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1 - Die Umweltkrise   

Commoner-1971

 

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Die zivilisierte Menschheit hat erst vor kurzem wieder entdeckt, daß sie in einer Umwelt lebt. In den Vereinigten Staaten wurde dieses Ereignis im April 1970 mit einer <Woche der Erde> gebührend gefeiert. Es war ein plötzliches Erwachen, was da stattfand. Schulkinder sammelten Abfälle ein, Studenten organisierten Massen­demonstrationen, und entschlossene Bürger befreiten die Straßen von den Autos — zumindest für einen Tag. Jedermann schien von den Gefahren aufgerüttelt zu sein, die der Umwelt drohen, und war eifrig darum bemüht, irgend etwas dagegen zu unternehmen.

Ratschläge in Hülle und Fülle prasselten auf die Leute nieder. Kaum ein Journalist, kaum ein Redner an der Universität, auf Straßen und Plätzen, in Fernsehen und Rundfunk, der nicht irgendwem oder irgendwas die Schuld zu geben wußte und ein Heilmittel parat hatte. Manche hielten die Umweltfrage für eine politisch harmlose Angelegenheit: »Ökologie dient in der Politik als Ersatz für das Wort Mutterschaft.«1)

Das FBI nahm die Sache ernster:

»Am 22. April 1970 kurz nach 13.30 Uhr beobachteten Angehörige des FBI eine Ansammlung von etwa 200 Personen auf den Playing Fields. Ein paar Minuten später schloß sich ihnen eine Gruppe von Studenten der George-Washington-Universität mit dem wiederkehrenden Ruf <Save Our Earth>(2) an ... Ein Plakat trug die Aufschrift <Gott ist nicht tot; er wird auf der Erde besudelt.> Kurz nach 20 Uhr traf Senator Edmund Muskie (Demokratische Partei), Maine, ein und hielt eine kurze Anti-Verschmutzungs-Rede. Nach Senator Muskie sprach der Journalist I. F. Stone zwanzig Minuten lang gegen Umweltverschmutzung, Militär und Verwaltungs­behörden.« (3)

Einige machten die Bevölkerungszunahme für die Umweltverschmutzung verantwortlich:

»Das Umweltproblem ist eine Folge des Bevölkerungsproblems. Es spielte praktisch keine Rolle, was ein einsamer amerikanischer Pionier mit seinen Abfällen tat ... Als die Bevölkerungsdichte jedoch zunahm, wurden die natürlichen chemischen und biologischen Kreisläufe übermäßig beansprucht... Die Zeugungsfreiheit wird einmal alles zugrunde richten.«4) — »Die Kausalkette, an deren Ende der Verfall der Umwelt steht, läßt sich leicht zurückverfolgen. Zu viele Autos, zu viele Fabriken, zuviel Reinigungsmittel, zuviel Schädlings­bekämpfungs­mittel, immer mehr Kondensstreifen, immer unzulänglichere Kläranlagen, zuwenig Wasser, zuviel Kohlendioxyd — all das kann mühelos auf zu viele Menschen zurückgeführt werden.«5)

Andere beschuldigten den Wohlstand:

»Die Überflussgesellschaft ist zu einer Ausflussgesellschaft geworden. Amerika mit 6 Prozent der Weltbevölkerung produziert allein 70 oder noch mehr Prozent des auf der ganzen Welt anfallenden festen Mülls.«6)

Und sie priesen die Armut:

»Selig sind die hungernden Schwarzen in Mississippi mit ihren Außenaborten, denn sie sind ökologisch vernünftig, und sie sollen das Erdreich der Nation besitzen.«7) 

Freilich nicht ohne Zurechtweisung durch die Armen:

»Man darf sich nicht auf Programme einlassen, die das Wirtschaftswachstum bremsen, ohne die Sicherung eines Mindesteinkommens als vordringlich zu behandeln, damit die Lage der Armen nicht noch armseliger wird, sondern sie vielmehr auch in den Genuß eines menschenwürdigen Daseins kommen.«8) 

Und Ermutigung von Seiten der Industrie:

»Nicht die Industrie an sich, sondern die öffentliche Nachfrage ist schuld daran. Und die öffentliche Nachfrage nimmt aufgrund des steigenden Lebensstandards und des steigenden Bevölkerungswachstums geometrisch zu... Wenn wir die nationalen und lokalen Führer des Umweltkreuzzugs von der Richtigkeit dieser grundlegenden und logischen Erwägung überzeugen können, daß nämlich Vermehrung Verschmutzung bewirkt, dann können wir ihnen auch dazu verhelfen, ihre Aufmerksamkeit auf den Kern des Problems zu richten.«9)

