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4. KAPITEL     Die Machtpolitik 

 

 

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Wissenschaft und Technik sind mobilisiert worden. Wofür diese Mobilmachung? Die Frage ist wichtig, weil der Fortschritt ja an sich ungerichtet ist. Viele <Optionen> sind denkbar. Von der elektronischen Datenverarbeitung bis zur Medizin, von der Raumfahrt bis zum Städtebau reicht die verwirrende Skala der Möglichkeiten.

Wenn man auf allen Gebieten weitergehen kann, die zur Verfügung stehenden Mittel aber begrenzt sind, muß man Prioritäten setzen. Zu jeder F & E-Bemühung gehören solche Entscheidungen. Nur werden sie oft getroffen, ohne daß die Zielsetzung gleich zu erkennen ist. Zunächst muß man demnach feststellen, wie der Aufmarschplan sich heute darstellt, um dann zu prüfen, ob sich hinter der bloßen Strategie, also dem Einsatz der Mittel, eine echte Politik verbirgt, also die Unterordnung dieser Mittel unter klare Zielsetzungen.

Strategie und Politik

Hier dürfte eine Zwischenbetrachtung am Platze sein. Keine Verwechslung ist üblicher als die zwischen den Mitteln und den Zielen. Zwischen Strategie und Politik. Einen walnußgroßen Computer bauen, dreidimensionale Fernsehbilder möglich machen, ein automatisch gesteuertes Auto konstruieren - das ist Strategie. Denn diese Hervorbringungen sind nur Gegenstände von F & E, keine Ziele. Die Landesverteidigung, den Gesundheitszustand der Bevölkerung, den Lebensstandard, die Umwelt verbessern - das sind Ziele.

In welcher Weise einigen von ihnen Vorrang gegenüber anderen eingeräumt wird, das liefert die Definition einer Politik. Diese Unterscheidungen sind keine Wortklaubereien, sondern von größter Bedeutung. Welchem Ziel dient der Automobilbau? Der Herstellung von Automobilen? Schön, dann ist das Ziel bestens erreicht. Die Straßen wimmeln von Fahrzeugen, die immer schneller, immer komfortabler werden. Aber eine solche Betrachtungsweise verwechselt Ziel und Mittel. Das Ziel war, die Möglichkeit für eine bequeme und unabhängige Ortsveränderung zu geben. Trotz ständiger Verbesserung der Modelle ist dieses Ziel nicht erreicht worden. Der Autofahrer, in Verkehrsstauungen gefangen, in Auspuffgasen erstickend, ist ein unglücklicher Zeitgenosse: das genaue Gegenteil eines Menschen mit Bewegungsfreiheit.

Überträgt man diese Unterscheidung auf F & E, so erkennt man, daß die Wissenschaft etwas völlig anderes ist als die Technik. F kann ein Ziel sein, E nicht. Man treibt wohl Wissenschaft um der Wissenschaft, niemals aber Technik um der Technik willen. Theoretisch jedenfalls. In der Praxis ist die Trennung nicht so eindeutig. Die historische Wirklichkeit kennt keine Theorien; sie werden meistens erst nachträglich hineininterpretiert. Sie entsteht Tag um Tag, ganz empirisch, und so ist auch die Mobilmachung der Wissenschaft in den letzten zwanzig Jahren vor sich gegangen.

Bei einem Symposium erklärte Pierre Aigrain, der französische Generaldelegierte für wissenschaftliche und technische Forschung: »Das Hauptproblem ist jetzt die klare Zielsetzung geworden ...« Gewiß, ideal wäre es gewesen, wenn schon zu Beginn des Industriezeitalters Fortschrittspolitik betrieben worden wäre. Aber das war nun einmal nicht möglich. So tauchten nacheinander immer neue Motivierungen auf. Jede hatte eine Teilmobilmachung zur Folge. Was jetzt da ist, ist schubweise entstanden. Ohne zusammenhängenden Plan.

 

Die militärische Zielsetzung

Kehren wir zurück zu der Frage, die wir für einen Augenblick verlassen haben: auf welches Ziel hin sind Wissenschaft und Technik mobilisiert worden? Darauf läßt sich eindeutig antworten, daß diese Mobilmachung zunächst im Hinblick auf militärische Ziele erfolgt ist. So entstand eine Politik, die unausgewogenes Stückwerk blieb: eine Politik der ersten Generation. Auf so schmaler Basis ließ sich eine Strategie relativ einfach definieren. Es ist deshalb nicht weiter erstaunlich, daß die meisten Organisationsmethoden für F & E im militärischen Bereich entstanden sind, und zwar vor allem in den Vereinigten Staaten.

