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18   DER MENSCH ALS KNOWLEDGEMAN   Chorafas-1974  

 19 IST DER MENSCH HERR SEINES SCHICKSALS? 

 

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  Gedanken zur menschlichen Selbstentwicklung 

Untersuchungen, wie wir sie in den vorausgehenden Kapiteln behandelt haben, zeigen eine Evolution, die der Mensch selbst in Gang gesetzt hat. Die natürliche wie die vom Menschen induzierte Evolution bewirkt Veränderung, aber nicht alle Veränderung ist Evolution. In natürlichen Systemen rufen Selektion und Überleben evolutive Transformationen hervor. Die natürliche Selektion führt zu dem hohen Organisationsgrad wie zu der Vielfalt, die uns an lebenden Organismen begegnen.

Jedes Tier, jede Pflanze stellt ein Bündel von Anpassungen in Struktur und Verhalten dar. Auch die Organisation des gesamten Bündels ist ein Produkt der Anpassung, hervorgegangen aus tastenden Versuchen, Erfolgen und Mißerfolgen, Mutationen und Veränderungen. Vom Menschen geschaffene Systeme hingegen sind geschaffen nach vorher festgelegten Kriterien. Diese Kriterien können sich zwar im Laufe der Zeit verändern, immer aber gibt es eine begrenzte Anzahl von ihnen, die als unantastbar gilt, und jeder, der sie in Frage zu stellen wagt, wird von seinen Zeitgenossen verketzert.

Für die Kultur und die Wissenschaft ist der Fortschritt wichtiger als das bloße Überleben. Fortschrittlich ist eine Wissenschaft, die den Samen ihrer eigenen Weiterentwicklung in sich trägt. Die Mathematik, im Verlauf der psychometabolischen Evolution des Menschen entwickelt, weist mit ihrem breiten Spektrum von Einzelgebieten, Strukturen und Gesetzen die Grundzüge einer solchen Wissenschaft auf.

Wissenschaftliche Erfahrung berechtigt uns zu der Ansicht, daß die Natur die Verwirklichung der einfachsten mathematischen Ideen ist, die sich denken lassen. Durch das formale Spiel von Zeichen und Regeln, das sich im mathematischen System kristallisiert, können wir neue Begriffe und Gesetze entdecken, die die bekannten Elemente miteinander verbinden. Dies liefert uns den Schlüssel zum Verständnis technologischer und natürlicher Phänomene. Die experimentellen Regeln sagen uns, welche mathematischen Werkzeuge zu benutzen sind. Somit ist der einzige Maßstab für den Nutzen mathematischer Konzepte der Zweck, dem diese Konstruktion dient. Das schöpferische Prinzip liegt in der Abstraktion, der Idealisation und der anschließenden Konkretisierung von Gedanken dank der Mathematik.

Keplers Leistung ist ein besonders schönes Beispiel dafür, daß Wissen nicht aus reiner Erfahrung, sondern nur aus dem Vergleich der Erfindungen des Intellekts mit beobachteten Fakten entstehen kann. Wir sind heute derart an die Schaffung neuer Begriffe gewöhnt, daß wir kaum erfassen, welch ein enormer Doppelschritt damals nötig war, wobei auch noch der Begriff der Masse zu formulieren blieb.

Die Mathematik ist eine wichtige Helferin im Entscheidungsprozeß. Man kann eine Entscheidung als die Wahl eines bestimmten Vorgehens aus einem Angebot mehrerer Möglichkeiten betrachten, von denen jede an vorher bestimmten Zielen gemessen werden kann. Wenn die Kriterien feststehen und die Fakten quantitativ zu erfassen sind, lassen sich Entscheidungen auf die Suche nach Optimierung, innerhalb der sittlichen Normen der Gesellschaft, reduzieren.

Ein System entsteht

Im antiken Griechenland wurde die Welt zum erstenmal Zeuge der Geburt eines logischen Systems, der euklidischen Geometrie, die sich mit derartiger Präzision entfaltete, daß jeder einzelne ihrer Lehrsätze absolut unbezweifel-bar war. Dieser Triumph logischen Denkens gab dem menschlichen Geist das notwendige Selbstvertrauen für viele seiner späteren Leistungen, vor allem auf dem Gebiet der Wissenschaft. Sokrates, Piaton und Aristoteles im Altertum und Descartes im 17. Jahrhundert formulierten die »Philosophie des Wissens«, die in den darauffolgenden Jahrhunderten zu einer experimentellen Methodik ausgebaut wurde.

Galileo Galilei ist der Vater der modernen Experimentalmethode. Sein rascher und beweglicher Geist entdeckte neu, was in den dunklen Jahrhunderten seit Euklids Zeit vergessen worden war: Der wichtigste Wesenszug, der den Menschen vom Tier unterscheidet, ist seine Fähigkeit, über das Gegebene hinauszudenken. Danach folgt das Talent, den dunklen Hintergrund unbekannter Situationen zu erforschen und zu erhellen. Die von Galilei entworfene Experimentalmethode wurde ein Jahrhundert später von Denkern wie Newton und Leibniz und in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Claude Bernard strukturiert und weiterentwickelt.

Nur selten wird erkannt und noch seltener gewürdigt, daß die Experimentalmethode dem Menschen eine unschätzbare Trumpfkarte in die Hand gab: Zeit. Die Aneignung von Wissen, die einst Generationen oder gar Jahrhunderte gedauert hatte, erreichte nun die zehnfache Schnelligkeit. Viele kleine Facetten, die früher verlorengingen, wenn sich jahrelang keine konkreten Resultate einstellten, konnten nun durch das Experiment lebendig erhalten werden. Mit der Experimentalmethode, der Objektivität der Mathematik und der Arbeitsgeschwindigkeit des Computers besitzt der Mensch heute mächtige Werkzeuge und Instrumente.

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Auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft stellt die mathematische Analyse Beziehungen zwischen den durch Erfahrung gewonnenen Daten her. Diese Verbindungen helfen bei der Prognose. Das machtvolle Instrument der Prognose beflügelt die Leidenschaft des Forschers und befähigt ihn zu großen Leistungen. Hinter seinem unermüdlichen Streben nach Analyse und Prognose steht ein stärkerer, geheimnisvollerer Antrieb: das Verlangen nach Lebens- und Realitätserkenntnis, wenn er auch solche Worte meidet, um nicht die schwierige Frage beantworten zu müssen, was »Realität« und »Erkenntnis« eigentlich bedeuten.