Wieder andere machten die angeborene Aggressivität des Menschen verantwortlich:

»Die erste Schwierigkeit liegt daher in der Masse der Menschen ... Die zweite und ganz grundsätzliche Schwierigkeit liegt in uns selbst — in unseren ursprünglichen Aggressionen ... Wie Anthony Starr einmal gesagt hat: <Traurige Tatsache ist, daß wir die grausamste und rücksichtsloseste Art sind, die jemals die Erde bewohnt hat.>«10)

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Andere jedoch sahen das Übel gerade in dem, was der Mensch erst gelernt habe: 

»Die Menschen fürchten ihr Menschsein, weil sie systematisch gelehrt worden sind, unmenschlich zu sein ... Sie verstehen nicht, was Liebe zur Natur bedeutet. Und so wird unsere Luft verpestet, unser Wasser vergiftet und unser Boden verseucht.«11)

Ein Pfarrer beschuldigte den Profit:

»Der Raubbau an unserer Umwelt ist nur deshalb ein Tatbestand unseres öffentlichen Lebens, weil er mehr einbringt als die gewissenhafte Verwaltung der beschränkten Reichtümer dieses Erdballs.«12)  

Ein Historiker griff die Religion an:

»Die Christenheit hat ungeheure Schuld auf sich geladen ... Wir werden so lange eine Umweltkrise — und zwar eine sich immer mehr zuspitzende — haben, solange wir nicht das christliche Axiom zurückweisen, wonach der Sinn der Natur allein darin liege, dem Menschen zu dienen.«13)  

Ein Politiker beschuldigte die Technik:

»Eine unaufhaltsame Technik, deren einziges Gesetz der Gewinn ist, verpestet seit Jahren unsere Luft, verwüstet unser Land, plündert unsere Wälder und verdirbt unser Wasser.«14)  

Ein Umweltschützer dagegen rügte die Politiker:

»Die politischen Organe unseres Staatsapparats, denen in erster Linie die gesetzliche Verankerung und die Verwirklichung der von den Umweltschützern geforderten Maßnahmen obliegen würden, sind von einer eigentümlichen Lähmung befallen ... Die Industrie, die vom Raubbau an unserer Umwelt profitiert, sorgt dafür, daß nur diejenigen in unsere Gesetzgebungsorgane gewählt werden, die ihr freundlich gesinnt sind, und daß nur solche Verwaltungsleute eingestellt werden, die eine ähnliche Haltung einnehmen.«15

Manch einer beschuldigte den Kapitalismus:

»So, nun ist sie amtlich bestätigt — die Verschwörung gegen die Umweltverschmutzung. Unser Programm lautet schlicht: Verhaftet Agnew und zerschlagt den Kapitalismus! Wir machen nur eine Ausnahme: Jeder soll sich einen Joint drehen und high werden dürfen. Wir verkünden dem Volke Agnews, daß der <Tag der Erde> der Tag der Söhne und Töchter der Amerikanischen Revolution ist, die dieses kapitalistische System niederreißen und uns befreien werden.«16

Die Kapitalisten starteten natürlich einen Gegenangriff: 

»Ich will damit sagen, daß wir die meisten unserer Probleme bereits lösen ... daß die Verhältnisse besser und nicht schlechter werden ... daß die amerikanische Industrie jährlich mehr als drei Milliarden Dollar für die Reinigung der Umwelt ausgibt und weitere Milliarden zur Entwicklung von Produkten aufwendet, die die Umwelt reinhalten sollen ... und daß in Wahrheit Gefahr nicht von der freien Unternehmerschaft droht, die unser Volk zum wohlhabendsten, mächtigsten und wohltätigsten Volk der ganzen Welt gemacht hat. Nein, heute droht Gefahr von der Katastrophen-Lobby, von jenen zwielichtigen Gestalten, die — um des persönlichen Vorteils willen oder aufgrund schierer Ignoranz — unser System untergraben und Wohlstand und Existenz des amerikanischen Volkes aufs Spiel setzen. Manche Leute haben sich durch solche Trübsalbläser und ihr Gerede über die atomare Vernichtung so in Angst und Schrecken versetzen lassen, daß sie rationalen Argumenten gar nicht mehr zugänglich sind ... Seit dem Zweiten Weltkrieg sind über eine Milliarde Menschen, die sich um Atom- und Wasserstoffbomben sorgten, auf andere Weise ums Leben gekommen. Sie haben sich, wie man sieht, umsonst Sorgen gemacht17

Und ein ganz schlauer Kopf — Comic-Held Pogo — schließlich beschuldigte jedermann:

»Wir sind auf den Feind gestoßen und der Feind, das sind wir.«18

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Die »Woche der Erde« und der sie begleitende Ausbruch an Publicity, Predigten und Prognosen kam für die meisten überraschend — überraschend auch für diejenigen unter uns, die sich jahrelang darum bemüht hatten, in der Öffentlichkeit ein Bewußtsein der Umweltkrise zu entwickeln. Mich selbst erstaunten am meisten die ebenso zahlreichen wie zuversichtlichen Erklärungen des Beginns und der Behebung der Krise. 

