und analytisches Denken zu fördern. Machen wir denn vollen Gebrauch von unseren Anlagen? Shaw hat bemerkt, ein intelligenter Mensch benütze sein Gehirn mindestens zweimal in der Woche - aber die meisten Menschen benutzen es überhaupt nicht.

Goethe äußerte einmal, das Schicksal einer Nation hänge immer davon ab, was und wie ihre jungen Leute unter fünfundzwanzig dächten. Für diese Ansicht spricht vieles; »unter fünfundzwanzig«, das sind die Jahre zwischen Kleinkinderschule und Universität. In dieser wichtigen Periode wird der Mensch geformt, danach vollzieht sich seine kulturelle Entwicklung in kleinen Schritten. Alles kommt darauf an, wieviel an Wissen und Kultur er in jener Lebensspanne aufnimmt, denn ein Minus verlangt eine immense Anstrengung in späteren Jahren.

Der Mensch hat viel aus sich gemacht. Er hat sogar gelernt, die Natur zu beherrschen. Aber hat er die Möglichkeiten genutzt, seinen Geist zu entwickeln? Die Antwort ist leider negativ. In vielen Ländern können nur zwanzig, fünfzehn oder gar nur zehn Prozent der männlichen Bevölkerung lesen und schreiben, und bei den Frauen liegt der Anteil noch bedeutend niedriger.

Untersuchungen haben eindeutig ergeben, daß die Beseitigung des Analphabetentums eine unerläßliche Voraussetzung für den Aufstieg eines Landes ist. Ein Mindestmaß an wirtschaftlicher, technischer und kultureller Ent-

248


wicklung verlangt, daß vierzig Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben können. Was ein Schüler lernt, hängt unmittelbar von der Qualität seiner Lehrer ab. Wir fragten den Dekan der betriebswirtschaftlichen Fakultät einer amerikanischen Universität, warum die Studenten nicht mehr an Mathematik lernen. Er gab zur Antwort: »Wir können von den Studenten nicht mehr verlangen, als unsere Professoren wissen, und die meisten unserer Professoren könnten nicht einmal eine Infinitesimalaufgabe lösen.«

Kehren wir zum Grundsätzlichen zurück. Die Entwicklungsländer haben sich zum Ziel gesetzt, allen Kindern zumindest einen Elementarunterricht zu garantieren. Dieser Vorsatz ist höchst ehrenwert, weniger erhebend aber sind die Resultate, die die Hoffnungen kaum rechtfertigen. Die Anstrengungen tragen keine Früchte, weil es an Planung fehlt, weil die Mittel zu beschränkt sind, weil es an Lehrpersonal mangelt und zugleich die Schülerzahlen gewaltig anschwellen. Sie haben sich, je nach dem betreffenden Land, innerhalb weniger Jahrzehnte verdoppelt bis vervierfacht.

Mythen der Erziehung

Zu allen Zeiten und in sämtlichen Gesellschaften schafft die Erziehung, unabhängig davon, welches Bildungsniveau erreicht werden kann, ihre eigenen Mythen. Eine der am weitest verbreiteten und jüngsten Mythen ist die Legende, daß alle gesellschaftlichen Probleme durch Erziehung gelöst werden könnten. In verschiedenen »jungen Staaten« versuchte man in der ersten Zeit nach Erringung der Unabhängigkeit einen großen Durchbruch auf dem Gebiet des Bildungswesens zu erzielen. Die Industrialisierung war nicht über Nacht durchzuführen und brachte deshalb nicht die raschen Resultate, die man erhofft hatte. Da der Lebensstandard stagnierte oder sogar sank, richtete sich alle Zukunftshoffnung auf die Erziehung.