Ein Beispiel kann am besten erläutern, was mit analytischer Erkenntnis gemeint ist. Vor sechzig Jahren brütete Niels Bohr, der damals in Rutherfords Laboratorium arbeitete, über dem Problem der Atomfrequenzen. Die Quantentheorie war erfolgreich in vielen anderen Bereichen angewandt worden; von Planck selbst auf die Temperaturstrahlung; von Einstein und Debye auf die Berechnung der Molwärmen fester Stoffe bei tiefen Temperaturen; von Einstein auf die Photoelektrizität und Photochemie. Bohr aber erkannte, daß mehr nötig war, um die Quantentheorie der Energie weiter voranzubringen: Sie mußte anders angewandt werden.

Bis dahin hatte kein Bedürfnis bestanden, zwischen Energie und einem damit verwandten Begriff, der in der Mechanik Aktion genannt wird, zu unterscheiden. Aber für ein rotierendes System, als das Rutherford das Atom auffaßte, schien diese Unterscheidung zwingend nötig. Das Prinzip der Quantentheorie, angewendet nicht auf die Leistung, sondern auf die Aktion, lieferte Bohr die korrekte Formel für die Frequenzen der bekannten Spektrallinien beim Wasserstoff. Dank seiner durchdringenden analytischen Begabung konnte er auch andere Reihen von Linien im ultravioletten und infraroten Bereich vorhersagen, die damals noch unbekannt waren, aber bald darauf beobachtet wurden. Die Naturwissenschaft arbeitet sich mit kleinen, sorgfältig geplanten Schritten voran, und das gleiche gilt für die Mathematik.

Der Geist der Neugier und der Spekulation verleiht dem menschlichen Intellekt seine gewaltige Kraft. Wir können mit Sicherheit prophezeien, daß etliche der heute herrschenden Ideen morgen modifiziert oder sogar überholt sein werden, trotzdem aber müssen wir auf diesem Weg weitergehen, weil der Prozeß der Analyse so und nicht anders verläuft.

In den kommenden Jahrzehnten wird es beim Vorstoß in das Unbekannte nützlich, wenn nicht umumgänglich sein, die vier naturwissenschaftlichen Verfahren, die der Mathematik, der Physik, der Chemie und der Biologie, zu

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kombinieren. Das mathematische Modell eines biologischen Systems bringt logische Beschränkungen mit sich. Das physikalische grenzt es durch physikalische Gesetze ein. Das chemische Modell bringt wiederum neue Einschränkungen und das biologische schließlich reduziert es noch weiter.

Modelle dienen dem Zweck, die Untersuchung von Systemen zu ermöglichen, deren Struktur entweder nicht völlig bekannt oder aber zu komplex ist, als daß sie sich reproduzieren ließe. Wenn wir für Computer-Zwecke ein digitales Modell eines bestimmten Systems anfertigen, sprechen wir von einem »Simulator«. Simulation heißt mit Analogien arbeiten. Wenn sich Systeme durch vereinfachte Modelle darstellen lassen, benützen wir - wie es der Fall verlangt - die sich ergebenden funktionellen und strukturellen Analogien, um anhand der beobachtbaren Interaktionen und durch Reize (Inputs) ausgelösten Outputs der einfacheren Modelle das Verhalten komplexerer Systeme zu untersuchen. Diese Methode wird bei Staudamm- oder Windkanal-Modellen, Analogrechnern und mathematischen Modellen, die für Datenverarbeitungszwecke programmiert sind, angewendet. Die letzteren finden wegen der hohen Geschwindigkeit in der Datenverarbeitung in Wissenschaft, Technik und Konstruktion breite Verwendung. Wenn festgestellt wird, daß das untersuchte Modell das System perfekt beschreibt, können alle daraus abgeleiteten Folgerungen einen ziemlich hohen Präzisionsgrad halten.

Was ist Gedächtnis?

Eine der wichtigsten und interessantesten Aufgaben der kommenden Jahre ist die Erforschung der Wirkungsweise des menschlichen Gedächtnisses. Klarsichtige Forscher haben zwei Hypothesen über die Speicherung von Erinnerungen aufgestellt. Einmal in Analogie zu einer Platte oder einem Film: Sobald wir einen Film belichten und das Bild entwickeln, ist er unbrauchbar, für keine zweite Aufnahme zu verwenden. Die zweite Möglichkeit wäre eine Art Magnetband. Wenn wir ein bereits besprochenes Band noch einmal besprechen, löschen wir die vorherige Aufnahme. Die Wissenschaft ist sich bisher noch nicht schlüssig, wie das Aufnahmesystem des Gedächtnisses arbeitet, ein Problem, das die Neurophysiologie beschäftigt.

Die heutige Forschung zielt darauf ab, den Mechanismus der Gedächt-nisspeicherung zu entdecken. Von der Art, wie diese Speicherung im Gedächtnis vor sich geht, abgesehen, hat man bisher festgestellt, daß es zu-mindestens zwei, wahrscheinlich aber mehr Phasen der Informationsspei-cherung im Nervensystem gibt. Das Kurzzeitgedächtnis wird anscheinend durch elektrische Aktivität in Nervenzellen ausgelöst. Es kann gelöscht wer-

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den durch alle möglichen Interventionen, beispielsweise Elektroschocks oder starke Anästhetisierung, die in die Gehirnstromtätigkeit eingreift. Im Gegensatz dazu ist das Langzeitgedächtnis resistent gegen alle Eingriffe, welche die elektrische Aktivität unterdrücken.

Die Entwicklung der permanenten Speicherung verlangt, daß dieser eine elektrisch sensitive Phase vorausgeht. Wenn also die elektrische Aktivität unmittelbar nach dem Beginn des Reizes blockiert wird, wird jede Erinnerung an diesen Reiz getilgt. Wird hingegen die elektrische Aktivität erst einige Zeit nach der Stimulierung unterbrochen, so ergeben anschließende Untersuchungen, daß die Erinnerung an dieses Geschehnis erhalten geblieben ist. Es gibt auffallende Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Gehirnpartien dressierter Tiere und solchen beim Menschen.

Natürlich würden wir gern die molekulare Basis von Veränderungen im Nervensystem verstehen, doch die entsprechenden Ergebnisse von Experimenten stehen noch aus. Der Mensch ist zwar auf dem Mond gelandet, aber über sein eigenes Gehirn weiß er sehr wenig.

Die Moral dieser Geschichte ist einfach: In der Naturwissenschaft besteht über die meisten Probleme Unsicherheit; nur wer mit der wissenschaftlichen Methodik nicht vertraut ist, glaubt, naturwissenschaftliche Theorien seien für die Ewigkeit gebaut. Aber wenn wir auch nicht wissen, wie ein natürliches Speichersystem arbeitet, so können wir doch praktisch mit Sicherheit sagen, daß Systeme, die der Mensch geschaffen hat, niemals die Vollkommenheit erreichen werden, mit der die Natur Informationen kodiert, speichert und zur Abrufung bereitstellt.

