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2 - Die Ökosphäre

Commoner-1971

 

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Das Überleben der Menschen auf der Erde hängt von der Existenz und unveränderten Fortdauer einer ihnen angemessenen Umwelt ab. Es gibt jedoch überwältigende Beweise dafür, daß unsere jetzige Lebensart die dünne lebenserhaltende Haut der Erde - und uns selbst mit ihr - der Zerstörung entgegen­treibt.

Um diese unsere Notlage begreifen zu können, müssen wir zunächst die Natur unserer Umwelt etwas näher betrachten. Das fällt den meisten Menschen schwer, da unsere Beziehung zur Umwelt in gewisser Weise ungeklärt oder zweideutig ist. Biologisch gesehen nimmt die Menschheit am Umweltsystem als untergeordneter Teil eines Ganzen teil. Andererseits ist die menschliche Gesellschaft darauf zugeschnitten, die Umwelt als Ganzes auszubeuten, um den menschlichen Wohlstand zu schaffen. Die paradoxe Rolle, die wir in der Natur spielen, indem wir gleichzeitig an ihr teilnehmen und sie ausbeuten, verzerrt unsere Wahrnehmung.

Die Naturvölker sehen den Menschen als abhängigen Teil der Natur, als zartes Pflänzchen in einer rauhen, von Naturgesetzen beherrschten Welt, denen er zu gehorchen hat, wenn er überleben will. Unter dem Druck dieser Notwendigkeit zur Anpassung vermochten sich die Naturvölker ein beachtliches Wissen über ihre Umwelt anzueignen. Der afrikanische Buschmann18 bewohnt einen der kärgsten Lebensräume, die es auf der Erde gibt; Nahrung und Wasser sind dort knapp und die klimatischen Verhältnisse extrem. Der Buschmann kann sich nur deshalb am Leben erhalten, weil er über unglaublich innige und gründliche Umwelt­kenntnisse verfügt. So kann er beispielsweise nach Monaten von weither zu einem einzigen, unter dem Erdboden wachsenden und auf einer früheren Wanderung entdeckten Knollengewächs zurückfinden, wenn er in der Trockenzeit damit seinen Wasserbedarf decken muß.

Wir, die wir uns als fortschrittlich bezeichnen, scheinen dieser Art von Umweltabhängigkeit entronnen zu sein. Der Buschmann muß sich das Wasser aus einer mühsam ausfindig gemachten Knollenpflanze herauspressen, wir drehen dazu einmal am Wasserhahn. 

Statt weglosem Gelände umgibt uns ein Netz von Großstadtstraßen. Statt die Wärme der Sonnenstrahlen zu suchen, wenn wir frieren, oder sie zu meiden, wenn uns zu warm ist, lassen wir uns von selbstgebauten Geräten wärmen und abkühlen. All dies macht uns glauben, wir hätten uns eine eigene Umwelt geschaffen und seien nicht mehr von derjenigen abhängig, die die Natur für uns vorgesehen hat. Unablässig auf der Suche nach neuen Wohltaten der modernen Wissenschaft und Technik, haben wir uns in die nahezu tödliche Illusion verrannt, wir hätten uns mit Hilfe unserer Maschinen aus der Abhängigkeit von der natürlichen Umwelt befreit.

Diesem Trugschluß erliegt der Passagier eines Düsenflugzeugs besonders leicht. Wenn man sicher in seinem Kunststoffsessel sitzt, in einem mit Flügeln versehenen Aluminiumschlauch befördert wird und kilometerhoch über dem Erdboden durch die Lüfte rast, die dünn genug wären, um das Blut zum Kochen zu bringen, mit einer Geschwindigkeit, bei der die Sonne still zu stehen scheint, dann läßt sich leicht annehmen, der Mensch habe die Natur besiegt und die uralten Ketten gesprengt, die ihn an Luft, Wasser und Erdboden fesselten.

Diese Einbildung läßt sich jedoch ebenso leicht zerstören, denn auch das Flugzeug ist ein Geschöpf unserer Umwelt wie die Menschen, die es trägt. Seine Motoren verbrennen Benzin und Sauerstoff, die von den grünen Pflanzen der Erde erzeugt wurden. Und wenn man noch ein paar Schritte weiter zurückgeht, erkennt man, wie die Existenz jedes einzelnen seiner Bestandteile ebenfalls von bestimmten Umweltbedingungen abhängig ist. Der Stahl wurde in Hochöfen gewonnen, die mit Kohle, Wasser und Sauerstoff — allesamt Naturprodukte — beschickt wurden. Das Aluminium wurde dem Erz durch Schmelzelektrolyse entzogen, die dazu notwendige Elektrizität wiederum durch die Verbrennung von Sauerstoff und Benzin oder aber durch Wasserfälle erzeugt.

Für jedes Pfund Plastikmaterial im Innern des Flugzeugs müssen wir eine gewisse Kohlemenge veranschlagen, die zur Erzeugung jener Energie benötigt wurde, mit deren Hilfe man den Kunststoff herstellte. Und auf jedes einzelne verarbeitete Teil kommen mehrere Liter reinen Wassers. Ohne die natürlichen Bestandteile unserer Umwelt — ohne Sauerstoff, Wasser und Brennstoff — könnten weder Menschen noch Düsenjäger existieren. Die Umwelt stellt einen riesigen, überaus komplizierten lebendigen Apparat dar, von dessen Unversehrtheit und einwandfreiem Funktionieren jede Tätigkeit des Menschen abhängt.

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Ohne die Photosynthese der grünen Pflanzen gäbe es keinen Sauerstoff für unsere Motoren, Schmelzer und Hochöfen und natürlich erst recht nicht den für das menschliche und tierische Leben notwendigen Sauerstoffvorrat. Ohne die Leistungen von Pflanzen, Tieren und den in ihnen lebenden Mikroorganismen gäbe es kein sauberes Wasser in unseren Flüssen und Seen. Ohne die biologischen Prozesse, die seit Abertausenden von Jahren im Erdboden ablaufen, könnten wir weder Getreide ernten noch Öl bohren, noch Kohle fördern. Dieser Apparat ist unser biologisches Kapital, ist die unabdingbare Maschine, auf deren korrektes Funktionieren unsere gesamte Produktivität angewiesen ist. Wenn wir sie zerstören, wird uns auch die fortschrittlichste Technik nichts mehr nützen, wird jedes wirtschaftliche und politische System einstürzen, das auf ihr beruht. Die Umweltkrise ist ein Zeichen für das Herannahen dieser Katastrophe.

Das ökologische System der Erde ist das Ergebnis Jahrmilliarden dauernder evolutionärer Veränderungen im Aufbau der Hülle unseres Planeten. Die Erde selbst ist ungefähr viereinhalb bis fünf Milliarden Jahre alt. Wir wissen heute noch nicht, wie sie aus dem kosmischen Staubnebel hervorging, aus dem das gesamte Sonnensystem entstanden ist. Wir wissen jedoch, daß die Erde am Anfang eine unbelebte, felsbedeckte Masse war, die eine vorwiegend aus Wasserdampf, Wasserstoff, Ammoniak und Methan bestehende Atmosphäre umgab.

Die grundlegenden Ereignisse, die dazu führten, daß sich aus diesen simplen Anfängen die komplexe Struktur der Erdoberfläche mitsamt ihren lebenden Bewohnern entwickelte, kennen wir inzwischen ziemlich genau. Eine der Hauptfragen in diesem Zusammenhang betrifft den Ursprung des Lebens. 