»Das Verteidigungsministerium hat die Organisations- und Managementmethoden eingeführt, die heute in anderen Bereichen Schule machen, und an diesem Sachverhalt hat sich nichts geändert«, berichten die OECD-Experten in ihrer Studie über die US-Wissenschaft. Und sie fügen hinzu, daß »die Verteidigung nach wie vor der Motor für die wissenschaftliche und technische Tätigkeit in den Vereinigten Staaten ist«.

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In der Tat zeigen die Militärs seit längerer Zeit einen geradezu leidenschaftlichen Hang zur Wissenschaft. Das US-Verteidigungsministerium verfügt über 55 Prozent der Haushaltsmittel für Forschung und Entwicklung. Bei dem Gewicht, das die Vereinigten Staaten haben, bringt diese Tatsache die gesamte Wissenschaftsarbeit in der Welt aus dem Gleichgewicht. Die anderen Großmächte halten es ähnlich. Die Militärforschung ist zur Lokomotive des Fortschritts geworden. Das Radar ist im Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Atomenergie wurde, kaum daß sie entdeckt war, von den Militärs annektiert. Die zivile Luftfahrt hat sich im Gefolge des Fortschritts bei den Kampfflugzeugen entwickelt. Das Operational Research ist während des Krieges in Großbritannien erprobt worden. Eine der ersten Anwendungen der elektronischen Datenverarbeitung erfolgte für das amerikanische Luftabwehrsystem. Und die Raumfahrt basiert auf der Technik der Interkontinentalraketen. Dieser Aufwand geht weit über die Waffenentwicklung im üblichen Sinne hinaus. Er betrifft alle Bereiche der Forschung. Das US-Verteidigungsministerium gibt jährlich 285 Millionen Dollar für Grundlagenforschung aus und übertrifft damit die National Science Foundation.

Die Militärs haben den Zusammenhang von Entdeckung und Innovation sehr genau verstanden. Sie wissen, daß der Fortschritt um so größer ist, je tiefer sein Ausgangspunkt liegt. Sie wollen ja nicht nur die derzeitige Waffentechnik verbessern. Sie müssen nach der Entdeckung Ausschau halten, die einen >Durchbruch< in der Kriegskunst bringen könnte, damit sie nicht den gleichen Fehler begehen wie Hitler in der Frage der Kernspaltung. Deshalb verfolgen sie die Arbeit der Grundlagenforschung, die ihnen wirklich völlig neue Möglichkeiten erschließen könnte.

Sie vergeben Forschungsaufträge oder geben Zuschüsse zu Untersuchungen über die Sinneswahrnehmungen bei Tieren, über neue mathematische Ansätze, über virologische Probleme, über Ernährungsfragen oder Möglichkeiten der Festkörperphysik. Die Mobilmachung bezieht alle Disziplinen ein. Selbst in Frankreich kann die Forschungs- und Versuchsabteilung beim Verteidigungsministerium mehr Mittel für die Forschung zur Verfügung stellen als der Nationale Rat für Wissenschaftliche Forschung (CNRS). Alle Laboratorien bemühen sich, solche Aufträge zu bekommen, die oft erst die Möglichkeit geben für die wirklich gewagten, verheißungsvollen und unvorhersehbaren Vorhaben.

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Alle Physiker leiden seit der Atombombe unter Schuldgefühlen. Dieses schlechte Gewissen erklärt die Pugwash-Bewegung, eine Internationale von Wissenschaftlern, die ihrer besonderen Verantwortung gerecht werden wollen.

Diese Tendenz ist auch in Frankreich deutlich geworden, als es um den Bau der eigenen Atombombe ging. Die Abteilung für militärische Anwendungen innerhalb des französischen Atomenergiekommissariats, die für die Durchführung der Kernwaffenversuche zuständig ist, hat niemals genug gute Physiker gefunden: der wissenschaftliche Nachwuchs lehnte es ab, <sich die Hände schmutzig zu machen>. Ebenso weigern sich die allermeisten qualifizierten Biologen, an chemischen oder bakteriologischen Waffen mitzuarbeiten.