Das natürliche Informationssystem, das der Mensch besitzt, hat die einzigartigen psychometabolischen Merkmale, von denen auf Seite 21 die Rede war. An ihre Seite treten drei Eigenschaften: zunächst das abstrakte Denkvermögen des Menschen; sodann die relative Einheitlichkeit seiner psychischen Prozesse, im Vergleich zu der ungleich größeren Zersplitterung im Bereich des niedrigen Animalischen; und drittens die sozialen Einheiten, die der Mensch geschaffen hat, sowie der Mechanismus der kulturellen Weitergabe, den diese ermöglichten, was wiederum seinem Gedächtnis zuzuschreiben ist.

Wir wissen praktisch nichts über unsere Abstraktionsfähigkeit, ihre Möglichkeiten, wie sie funktioniert und wo sie ihre Grenzen hat. Wir wissen nur, daß sie sich in Rechenbegabung, Wissen und deduktivem Talent äußert. Dieses basiert auf Ideen. Ideen unterscheiden sich qualitativ von Begriffen, denn sie sind reicher, mehr gesättigt, umfassender als diese. Die letzteren leiten sich aus Beobachtungen ab und benutzen im Gedächtnis gespeicherte Informationselemente zur Vervollständigung der Daten, die aus Beobachtungen gewonnen werden. Ideen erweitern diese Ergebnisse und

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verbessern sie durch Abstraktion; mit den Ideen erreicht das Denken seine höchste Form. Begriffe wie Ideen werden im Gedächtnis gespeichert, und jede neue Beobachtung, Wahrnehmung und begriffliches Denken ermöglichen es dem Menschen, seine Vorstellung von der Welt zu korrigieren.

Der Mensch und die Wissenschaft

Wir haben wiederholt festgestellt, daß die meisten schwerwiegenden Probleme, mit denen der Mensch zu tun hat, menschlichen Ursprungs sind. Das gleiche gilt für die uns auferlegten Beschränkungen und Zwänge. Der Mensch, der Probleme löst, versucht - auf die Art, die ihm am besten entspricht -, ein vereinfachtes und verständliches Bild der Welt zu zeichnen und damit zu arbeiten. So geht die spekulative Philosophie vor, die Naturwissenschaft, die Malerei und die Dichtkunst, jede auf ihre eigene Art.

Die Menschen, die diesen Kosmos bauen, engagieren sich mit ihrer ganzen Seele in diesem Werk und hoffen, dadurch den Frieden und die Sicherheit zu finden, die ihnen im Trubel und in der Enge des Alltagslebens versagt bleiben.

Sir Francis Bacon schuf die induktive Methode und legte genau die Schritte fest, mit denen sie vorzugehen habe. Der Wissenschaftler müsse mit der Beobachtung einer großen Zahl von Fakten beginnen, daraus Theorien ableiten und diese dann durch Experimente prüfen. Die große Schwäche dieser Methode liegt darin, daß in Bacons System kein Platz für logische Deduktion, für Hypothesen, für den alles einleitenden Sprung der Phantasie ist, welche die Beobachtung überholt und sich mutig ins Unbekannte wirft. Bacon beginnt von außen und arbeitet sich nach innen. Die moderne Wissenschaft hingegen beginnt von innen, mit logisch deduzierten Hypothesen, und arbeitet sich dann mittels genauer Beobachtung und Verifizierung nach außen.

Einstein sagte, die höchste Aufgabe des Physikers bestehe in der Suche nach den Universalgesetzen, aus denen sich, durch reine Deduktion, ein Bild der Welt gewinnen lasse. Zu diesen Gesetzen, meinte er, gebe es keinen logisch zwangsläufigen Weg. Diese Ansicht ist der aristotelischen Auffassung ähnlich, daß die Grundgesetze der Wissenschaft nur durch Intuition zu entschleiern seien. Einstein räumte sogar ein, daß Werturteile und persönliche Vorlieben in hohem Maße mitbestimmen, zu welchen Schlußfolgerungen man gelangt. Glaube, Phantasie und Intuition, sagte Max Born, spielten in der Entwicklung der Wissenschaft eine ebenso entscheidende Rolle wie in allem menschlichen Tun. Und Max Planck forderte von den Bahnbrechern in der Wissenschaft, sie müßten eine lebendige intuitive Vorstellungskraft besitzen, um neue Ideen nicht durch Deduktion, sondern durch künstlerisch kreative Phantasie zu produzieren.

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Kelvin prophezeite, die Physiker des 20. Jahrhunderts würden sich darauf beschränken können, Messungen von immer größerer Genauigkeit vorzunehmen, die vorhandenen Phänomene sorgfältig zu analysieren und die Präzision, mit der ihre Vorgänger vorläufig die Konstanten bestimmt hätten, um eine weitere Dezimalstelle zu verfeinern. Er war der Ansicht, daß die physikalischen Gesetze zum größten Teil bereits entdeckt seien und daß daher nur die Aufgabe bleibe, das quantitative Wissen immer exakter zu gestalten. Aber diese Hypothese hat sich inzwischen als falsch erwiesen. Zahlreiche physikalische Gesetze warten noch auf ihre Entdeckung.

Die allgemeinen Gesetze, auf denen das Gebäude der theoretischen Physik beruht, erheben den Anspruch, für sämtliche natürlichen Phänomene zu gelten. Sie müßten es möglich machen, die Theorie hinter jedem Prozeß, das Leben eingeschlossen, mittels reiner Deduktion zu beschreiben, überstiege das notwendige Deduktionsvermögen nicht die Kapazität des menschlichen Intellekts auf seinem gegenwärtigen Stand.

Es gibt, wie Einstein sagt, keinen logischen Weg zu den erwähnten allgemeingültigen Gesetzen, nur Intuition, die auf Erkenntnis und Erfahrung beruht. Diese methodische Unsicherheit herrscht sogar im Bereich der Physik. Man könnte sagen, daß es alle möglichen denkbaren Systeme der theoretischen Physik gibt, die alle gleichermaßen viel für sich haben, und diese Ansicht ist, theoretisch, zweifellos richtig. Doch die Evolution hat uns gelehrt, daß sich in jedem Augenblick aus allen denkbaren Konstruktionen immer eine ganz bestimmte allen anderen als überlegen erwiesen hat.

Rein logisches Denken vermag uns keinerlei Kenntnis der empirischen Welt zu liefern; alles Wissen über die Realität beginnt und endet mit Erfahrung. Die Struktur des Systems ist das Werk der Vernunft, die empirischen Bestandteile und ihre Wechselbeziehungen müssen in die theoretischen Folgerungen eingehen. In der Möglichkeit dieser Einbeziehung liegt der einzige Wert, die einzige Rechtfertigung des betreffenden Systems. Thesen, welche die Frucht rein logischer Anstrengungen sind, besitzen in bezug auf die Realität keinerlei Bedeutung. Galilei hat dies erkannt und immer wieder betont, und dadurch wurde er zum Vater der modernen Physik und zugleich der modernen naturwissenschaftlichen Methode.