Alle Lebewesen bestehen fast ausschließlich aus ein und denselben vier Elementen — aus Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff und Stickstoff —, die die Erdatmosphäre ursprünglich enthielt. In den Lebewesen haben diese Elemente jedoch die überaus komplexen Molekülstrukturen angenommen, die die Gruppe der organischen Verbindungen ausmachen. Das grundlegende Merkmal einer organischen Verbindung ist eine zusammenhängende Reihe von Kohlenstoffatomen, die in Form einer geraden oder sich verzweigenden Kette oder in Ringen angeordnet sind. In diese Grundstruktur sind die anderen Atome — Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff (und, seltener, auch Schwefel, Phosphor und verschiedene Metalle) — eingefügt, und zwar in einer mengenmäßigen und räumlichen Verteilung, die für jede einzelne organische Verbindung charakteristisch ist. Die sich daraus ergebende Vielfalt und Verzwicktheit ist überwältigend.

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Wodurch könnte sich aus den wenigen einfachen Molekülen der Uratmosphäre die ungeheuer komplexe und dabei überaus selektive Fülle organischer Verbindungen entwickelt haben, die wir heute unter den Lebewesen vorfinden? Lange Zeit glaubte man, daß nur die Lebewesen selbst die Fähigkeit haben könnten, eine solche Leistung zu vollbringen. Das würde bedeuten, daß das Leben — in seiner vollen chemischen Entfaltung — auf einmal und irgendwie von selbst auf der Erde erwacht oder von irgendwo anders her durch den Weltraum auf unseren Planeten gebracht worden wäre. Dieser Auffassung nach müßte der Ursprung des Lebens dem Auftauchen organischer Substanzen auf der Erde vorausgegangen sein.

Wir wissen heute, daß das Umgekehrte richtig ist und daß organische Verbindungen aus den einfachen Bestandteilen der Uratmosphäre aufgrund bestimmter geochemischer Prozesse hervorgingen und später selbst Leben hervorbrachten. Den geochemischen Ursprung organischer Verbindungen hat man im Labor bereits nachahmen können; ein Gemisch aus Wasser, Ammoniak und Methan, das ultraviolettem Licht, einem elektrischen Funken oder auch nur der Hitze ausgesetzt wird, erzeugt nachweisbare Mengen solcher organischer Verbindungen wie Aminosäuren, aus denen sich die Proteine zusammensetzen. Ultraviolettes Licht war damals an der Erdoberfläche aus der Sonnenstrahlung ausreichend vorhanden. Triftige Gründe sprechen heute für die Annahme, daß die einfachen Verbindungen der frühen Erdatmosphäre unter der Einwirkung dieser Strahlen in ein Gemisch organischer Verbindungen umgewandelt wurden. Auf diese Weise entstand auf der Erde — um ein von Professor A. I. Oparin, dem Schöpfer dieser Theorie, gern verwendetes Bild zu gebrauchen — eine Art »organischer Ursuppe«.

In dieser Ursuppe entwickelten sich vor zwei oder drei Milliarden Jahren die ersten Lebewesen19. Die Frage, wie das nun im einzelnen geschah, ist ebenso faszinierend wie schwer zu beantworten; immerhin kennen wir die Eigenschaften der frühesten Lebensformen auf der Erde gut genug, um Aussagen über ihre Abhängigkeit von der damaligen Umwelt und ihre Einflüsse auf sie machen zu können.

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Es scheint heute ganz sicher zu sein, daß sich die ersten Lebewesen von der organischen Ursuppe ernährten. Jedes Lebewesen braucht zu seiner Ernährung organische Stoffe; sie bilden die Quelle sowohl seiner eigenen Substanz als auch der Energie, die seine Körperfunktionen in Gang hält. Da die Erdatmosphäre ursprünglich keinen Sauerstoff enthielt, müssen die ersten Lebewesen aus den organischen Nährstoffen Energie gewonnen haben, ohne sie mit Hilfe von Sauerstoff zu verbrennen. Diese Art des Stoffwechsels — die Fermentierung oder Gärung — ist die ursprünglichste Form der Energieversorgung von Lebewesen; dabei entsteht immer Kohlendioxyd.

Selbst Endprodukte Jahrmillionen dauernder geochemischer Prozesse, wurden die ersten Lebewesen nun wiederum zu mächtigen Auslösern neuer geochemischer Veränderungen. Sie erschöpften schnell den bis dahin angesammelten Vorrat an organischen Produkten des geochemischen Evolutionsprozesses, stellte er doch ihre einzige Nahrungsquelle dar.

Später verwandelten dann die ersten zur Photosynthese befähigten Lebewesen Kohlendioxyd in organische Substanzen zurück. Da sich die grünen Pflanzen in den tropischen Temperaturen, die damals auf der Erdoberfläche herrschten, stark vermehrten und üppig gediehen, lagerten sich dicke Schichten organischen Kohlenstoffs ab, aus denen sich mit der Zeit Kohle, Erdöl und Erdgas bildeten. Und mit der photosynthetischen Spaltung des sauerstoffhaltigen Wassermoleküls gelangte schließlich auch freier Sauerstoff in die Erdatmosphäre. Ein Teil des Sauerstoffs wurde in Ozon umgewandelt, eine allotrope Form von Sauerstoff, die in hohem Maße ultraviolette Strahlung absorbiert.

Jetzt war die Erdoberfläche zum ersten Mal gegen die ultraviolette Sonnenstrahlung, die eine ernste Gefahr für das Leben darstellte, abgeschirmt. Dadurch wurde es möglich, daß die Lebewesen über den Schutzraum des Meeres hinaus, in dem sie ursprünglich beheimatet waren, in andere Bereiche vordringen konnten.

Da nun auch freier Sauerstoff zur Verfügung stand, konnten sich effektivere Formen der Stoffwechselprozesse entwickeln, so daß der Planet nahezu explosionsartig von neuen Pflanzen- und Tierarten besiedelt wurde. Unterdessen trugen Bodenpflanzen und Mikroorganismen dazu bei, daß die felsige Erdoberfläche in Erdboden umgewandelt wurde und sich darin ein erstaunlich komplexes System von Wechselbeziehungen der verschiedensten Lebewesen untereinander herausbildete. Ein entsprechendes System entwickelte sich in den Oberflächengewässern. Zusammen regulieren sie die Bodenbeschaffenheit, die Zusammensetzung des Oberflächenwassers und der Luft und damit auch die Klimaverhältnisse.

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Aus alldem können wir eine wichtige Lehre ziehen.

Das Leben brachte bei seiner »Geburt« eine verhängnisvolle Funktionsstörung mit auf die Welt: Die Energie, die es benötigte, mußte es einer unersetzbaren Quelle, nämlich dem geochemischen Vorrat an organischen Stoffen, entnehmen. Wäre dieser Defekt nicht behoben worden, hätte das schnelle Wachstum des Lebens die organische Ursuppe ebensoschnell wieder aufgezehrt. Das Leben hätte die unerläßliche Bedingung seiner eigenen Fortdauer selbst zerstört. Ein »Überleben« gab es nur deshalb, weil rechtzeitig eine evolutionäre Entwicklung stattgefunden hatte: die Entstehung photosynthetisch aktiver Organismen.

Sie verwendeten Sonnenlicht zur Umwandlung von Kohlendioxyd und anorganischen Stoffen in neue organische Substanz. Durch dieses entscheidende Ereignis wurde das, was nur Abfall der ersten Lebewesen gewesen war, nämlich Kohlendioxyd, in Nahrung, in organische Substanzen zurückverwandelt. Damit war der Kreis geschlossen und an die Stelle des verhängnisvollen linearen Ablaufs ein sich selbst erhaltender Zirkulationsprozeß getreten. Seitdem ist der Fortbestand des Lebens auf der Erde an eine praktisch unerschöpfliche Energiequelle gebunden — an die Sonne.