Aber je weniger die Forschung es unmittelbar mit Waffen zu tun hat, um so geringer werden die Bedenken. Brennstoffzellen, integrierte Schaltungen oder Entsalzungsmethoden beschweren das Gewissen nicht, zumal die Arbeitsbedingungen, die von den Militärs geboten werden, verlockend sind. Sie wünschen Ergebnisse, während die Industrie Rentabilität verlangt: So wehrt sich die Welt der Wissenschaft nicht wirklich gegen diese Einflußnahme von militärischer Seite.

Die Industrie ist die große Nutznießerin dieser Haushaltsmittel. Aber die Verteilung auf die Branchen ist sehr ungleich. Die Raumfahrt- und Elektronikfirmen bekommen den Löwenanteil. Sie sind die Lieblinge des Generalstabs. In ihren Forschungszentren arbeiten besonders viele Wissenschaftler auf Kosten des Verteidigungshaushalts. So entsteht eine Verquickung ganz besonderer Art von Wissenschaft und Industrie, eine moderne Rüstungslobby, die sich mit Nachdruck für die Beibehaltung der Programme des Verteidigungsministeriums einsetzt.

Diese Politik schafft also privilegierte Industriezweige, >Spitzenbranchen<, die ständig mit dem Wachstumshormon der Militärausgaben hochgepäppelt werden. Sie entwickeln sich entsprechend rasch und können besonders umfangreiche wissenschaftliche Arbeiten durchführen.

 

Wenn es um das Prestige geht

Zu diesen militärischen Motivationen treten die politischen Motivationen des Gewinns an Prestige. In den Vereinigten Staaten haben sie vor allem in der Raumfahrt ihren Niederschlag gefunden; in Frankreich ist ihr Einfluß auch auf anderen Gebieten spürbar.

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Als die Amerikaner sich auf das Mondfahrtabenteuer einließen, verfolgten sie damit ein ganz klares Ziel: ihr Ansehen in der Welt wieder herzustellen, das unter dem erfolgreichen Start des ersten Sputnik stark gelitten hatte. Vor diesem Ereignis war die Raumfahrttechnik in den USA nicht recht in Gang gekommen. Denn die Amerikaner hatten zwar genügend qualifizierte Männer und das nötige Geld, aber es fehlte ihnen die Motivation. Sie wurde ihnen von den Sowjets geliefert. Drei Wochen nach dem Flug von Gagarin ließ Präsident Kennedy das Apollo-Programm anlaufen. Warum mußte es ausgerechnet der Mond sein? Diese Entscheidung war in der Perspektive der Eroberung des Weltraums sicherlich nicht die vernünftigste, aber sie entsprach am besten der weltpolitischen Motivation.

Seit dem 20. Juli 1969 ist das Ziel erreicht. Es gibt jetzt keine Herausforderung mehr, der es zu begegnen gilt. Es geht >nur< noch ganz allgemein um die Eroberung, Erkundung, Benutzung des Weltraums. Das Programm muß völlig umgestellt werden auf ganz andere Ziele. Aber was da ist, ist speziell für die Mondfahrt entwickelt worden. Das neue Ziel zwingt zur vorrangigen Durchführung von Programmen im erdnahen Raum. Etwas ganz anderes gilt es zu bauen: eine Weltraumstation auf Erdumlaufbahn. Eine solche Programmumstellung ist teuer. Aber das Widerstreben der Behörden und die Gleichgültigkeit der US-Öffentlichkeit hatten es unmöglich gemacht, gleich zu Beginn des Raumfahrtzeitalters langfristige Ziele festzulegen. In der Regel bleiben die politischen Motivationen unterschwellig. Man darf Prestige-Erfolge haben, aber nicht anstreben. Dabei gibt es solche Wünsche und Bemühungen nicht etwa nur in der Raumfahrt, sondern auch bei der Atomenergie, in der Datenverarbeitung und vielen anderen Bereichen. Meistens stellen sie einen Faktor dar, der das Ungleichgewicht noch verschärft, das ohnehin schon durch die militärischen Anstrengungen bewirkt wird. Denn solche Prestigevorhaben betreffen vor allem die Technologie und stützen sich ebenso auf die >Spitzenindustrien< wie die Rüstungsprogramme.