Dies war verständlich, aber man unterschätzte, was der große Sprung nach vorn im Bereich der Erziehung kostet. Die Entwicklungsländer fanden es - ein bißchen spät - notwendig, ihr ursprüngliches Bildungsbudget auf das Fünf- oder sogar Sechsfache zu steigern. Dann erkannten sie, daß es an Lehrern fehlte, um mit dem Zustrom neuer Schüler und Studenten fertig zu werden. Schon was den Elementarunterricht betrifft, konnten in manchen der neuen Staaten nicht mehr als ein Drittel der Kinder aufgenommen werden, obwohl man sechzig, achtzig, ja sogar hundert in ein einziges Klassenzimmer pferchte. Auf den höheren Erziehungsstufen liegen die Dinge noch mehr im argen. Wir sollten nicht vergessen, daß Europa und Amerika mehr als ein Jahrhundert brauchten, um ihre Erziehungsstruktur auf den heutigen

249


Stand zu bringen, während die unterentwickelten Länder alles in einem einzigen Sprung und mit viel zu geringen Mitteln zu schaffen versuchen. Kein Wunder, daß ihnen dieses waghalsige Abenteuer nicht gelingen kann.

Das Fehlen der notwendigen Infrastruktur im Erziehungsbereich und einer Umgebung, die dem Lernen zuträglich ist, führt dazu, daß viele Talente verkümmern. Dies gilt selbst für Kinder, die das Glück haben, sechs oder sieben Jahre zur Schule gehen zu können. Julian Huxleys erwähnte Feststellung, daß Würmer sich zurückentwickeln können, gilt auch für Menschen. In Indien haben Untersuchungen ergeben, daß manche Kinder fünf Jahre, nachdem sie von der Volksschule abgegangen waren, Lesen und Schreiben wieder verlernt hatten.

Manchmal trug menschliche Unzulänglichkeit die Schuld an diesen Zuständen, häufiger aber waren einfach die Mittel und Kräfte des jungen Staates überfordert. Die Forcierung des Erziehungswesens bringt außerdem die Gefahr mit sich, daß die dafür aufgewendeten Mittel der Wirtschaft entzogen werden, was die dringendsten Minimalmaßnahmen für die Modernisierung der Landwirtschaft und des Gesundheits- und Fürsorgewesens blok-kiert. Und doch läßt sich nicht bestreiten, daß Freiheit von ohne eine qualifizierte Erziehung unerreichbar bleiben muß.

Damit wächst die schwierige Aufgabe, begrenzte Mittel auf konkurrierende Verwendungssektoren aufzuteilen, ins Riesenhafte. Die Zahl der Schüler und Studenten in den unterentwickelten Ländern geht heute sogar zurück, ohne daß Aussicht bestünde, den Trend umzukehren. Manche der jungen Staaten müssen nicht weniger als ein Viertel ihres Staatshaushalts für die Erziehung aufwenden und können trotzdem nur die Hälfte der Kinder ausbilden - und dabei bedeutet »Ausbildung« in den allermeisten Fällen nicht mehr als sechs Jahre Elementarunterricht.

Für »menschliches Kapital« gilt dasselbe wie für materielles Kapital: Es kann verlorengehen, wenn es nicht pfleglich behandelt wird. Mißwirtschaft auf dem Gebiet menschlicher Ressourcen kann zu folgenschweren Resultaten führen, vor allem zu gefährlichen kulturellen und sozialen Erschütterungen. Fehler und Mißgriffe sind in vielen Bereichen möglich, wofür die Mißachtung individueller Verschiedenheiten unter den Schülern und Studenten ein besonders aufschlußreiches Beispiel abgibt. In vielen Ländern geht man heute, unter dem Vorwand der sogenannten Gleichheit der Bildungschancen, ganz bewußt über die Unterschiede in Begabung und Fähigkeiten hinweg. Die weniger talentierten Schüler werden gehätschelt, weil sie der Gruppe der »Benachteiligten« angehören, und dies wiederum führt bei den begabteren zu Frustrationen und Verdrossenheit, weil sie sich nicht so entfalten können, wie ihre Anlagen es eigentlich zuließen.