Hier können wir erkennen, daß bereits den Anfängen des Lebens jener großartige Plan zugrunde liegt, der seither die erstaunliche Kontinuität des Lebens gewährleistet: eine gegenseitige Abhängigkeit der Lebensvorgänge, eine gemeinsame und wechselseitige Entwicklung von unbelebter Umwelt und irdischem Leben, eine mehrmalige und in großen, von der Sonnenenergie unterhaltenen Zyklen sich vollziehende Umwandlung der Lebenssubstanzen.

Als Ergebnis dieser kurzen Entwicklungsgeschichte können wir nun eine Reihe von Lehrsätzen über die Natur des Lebens und seine Beziehung zur Umwelt festhalten:

Die Lebewesen — als Ganzes gesehen — gingen aus der unbelebten Erdkruste hervor. Leben ist eine außerordentlich mächtige Erscheinungsform von Chemie, die, sobald sie auf der Erde aufgetaucht war, schnell die Beschaffenheit ihrer Oberfläche zu verändern vermochte. Jedes Lebewesen existiert nur in inniger Abhängigkeit von seiner physikalischen und chemischen Umgebung, so daß — als diese sich verändert hatte — neue Lebensformen entstehen konnten oder mußten, die den neuen Umweltbedingungen besser entsprachen.

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Leben erzeugt Leben; deshalb konnten die einmal in einer sie begünstigenden Umwelt aufgetauchten neuen Arten sich fortpflanzen und verbreiten, bis sie jede geeignete ökologische Nische innerhalb ihrer physischen Reichweite eingenommen hatten. Jedes einzelne Lebewesen ist von vielen anderen abhängig, entweder indirekt aufgrund bestimmter physikalischer und chemischer Umweltbedingungen oder direkt aufgrund seiner Nahrungs- und Schutzbedürfnisse. Im Innern jedes einzelnen Lebewesens, ja sogar innerhalb jeder einzelnen seiner Körperzellen, existiert ein weiteres Netzwerk, das — auf seiner Stufe — ebenso komplex ist wie das ökologische System; es besteht aus zahllosen, kompliziert aufgebauten Molekülen, die untereinander wiederum kunstvoll durch vielfältige chemische Reaktionen verbunden sind; auf diesem System beruhen letztlich die Lebens- oder Funktionseigenschaften des gesamten Organismus.

Nur wenige Wissenschaftler sind ausreichend darauf vorbereitet, mit einer derart komplexen Materie umzugehen. Die moderne Wissenschaft hat uns gelehrt, Überlegungen über Vorgänge anzustellen, die — verglichen mit den hier beschriebenen — ungeheuer einfach sind, beispielsweise was passiert, wenn ein Teilchen von einem anderen abprallt, oder wie das Molekül A mit dem Molekül B reagiert. Wird man mit einer Sachlage konfrontiert, die derart kompliziert ist wie die Umwelt mit ihrer stattlichen Anzahl lebender Bewohner, dann ist es wahrscheinlich (bei den einen mehr, bei den anderen weniger), daß man versucht, sie im Geiste auf eine Reihe selbständiger, einfacher Ereignisse zu reduzieren — in der Hoffnung, daß deren Summe schon irgendwie das Ganze widerspiegeln wird.

Aber die Tatsache, daß es eine Umweltkrise überhaupt gibt, zeigt, daß diese Hoffnung trügt. Die Biologen studieren nun schon seit geraumer Zeit einzelne Tiere und Pflanzen, die Biochemiker einzelne oder zumindest in Teströhrchen aus ihrer natürlichen Umgebung isolierte Moleküle, und beide vergrößern ständig den bereits unübersehbaren Berg hochspezialisierter moderner wissenschaftlicher Literatur. Dennoch haben alle diese Einzeluntersuchungen noch keinerlei Gesamtresultate erbracht, die etwa die Ökologie eines Binnensees und deren Anfälligkeit erklären könnten.

Ich mache dieses Eingeständnis als Vorbemerkung zu meinem eigenen Versuch, das Umweltsystem im folgenden auf eine Art und Weise zu beschreiben, die uns meines Erachtens helfen könnte, die gegenwärtige Krise zu verstehen.

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Es sei daran erinnert, daß jede solche Beschreibung heute noch an plumpen Geisteskrücken daherhinken muß. Wir haben die Aufgabe, komplexe Naturprozesse zu untersuchen, so lange vernachlässigt, daß unsere Methoden noch immer grob und unzuverlässig sind.

Man führe sich nur einmal die verschiedenen Richtungen vor Augen, in die unsere Überlegungen hier gehen müssen. Da ist zunächst die Mannigfaltigkeit des Lebensraums: Wie lassen sich die Existenz eines dicht bevölkerten, ständig sich verändernden Milieus im tropischen Dschungel und die Existenz einer im selben Maße öden und unveränderten Wüstenlandschaft auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Dann die Vielfalt der Lebewesen, die wir in dieser Umwelt vorfinden: Unter welchen gemeinsamen Gesichtspunkten ließe sich das Umweltverhalten einer Maus, eines Falken, eines Regenwurms, einer Ameise, der Bakterien im menschlichen Darmtrakt oder der Algen im Eriesee einordnen und erklären? Und schließlich die Vielfalt der biochemischen Prozesse, die nicht nur im Innern eines jeden Lebewesens ablaufen, sondern auch seine Beziehungen zu anderen Lebewesen und zu seiner Umwelt bestimmen: Wie kann man mit einem einzigen Begriffssystem die Photosynthese, die Gärung mittels anaerober Bakterien, die aerobe Atmung oder die verwickelte chemische Abhängigkeit eines Organismus von einem anderen, die zu Parasitismus führt, erfassen?

All diese gesonderten Ausblicke auf das Umweltsystem schneiden aber aus dem Gesamtkomplex jeweils nur eine dünne Scheibe heraus. Zwar kann jeder von ihnen einige Grundzüge des Ganzen erhellen, das Bild, das er insgesamt vermittelt, muß jedoch notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad falsch sein. Denn wenn man eine bestimmte Art von Beziehungen betrachtet, ignoriert man unvermeidlich ein gut Teil der übrigen; in Wirklichkeit steht aber alles in der Umwelt miteinander in Verbindung.

Ein interessanter Querschnitt durch die Umwelt ergibt sich, wenn man die Wanderung der chemischen Elemente verfolgt, auf denen das Umweltsystem beruht. Besonders gut eignet sich hierfür das Element Stickstoff, ein entscheidender Bestandteil sowohl der belebten wie der unbelebten Natur. Alle vier Elemente, die die Hauptmasse der lebenden Materie ausmachen — Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff20 —, beschreiben auf ihrem Weg durch die Ökosphäre große,

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miteinander verflochtene Kreisläufe: Bald sind sie ein Teil der Luft, bald ein Bestandteil irgendeines Organismus, bald schwimmen sie mit dem Abfall im Wasser und sind vielleicht später einmal in Erzlagern oder Fossilien eingebaut.

Von diesen vier Elementen des Lebens ist der Stickstoff besonders wichtig, denn er stellt einen hochempfindlichen Indikator für die Beschaffenheit des Lebens dar. So ist es als ein erstes Anzeichen für die Armut von Menschen anzusehen, wenn sie nur in vermindertem Umfang stickstoffhaltige Nahrungsmittel zu sich nehmen können. Eine sichere Folge davon ist nämlich ein schlechter Gesundheitszustand, da sehr viele lebenswichtige Funktionseinheiten unseres Körpers aus stickstoffhaltigen Molekülen aufgebaut sind: Eiweiße, Nukleinsäuren, Enzyme, Vitamine und Hormone. Stickstoff steht daher in engster Beziehung zu den Bedürfnissen des Menschen, und wir werden sehen, daß sich gerade die globalen Prozesse, die für die Bewegung des Stickstoffs maßgebend sind, in einem außerordentlich labilen Gleichgewicht befinden.