 

Wissenschaft für die Wirtschaft

Ganz gleich, ob es um die Vergrößerung des Rüstungspotentials geht oder um die Stärkung des nationalen Ansehens in der Welt - das Ziel ist stets das gleiche: die Macht. Die gleiche Absicht steht hinter der Mobilmachung der Wissenschaft durch und für die Wirtschaft.

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Die Wirtschaft braucht einen Produktionsapparat, der sich im weltweiten Wettbewerb behaupten kann. Der Fortschritt hat die Entfernungen schrumpfen und den internationalen Handel um ein Vielfaches ansteigen lassen. Ob ein Land wirtschaftlich gesund ist, beurteilt man weniger auf Grund des Lebensstandards seiner arbeitenden Bevölkerung als vielmehr nach der Handelsbilanz. Bevor man daran denken kann, die Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, muß man zunächst einmal dafür sorgen, daß man dem Konkurrenzdruck von außen gewachsen ist. Jede Schwäche öffnet ihm die Tür und gibt anderen die Macht. Der Staat hat nicht mehr die Freiheit, sein eigenes Spiel zu spielen, er muß das Spiel der Weltwirtschaft mitspielen. Und dort geht es vor allem um die bessere Technologie und die Auseinandersetzung mit der überwältigenden ökonomischen Macht der Vereinigten Staaten. Die Entscheidung fällt immer wieder in den Spitzenindustrien, die zugleich die Wachstumsindustrien sind. Bei ihnen muß die Bemühung vor allem ansetzen, und die Vorrangstellung, die ihnen die Amerikaner einräumen, findet sich in allen großen Industrienationen wieder.

Diese massive Unterstützung der Industrieentwicklung erlaubt es der Regierung, Erzeuger und Verbraucher zufriedenzustellen, was meistens genügt, um beide auch als Wähler zu gewinnen. Außerdem hat die Regierung hier in der Unternehmerschaft einen starken und gut organisierten Verbündeten. So wird der Industrieförderung im Rahmen der wissenschaftlichen Mobilmachung ein bevorzugter Platz eingeräumt.

Die Notwendigkeit, über den Ausbau von Forschung und Entwicklung das Wirtschaftswachstum sicherzustellen, ist heute allgemein anerkannt. Aber die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung sind auf diesem Gebiet sehr viel komplizierter als bei den Aufwendungen für militärische Zwecke. Denn dort konnte jedenfalls eine zusammenhängende Strategie daraus entstehen, während die Fachleute noch heute nach wirksamen Methoden zur Rentabilisierung der Wissenschaft suchen. So ist eine echte Wissenschaftspolitik der zweiten Generation, die politische, militärische und wirtschaftliche Zielsetzungen zusammenfassen müßte, noch nicht in Sicht. Jedenfalls darf und kann es sich dabei nicht um eine bloße Machtpolitik mit fast ausschließlicher Betonung der Technologie handeln, nur weil die Kräfteverhältnisse auf anderen Bereichen nicht so sehr ins Auge fallen. Die Herausforderung von außen betrifft ja nicht die Kunst, den Menschen in der Wissenschaftsgesellschaft glücklich zu machen.

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Man kann ohne weiteres Macht und zugleich unbewohnbare Städte, verschmutzte Flüsse, veraltete Krankenhäuser und jämmerliche öffentliche Einrichtungen haben. Erst auf weite Sicht vermögen solche Versäumnisse auch die Stellung in der Welt zu beeinträchtigen. Die Vereinigten Staaten beginnen das zu merken. Aber der Kampf findet ja immer in der Gegenwart statt - selbst um den Preis der Zukunft.

Die Großindustrie muß gegen die amerikanische Herausforderung gerüstet werden. So verfolgt die Wissenschaftspolitik der ersten Generation überall nur Teilziele und verwendet Strategien, die noch sehr unklar definiert sind. Die Wissenschaft um der Technologie willen, die Technologie um der Macht willen und die Macht um der Macht willen. Ein Sachverhalt ist geschaffen worden, der allen Regierungen sein Gesetz diktiert.