Die Steuerung des Erziehungs- und Ausbildungswesens sollte sorgfältig und

250


in Ruhe analysiert werden, trotz der dringenden Forderungen, die von allen Seiten laut werden, etwa die Erziehung müsse »gesellschaftliche Relevanz« erhalten, die Welt verändern und andere maßlose Ansprüche. Bildung und Bildungswesen können nicht allen Wünschen gerecht werden, sie müssen sich auf ihre elementare Aufgabe konzentrieren. Ihre Funktion besteht vor allem darin, die Verschiedenheit der Anlagen im Menschen und damit die Spezialisierung zu fördern. Darwin schreibt im »Ursprung der Arten«, die strukturelle Mannigfaltigkeit unter Bewohnern einer bestimmten Region biete den gleichen Vorteil wie die physiologische Arbeitsteilung zwischen den Organen eines individuellen Körpers. Ein Tierkollektiv von geringer Verschiedenheit der Anlagen könne es kaum mit einem anderen aufnehmen, das eine größere Mannigfaltigkeit der Strukturen aufweise. Erziehung und Kultur sind die einzigen Instrumente, welche die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit menschlicher Anlagen zu fördern vermögen.

Die Wissensrevolution

Wenn die Welt aus dem gegenwärtigen, von Gefahren erfüllten Dunkel herausgeführt werden soll, müssen folgende Voraussetzungen geschaffen werden: allgemeine Bildung, ein zuverlässiger Regierungsmechanismus und eine klare Sicht dessen, was der Fortschritt mit sich bringt. Jede dieser Bedingungen ist unverzichtbar; ihre Erfüllung verlangt zwingend, daß wir uns über das menschliche Potential Klarheit verschaffen und daß wir eine Neuorientierung der Erziehung bewerkstelligen.

Die Qualität eines Bildungsprogramms erweist sich daran, inwieweit es die Lernenden zu begrifflichem Denken und der daraus folgenden Konkretisierung, der praktischen Umsetzung, befähigt. Die Freiheit, durch Erziehung unsere Denkfähigkeit zu entwickeln, hat kaum, wenn jemals, die Beachtung erfahren, die sie verdient. Und dabei ist sie eines der Grundrechte des Menschen.

»Die Erziehung ist der Schlußstein im Bogen von Freiheit und Fortschritt«, sagte John F. Kennedy. Ihre größte Bedeutung liegt darin, daß sie dem Menschen hilft, die Chancen der Selbstentwicklung zu nutzen, und damit die Gesellschaft insgesamt auf ein höheres Wissensniveau hebt. Manche ethnischen Gruppen haben dies erkannt. Statistiken zeigen, daß in den Vereinigten Staaten siebzig Prozent der jungen Juden zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren die Universität besuchen. Bei Amerikanern chinesischer und japanischer Abstammung liegt der Anteil bei fünfzig Prozent. Dies ist selbst für amerikanische Verhältnisse hoch, da in den USA durchschnittlich zwanzig Prozent der Jugendlichen aufs College gehen.

251


Die Aufgaben der Zukunft, Unternehmungen von einer noch nie dagewesenen Größenordnung, erfordern eine Brainpower, die nicht so leicht bereitzustellen ist. Sie verlangen auch, daß der wissenschaftliche Sachverstand für Ziele eingesetzt wird, die bisher dem Reich der Phantasie vorbehalten waren.

Unserer Haltung zu der wirtschaftlichen und natürlichen Umwelt sollte ein dynamischer Plan zugrunde liegen, der antizipiert, was uns morgen erwarten wird. Seltsamerweise ist Planung an manchen Universitäten nicht sehr geschätzt - obwohl sie an den betriebswirtschaftlichen Fakultäten gelehrt wird. Und doch wären die Hochschulen gut beraten, wenn sie mit Kühnheit ein Bild der künftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur entwürfen. Wenn eine Universität ihren Aufgaben wirklich gerecht werden will, muß sie die Zukunft antizipieren, bevor diese Gegenwart wird. Sie muß Prognosen stellen, welche Position ihr Land beispielsweise morgen in der Wissenschaft einnehmen wird, sie sollte die menschlichen und die materiellen Hilfsquellen gegeneinander abwägen, mit klarem Blick für das, was Technik und Fortschritt in der Zukunft verlangen.