Für jemanden, der einige Jahre darauf verwendet hatte, auch nur die immer größer werdende Liste der Umweltprobleme zu erkennen und zu beschreiben — den radioaktiven Abfall, die Luft- und Wasserverschmutzung, den Verfall des Erdbodens — und einige Verbindungslinien zu sozialen und politischen Entwicklungen zu ziehen, schien die Benennung einer einzigen Ursache und eines einzigen Allheilmittels ein ziemlich gewagter Schritt

Während der »Woche der Erde« erkannte ich jedoch, daß derlei Zurückhaltung völlig unzeitgemäß wäre.

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Als sich die Aufregung wieder gelegt hatte, überlegte ich, was jenes Durcheinander an widersprüchlichen Ratschlägen, das die »Woche der Erde« hervor­gebracht hatte, wohl bedeuten könnte. Ich hatte den Eindruck, die Verwirrung sei ein Zeichen dafür, daß die Lage derart kompliziert und vieldeutig sei, daß jedermann jegliche Schlußfolgerung daraus ziehen könne, die ihm seine persönlichen Anschauungen — von der Natur des Menschen, von Wirtschaft und Politik — eben nahelegen. Wie in einer Rorschach-Tafel spiegelten sich in der »Woche der Erde« eher subjektive Überzeugungen denn objektive Erkenntnisse wider.

Die »Woche der Erde« überzeugte mich davon, wie dringend notwendig es ist, in der Öffentlichkeit ein tieferes Verständnis für die Ursachen der Umweltkrise und die möglichen Gegenmaßnahmen zu wecken. Davon also handelt dieses Buch. Es ist der Versuch herauszufinden, was die Umweltkrise eigentlich bedeutet.

 

Ein solches Verständnis muß am Ursprung des Lebens selbst ansetzen: an jener dünnen Haut aus Luft, Wasser und Erdboden, die den Körper unseres Planeten umhüllt, und an den leuchtenden Flammen des Sonnenfeuers, in die er getaucht ist. Hier erwachte vor mehreren Milliarden Jahren das Leben und wurde von der Substanz der Erde erhalten; es entfaltete sich, seine frühen Formen begannen die Hülle des Erdballs zu verändern, und neue entwickelten sich, die diesen Veränderungen angepaßt waren. Die Zahl der Lebewesen vervielfachte sich, mannigfaltig wurden ihre Arten und Lebensräume, bis sie schließlich ein erdumspannendes Netzwerk bildeten und mit den Umweltbedingungen, die sie selbst hervorgebracht hatten, verstrickt und verwachsen waren. Diese globale Einheit ist die Ökosphäre, die Wohnstätte, die sich das Leben selbst auf der Oberfläche unseres Planeten geschaffen hat.

Jedes Lebewesen, das hier zu existieren hofft, muß in die Ökosphäre hineinpassen, andernfalls geht es zugrunde. Die Umweltkrise ist ein Zeichen dafür, daß der fein abgestimmte Einklang zwischen Leben und Umwelt sich aufzulösen beginnt. Da die Bindungen zwischen den einzelnen Lebewesen sowie zwischen ihnen allen und ihrer Umwelt sich aufzulösen beginnen, geraten die dynamischen Wechselwirkungen, die das ganze System in Gang halten, ins Stocken und haben in manchen Bereichen bereits ganz ausgesetzt.

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Warum aber beginnen sich jene Beziehungen zwischen den Lebewesen und ihren Lebensräumen nun — nach Millionen Jahren harmonischer Koexistenz — aufzulösen? Wo fing das feingewirkte Gewebe der Ökosphäre zuerst an aufzufasern? Wie weit wird dieser Prozeß noch fortschreiten? Wie können wir ihn aufhalten und die zerrissenen Fäden wieder miteinander verknüpfen?