In der ökosphäre kommt Stickstoff in verhältnismäßig wenigen chemischen Grundformen vor. Ein auffallendes Merkmal der Stickstoffchemie ist, daß es ziemlich selten Moleküle gibt, bei denen Stickstoff- an Sauerstoffatome gebunden sind. Ungefähr 80 Prozent des Stickstoffvorrats der Erde befinden sich als chemisch inaktives Stickstoffgas in der Luft. Von den restlichen 20 Prozent ist ein Großteil im Humus enthalten, einer sehr komplexen organischen Substanz in der obersten Schicht des Erdbodens. Einen bedeutenden Teil enthalten auch die Lebewesen, und zwar nahezu ausschließlich im Rahmen organischer Verbindungen.

Diese Daten sollen uns als Anhaltspunkte dienen, wenn wir nun den Stickstoffzyklus in der Natur näher betrachten. Dabei liegt es nahe, mit dem Erdboden zu beginnen, denn er ist ja der ursprüngliche Herkunftsort fast aller Nahrungsmittel und vieler industrieller Rohstoffe. Der Erdboden selbst stellt ein ungeheuer komplexes Ökosystem dar, das Ergebnis eines kunstvoll ausbalancierten Gleichgewichts zwischen einer Vielzahl verschiedener Mikroorganismen, Tiere und Pflanzen, das von dem Substrat langwieriger physikalischer Prozesse untermauert wird.

Stickstoff kann durch Bindung des atmosphärischen Stickstoffs in den Erdboden gelangen, ein chemischer Prozeß, der von verschiedenen Bakterien- und Algenarten vollzogen wird, die teils frei im Boden, teils auf den Wurzeln bestimmter Futterpflanzen oder auf den Blättern einiger tropischer Gewächse leben.

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Außerdem gelangt Stickstoff bei der Verwesung von Pflanzen und aus tierischen Exkrementen in den Erdboden. Ein Großteil davon verbindet sich mit dem Humus; im Boden lebende Mikroorganismen bewirken nun wiederum eine allmähliche Freisetzung des Stickstoffs in Form von Nitraten, die ihrerseits von den Wurzeln der Pflanzen aufgenommen und in deren Proteine und andere lebenswichtige Bestandteile eingebaut werden. Die Pflanzen werden von Tieren gefressen, deren Ausscheidungen gelangen auf den Erdboden, und der Kreislauf kann von vorn beginnen.

Der bei weitem langsamste Schritt in diesem Stoffzyklus ist die Freisetzung des salpetersauren Salzes aus dem Humus. Das hat zur Folge, daß die Nitratkonzentration natürlicherweise im Bodenwasser sehr gering ist und die Pflanzen sich »anstrengen« müssen, um es aufzusaugen. Die Pflanze wendet also Energie auf, die durch biologische Oxydationsprozesse in den Wurzeln frei wird. Den dabei benötigten Sauerstoff können die Wurzeln nur aus der Luft gewinnen, weshalb der Boden ausreichend porös sein muß, soll dieser Vorgang effektiv sein. Die Luftdurchlässigkeit des Bodens ist in erster Linie von seinem Humusgehalt abhängig, denn Humus besitzt eine schwammige Struktur. Somit hängen also die Porosität des Bodens und damit sein Sauerstoffgehalt und infolgedessen auch die Effektivität der Nahrungsaufnahme durch die Pflanzen wesentlich vom Humusgehalt des Bodens ab. Ein rasches Wachstum der Pflanzen bedeutet andererseits rasche Rückverwandlung anorganischer Nährstoffe in organische Substanz (nämlich die Substanz der Pflanze), die bei ihrer Verwesung wiederum zum Humusgehalt des Bodens beiträgt, dadurch seine Porosität erhöht und folglich auch das Pflanzenwachstum fördert.

Wir tun gut daran, hier einmal kurz innezuhalten und die Implikationen der beiden Beziehungskreise näher zu betrachten, die wir gerade beschrieben haben: der Wanderung der Stickstoffatome durch den gesamten Bodenzyklus einerseits, der wechselseitigen Abhängigkeit von Pflanzenwuchs und Bodenbeschaffenheit andererseits. Dabei wollen wir uns bewußt sein, daß es sich um zwei verschiedenartige Zyklen handelt. Der eine besteht in dem tatsächlichen Kreislauf einer physischen Einheit, des Stickstoffatoms; der andere ist abstrakterer Art und besteht aus einem System von wechselseitigen Abhängigkeiten verschiedener Naturvorgänge.

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An einem entscheidenden Punkt stehen beide Zyklen miteinander in enger Verbindung: dort nämlich, wo der Humus ins Spiel kommt. Innerhalb des einen Zyklus taucht er in seiner Funktion als Hauptquelle des für das Pflanzenwachstum notwendigen Bodenstickstoffs auf; in dem anderen ist er verantwortlich für die physikalische Beschaffenheit des Erdbodens, die eine effektive Nutzung der darin vorhandenen Nährstoffe, einschließlich des aus dem Humus freigesetzten Stickstoffs, ermöglicht.

Diese Doppelrolle des Humus verstärkt die Auswirkungen, die Veränderungen in der Bodenstruktur mit sich bringen. Wenn der Humusgehalt des Bodens absinkt, ist weniger Nitrat für das Pflanzenwachstum verfügbar. Da gleichzeitig aber auch die Nitratabsorption durch die Wurzeln an Effektivität verliert, multiplizieren sich fortlaufend die Einflüsse, die der Humus auf das Gedeihen der Pflanzen ausübt. Oder, anders herum gesagt: Ein entsprechender Humusgehalt des Erdbodens bietet nicht nur die Gewähr für einen ausreichenden Vorrat an verwertbarem Stickstoff, sondern auch für dessen wirtschaftliche Nutzung durch die Pflanze. Man darf davon ausgehen, daß jeder natürliche Wirkstoff, der — wie der Humus — zwei oder mehr Zirkulationsprozesse miteinander verbindet, in dem Gesamtsystem eine ganz hervorragende Rolle spielt. Denn eine derartige Verbindung steigert die Komplexität des Systems sowie die Präzision, mit der die einzelnen Funktionen ineinandergreifen müssen, und trägt damit zu seiner Stabilität bei. Gerade deshalb ist es aber auch wahrscheinlich, daß sich das feingewirkte ökologische System aufzutrennen beginnt, wenn sich eine solche Verbindung lockert.

Es ist offensichtlich, daß wir beide Funktionen, die ein Bindeglied wie der Humus ausübt, gleichzeitig in Erwägung ziehen müssen, wenn wir dessen Bedeutung richtig einschätzen wollen. Leider wird eine solche Betrachtungsweise aber nicht gerade von jener Art Spezialisierung begünstigt, die heute die Biologen in verschiedenen Lagern voneinander isoliert: Man ist eben entweder Experte für Bodenbeschaffenheit oder für Pflanzenernährung. Wie wir bald sehen werden, ist die natürliche Tendenz, stets nur eine Sache auf einmal zu bedenken, ein Hauptgrund dafür, daß es uns bisher mißlungen ist, die Umwelt zu begreifen, und wir daher munter auf ihre Zerstörung zustolpern.

In den natürlichen Gewässern ist ein ähnlicher Stickstoffzyklus anzutreffen, nur daß dort der große Vorrat an organischem Stickstoff

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fehlt, den der Humus im Erdboden darstellt. Innerhalb der Ökosysteme des Wassers beschreibt Stickstoff den folgenden Kreislauf: Fische sondern organische Ausscheidungen ab; daraus setzen bestimmte Mikroorganismen den Stickstoff frei und verbinden ihn mit Sauerstoff zu Nitraten; diese Stoffe werden durch Algen in organische Formen zurückverwandelt; von der organischen Substanz der Algen ernähren sich kleine Wassertiere, die ihrerseits von Fischen gefressen werden. Das Gleichgewicht zwischen der Abbaugeschwindigkeit der organischen Substanzen und der Wachstumsgeschwindigkeit der Algen bestimmt die Nitratkonzentration im Wasser. In der Natur gelangt aus dem Erdboden wenig Nitrat ins Wasser, da es im Bodenzyklus selbst vorteilhaft genutzt werden kann. Infolgedessen ist der Nitratgehalt des Oberflächenwassers im natürlichen Zustand sehr niedrig (ein Teilchen Nitrat auf eine Million Teilchen Wasser), und entsprechend gering ist die Algendichte; das Wasser ist klar und weitgehend frei von schädlichen Abfallstoffen.