Neue Wege in der Erziehung

Eines der großen Probleme des kommenden Jahrzehnts besteht darin, wie das Tempo der Erziehung beschleunigt werden kann, ohne ein geistiges Proletariat zu schaffen, wovon bereits die Rede war. Gesellschaftliche Organisationen entstanden ursprünglich, um dem Individuum zu helfen, persönliche Erfüllung zu finden; und Erfüllung beginnt und endet mit dem menschlichen Geist, der allein Quantität in Qualität zu verwandeln vermag.

Christopher Jencks, Professor an der Harvard University, schloß Mitte 1972 eine Studie ab, in der er zu dem Ergebnis kommt, daß, entgegen der heutigen Ansicht in den USA, Bemühungen um eine Verbesserung der Ausbildung von Kindern armer Familien deren Berufschancen kaum vergrößern, selbst wenn die Anstrengungen Früchte zeigen. Dieses Resultat steht im Widerspruch zu der in den sechziger Jahren bei Schulreformern weitverbreiteten Überzeugung, ein verbesserter Unterricht für Kinder aus den Unterschichten werde ihnen später zu gutbezahlten Jobs verhelfen.

Die Reformer glaubten, eine Reform der Erziehung werde den großen Einkommensunterschied von schwarz und weiß, reich und arm verringern. Die Harvard-Studie gelangt, gestützt auf eine ausführliche, mit Hilfe von Rechenanlagen durchgeführte Analyse von Daten über Familienverhältnisse, Schulbildung, berufliche Tätigkeit und Einkommen, die während des vergangenen Jahrzehnts gesammelt wurden, zu einigen frappierenden

252


Schlußfolgerungen: Aufhebung der Rassentrennung, Zusatzunterricht, Vorschulprogramm, Erhöhung der Mittel für das Schulwesen - nichts hatte die Disparität in den, wie Jencks schreibt, »kognitiven Fertigkeiten« zu vermindern vermocht. Unter »kognitiven Fertigkeiten« versteht er »die Fähigkeit, mit Wörtern und Zahlen umzugehen, Informationen aufzunehmen und logische Schlußfolgerungen zu ziehen«. Die Schule, so meint er, bestätige, ja verstärke nur die kognitiven Ungleichheiten, welche die Schüler mitbrächten.

Auch in Schweden dokumentierte eine jüngst durchgeführte Untersuchung, daß das freie Erziehungssystem anscheinend nicht imstande ist, die Barriere zu beseitigen, die Kinder aus ärmeren Bevölkerungsschichten benachteiligt. Überraschende Ergebnisse erbrachte eine Studie, mit der die Regierung eine eigene Kommission beauftragt hatte. Die Kommission widersprach der landläufigen Auffassung, die Studenten sollten »um des Studierens willen studieren«. Sie schlug im Gegensatz dazu vor, die Studienpläne zu revidieren und stärker auf die Berufsausbildung auszurichten.

In dem Bericht, den diese Kommission unterbreitete, wurde empfohlen, die akademische Forschung, selbst in den altphilologischen Fächern, als Berufskategorie beizubehalten. Doch sollte die Zahl der Studienplätze anhand des voraussichtlichen Bedarfs des Arbeitsmarktes bestimmt werden. Damit würde die Zahl der Studenten, die beispielsweise Griechisch wählten, auf das Angebot an Stellen in der akademischen Forschung und Lehre begrenzt werden. Dies würde die künftigen Studenten zwingen, sich über ihren künftigen Beruf zu entscheiden, bevor sie die Hochschule beziehen.