Das wissenschaftliche Denken ist aus vorwissenschaftlichem Denken hervorgegangen, und Begriffe sind die Meilensteine auf diesem Weg. Begriffe lassen sich auf verschiedene Weise betrachten. Eine besteht in logischer Analyse, die Antwort auf die Frage sucht: Welche wechselseitige Abhängigkeit besteht zwischen Begriffen und Urteilen? Eine andere Betrachtungs-

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weise geht tiefer und will ergründen, ob begrifflich veranschaulichte Phänomene allein das theoretische System bestimmen, das sie zum Ziel haben. Dem steht nicht entgegen, daß es keine logische Verbindung zwischen Phänomenen und ihren theoretischen Prinzipien gibt, aufgrund eines Zustandes, den Leibniz »prästabilierte Harmonie« nannte.

Wer solche geistigen Prozesse erlebt hat, wird diese Gedankengänge verstehen. Die wissenschaftliche und technische Entdeckungsgeschichte lehrt uns, daß die Gesellschaft nur einen kleinen Schatz an unabhängigem Denken und schöpferischer Phantasie besitzt. Selbst wenn die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Geburt einer Idee schon lange vorhanden sind, bedarf es mehr als eines äußeren Anstoßes, bevor es wirklich dazu kommt. Der Mensch muß das Problem frontal angehen, ehe die Idee sich einstellt. Die Wissenschaft als Gegebenheit ist vielleicht das objektivste, was der Mensch kennt; aber die Wissenschaft als Prozeß, der auf ein Ziel zustrebt, ist ebenso subjektiv und psychologisch bedingt wie jegliches menschliche Bestreben.

Die Aufgabe der Sozialwissenschaften

Es gibt nichts Ungewisseres als das psychometabolische Leben des Menschen, nichts Gewisseres als statistische Tabellen, die auf beobachteten Fakten beruhen. Zwischen diesen beiden Fixpunkten liegt das Arbeitsfeld der Sozialwissenschaften. Die Ungleichheiten des Zufalls, so augenfällig im Leben jedes einzelnen, gleichen sich aus, wenn man das Leben vieler betrachtet: Wenn die betreffenden Zahlen groß genug sind, tritt an die Stelle der Ungewißheit des Zufälligen die statistische Gewißheit. Dies gilt immer, wenn wir es mit einigermaßen großen Zahlen zu tun haben, wie es im täglichen Leben häufig vorkommt.

Eine sorgfältige Analyse muß bei den beobachteten Fakten beginnen. Aber wer über das Faktische nicht hinausgehen will, sagt T. H. Huxley, kommt meistens nicht einmal bis zu den Fakten; die Geschichte der Wissenschaft zeigt die Richtigkeit dieser Bemerkung nur zu klar. Wissenschaftliche Analyse beginnt mit der Aufstellung einer Hypothese, die am Anfang oft kaum begründet erscheint. Dies gilt für Physik wie für Technologie, doch wird die Sache schwierig, wenn wir in den biologischen und den gesellschaftlichen Bereich kommen.

Bislang hat die Anwendung physikalischer Methoden auf biologische Probleme nur bestimmte Aspekte erfaßt. Außerdem sind die sozialwissenschaftlichen Disziplinen seit Sokrates, Piaton und Aristoteles kaum, wenn überhaupt, weiterentwickelt worden. Die Folge davon ist, daß starke Dis-

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amerikanischen Steuerzahler bereits die Riesensumme von mehr als fünfzig Milliarden Dollar gekostet hatten, sah sich die Regierung Nixon außerstande, für eine Studie über soziale Mißstände mehr als kümmerliche 45 Millionen bereitzustellen (und damit auch das Problem der arbeitslosen Intelligenz zu »lindern«). Die Mondlandung kostete mehr als das Tausendfache einer Untersuchung gefahrvoller sozialer Probleme hier auf Erden, die über unsere Zukunft entscheiden können.

Der Teufelskreis nimmt kein Ende. Die Gesellschaft besitzt nicht die Maßstäbe, um menschliche Handlungen zu bewerten. Überall fehlt es an Rationalität. Warum steigen die Rüstungsausgaben? Weil der Frieden bedroht ist. Wodurch wird der Frieden bedroht? Durch das Wettrüsten zwischen Amerika und der Sowjetunion. Zweifelsohne ist es unrichtig, daß Supermächte, die einander gegenüberstehen, alle die negativen Dinge wollen. Warum den Gegner beneiden und ihn unbedingt übertreffen wollen? Die amerikanische Produzenten-Konsumenten-Ideologie mit ihrem planmäßigen Verschleißdenken, ihren Wegwerfflaschen und Wegwerf-Ehen hat im Namen der »nationalen Sicherheit« einen neuen Typus des Konsums hervorgebracht: militärische Rüstung. Die Russen setzen alles daran, den amerikanischen Vorsprung einzuholen, indem sie die Konsumenten-Produzenten-Ideologie auch in der Sowjetunion einführen. Und wer denkt an notwendige gesellschaftliche Veränderungen?

Wir leben heute in einer Phase des Übergangs aus der judäisch-christ-lichen Welt. Die Wurzeln dieser neuen Gesellschaftskrise liegen in den Vereinigten Staaten, die Saat freilich kam aus Europa. Daß diese Herausforderung von innen aufbrechen konnte, ist vor allem der Wissenschaftsgläubigkeit der Gesellschaft zuzuschreiben, die einen günstigen Nährboden dafür schuf. Dazu kommt das Weltmachtdenken, das zu der paradoxen Folge geführt hat, daß sich immer wieder Unzufriedenheit Luft macht. Der Westen nähert sich heute einem Stadium, in dem weiterer Fortschritt eine radikale Umwälzung in der Steuerung und Organisation der strukturellen Elemente, die sein Fundament bilden, verlangt. Parallelen dazu liefert die Vergangenheit mit den großen historischen Umbrüchen. Heute aber vollzieht sich der Wandel wegen der Technologie und der modernen Kommunikationsmöglichkeiten ungleich rascher.

Wie handelt der »Knowledgeman«?

Das heutige System gesellschaftlicher Wertvorstellungen wurzelt in einer Vergangenheit, die 8000 Jahre zurückreicht. Das Verhalten des Jägers, des Hirten und des Ackerbauern hat, trotz der Evolution in dieser langen Zeitspanne, noch heute seine Nachwirkungen.

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Es hat den Durchschnittsbürger, wie wir ihn kennen, sowie die menschlichen Gesetze und Institutionen mitgeformt. Die industrielle Revolution hat zwar große Veränderungen mit sich gebracht, jedoch keine grundlegenden im Wirkungsmechanismus der Gesellschaft.