Eine übertriebene Vereinfachung? Gewiß. Aber ganz ohne Zweifel eine tiefgehende Tendenz, die sich an tausend Widersprüchlichkeiten ablesen läßt. Auf diesem Gebiet ist alles unklar und verfilzt. Zu jedem Beispiel gibt es ein Gegenbeispiel. Das ganze System ist entstanden, ohne daß die Beteiligten und die Zuschauer eigentlich wußten, um was es ging. Natürlich haben wir überzeichnet. Aber selbst diese Karikatur ist noch treffend genug. Denn die Situation entwickelt sich ja weiter, und diese Entwicklung geht seit zwanzig Jahren in die dargestellte Richtung. Und je schwächer und später die Reaktion kommt, um so ähnlicher wird das System seiner eigenen Karikatur werden.

 

Eindeutige Zahlen

Diesen Sachverhalt mit Zahlen belegen zu wollen, ist eine heikle Angelegenheit. Mit, aber auch gegen Zahlen läßt sich trefflich streiten. In jedem Land sind sie anders definiert. Man darf die statistischen Angaben nur als Größenordnungen werten. Wir wollen uns auf die Zahlen der OECD stützen, die am vertrauenerweckendsten erscheinen.

Die Zielsetzungen, die wir als Folgen der Herausforderung von außen gekennzeichnet haben, also Militär- und Raumfahrtausgaben, machen zwei Drittel der amerikanischen Aufwendungen für F & E aus. In Frankreich und Großbritannien belaufen sie sich auf 40 Prozent bis 45 Prozent. In Deutschland und Italien liegen sie bei ungefähr 20 Prozent, in Japan nicht über 2 bis 3 Prozent.

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Zivile industrielle Zielsetzungen beanspruchen 28 Prozent der einschlägigen Gesamtausgaben in den Vereinigten Staaten, 41 Prozent in Frankreich, 62 Prozent in Deutschland und 73 Prozent in Japan. So nehmen Technologie und angewandte Forschung stets zwischen drei Viertel und vier Fünftel des wissenschaftlichen Potentials in Anspruch.

Auch das Übergewicht der Spitzenbranchen geht ganz eindeutig aus den Zahlen hervor. Im Jahre 1965 haben Elektronik und Weltraumforschung 83,5 Prozent der Bundesausgaben der USA für Forschung und Entwicklung absorbiert. Weltraumerkundung und bemannte Raumfahrt, Fernmeldewesen und Elektronik haben in den Vereinigten Staaten 75 Prozent des Zuwachses an Forschern in den letzten Jahren aufgenommen.

Betrachtet man die Haushaltsmittel, die von der französischen und von der britischen Regierung für Forschungszwecke an privatwirtschaftliche Unternehmen vergeben worden sind, so stellt man fest, daß in Großbritannien 91,4 Prozent und in Frankreich 85 Prozent auf Weltraumaufgaben, Elektronik und Kernenergie entfallen. Für Deutschland und Japan liegen diese Anteile natürlich erheblich niedriger.

Diese massiven Geldspritzen lassen jedes Gefühl für Wirtschaftlichkeit verlorengehen. Die Technologie wird zunächst einmal durch Verträge mit dem Staat in Gang gesetzt und wirkt sich erst später kommerziell aus. Der Steuerzahler zahlt für den Verbraucher. Wenn sich der Krieg nur auf dem Boden abspielen würde, wären die Flugzeuge wahrscheinlich sehr viel weniger gut und die Landfahrzeuge viel besser. Wären Atombombe und Atomunterseeboote militärisch uninteressant, würden die Kernkraftwerke wohl noch in den Kinderschuhen stecken. Der zivile Bereich zehrt von dem, was der militärische jeweils benötigt.

 

Der Mensch wird vergessen

Rüstungspotential, politisches Prestige, wirtschaftliche Macht, wissenschaftliche Erkenntnis - das sind Ziele, die allein nicht genügen, um eine wirkliche Politik für den Fortschritt zu begründen. Denn diese Politik muß allum­fassend sein, also ganz andere Anliegen einbeziehen: Verbesserung der Gesundheitspflege, Schutz der Umwelt, Schaffung menschenwürdiger Städte, Ausbau des Bildungswesens, tieferes Eindringen in die volks­wirt­schaftlichen und gesellschaftlichen Phänomene, besseres Verständnis des individuellen Verhaltens usw.