Die Vorgänge in der Ökosphäre zu verstehen fällt uns schwer, denn unserem heutigen Bewußtsein ist dieser Bereich merkwürdig fremd. Wir sind es gewohnt, jedes Ereignis gesondert und als einmaliges Geschehen in der Folge einer einzigen und ebenso einmaligen Ursache zu betrachten. In der ökosphäre jedoch ist jede einzelne Folge gleichzeitig die Ursache einer weiteren Wirkung: Die Ausscheidungen eines Tieres werden zu Nährstoffen der Bodenbakterien; die Ausscheidungsprodukte der Bakterien nähren die Pflanzen, und diese wiederum werden von den Tieren gefressen. Derartige ökologische Kreisläufe widerstreiten den Erfahrungskategorien des Menschen im Zeitalter der Technik, in dem die Maschine A immer das Produkt B erzeugt, das nach Gebrauch weggeworfen wird, ohne daß dieser Vorgang noch irgendeine Bedeutung für die Maschine, das Produkt selbst oder den Benutzer hat.

Dies ist der erste große Fehltritt, der das Leben des Menschen innerhalb der Ökosphäre kennzeichnet. Wir sind aus dem Kreis des Lebens ausgebrochen, indem wir die unendlichen Zirkulationsprozesse der Natur zu linearen Abläufen verformt haben: Wir pumpen Öl aus dem Erdboden, destillieren es zu Benzin, verbrennen es in irgendwelchen Motoren und verwandeln es dadurch in einen schädlichen Rauch, den wir dann in die Luft blasen. Am Ende dieses Weges steht der Smog. Aus anderen künstlichen Bruchstellen in den ökologischen Kreisläufen quellen giftige Chemikalien, Abwässer und Abfälle — Zeugen unserer Macht, das ökologische Gefüge, das seit Millionen von Jahren das Leben auf diesem Planeten sicherte, auseinanderzureißen.

Plötzlich haben wir nun entdeckt, was wir längst hätten wissen müssen: daß die Ökosphäre die Grundlage für Existenz und Aktivität des Menschen abgibt; daß alles, was sich nicht in sie eingliedern läßt, eine Bedrohung ihrer sorgsam aufeinander abgestimmten Kreisläufe darstellt; daß unsere Abfallmassen nicht nur unangenehm und schädlich, sondern auch — was viel wichtiger ist — ein augenscheinlicher Beleg dafür sind, daß die Ökosphäre vor dem Zusammen­bruch steht.

Um zu überleben, müssen wir begreifen, warum dieser Zusammenbruch jetzt droht. Und hier werden die Probleme noch verwickelter. Unsere Angriffe auf das ökologische System sind so massiv, so zahlreich, so voneinander abhängig, daß — obwohl der Schaden, den sie anrichten, ganz offenkundig ist — es überaus schwer fällt nachzuweisen, wie er eigentlich zustande kommt. Durch welche Mittel? In wessen Hand? Bringen wir das System einfach durch die ständige Zunahme der Weltbevölkerung zum Einsturz? Oder durch unsere gierige Anhäufung von Reichtümern? Oder sind es die Maschinen, die wir zur Erzeugung dieser Reichtümer gebaut haben? Ist die fabelhafte Technik, die uns die Ernährung aus hübschen Verpackungen gebracht hat, die uns in künstliche Fasern zu kleiden erlaubt, die uns mit immer neuen chemischen Produkten umgibt — ist sie der große Irrweg des Menschen?

Mit diesen Fragen befaßt sich das vorliegende Buch. Es handelt zunächst von der Ökosphäre als dem Schauplatz, auf dem die Zivilisation ihre großen — und furchtbaren — Taten vollbracht hat. Dann werden einige der Schäden beschrieben, die wir der Ökosphäre zugefügt haben — der Luft, dem Wasser und dem Erdboden. 

Allerdings werden dem Leser derlei Horrorberichte über die Umweltverseuchung mittlerweile recht vertraut, ja vielleicht sogar langweilig sein. Sehr viel unklarer ist dagegen, was wir aus ihnen lernen können, und so habe ich mich dafür entschieden, nicht in erster Linie Tränen über die von uns begangenen Fehler zu vergießen als vielmehr den Versuch zu machen, sie zu verstehen. 

Der größte Teil dieses Buches stellt das Bemühen dar, jene Tätigkeiten des Menschen aufzudecken, mit denen der Kreis der Natur durchbrochen wurde, und die Gründe dafür anzugeben. Ich verfolge die Umweltkrise von ihren offenkundigen Erscheinungen in der Ökosphäre über die ökologischen Belastungen, die sie widerspiegeln, die Mängel unserer Produktionstechnik und ihrer wissenschaftlichen Grundlagen, die diese Belastungen bewirken, bis hin zu den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kräften, die uns diesen selbstzerstörerischen Weg haben einschlagen und fortsetzen lassen. 

Dies alles in der Hoffnung und Erwartung, daß wir, haben wir erst einmal die Ursprünge der Umweltkrise begriffen, das ungeheuer schwierige Unterfangen in Angriff nehmen können, sie zu überleben.

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