Größere Veränderungen dürften von der »Wissensrevolution« zu erwarten sein. Der Mensch als »Knowledgeman« ist ein Wesen, das wir noch nicht verstehen. Nachdem er zum Hirten und zum Ackerbauern geworden war, blieb er im Grunde ein Jäger auf der Jagd nach Ideen, die er als »Knowledgeman« dank seines hochentwickelten Psychometabolismus domestiziert. Wir wollen ihn als einen Menschen definieren, für den die - freilich nicht zu ferne - Zukunft bestimmend ist und der die Zukunft zu erfassen vermag, ohne die Gegenwart zu vergessen - dies eines seiner Hauptmerkmale.

Er behält auch unter Druck kühlen Kopf; er besitzt eine ausgezeichnete Urteilsfähigkeit; er bringt es fertig, daß andere Menschen ihm ihre Sorgen unbefangen und rückhaltlos anvertrauen. Sein »know-know« gibt einer stochastischen Bedingtheit Rationalität. Er setzt nicht die Entdeckung, sondern die Problemlösung an die erste Stelle und hilft so, eine Umwelt zu schaffen, die den wahren Bedürfnissen des Menschen entspricht.

Der »Knowledgeman« würde seine Kapazität vergeuden, wenn er sie für Alltagsprobleme einsetzte. Er muß zwar mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen, zugleich aber sich den Kopf freihalten für mittel- und langfristiges Planen, um Krisen zu verhüten, anstatt all seine Energien in der Aufgabe eines Feuerwehrmannes aufzubrauchen. Er sollte danach streben, das Naheliegende in Frage zu stellen, die Gegenwart auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit auszurichten, die.Mathematik als Prüfstein zu benutzen und mit Neuem zu experimentieren. Können und Begabung des »Knowledgeman« bemessen sich danach, wie er Schlüsse zieht. Seine Ausbildung muß ihm zu einem besseren Verständnis der Evolution verhelfen, die in Systemen menschlichen Ursprungs stattfindet, der gesellschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen Auswirkungen und der strukturellen Implikationen, die für die Steuerung wichtig sind. Seine umfassende Schulung hilft ihm zu verstehen, daß nicht das Vorhandensein oder der Einsatz bestimmter Techniken Leistungen bewirkt, sondern die konsequente Anwendung von Schulung, Erfahrung und objektivem Denken.

Welche Funktion der »Knowledgeman« haben wird, läßt sich noch nicht präzise sagen. Alles, was wir über ihn wissen, sind einzelne Züge seines Porträts. Er gibt sich nicht mehr oder weniger zufrieden mit dem, was er weiß, sondern ist bestrebt, sein Wissen zu erweitern. Er kann Fragen formulieren, auf die er präzise Antworten erwartet. Er hat das Bedürfnis, Menschen von ähnlichem Kaliber um sich zu haben, und braucht Anerkennung für seine Arbeit. Die strukturellen Veränderungen, mit denen er sich beschäftigt, sind voller Probleme und verlangen sein ganzes Können.

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Der Kulturschock

Die Menschen kommen einander näher, sie reisen mehr, sie verständigen sich miteinander über größere Entfernungen als zuvor, ihre Psyche ist größeren Belastungen ausgesetzt, die Flut der Informationen nimmt mit jedem Jahr an Umfang und Geschwindigkeit zu, zu viele Signale dringen in die Sphäre ein, die einst privat war. Am raschesten begreift man die Bedeutung des Zukunftsschocks, sagt Alvin Toffler (»Future Shock«), wenn man einen Parallelausdruck nimmt, den »Kulturschock«, das körperliche und seelische Unbehagen eines Menschen, der unvermittelt in eine fremde Kultur versetzt wird. Ein Kulturschock tritt auf, wenn der Durchschnittsmensch plötzlich von lauter neuartigen Phänomenen umgeben ist, wenn die Umwelt ihren alten Sinn verliert, wenn, infolge eines kulturellen Umbruchs, das »Ja« von gestern vielleicht heute zum »Nein« wird.

Wertbegriffe wechseln nicht nur von Land zu Land, sondern ändern sich auch durch die Wirkung der Zeit, im selben Land. Veränderungen im System der Werte sind immer wieder an Frustration und Richtungslosigkeit schuld, die den Menschen durch die Jahrhunderte heimgesucht haben. Sie verursachen einen Zusammenbruch der Kommunikation, Realitätsblindheit und die Unfähigkeit, mit neuen Entwicklungen fertig zu werden. Dies könnte auch dazu führen, daß die Anstrengungen des »Knowledgeman« ohne Wirkung bleiben, weil sie nicht die gebührende Anerkennung finden.

Wenn ein Mensch aus seinem Kulturkreis gerissen und in eine völlig andersgeartete Umgebung verpflanzt wird, in der er auf lauter ungewohnte Dinge reagieren muß - andere Begriffe von Raum, Zeit, Arbeit, Liebe, Religion und so weiter -, und wenn ihm jede Hoffnung genommen wird, daß er jemals wieder in eine vertrautere soziale Landschaft zurückkehren kann, ist eine schwerwiegende Dislozierung unvermeidlich. Und noch stärker wird das Gefühl der Richtungslosigkeit, wenn sich diese neue Kultur selbst im Umbruch befindet und ihre Wertvorstellungen einen ununterbrochenen Umwandlungsprozeß durchmachen. Dies kann sich zu einer gesellschaftlichen Gefahr auswachsen, wenn nicht ein einzelner, sondern eine ganze Nation oder eine ganze Generation, einschließlich ihrer schwächsten, unintelligentesten und irrationalsten Mitglieder, auf sich allein gestellt leben und sich dieser neuen Welt anpassen müssen.

So wird möglicherweise die Existenz in der nachindustriellen Gesellschaft aussehen: schnellebig, zerrissen, in der Orientierung verunsichert. Die größte Gefahr liegt darin, daß wir bisher noch nicht über die notwendigen Instrumente verfügen, um die Menschen darauf vorzubereiten, mit einer solchen Existenz zurechtzukommen. Der Mensch ist anpassungsfähig, aber man muß ihn überzeugen, daß es nicht ohne Anpassung geht, wenn er überleben will. Wenn er nicht lernt, sich auf das Gesetz der Anpassung einzustellen, wird die Veränderung der Welt über ihn hinweggehen.