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Das ist wahrhaftig ein weites Feld, auf dem man nur mühsam weiterkommt, weil man ständig auf biologische oder psychologische Probleme stößt, die ungleich schwieriger sind als die Probleme der unbelebten Materie, mit denen es die Technologie zu tun hat. Welchen Anteil haben diese - nennen wir sie zur Vereinfachung medizinisch-sozialen - Zielsetzungen derzeit am Forschungs- und Entwicklungsaufwand? 10 Prozent in den USA, 14 Prozent in Frankreich, 21 Prozent in Deutschland, 27 Prozent in Japan, 8 Prozent in Großbritannien. Damit gibt Frankreich dreimal mehr Geld für Militär- und Weltraumforschungen aus als für wissenschaftliche Arbeiten im Interesse eines besseren Lebens der Menschen! Das ist ein deutlicher Beweis für das Machtstreben, das in allen Industrieländern anzutreffen ist.

Es geht nicht darum, einer bestimmten Regierung den Prozeß zu machen. Die ganze industrialisierte Welt verhält sich gleich. Das System ist so beschaffen, daß alle Staaten um ihre Stellung im Konzert der Mächte fürchten und ihre Rüstungs- und Prestigebemühungen ständig verstärken, was Kürzungen auf den übrigen Gebieten zur Folge hat. Ein solches Vorgehen bringt allerdings innenpolitische Gefahren. Die Erfolge, auf die man rechnet, sind vor allem kollektiver Art. Das politische Verhalten des Staatsbürgers wird aber in erster Linie durch seine individuelle Lage bestimmt. Es ist viel leichter, den Wähler durch eine Erhöhung des Individual­konsums zu gewinnen als durch ein verbessertes Angebot kollektiver Leistungen. So erklärt die bloße Tatsache, daß die Forschungsaufwendungen nicht hoch genug sind, durchaus nicht den Rückstand in diesen Bereichen. Die Machtpolitik ist auch noch im Stadium der Anwendung spürbar, weil sie bei manchen Laborergebnissen die breite Einführung verhindert. Wollte man beispielsweise Industrie und Landwirtschaft zwingen, nur mit technisch möglichen, aber kostspieligeren Verfahren zu arbeiten, die keine Umweltverschmutzung hervorrufen, so würde man ihre Chancen im weltweiten Wettbewerb vermindern. Deshalb bleiben die praktisch durchgeführten Maßnahmen weit hinter den theoretischen Möglichkeiten zurück.

Hinzu kommt, daß es keine den militärischen Stäben oder den Lobbies der Industrie vergleichbaren Kräfte gibt, um solche Zielsetzungen nachdrücklich zu verfechten.

Die Naturfreunde, die Kranken, die behinderten Kinder oder die gepla gten Stadtbewohner sind ja nicht in mächtigen Interessenverbänden organisiert. Die Regierung kann sie vernachlässigen, ohne Politische Folgen fürchten zu müssen.

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So gesehen ist es noch erfreulich, daß jedenfalls 10 Prozent oder 20 Prozent für die eigentlichen Bedürfnisse des Menschen aufgewendet werden. Es könnte noch schlimmer sein.

Man mag hier einwenden, daß diese Forschungen in aller Regel weniger kostspielig sind. Der Soziologe braucht keine Teilchenbeschleuniger und keine Raketen. Aber eine solche eher spekulative Betrachtungsweise macht jeden echten Fortschritt auf diesen Gebieten unmöglich. Sie muß von Grund auf anders werden, wenn der jetzige Rückstand je aufgeholt werden soll. Es geht ja nicht darum, ein paar Meinungsumfragen zu machen, mit Statistiken zu hantieren, die eine oder andere Beobachtung von Naturphänomenen durchzuführen. Die Notwendigkeit des Großversuchs muß erkannt werden. Jedes Jahr müssen neue Städte gebaut werden, um Wohnungsbau-, Verkehrs-, Luftreinigungs- und Wasserverschmutzungsprobleme im Originalmaßstab zu untersuchen. Umwelterhaltende landwirtschaftliche Methoden müssen jeweils in ganzen Landstrichen erprobt, eine große Zahl von pädagogischen Versuchsstätten für neue didaktische Möglichkeiten eingerichtet werden usw. Erst wenn man so vorginge, würde man merken, daß die Wissenschaft für das >bessere Leben< mindestens so viel Geld erfordert wie die Technologie. Und man würde feststellen, daß sie die Existenzbedingungen des Menschen wirklich verbessern kann.