Diese Vorschläge würden im Fall ihrer Annahme die mittelalterlichen Grundlagen, auf denen das höhere Bildungswesen in Schweden wie in den meisten europäischen Ländern im Grunde noch heute ruht, nicht nur erschüttern, sondern beseitigen. Sie würden auch viele Universitätslehrer überflüssig machen, die gegenwärtig vom Staat dafür bezahlt werden, auf einem Gebiet zu forschen und zu lehren, das keinen praktischen Nutzen besitzt. Als Erziehungsfachleute aus England bei einem Besuch in Schweden von diesen Vorschlägen hörten, waren sie entsetzt über dieses »Sakrileg«. Sie konnten es nicht fassen, daß »Wissen an sich« ungenügend sein sollte, ja, daß akademische Bildung allein nicht unbedingt den Anforderungen des heutigen Lebens genüge. Aber diese schwedische Studie geht sogar noch weiter: Sie wendet sich nicht nur gegen das Traditionsdenken im Erziehungssektor, sondern lehnt auch die sozialistische Grundthese einer »freien Ausbildung für alle« rundweg ab.

253


Studium auf Kredit

Im sozialistischen Schweden müssen die Studenten den Hauptteil ihres Lebensunterhalts entweder aus eigener Tasche oder aus öffentlichen Darlehen bestreiten, die sie in der Zeit zwischen dem Universitätsäbgang und ihrem fünfzigsten Geburtstag zurückzuzahlen haben. Eine ähnliche Lösung ist vielleicht auch im nichtsozialistischen Amerika nicht mehr allzufern und dürfte sich anschließend auch in Mitteleuropa durchsetzen.

Das Argument, das hinter solchen Bestrebungen steht, lautet einfach: Wenn, bei einem so kostspieligen Erziehungswesen, die Berufschancen für Akademiker so gering sind, wie lassen sich dann die Investitionen in eine kostenlose Ausbildung für alle gesellschaftlich rechtfertigen? Oder präziser gesagt, wer soll für die hohen Kosten der akademischen Bildung aufkommen? In den Vereinigten Staaten untersuchte Ende der sechziger Jahre ein Komitee unter dem Vorsitz des früheren Präsidenten der University of California das Problem der Bildungskosten und kam dabei zu dem Ergebnis, die beste Lösung wäre, die öffentlichen Zuschüsse für die Hochschulen überhaupt zu streichen. Eine eigene Bank, von der Regierung eingerichtet, solle das Studium durch Darlehen* an alle Studenten finanzieren, die sich darum bewerben würden und dafür qualifiziert wären, wobei die Entscheidung über den Studienkredit von einer gewissen Leistungshöhe abhängig gemacht werden solle. Dieser Vorschlag hätte die Einführung einer Leistungskontrolle bedeutet.

Sobald der notwendige Prozeß der Selektion im Bildungsbereich störungsfrei läuft, müssen wir unsere Aufmerksamkeit dem nächstwichtigen Problem zuwenden: der Kostenexplosion im Erziehungswesen und ihrer Bändigung. Die Situation droht völlig außer Kontrolle zu geraten; nach Angaben von Professor Michaelson von der University of Edinburgh betragen die Laborkosten für einen Studenten der Zoologie jährlich im Durchschnitt nur vier Pfund. »Für einen Studenten der Informatik dagegen sind jährliche Laboraufwendungen von vierhundert Pfund nötig, wobei von einem Minimalbedarf ausgegangen wird: wöchentlich zwei oder drei Minuten Computer-Arbeit. Diese Summen gehören zum Preis des Fortschritts.«

Ein umfassendes Anwachsen der Aufwendungen für die Hochschulen ist zu erwarten, je mehr sich der Trend von den klassischen Disziplinen zu den neuen Gebieten verlagert, die von der fortgeschrittenen Technologie beherrscht werden. Ein angesehenes Mitglied des Lehrkörpers der Technischen Universität in Kopenhagen stellte fest: »Als wir 1957 mit unserer Planung für diesen neuen Komplex begannen*, ahnte niemand, was das alles

* Die Kredite sollten später durch einen Einkommens- und Lohnsteuerzuschlag getilgt werden.