Die heutigen Sozialprobleme, die der »Knowledgeman« lösen muß, sind von äußerster Komplexität; im Vergleich dazu lassen sich technologische Systeme relativ leicht analysieren, denn sie sind zweckzentriert und enthalten nicht mehr Elemente, als zur Erreichung ihres spezifischen Zweckes notwendig sind - was für gesellschaftliche Strukturen und Problemkomplexe nicht gilt. Ein Gewebe der Beziehungen zu erhalten, es gegen Erschütterungen abzustützen und ihm die Fähigkeit zu geben, sich elastisch an überraschende Belastungen in Form gesellschaftlicher Forderungen anzupassen -das sind Aufgaben, die der »Knowledgeman« mit seinem Können lösen muß. Der menschliche Psychometabolismus kann Erfüllung finden durch Wissen oder durch Macht. Dem »Knowledgeman« stehen beide Möglichkeiten offen.

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19  IST DER MENSCH HERR SEINES SCHICKSALS?

»Wenn du für ein Jahr planst, pflanze Reis;
wenn du für zehn Jahre planst, pflanze einen Baum;
wenn du für hundert Jahre planst, erziehe Menschen!«
Altes chinesisches Sprichwort

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Die Bewältigung des Wandels

Fossilien in Gestalt von erhaltenen Knochen- oder Schalenresten sind nicht die einzigen Zeugnisse der Organismen, zu denen sie gehörten. Es gibt auch andere: Abdrücke im Gestein, die von einem Tier, einer Pflanze oder irgendeinem Teil eines Organismus stammen. Die menschliche Erziehungsarbeit wird keine Fossilien hinterlassen, ausgenommen vielleicht Dinge wie Schulhäuser, Tafeln, Bänke und Bleistifte. Aber das schönste Zeugnis menschlichen Mühens in den kommenden dreißig Jahren wäre eine Tour de force seiner geistigen Kapazitäten.

Der Mensch, wie ihn der Mensch geschaffen hat, ist ein Produkt der vom Menschen geschaffenen Kultur. Der Mensch ist durch zwei ganz verschiedene Entwicklungsprozesse geformt worden: durch die biologische Evolution der Spezies und die psychometabolische Entwicklung, die er selbst vollzieht. Wissen und Kultur sind zwar die größten Kapitalien unserer Zivilisation, aber wir machen noch heute keinen vollen Gebrauch von den Möglichkeiten der Erziehung. Wir stellen ihr keine wirklich großen und anspruchsvollen Aufgaben wie beispielsweise die Bewältigung des Wandels, des Umbruchs, der heute an die Wurzeln der menschlichen Institutionen rührt. Der Prozeß der Veränderung erfaßt alles und vollzieht sich zudem mit immer höherer Geschwindigkeit. Dennoch haben wir noch kein Rezept, um ihn zu steuern.

Mit jedem Tag erreicht die Veränderung mehr Menschen, tangiert sie bestehende Strukturen immer bedrohlicher. Wir gehen einen gefahrvollen Weg durch das - wie Peter Drucker es nennt - »Zeitalter der Diskontinuität«.


Die große, über den Fortbestand unserer Gesellschaft entscheidende Bewährungsprobe steht uns innerhalb der kommenden dreißig Jahre bevor. Können wir noch rechtzeitig die Menschen dazu erziehen, daß sie mit der ständigen Veränderung zu leben vermögen? Daß sie verstehen, wie möglicherweise das Leben in der »neuen Gesellschaft« aussieht? Daß sie das Wissen als Werkzeug der Problemlösung einsetzen? Daß sie die wechselseitige Abhängigkeit von Sozietät und Individuum als Voraussetzung des Überlebens akzeptieren? Daß sie die neue Technologie planen, um sie zu beherrschen? Wenn uns dies nicht gelingt, dann wird unsere immer komplexer werdende Gesellschaft zusammenbrechen und untergehen.

Das Ziel der Erziehung, die zu einem Leben in der Zukunft befähigen soll, besteht nicht darin, Futurologen wie Herman Kahn zu produzieren, sondern Menschen, die stark genug sind, die Basis einer Pyramide zu bilden, deren Spitze weit über das Jahr 2000 hinausreicht. Manche Techniker und Systemanalytiker vermögen über die Gegenwart hinauszublicken, nicht aber die Politiker und Staatsmänner, und doch tragen gerade diese eine hohe Verantwortung. Der Mensch im allgemeinen ist nicht geschult, über das Fleckchen Erde, auf dem sein Fuß ruht, hinauszudenken. Dies ist der Grund, warum die Gesellschaft hin- und hergerissen ist zwischen der Notwendigkeit, langfristige, komplizierte Zukunftsprogramme zu entwerfen, und dem Wunsch, das Heutige zu bewahren. Politiker, die es mit den ungeduldigen Forderungen nach Freiheit jetzt und hier zu tun haben, wissen davon ein Lied zu singen. Der einfache Mann fühlt sich verloren; er hört, daß die nachindustrielle Gesellschaft einen ungeheuren Bedarf an Spezial-können und -wissen haben und daß jemand ohne diese Voraussetzungen keine Arbeit finden wird - aber niemand hat ihm diese Voraussetzungen und eine neue Einstellung zur Welt vermittelt. Er ist verloren, wie ein Mensch, der zum erstenmal vor einer Verkehrsampel steht und ihren Sinn nicht begreift.

Die Gestaltung der Zukunft

Der Blick nach innen und der Blick nach vorn müssen sich vereinen, um den Menschen im Übergang von der industriellen zur nachindustriellen Epoche einen Halt zu geben. Der Mensch muß lernen, Probleme klarer zu sehen, sie rasch mit den Bedingungen der Gesellschaft, in der er lebt, zu verknüpfen, sie gründlicher zu analysieren, alternative Reaktionen zu entwickeln, die Vor- und Nachteile jeder Möglichkeit zu prüfen, eine vernunftgelenkte Entscheidung zu treffen und diese Entscheidung erfolgreich und wirkungsvoll auszuführen. Diese Schritte sind ausnahmslos lernbar, und ihr

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Ergebnis läßt sich messen. Es handelt sich um die Fertigkeiten, die jede Problemlösung verlangt, im privaten Bereich wie innerhalb einer Organisation oder der Gesamtgesellschaft.

Die Entwicklung dieser Begabungen muß vor allen Dingen auf die Zukunft ausgerichtet sein, und dies erfordert ein Verständnis der Zeit als eines Prozesses, der weitergeht, ob wir ihn planen oder nicht. Der Ausdruck »die Zeit totschlagen« ist häufig wörtlich gemeint. Die meisten Menschen verstehen es nicht, die Zeit für sich arbeiten zu lassen, da sie ihnen entweder fehlt oder im Überfluß zur Verfügung steht, wenn sie zuviel und dann wieder gar nichts zu tun haben. Im ersten Fall schlagen sie die Zeit tot, im zweiten werden sie von ihr totgeschlagen.