 

Fassen wir den derzeitigen Stand zusammen:

Eine klare und eindeutige Politik der ersten Generation für militärische und außenpolitische Ziele.

Eine sehr viel ungenauer definierte Politik der zweiten Generation unter Einbeziehung wirtschaftlicher Ziele und vereinzelter Bemühungen in medizinisch-sozialer und ähnlicher Richtung. Und alles wird beherrscht von einem Machtstreben, das bei jeder Entscheidung über vorrangig zu Leistendes eine Rolle spielt. So stellt sich die Mobilmachung der Wissenschaft heute dar. Es fällt nicht leicht, in ihr eine echte Fortschrittspolitik zu erblicken und den Platz des Menschen zu finden.

Ist es überhaupt möglich, von einer solchen Situation ausgehend eine Politik der dritten Generation zu erarbeiten? Eine Politik also, die den Vorrang der industriellen und kommerziellen Motivationen respektieren, aber den menschlichen Aspekten mehr Gewicht zumessen würde? Es wird nicht an Skeptikern fehlen, die eine solche Umstellung für unmöglich halten. Aber sie haben unrecht, denn sie ist möglich, ja, sogar unvermeidlich.

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Je weiter die Technologie fortschreitet, um so größer wird das Ungleichgewicht, bis schließlich die Krise da ist, die man dann zu beheben sich müht. So stellt sich der Ablauf seit Jahrzehnten dar. Das Ganze nennt sich >Regieren durch Krisenmanagement<. Aber die Krisen verschärfen sich und werden immer schwerer erträglich, je höher das technologische Niveau wird.

Um diese Widersprüche aufzulösen, ist jede Regierung geradezu gezwungen, sich intensiver der menschlichen Probleme anzunehmen. So kommt die Fortschrittspolitik nach und nach ins Erwachsenenalter. Die Frage ist nur, ob rechtzeitig oder zu spät. Wird reagiert und nicht gehandelt, so besteht ständig die Gefahr, daß man das Nichtwiedergutzumachende geschehen läßt.

Das Phänomen ist schon jetzt nicht mehr zu übersehen. In Schweden ist der Vorgang längst deutlich geworden. Jetzt sind die Vereinigten Staaten an der Reihe. So erklärt sich die Entscheidung von Präsident Johnson für die >Great Society<.

Diese Politik hat wegen des alles überschattenden Vietnamkrieges nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdient. Denn sie ist ganz zweifellos ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte der Menschheit, trotz der unmittelbaren Motivationen, die dahinterstehen, und trotz des zunächst geringen Erfolges. Die Tatsache, daß eine Regierung der Vereinigten Staaten diesen Weg einschlagen mußte, ist außerordentlich bemerkenswert und scheint auf eine in allen Industrieländern unvermeidliche Entwicklung in der Zukunft hinzuweisen.

Besonders wichtig ist es, daß diese Neuorientierung gerade in den USA erfolgt ist, die mit ihrer Macht allen anderen Nationen ihre Politik aufzwingen. Gewollt oder ungewollt. Nur die USA vermögen den Anstoß für eine Änderung des Systems in der ganzen Welt zu geben. Die anderen können nachziehen, aber nicht den Anfang machen. Es geht allerdings nur um eine Korrektur des gegenwärtigen Zustandes, nicht um etwas völlig neu zu Schaffendes, und man darf sich keine Totalrevision erhoffen.

Außerdem kann die amerikanische Art, Wissenschaft zu treiben, schon deshalb nicht Allgemeingut werden, weil sie an die pragmatische Einstellung der Angelsachsen und an die Respektierung des privaten Unternehmer­tums gebunden ist. Die OECD-Experten, die ausgezogen waren, die Wissenschaftspolitik der Vereinigten Staaten zu untersuchen, haben denn auch nach ihrer Rückkehr festgestellt, daß »die Erarbeitung dieser Politik offenbar nicht ein großes, planmäßig gewolltes Vorhaben darstellt, sondern die Zusammenfassung einer Vielzahl von sehr verschiedenen Einzelbestrebungen«.