Verglichen mit dem Erdboden und dem Wasser stellt die Luft den größten, einförmigsten und am wenigsten direkt von biologischen Vorgängen berührten ökologischen Schauplatz dar. Im natürlichen Zustand ist die Zusammensetzung der Luft auffallend einheitlich: Sie enthält ungefähr 80 Prozent Stickstoff, annähernd 20 Prozent Sauerstoff, eine sehr niedrige Konzentration von Kohlendioxyd (ungefähr 0,03 Prozent) und noch erheblich geringere Anteile an Edelgasen wie Helium, Neon und Argon sowie unterschiedliche Mengen Wasserdampf. Wie alles auf der Erde, so wird auch das Verhalten ihres unermeßlichen Luftmeers von verschiedenen Zirkulationsprozessen bestimmt, die jedoch eher physikalischer als chemischer oder biologischer Natur sind.

Betrachten wir nur kurze Zeiträume, dann erscheint der Luftzyklus einfach als das, was wir »Wetter« nennen. Der Wetterzyklus wird von der Sonnenenergie unterhalten, die der Erde unablässig zuströmt. Jeder Körper an der Erdoberfläche, der Sonnenenergie absorbiert — wie zum Beispiel der Erdboden —, wird von ihr erwärmt, es sei denn, die Energie bewirkt eine Zustandsänderung. So kann die von dem Festkörper Eis absorbierte Energie ihn in den flüssigen Aggregatzustand versetzen, das heißt, ihn in Wasser umwandeln statt ihn zu erwärmen. Wird Energie von Wasser absorbiert, dann erwärmt es sich oder geht in den gasförmigen Aggregatzustand, also in Wasserdampf über.

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Bei energieabsorbierenden Materialien, die ihren Aggregatzustand leicht ändern — wie beispielsweise das Meerwasser —, kann nur noch ein kleiner Teil der absorbierten Sonnenenergie eine Temperaturerhöhung bewirken. Daher ist am Abend eines Sonnentages der Sand heiß, das Wasser aber verhältnismäßig kühl. Vor Sonnenuntergang steigt die warme und leichte Luft über dem heißen Sand auf, und die kühlere Luft, die vorher über dem Wasser stand, strömt nach: Landeinwärts weht eine kühle Brise.

Da die Meere, die zwei Drittel der Erdoberfläche bedecken, Sonnenenergie absorbieren, wird der größte Teil der insgesamt zur Verfügung stehenden Energie für die Umwandlung von Wasser in Wasserdampf beansprucht. Jedes Gramm Wasserdampf, das von der Luft mitgeführt wird, stellt die Bindung einer bestimmten Menge Sonnenenergie dar (536 Kalorien pro Gramm). Beim umgekehrten Vorgang, der Kondensierung oder Verflüssigung des Wasserdampfs, wird dieselbe Energiemenge freigesetzt. So reichert etwa die während einer heißen Sommerperiode in der Karibischen See absorbierte Sonnenenergie die Luft mit Wasserdampf an. Wenn der Wasserdampf von der Erdoberfläche aufsteigt, trifft er auf die sehr kalte Luft der Stratosphäre und beginnt zu kondensieren, Regentropfen zu bilden. Aus jedem Gramm Wasserdampf, das zu Regen kondensiert, werden 536 Kalorien freigesetzt. Durch sie wird die Luft erwärmt und steigt auf; kalte Luftmassen stürzen bodenwärts an die Stelle der aufsteigenden warmen Luft: Winde sind entstanden. Auf diese Weise werden die karibischen Wirbelstürme entfesselt.

Wir haben hier nur einige wenige Beispiele aus dem Bereich des Wetters angeführt, nämlich die täglichen Veränderungen der Luftmassen, die jeden Platz auf der Erde umströmen. Für unsere Zwecke ist es wichtig festzuhalten, daß das Wetter ein Mittel ist, Luftmassen, die einen bestimmten Ort wie etwa eine Stadt bedecken, zu bewegen und in der Luft befindliche Stoffe — wie etwa Verunreinigungen — herauszuwaschen. Das Wetter hält die Luft rein. Alles, was in die Luft gelangt und vom »Unwetter« überrascht wird, »regnet« schließlich auf die Erde nieder und geht in die Umweltzyklen ein, die im Boden und im Wasser ablaufen.

Bei geringer Luftbewegung sammelt sich alles in der Luft an, was immer durch das örtliche Leben und Treiben in die Luft geblasen wird, also auch Smog. Die Bedingungen, unter denen Windstille herrscht, haben die Eigenart, sich selbst aufrechtzuerhalten.

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Wenn die Luft ruhig ist, entwickeln sich meist eine höhergelegene Warmluft- und eine tiefergelegene Kaltluftzone. Normalerweise ist die Situation umgekehrt: Die unteren Luftschichten sind wärmer als die oberen; man nennt diese Wetterlage daher Inversion oder Temperaturumkehr. Da kalte Luft dichter ist als warme, wird unter Inversionsbedingungen jede senkrechte Zirkulation der Luftmassen verhindert. Bei dieser Wetterlage kann die Luft daher tagelang unbeweglich über einer Stadt stehen. Wenn das geschieht, wie etwa im November 1966 in New York City, dann können sich die Verunreinigungen derart ansammeln, daß man von einer ernsten Gefahr sprechen muß.

Derartige Wetterveränderungen spielen sich vorwiegend in den unteren Bereichen der Atmosphäre ab, also zwischen der Erdoberfläche und einer Höhe von 12000 bis 15000m. Darüber beginnt die Stratosphäre, wo es fast keine Feuchtigkeit, keine Wolken, keinen Regen und keinen Schnee mehr gibt. Einige Stoffe, die in die Luft abgegeben werden, sind so leicht, daß sie bis in die Stratosphäre gelangen, wo sie unter Umständen lange Zeit verbleiben. Ein Teil der radioaktiven Spaltprodukte, die bei Kernexplosionen entstehen, sind solch winzige Partikel, die noch Monate später in der Stratosphäre nachgewiesen werden können.

Betrachtet man sehr viel größere Zeiträume, dann sind die Veränderungen in der Luftzusammensetzung von entscheidender Bedeutung für die Art und Menge der Sonnenstrahlung, die die Erdoberfläche erreicht. Derartige Einflüsse hängen von den in der Luft vorhandenen Mengen an Staubteilchen, Wasserdampf, Wolken, Kohlendioxyd und Ozon ab. Im allgemeinen wirken Wasserdampf und Wolken abschirmend : Die auf die Erde gerichtete Strahlung wird an den Wassertröpfchen gestreut und erreicht unter Umständen nur zu einem geringen Teil die Erdoberfläche. Daher sinkt die Temperatur auf der Erde bei Bewölkung meist ab.

Kohlendioxyd hat eine spezielle Wirkung, ist es doch für Sonnenstrahlung durchlässig, mit Ausnahme der Strahlen im Infrarotbereich des Spektrums. In dieser Hinsicht verhält sich Kohlensäure wie Glas, welches das sichtbare Licht ebenfalls ohne weiteres durchläßt, Infrarotlicht aber reflektiert. Deshalb verwendet man auch gern Glas beim Bau von Gewächshäusern. Energie in Form von sichtbarem Licht dringt durch das Glas ins Innere, wird vom Boden des Treibhauses absorbiert und in Wärme umgewandelt, die nun in Form von Infrarotlicht wieder ausgestrahlt wird.