Der zweite Fundamentalbegriff, den die moderne Gesellschaft braucht, ist die Auffassung vom Wissen als Werkzeug. Der Wert des Wissens ist kein wirtschaftlicher wie der von Gold oder Silber, sondern liegt darin, daß es dazu beiträgt, Probleme zu lösen. Der Mensch muß das Wissen respektieren und zu erlangen trachten, denn es erweitert seine Fähigkeiten und Lebenschancen. Als nächstes folgt der Begriff des Systems als eines integralen Merkmals aller wissenschaftlichen und technischen Bereiche, Sprachen, Organisationen und Gesellschaften. Der Mensch muß, wenn er ein neues Problem oder ein neues Interessengebiet analysiert, die verschiedenen Systeme, auch die sozialer Wertvorstellungen, die im Spiel sind, verstehen lernen. Der Systembegriff wird die menschliche Fähigkeit, für ein Problem annehmbare Lösungen zu entwickeln, bedeutungsvoll erweitern.

Zum Systembegriff tritt das Verständnis für die Relationen, die Bezüge zwischen den Systemen, die Erkenntnis, daß das Leben einem Spinnennetz ähnelt - wenn ein Punkt berührt wird, teilt sich die Erschütterung dem ganzen Geflecht mit. Der Mensch muß erkennen lernen, daß individuelles und gesellschaftliches Handeln in tiefer Wechselbeziehung stehen. Er muß zwischen verschiedenen Aktionen abwägen können und eine Vorstellung davon entwickeln, wie eine Veränderung in einem System sich auf andere Systeme auswirkt. Er muß sich der Welt bewußter werden, in der er lebt, und begreifen, welche Wirkungen allein von den Relationen ausgehen können.

Dies sind keine Fertigkeiten, die leicht zu erwerben sind, und selbst Männern, die sich für Spezialisten in der Durchführung großer Projekte halten, unterläuft mehr als einmal ein Mißerfolg. Vor ungefähr fünfzehn Jahren mußten die neuen Überführungen über den »turnpike«, die Autobahn, die Kalifornien mit Florida verbindet, abgerissen und neu gebaut werden, weil die Planer ihre Höhe falsch berechnet hatten. Die Straße war projektiert worden, um eine Verbindung zwischen der Raumfahrtindustrie im südlichen Kalifornien mit Kap Canaveral herzustellen. Als die ersten Transportfahrzeuge mit ihrer Raketenlast losfuhren, stellte sich heraus, daß die Brücken

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zu niedrig gebaut worden waren! Dieses Fiasko ist kein Einzelfall: Die Planer, die die Autoroute du Sud zwischen Paris und der Riviera entwarfen, errechneten die vermutliche Verkehrsbelastung, untersuchten aber nicht den Zusammenhang zwischen einem guten Straßenangebot und seiner Nutzung. Infolgedessen erwiesen sich ihre Schätzungen als weitaus zu niedrig, da das Vorhandensein der Autobahn zusätzlichen Verkehr erzeugte, was niemand in Rechnung gestellt hatte.

Was den meisten Menschen fehlt, ist das Erfassen von Entwicklungstendenzen: die Begabung, individuelle oder gesellschaftliche Situationsmuster so zu sehen, daß sich daraus eine stichhaltige Projektion ableiten läßt. Wenn wir nicht fähig sind, aus dem Heute zu projizieren, können wir uns auch nicht anheischig machen, etwas über die Zukunft vorherzusagen. Der Mensch muß lernen, Trends, die ihn wie die Gesellschaft betreffen, zu analysieren, zu steuern und zu nutzen; er muß entscheiden können, welche Trends eindeutig sind, welche durch gegenläufige Entwicklungstendenzen ausgeschaltet werden, welche einander verstärken, ergänzen und so weiter.

Der Mensch muß erkennen, daß Trends und Relationen Grenzen ziehen; daß Dinge des täglichen Lebens, aber auch das, was wir den »Lauf der Geschichte« nennen, in starkem Maß von unvorhersagbaren Ereignissen und persönlichen Einflüssen geprägt werden. Ereignisse, die sich nicht voraussagen lassen, können tiefgreifende geistige Umbrüche bewirken, die von solcher Wirkung sind, daß man von geistigen Revolutionen spricht. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Phänomen Newton auf dem Gebiet der Physik, ein anderes Galilei. Die Wirkung solcher Ereignisse ist so umfassend, weil sie das menschliche Denken auf eine neue Basis stellen. Der Mensch muß verstehen, wie alle Strukturen und Entwicklungen sich verändern, sobald eine neue Erkenntnis sich durchsetzt.

Alvin Toffler meint zu Recht, daß das gesteigerte Tempo menschlicher Erfindung, ihrer Nutzung und Verbreitung den Zyklus noch mehr beschleunigt hat. Neue Maschinen und Techniken sind nicht nur Produkte, Endergebnisse, sondern gebären wiederum neue schöpferische Ideen. In einem gewissen Sinn verändert jede neue Maschine, jede neue Technik das Bestehende; neue Systeme entwickeln sich infolge unserer Freiheit, die Komponenten älterer Systeme zu neuen Kombinationen zu ordnen. Die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten wächst exponentiell, während die Zahl neuer Maschinen und Techniken arithmetisch steigt. Jede neue Kombination kann als eine neue Supermaschine gelten.

Der Computer zum Beispiel ermöglichte eine Verfeinerung der Arbeit in Naturwissenschaft und Mathematik. Verbunden mit Datenregistriergeräten, kommunikativer Ausrüstung und Energiequellen, wurde er zum Bestandteil

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eines Systems, zu einer neuen Supermaschine, die in den Weltraum hinausgreift. Wenn Maschinen oder Techniken neuartig kombiniert werden sollen, müssen sie adaptiert, verfeinert oder sonstwie verändert werden; allein schon die Absicht, Maschinen in Supermaschinen zu integrieren, zwingt zu weiteren technologischen Neuerungen. Die Steuerung und Kontrolle technischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Strukturen, schreibt Steinbuch zutreffend, wurde bisher zu oft mit naiven und veralteten Methoden betrieben. Können wir uns solche Nachlässigkeit noch länger leisten?

Die Bestimmung gesellschaftlicher Ziele

Analytisches Denken und Forschen läßt sich auf alle Probleme anwenden, denen sich der Mensch gegenübersieht. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist die Bestimmung von Zielen. Es kommt beispielsweise nur selten vor, daß jemand wirklich sagen kann, welche berufliche Tätigkeit seinen Wertvorstellungen, seinem Charakter, seiner Einstellung zu sich selbst und zur Gesellschaft am besten entspricht. Doch wir verfügen heute immerhin über eine rudimentäre Methodik, die dabei behilflich sein kann; ein präzises Beispiel dafür ist die Zielorientierung, bei der es um die Erreichung von Zielen, nicht um die Ableistung von Arbeit geht. Ein Beamter bringt seinen Achtstundentag hinter sich und hat seine Arbeit abgeleistet, ein Unternehmer hingegen kann zehn Minuten oder sechs Wochen brauchen, um ein Ziel zu erreichen. Für einen aktiven Menschen bestimmen sich Leistung und Lohn nach dem, was er erzielt, nicht nach dem Aufwand an Arbeit.