254


kosten wird. Als dann die Ausgaben immer mehr stiegen, kam es zu einer Regierungskrise; seitdem sind die Mittelzuweisungen wiederholt aufgestockt worden. Während die Kosten steigen, werden zugleich Budgetkürzungen verlangt, was dann zu lächerlichen Sparmaßnahmen führt, die nichts einbringen und nur die Kosten pro Einheit in die Höhe treiben.«

Das dritte wichtige Problem besteht darin, den gesamten Ausbildungsprozeß mit mehr Qualität auszustatten, denn das heutige Niveau des erzieherischen Wissens läßt viel zu wünschen übrig. Die Schuld daran tragen nicht einfach nur die Verantwortlichen, die über Unterrichtsstoff und Anstellung des Lehrpersonals entscheiden. Der Grund ist eher darin zu suchen, daß wir auf die gewaltige Zunahme der Anforderungen an unser Bildungssystem damit reagiert haben, daß wir die Qualität in den Hintergrund stellten und das Heil in der Quantität suchten.

Ein wichtiger Schritt in der qualitativen Verbesserung unseres Hochschulwesens besteht darin, schon den Studienanfängern klarzumachen, daß die Universitätsausbildung, obwohl sie Jahre in Anspruch nimmt, nur eine Vorbereitung ist. Sie bietet dem einzelnen lediglich eine Berufsbasis, nicht aber die Garantie einer unbegrenzten Vorzugsstellung im späteren Leben, die er sich immer wieder neu erkämpfen muß.

Forschung und Erziehung

Die Gesellschaft braucht eine neue Grundeinstellung zum Gesamtkomplex des Lernens. Lernen verlangt - was viele nicht gern hören - innere Beteiligung. Die Erziehung sollte ein neues Denken schaffen und sich zu dessen Schulung der gesellschaftlichen Umbrüche bedienen, die wir heute erleben. Die Erziehung kann auch einer Regression zum Opfer fallen. Lenin, der, was ihm zur Ehre gereicht, im Gegensatz zu Hitler auf diesem Gebiet klaren Blick bewies, setzte eine umfassende Offensive gegen das Analphabetentum in Rußland in Gang. Wenn das Sowjetsystem eine Leistung aufzuweisen hat, dann ist es diese. Doch in jüngerer Zeit häufen sich die Nachrichten, daß das Lernniveau in den russischen Schulen wieder absinkt. Der Physikunterricht ist veraltet, und zugleich wird der Mangel an Physik- und Mathematiklehrern immer stärker spürbar. Alarmierte Bildungsexperten der Bürokratie suchen nach Abhilfe.

»Die Gesamtleistungen der Schüler, die die Schulen der Russischen Unionsrepublik besuchen, sind im vergangenen Jahr zurückgegangen«, bekannte vor kurzem Michail A. Prokofiew, Erziehungsminister der Russischen Unionsrepublik. Zahlreiche Schüler müssen die Klasse wiederholen, und selbst der Wissensstand der Besten läßt zu wünschen übrig. Gegenwärtig

255


verlassen fünfundzwanzig Prozent der sowjetischen Schüler die Schule vorzeitig, vor dem sechzehnten Lebensjahr. Der Minister erläuterte diesen unbefriedigenden Stand der Dinge mit den Worten: »Die meisten Schüler wollten nicht weitermachen, weil der Unterricht in den ersten acht Jahren nicht nachhaltig genug war. Die Lehrprogramme müssen verbessert werden, die Unterrichtsgegenstände in ihrer großen Mehrzahl bedürfen einer gründlichen Modernisierung.« Klingt uns das nicht vertraut?