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Vom Glasdach des Gebäudes werden diese Strahlen jedoch zurückgeworfen, so daß die Energie in Form von Wärme innerhalb des Gewächshauses verbleibt. Darauf ist die relativ hohe Temperatur zurückzuführen, die an sonnigen Wintertagen in anderweitig nicht beheizten Treibhäusern herrscht. Wie Glas verhält sich aurh das die Erde abschirmende Kohlendioxyd; es gleicht einem riesigen Energieventil. Die sichtbare Sonnenenergie strömt leicht hindurch; am Erdboden wird ein großer Teil dieser Energie in Wärme umgewandelt, aber die entstehende Infrarotstrahlung verbleibt infolge der Wärmerückstrahlung durch die Kohlensäure innerhalb der irdischen Lufthülle (»Gewächshaus-Effekt«).

Je höher die Kohlendioxydkonzentration in der Luft, desto größer ist also der Anteil der Sonnenstrahlung, den die Erde in Form von Wärme an sich bindet. Das ist die Erklärung für die fast tropischen Temperaturen, die anfänglich auf der Erde herrschten, als die Kohlendioxydkonzentration noch sehr hoch war. Als später mit den Unmengen von Pflanzen ein beträchtlicher Teil des Kohlendioxyds in die Vegetation einging — aus der sich in den folgenden Jahrmillionen dann Kohle, Erdöl und Erdgas bilden sollten —, kühlte die Erde ab. Heute, wo wir diese fossilen Brennstoffe verbrauchen und in Kohlendioxyd zurückverwandeln, steigt die Kohlensäurekonzentration in der Atmosphäre wieder an; über die Auswirkungen, die dieser Vorgang auf die Temperatur der Erde haben könnte, wird gegenwärtig eine heftige wissenschaftliche Diskussion geführt.

Ein anderer Bestandteil der Luft, Ozon, spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung der Strahlungsmengen, die die Erdoberfläche erreichen. Ozon ist ein chemisch aktives Molekül, das aus drei zu einem Dreieck verbundenen Sauerstoffatomen aufgebaut ist. Es ist ein gutes Absorptionsmittel für ultraviolette Strahlung. Zwar entsteht Ozon aus Sauerstoff, da es aber heftig mit Stoffen reagiert, die sich nahe der Erdoberfläche befinden, kommt es in reinem Zustand nur in den oberen Schichten der Stratosphäre vor. Als die Atmosphäre aufgrund der photosynthetischen Aktivität der grünen Pflanzen mit Sauerstoff angereichert wurde, legte sich daher in großer Höhe eine Ozonschicht um die Erde.

Bis dahin wurde die Erdoberfläche von einer intensiven Ultraviolettstrahlung getroffen, die dann ja auch die Energiequelle für die Umwandlung der ursprünglichen Erdhülle aus Methan, Wasser und Ammoniak in die »Ursuppe« aus organischen Verbindungen abgab, der die ersten Lebewesen entstammten.

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Ultraviolette Strahlen können das empfindliche Gleichgewicht der chemischen Reaktionen in der lebenden Zelle jedoch leicht stören, weshalb die ersten Lebewesen wahrscheinlich nur deshalb überlebten, weil sie unter einer Wasserschicht heranwuchsen, die dick genug war, um sie gegen die ultravioletten Strahlen, die die Erdoberfläche erreichten, wirksam schützen zu können.

Erst als Sauerstoff — und damit die Schutzschicht aus Ozon — gebildet war, verringerte sich die Intensität der Ultraviolettstrahlung auf der Erdoberfläche so, daß die Lebewesen den Schutz der Wassermassen aufgeben und allmählich das Land besiedeln konnten. Der Fortbestand irdischen Lebens ist somit von der Ozonschicht in der Stratosphäre abhängig, einem Schutzschild, den sich das Leben selbst gefertigt hat. Bei einer Verminderung des Ozonvorrats wäre das Leben auf der Erde durch die Ultraviolettstrahlung der Sonne ernsthaft gefährdet. Unglücklicherweise erhöhen einige Tätigkeiten des Menschen diese Gefahr. Ein Beispiel hierfür ist der Oberschallflug.

Dies sind — in groben Zügen — die ökologischen Kreisläufe21, die das Verhalten der drei großen, weltumspannenden Umweltsysteme bestimmen: der Luft, des Wassers und des Erdbodens. Jedes einzelne beherbergt Abertausende von Arten verschiedener Lebewesen. Jede dieser Arten ist den Bedingungen ihrer speziellen ökologischen Nische angepaßt, und jede von ihnen beeinflußt mit ihren Lebensfunktionen die physikalischen und chemischen Eigenschaften ihrer unmittelbaren Umgebung.

Jede einzelne Art steht außerdem mit vielen anderen in Verbindung. Diese Beziehungen sind in ihrer Mannigfaltigkeit und ihren kniffligen Details verwirrend. Ein Tier wie das Schaf ist auf pflanzliche Nahrung angewiesen; die Pflanzen sind auf die Tätigkeit von Bodenbakterien angewiesen, um an ihre Nährstoffe zu gelangen; die Bakterien wiederum leben von den organischen Ausscheidungen, die die Tiere am Boden zurücklassen. Gleichzeitig dient das Schaf dem Wolf als Nahrung. Insekten ernähren sich von den Säften der Pflanzen oder sammeln deren Blütenstaub. Andere Insekten saugen das Blut der Tiere. Bakterien leben in tierischen und pflanzlichen Geweben.

Pilze bauen die Überreste toter Pflanzen und Tiere ab. Erst all das zusammengenommen, vielfach multipliziert und Art für Art durch ein verwickeltes System präziser Beziehungen festgelegt, ergibt das globale Netzwerk des irdischen Lebens.

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Die Wissenschaft, die diese Beziehungen und Prozesse, die jedes Lebewesen mit seiner physikalischen und chemischen Umwelt verketten, untersucht, heißt Ökologie. Sie ist die Wissenschaft von der planetarischen Haushaltsführung, denn die Umwelt ist eben nicht nur das Haus, sie ist in erster Linie der Haushalt, der von den Lebewesen für die Lebewesen geschaffen wurde. Die Ökologie ist eine junge Wissenschaft, und vieles, was sie lehrt, hat sie selbst nur an kleinen Ausschnitten aus dem Lebensganzen gelernt.

Sie hat noch nicht ausdrücklich jene Art von zusammenhängenden, vereinfachenden Verallgemeinerungen entwickelt, für die die Gesetze der Physik beispielhaft sind. Nichtsdestoweniger gibt es eine Reihe von verallgemeinernden Feststellungen, die aus dem wenigen, was wir heute über die ökosphäre wissen, bereits zweifelsfrei hervorgehen und die man zu einer formlosen Sammlung von »Gesetzen der Ökologie« zusammenstellen kann. Diese werden wir im folgenden näher betrachten.

 

  Das erste Gesetz der Ökologie: Jedes Ding steht mit jedem anderen in Beziehung  

 

Teilweise haben wir die Phänomene bereits diskutiert, die zu einer solchen Verallgemeinerung führen. Sie bezeugen die Existenz eines feinmaschigen Netzwerks von Wechselbeziehungen in der ökosphäre: zwischen verschiedenartigen Lebewesen, zwischen Populationen, Arten, einzelnen Organismen und deren physikalisch-chemischen Umweltbedingungen.