In der traditionellen Bürokratie sind die Anforderungen minimal. Fehlleistungen werden bestraft, außerordentliche Leistungen aber ignoriert, jeder erhält sein Gehalt für ein bestimmtes Arbeitsminimum. Der Unternehmer nimmt Fehlleistungen hin, weil diese der Preis ungewöhnlicher Anstrengungen sind; die Bequemen und Mittelmäßigen werden ignoriert, während außergewöhnliche Leistungen entsprechend belohnt werden. Zielorientierung ist das einzige System, das in einer wissensintensiven Gesellschaft funktioniert.

Der Mensch muß sich auch den Begriff der Austauschbarkeit von Faktoren wie Zeit, Geld, Wissen und Energie zu eigen machen. So lassen sich gewisse Aufgaben rascher mit Geld bewältigen, das dann Zeit stubstituiert. Wissen wiederum gibt andere Möglichkeiten, eine Aufgabe auszuführen, und spart damit Zeit und Geld. Der Durchschnittsmensch hat noch nicht gelernt, wie man ein Ziel auf verschiedene Arten angehen kann und dabei verschiedene Faktoren einsetzt. Systemanalyse, Kosten-Nutzen-Untersuchungen und Management-Informationssysteme sind Beispiele für die Klärung von EntScheidungsprozessen, aber sie bleiben vorläufig noch der »Denkerelite« vorbehalten.

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Die Forderung nach einem Prozeß zur Bestimmung gesellschaftlicher Zielsetzungen kann in einer Situation, in der unser aller Überleben weitgehend von der Stärkung des menschlichen Psychometabolismus abhängt, nicht nachdrücklich genug erhoben werden. Die Übergangszeit, in der wir leben, hat eine Parallele im Untergang paläozoischer Restbestände am Ende der Trias. Der Wettbewerb zwischen verschiedenen Gruppen von Tetrapoden führte dazu, daß einige auf der Strecke blieben und auch zahlreiche Amphibien und Reptilien ausstarben. Die fortschrittlichen Typen behaupteten das Feld, während die archaischen Formen der Konkurrenz unterlagen. Auch der menschliche Psychometabolismus führt dazu, daß einige auf der Strecke bleiben, die Menschen und Gesellschaften nämlich, die nicht wissen - und nichts davon wissen wollen -, wie man ein Projekt oder ein Vorgehen so plant, daß jeder Schritt klar vorauszusehen ist, so daß man sich auf ihn vorbereiten kann.

Die rationale, analytische, planende Einstellung, die wir hier empfehlen, ist die Arbeitsmethode der Wissenschaft. Wissenschaftler sind vielfach psychisch stabiler als andere schöpferische Talente und manchmal, freilich nicht immer, mit einem glücklichen Talent geboren, das in seiner höchsten Ausprägung sehr selten ist. Beispielsweise besteht kaum eine Chance, daß von einer Million Menschen auch nur einer, selbst bei bester Ausbildung und höchstem Eifer, einen bedeutsamen Beitrag zum Fortschritt der theoretischen Physik liefern könnte. In der Technik und der angewandten Mathematik hingegen, in wenigen abstrakten und begrifflichen Bereichen, sind vor allem Ausdauer, Energie und Ehrgeiz gefragt - die gleichen Eigenschaften, mit denen man es im Leben generell zu etwas bringt.

Die menschliche Kreativität

Niemand kann sagen, was die besten Voraussetzungen für wissenschaftliche Kreativität sind. Warum ist sie gerade bei Juden überproportional hoch, wie schon ein Blick auf die Liste der Nobelpreisträger zeigt? Kommt es davon, weil begabte jüdische Kinder, sobald ihr Talent sich zeigt, rigoros dem schulischen Wettbewerb ausgesetzt werden? Am wahrscheinlichsten erklärt sich dieses Phänomen damit, daß eine Generation nach der anderen in die Bildung ihrer Kinder investierte. Nachdem den Juden im Europa des Mittelalters das Recht auf Grundeigentum genommen worden war, wandten sie sich der Pflege des Geistes zu. Kultur entsteht nicht spontan, sie gedeiht nur unter bestimmten Voraussetzungen und verlangt Mühe, Hingabe und Opferbereitschaft. Eine Gesellschaft, die den Ehrgeiz hat, sich höher zu entwickeln, muß dafür bezahlen. Lange Zeit trägt das Kapital, das in Wissenschaft und Forschung investiert wird, keine greifbaren Früchte, doch schließlich treten die Resultate ans Licht.

Analyse und Forschergeist helfen dem Menschen bei der Entscheidung, wie er seine Talente nutzen und welchen Weg er zur Erreichung seiner Ziele einschlagen soll. »Was meine eigene Arbeit betrifft, so bestimme ich ganz allein über die Zukunft«, sagt Carlo Pesenti. »Der Mensch hat selbst in der Hand, was aus ihm wird.« Da die Welt immer kleiner und zugleich immer komplexer wird, mehren sich die Variablen, die unseren Weg beeinflussen. Planung berücksichtigt viele dieser veränderlichen Größen und gibt uns die Möglichkeit, sie zu unserem Vorteil zu nutzen. Planung, für große Organisationen eine selbstverständliche Notwendigkeit, kann auch für den einzelnen von Wert sein. Pläne sind zwar nie hundertprozentig zuverlässig, aber ihr Sinn besteht darin, dem Menschen zu zeigen, was er nicht weiß, den Denkprozeß zu klären, die kritischen Punkte herauszuarbeiten, die eine Entscheidung verlangen, und die wichtigsten Probleme hervorzuheben, auf die er sich konzentrieren muß.

Das Wissen, seine Fähigkeiten richtig und zielgerecht einzusetzen, steigert das Leistungsvermögen des Menschen und vervielfacht die Chancen der Zukunftsbewältigung. Dies ist die Basis der »Selbststeuerung« - self-management -, des Prozesses, mit dem er seine geistigen Anlagen, seine Mittel und Tätigkeiten lenkt und die psychometabolische Begabung noch ein Stück weiter entfaltet. Es gibt keine erstrebenswertere Freiheit als die, seine eigenen Mittel und Möglichkeiten klar und voll zu nutzen. Wenn wir nicht die Selbstdisziplin aufbringen, unsere Entfaltungschancen zu nutzen, dann ist jedes Lernen Zeitvergeudung, jede Anstrengung, die Unzufriedenheit in der Gesellschaft zu mindern, vergebliche Mühe.

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