Die Mathematik als Helferin

Die Beschäftigung mit der Mathematik ist deswegen so wichtig, weil sie uns das Verständnis zu vermitteln vermag, daß Fehler keine Schande, sondern Signale sind, die es möglich machen, den Kurs zu korrigieren. Die Mathematik stellt ein funktionales, logisches Symbolsystem dar, ein Spiel mit Zeichen und Regeln. Eines der wichtigsten mathematischen Instrumente ist die Statistik, die Disziplin, die sich mit Entscheidungen beschäftigt, welche aufgrund unvollständiger Daten und Informationen getroffen werden müssen. Statistische Ableitung beinhaltet die Formulierung alternativer Hypothesen und die Bewertung des damit verbundenen Risikos von Irrtümern. Eine Entscheidung impliziert die Annahme von ein oder zwei Alternativhypothesen: Etwas geschieht, oder es geschieht nicht; es hat entweder ein bestimmtes Charakteristikum, oder es hat es nicht. Dies ist die Grundlage allen wissenschaftlichen Denkens. In einem umfassenderen Sinn bemißt sich das Format einer naturwissenschaftlichen Disziplin an dem Grad, in dem sie von der Mathematik Gebrauch macht.

Heute gibt es eine Million ausgebildeter Forscher, Ingenieure und Wissenschaftler auf der Erde. Allein die Industriestaaten verfügen über ein beispielloses Reservoir an Wissenschaftlern und Technikern. Produktforschung, Systementwicklung und Managerfunktionen bieten gegenwärtig diesen hochqualifizierten Kräften das wichtigste Betätigungsfeld. Mehr als die Hälfte der in der europäischen Industrie Beschäftigten wird in zwanzig Jahren Dinge produzieren, die heute noch nicht hergestellt werden.

Ist das die richtige Orientierung? Sollten wir nicht einen Teil dieser imposanten geistigen Kapazität für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme einsetzen, denen wir gegenüberstehen? Wollen wir auf eine große Katastrophe warten, bis wir mit unserem Wissen die wichtigsten Probleme angehen, die es heute gibt? Muß der Fortschritt in den Naturwissenschaften unbedingt im bisherigen Tempo weitergehen? In den letzten Jahrzehnten hat sich das naturwissenschaftliche Wissen bekanntlich alle zehn Jahre verdoppelt. Dies hat unser Aufnahmevermögen bei weitem überfordert.

Außerdem besteht die Gefahr, daß wir den »Produkten« der Erziehung anschließend keine Arbeit bieten können. Dies kann zu einer gigantischen Vergeudung führen, wenn wir unser Wissenspotential nicht auf die Sozial­forschung ansetzen.

Der Vorrat an Spezialwissen, das uns heute zur Verfügung steht, ist so groß wie noch nie in der Geschichte; allerdings zeigt unser Bildungssystem nicht, wie diese Macht zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme und für sozial nützliche Zwecke eingesetzt werden könnte. Der Teufelskreis intellektueller Armut beruht auf dieser einfachen Tatsache. Trägheit, das Fehlen konkreter Planung, Rückständigkeit und der Braindrain bewirken, daß sich der wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Abstand, zwischen zwei verschiedenen Ländern oder auch zwischen verschiedenen Gebieten innerhalb desselben Staates, wenn er sich erst einmal herausgebildet hat, immer mehr vergrößert. Und dieser Prozeß setzt sich so lange fort, bis die Gesellschaft sich aufrafft und energisch plant und handelt. Das Fehlen einer Qualitätskontrolle im Bildungswesen, die Überfüllung von Schule und Universität und die mangelhafte Methodik halten die Effizienz der Erziehung auf einem niedrigen Niveau. Dies erschwert den Begabten die volle Entfaltung und behindert damit die Bildung der Führungsschicht, die für jedes Land notwendig ist. Das Einzigartige am Menschen ist seine Fähigkeit, seinen Geist zu entwickeln und immer höher zu führen. Wenn er sie einbüßt, droht ein neues Mittelalter.

256-257

#

 

 

www.detopia.de     ^^^^ 

Chorafas-1974