Die Tatsache, daß ein Ökosystem aus mannigfaltigen miteinander verbundenen Gliedern besteht, die sich gegenseitig beeinflussen, hat einige überraschende Folgen. Unsere Fähigkeit, das Verhalten solcher Systeme zu beschreiben, ist durch die Entwicklung einer Wissenschaft maßgeblich gefördert worden, die sogar noch jünger ist als die Ökologie: die Kybernetik.

Das Grundkonzept wie den Namen dieser Wissenschaft verdanken wir dem schöpferischen Geist des späten Norbert Wiener.

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Das Wort Kybernetik stammt von dem griechischen Wort für Steuermann; die damit bezeichnete Wissenschaft befaßt sich mit zyklischen Ereignisfolgen, die das Verhalten eines Systems steuern oder regeln (sogenannte »Regel-« oder »Steuerkreise«). Der Steuermann selbst ist Glied eines Systems, zu dem außerdem der Kompaß, das Ruder und das Schiff gehören. Schwenkt das Schiff von dem gewählten Kurs ab, zeigt sich die Veränderung an der Bewegung der Kompaßnadel. Nun ereignet sich folgendes: Der Steuermann dreht das Ruder, wodurch das Schiff auf seinen ursprünglichen Kurs zurückgebracht wird. Sobald dies geschieht, kehrt die Kompaßnadel in ihre ursprüngliche Position zurück, und der Kreislauf ist vollendet. Dreht der Steuermann das Ruder bei einer nur geringen Ablenkung der Kompaßnadel zu weit herum, wird die übermäßige Schwenkung des Schiffes wiederum auf dem Kompaß sichtbar, was dem Steuermann anzeigt, daß er seine zu heftige Reaktion mit einer weiteren Drehung in entgegengesetzter Richtung korrigieren muß. Auf diese Weise stabilisiert der Kreisprozeß den Kurs des Schiffes.

Solche stabilisierenden kybernetischen Beziehungen finden sich auch in ökologischen Zyklen. Nehmen wir beispielsweise den Frischwasser-Zyklus: Fische — Kot — zersetzende Bakterien — anorganische Produkte — Algen — Fische. Infolge einer ungewöhnlich warmen Sommerwitterung vermehren sich die Algen schnell. Dann wird dadurch der Vorrat an anorganischen Nährstoffen aufgebraucht, so daß zwei Teilbereiche des Gesamtzyklus — nämlich Algen und Nährstoffe — nicht mehr in einem ausgewogenen, sondern in einem gestörten Verhältnis zueinander stehen. Mit dem Ablaufen des ökologischen Kreisprozesses wird das Gleichgewicht jedoch bald wiederhergestellt. Denn der Algenüberschuß erleichtert es den Fischen, davon zu leben; dadurch wird die Algenpopulation dezimiert, vermehrt Fischkot ausgeschieden und schließlich das Nährstoffreservoir mit Zersetzungsprodukten angereichert. Auf diese Weise nähern sich Algen- und Nährstoffspiegel wieder den ausgewogenen Werten, die sie ursprünglich aufwiesen.

In derartigen kybernetischen Systemen wird der »Kurs« nicht mittels starrer, einmal festgelegter Kontrollmaßnahmen gewahrt, vielmehr wird hier flexibel, anpassungsfähig gesteuert. So verfolgt auch das Schiff nicht unerschütterlich seinen Weg durch die Wogen, sondern schwenkt gleichmäßig nach beiden Seiten des Kurses aus. Die Frequenz dieser Pendelbewegungen ist von der relativen Geschwindigkeit abhängig, mit der die verschiedenen Phasen des Zyklus ablaufen, so etwa von der Geschwindigkeit, mit der das Schiff auf eine Ruderdrehung reagiert.

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Die Zyklen ökologischer Systeme weisen ähnliche Erscheinungen auf, obwohl diese häufig von den Auswirkungen täglicher oder jahreszeitlicher Veränderungen in den Wetter- und anderen Umweltbedingungen verdeckt werden. Zu den bekanntesten Beispielen derartiger ökologischer Pendelbewegungen gehören die periodischen Schwankungen in den Pelztierpopulationen. Kanadischen Jagdstatistiken konnte man entnehmen, daß die Hasen- und Luchsbestände regelmäßige Schwankungen im Abstand von jeweils zehn Jahren aufweisen. Wenn es viele Hasen gibt, sind die Lebensbedingungen für die Luchse günstig; der wachsende Luchsbestand dezimiert die Hasenpopulation; wenn die Hasen immer spärlicher werden, reichen sie nicht mehr aus, um die jetzt massenhaft vorhandenen Luchse zu ernähren; dadurch, daß die Luchse nun Hungers sterben, werden die Hasen wieder weniger gejagt, ihre Zahl steigt an — und so weiter. Diese Schwankungen sind in den einfachen Zyklus eingebaut, in dem der Luchsbestand proportional zur Anzahl der Hasen wächst und der Hasenbestand proportional zur Zahl der Luchse abnimmt.

Solch einem »oszillierenden« System droht ständig die Gefahr des Zusammenbruchs, wenn einer der Pendelschläge so weit über den Ausgleichspunkt hinausschwingt, daß das System als Ganzes ihn nicht mehr kompensieren kann. Nehmen wir einmal an, während einer ganz außergewöhnlichen Schwingung im Hasen-Luchs-Zyklus schafften es die Luchse, alle Hasen (oder auch nur: alle außer einem) aufzufressen22. Jetzt können sich die Hasen nicht mehr vermehren. Genau wie sonst, wenn immer mehr Hasen aufgefressen worden sind, beginnen immer mehr Luchse zu verhungern; diesmal folgt dem Rückgang des Luchsbestandes aber keine Vergrößerung des Hasenbestandes, die Luchse sterben also aus. Das ganze Hasen-Luchs-System ist zusammengebrochen.

Dieser Vorgang entspricht dem ökologischen Kollaps, der als Folge der sogenannten »Eutrophierung« auftritt. Wenn der Nährstoffspiegel des Wassers derart ansteigt, daß er das Algenwachstum außergewöhnlich beschleunigt, kann die bald entstandene dichte Algenbesiedlung nicht lange erhalten bleiben, da die dazu notwendigen photosynthetischen Prozesse nur noch in erheblich beschränktem Umfang ablaufen können.

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Denn mit zunehmender Dicke der Algenschicht erreicht immer weniger Licht die unteren Lagen, so daß jedes übermäßige Wachstum auch sehr schnell wieder zurückgeht; zum Abbau der organischen Überreste jener Unmassen abgestorbener Algen kann so viel Sauerstoff benötigt werden, daß der Sauerstoffvorrat des Wassers vollkommen erschöpft wird. Dadurch sterben die zersetzenden Bakterien ihrerseits ab, da sie ohne Sauerstoff nicht leben können. Der biologische Wasserzyklus bricht zusammen.

Die Dynamik eines kybernetischen Systems — zum Beispiel die Frequenz seiner natürlichen Schwankungen, die Geschwindigkeit, mit der es auf äußere Veränderungen reagiert, und die Gesamtgeschwindigkeit, in der es arbeitet — ist von der relativen Geschwindigkeit abhängig, in der die einzelnen, das System konstituierenden Schritte ablaufen. Innerhalb des Systems »Schiff« etwa dreht sich die Kompaßnadel in Bruchteilen einer Sekunde; die Reaktion des Steuermanns erfordert mehrere Sekunden, und bis das Schiff sich entsprechend verhält, vergehen Minuten. Die unterschiedlichen Reaktionszeiten wirken zusammen und ergeben (beispielsweise) die für das Schiff charakteristische »Schwingungsfrequenz« um seinen eigentlichen Kurs.