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So kann die Neuorientierung nur sehr empirisch vor sich gehen. Dennoch ist die Entwicklung aufschlußreich. Meteorologie, Städtebaufragen, Kampf gegen die Umweltverschmutzung, öffentliches Gesundheitswesen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorgänge sind zu bevorzugten Gegenständen der Forschung geworden. Die Technologie büßt zugunsten der Behandlung menschlicher Probleme ein wenig von ihrer Vorrangstellung ein. Noch ist es zu früh, um feststellen zu können, ob die republikanische Administration diese Tendenz fördern oder bremsen wird.

 

Die Politik der dritten Generation

Wird man ein so vielschichtiges Phänomen wie den Fortschritt bewältigen können, wenn man sich mit Änderungen des bestehenden Zustands zufriedengibt? Auf die Dauer erscheint das nicht sehr wahrscheinlich. Das Bedürfnis nach einer Gesamtpolitik dürfte sich immer nachdrücklicher geltend machen.

Dann würde es sich nicht mehr darum handeln, besonders schreiende Widersprüche durch Einzelmaßnahmen zu beheben, sondern die Probleme an der Wurzel zu packen. Bertrand de Jouvenel stellt die Frage so: »Ganz gewiß wird man sich eines Tages überlegen müssen, ob man den Spieß nicht besser umdreht, also ausgehend von dem Ziel besserer sozialer Verhältnisse die öffentliche Finanzierung von Forschung und Entwicklung so vornimmt, daß dieses Ziel erreicht wird?« Genau da liegt das Problem. Es ist alles andere als einfach. Mit großen, leicht gesagten Worten wie Glück, Wohlstand oder Menschenwürde ist es nicht getan. Die Schwierigkeiten fangen an, wo der Inhalt dieser Schlagworte präzisiert werden soll, wo Ziele zu bestimmen und Prioritäten zu setzen sind.

Zur Lösung dieser Schwierigkeiten gehört unbedingt eine Bemühung um folgerichtiges Denken und um nüchterne Klärung des jeweiligen Sachverhalts. Es gibt Methoden, um manche Konfusion zu vermeiden, die Ziele zu beschreiben und die vorrangig anzugehenden Aufgaben zu bestimmen. Sie können zwar den Erfolg nicht garantieren, aber jedenfalls ganz grobe Fehler ausschließen. Eine in Verkennung der wirklichen Situation getroffene Entscheidung dagegen muß geradezu falsch sein.

Jede organisierte Struktur, ganz gleich, ob es sich um eine Behörde oder ein Unternehmen handelt, ist per definitionem parteiisch. Jeder Antrag auf Vergabe öffentlicher Mittel ist eigennützig. Für die Verantwortlichen kommt es darauf an, diese Verzerrung jeweils in Rechnung zu stellen, um sich ein möglichst klares Bild von dem anstehenden Problem und den möglichen Lösungen zu machen. Unter diesen Umständen wird die Entscheidungs­findung nachgerade zu einer Wissenschaft. Aber es gibt neue Verfahren, um die zu erreichenden Ziele, die Art der Probleme, die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten, die Vor- und Nachteile der vorgeschlagenen Maßnahmen zu beurteilen.

Die amerikanische Bundesverwaltung hat ihr bisher übliches Vorgehen bei der Haushaltserstellung von Grund auf geändert, um diesen neuen Grundsätzen Rechnung zu tragen. Sie ist weitgehend zum >PPBS< (Planning Programming Budgeting System) übergegangen, um für die Vergabe der Mittel stringente Maßstäbe zu finden. In Frankreich sind ähnliche Bestrebungen mit der Einführung von Rationalisierungsmethoden bei der Zuteilung von Haushaltsmitteln im Gange. Früher oder später werden die Forscher über ihre Ziele und die vorgesehenen Arbeiten genaue Angaben zu machen haben, bevor sie Geld bekommen können.

Das ist eine unbedingt notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen einer echten Wissenschaftspolitik. Aber das eigentliche Problem ist damit natürlich nicht gelöst: das zu findende Gleichgewicht im wissenschaftlichen Aufwand, ein Gleichgewicht, das es im Hinblick auf den Menschen - nicht auf die Macht - zu suchen gilt.

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Die Tabelle "Der fragwürdig gewordene Fortschritt" auf Seite 72/73 habe ich auf der Startseite plaziert. (detopia-2022)

 

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