Auch jeder biologische Vorgang innerhalb des Ökosystems Wasser besitzt eine charakteristische Reaktionszeit, die von der Stoffwechsel- und Fortpflanzungs­rate der beteiligten Organismen abhängig ist. Damit eine neue Generation von Fischen heranwachsen kann, braucht es oft Monate, bei Algen nur ein paar Tage, Bakterien vermehren sich gar in ein paar Stunden. Die Stoffwechselrate dieser Lebewesen — das heißt die Geschwindigkeit, mit der sie Nährstoffe verwerten, Sauerstoff verbrauchen und überflüssige Stoffe ausscheiden — steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Größe. Wenn der »Grundumsatz« eines Fisches 1 ist, dann ist der der Algen etwa 100 und der der Bakterien ungefähr 10.000.

Soll das Gleichgewicht des Gesamtzyklus erhalten bleiben, muß die Geschwindigkeit, in der der Zyklus einmal vollständig durchlaufen wird, vom langsamsten Teilvorgang des Systems bestimmt werden — in diesem Fall vom Wachstum und Stoffwechsel des Fisches. Jede äußere Einwirkung, die einen Teil des Zyklus schneller als den Gesamtzyklus ablaufen läßt, führt zu einer Störung des Systems. So bestimmt etwa die Geschwindigkeit, mit der unverwertbare Stoffwechselprodukte von den Fischen ausgeschieden werden, die Geschwindigkeit der bakteriellen Zersetzung und die Geschwindigkeit des dadurch bedingten Sauerstoffverbrauchs.

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In einem ausgewogenen Zustand stellen die Algen genügend Sauerstoff her, den die Bakterien dann aus der Luft entnehmen können. Angenommen, die Geschwindigkeit, mit der organische Abfallprodukte in den Zyklus eintreten, wird künstlich erhöht — etwa dadurch, daß Kloakenabwässer in das Wasser gepumpt werden —, so wird den Bakterien viel mehr Nahrung angeboten als normalerweise. Aufgrund ihres schnellen Stoffwechsels können sie sie auch schnell verwerten.

Die Folge ist, daß die Geschwindigkeit, mit der die Bakterien Sauerstoff verbrauchen, die Geschwindigkeit, mit der die Algen Sauerstoff produzieren, übersteigt, so daß der Sauerstoffgehalt schließlich unter Umständen auf Null absinkt und das System kollabiert. Die Geschwindigkeiten, mit denen die einzelnen Prozesse innerhalb des Zyklus ablaufen, befinden sich also nur so lange in einem natürlichen Gleichgewichtszustand, als sich keine systemfremden Faktoren aufdrängen. Solche Störkräfte können von den sich selbst regulierenden Prozessen innerhalb des Zyklus nicht unter Kontrolle gehalten oder aufgefangen werden und stellen daher eine Gefährdung des gesamten Systems dar.

ökologische Systeme unterscheiden sich hinsichtlich der für sie charakteristischen Teilgeschwindigkeiten beträchtlich voneinander und daher auch bezüglich der Geschwindigkeit, mit der sie als Ganzes auf eine veränderte Situation reagieren oder sich dem Zusammenbruch nähern. So benötigt der Wasserzyklus sehr viel weniger Zeit für eine »Umdrehung« als der Bodenzyklus. Deshalb liefert ein Hektar eines dichtbewachsenen Schelfs oder ein Hektar eines Fischteichs jährlich ungefähr siebenmal weniger organische Substanz als etwa ein Hektar Luzernen. Die langsame Umdrehung des Bodenzyklus ist auf die niedrige Geschwindigkeit zurückzuführen, mit der einer seiner zahlreichen Einzelschritte abläuft: die Freisetzung der Nährstoffe aus dem Bodenvorrat an organischem Material; der entsprechende Vorgang in den Ökosystemen des Wassers spielt sich sehr viel schneller ab.

Auch das Ausmaß an Streß, das ein ökologisches System verkraften kann, ergibt sich aus der Verkettung seiner verschiedenen Funktionseinheiten und deren relativen Reaktionsgeschwindigkeiten. Je komplexer ein Ökosystem ist, desto erfolgreicher kann es in Streß-Situationen Widerstand leisten. Der Zusammenbruch des Hasen-Luchs-Systems zum Beispiel würde ausbleiben, wenn der Luchs noch eine weitere Nahrungsquelle hätte.

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Mit zunehmender Verzweigung und Verästelung des Systems, das heißt mit zunehmenden Alternativ- oder Ausweichmöglichkeiten, wächst dessen Belastungsfähigkeit. So sind die meisten Zyklen der Ökosysteme auch nicht auf einfache Kreisläufe beschränkt, sondern kreuz und quer von derlei »Abzweigungen« durchzogen; sie bilden zusammen ein ganzes Netzwerk wechselseitiger Verbindungslinien. Genau wie ein richtiges Fischernetz — bei dem jeder einzelne Knoten mit anderen über mehrere Schnüre verbunden ist — ist auch ein solches Gewebe widerstandsfähiger als eines, dessen einzelne Fäden lediglich kreisförmig aneinandergeknüpft sind und das daher durch einen einzigen Schnitt an einer beliebigen Stelle völlig unbrauchbar wird. Umweltverschmutzung ist häufig ein Zeichen dafür, daß die natürlichen ökologischen Verbindungslinien durchschnitten sind und das ökologische System künstlich vereinfacht wurde, so daß seine Widerstandskraft gegenüber Streß und schließlichem Kollaps gefährlich herabgesetzt ist.

Die für Ökosysteme charakteristische Rückkoppelung (»feedback«) verstärkt und erweitert den Wirkungsgrad der in ihnen ablaufenden Prozesse ganz erheblich. Beispielsweise führt die Tatsache, daß in den Nahrungsketten kleine Organismen von größeren gefressen werden und diese wiederum von noch größeren und so weiter, unausweichlich zu einer Konzentration bestimmter Umweltstoffe in den Körpern der größten Organismen am Ende der jeweiligen Nahrungskette. Bei kleineren Organismen laufen die Stoffwechselprozesse sehr viel schneller ab als bei größeren, so daß die Menge an Nährstoffen, die in ihrem Körper verbrannt wird, die Menge an Nährstoffen, die in den Organismus eingebaut wird, übersteigt.

Folglich muß ein Lebewesen am Ende der Nahrungskette zu seiner Erhaltung eine weitaus größere Anzahl von Organismen fressen, die zu den unteren Gliedern der Nahrungskette gehören. Jede Substanz, die von diesen »niedereren« Lebewesen aufgenommen wird, aber dem Stoffwechsel nicht unterliegt, wird sich daher im Organismus des am Ende der Nahrungskette stehenden Tieres anreichern. Wenn also die Konzentration von DDT (einem Insektizid, das nicht sogleich abgebaut wird) im Erdboden 1 Maßeinheit beträgt, wird sie bei Regenwürmern bereits eine Höhe von 10 bis 40 Einheiten erreichen und bei Waldschnepfen, die sich von Regenwürmern ernähren, schließlich auf etwa 200 Einheiten angestiegen sein.

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Dies alles beruht auf der einfachen Tatsache, daß in ökologischen Systemen jedes Ding mit jedem anderen in Verbindung steht: Die Eigenschaft, sich selbst regulieren und Schwankungen selbsttätig ausgleichen zu können, stabilisiert das System; dieselbe Eigenschaft führt jedoch bei Überbeanspruchung zu seinem Zusammenbruch; die Komplexität des ökologischen Netzwerks und die »Umdrehungsgeschwindigkeit« des Gesamtzyklus bestimmen, bis zu welchem Grad und für wie lange es Streßbelastungen auszuhalten vermag, ohne dabei zu kollabieren; das ökologische Netzwerk wirkt als Verstärker, so daß eine geringe Störung an einer einzigen Stelle schwere und weitreichende Spätfolgen haben kann.

 

   Das zweite Gesetz der Ökologie: Alles muß irgendwo bleiben  

 

Dies ist natürlich nichts anderes als eine saloppe Neuformulierung des physikalischen Grundsatzes, wonach keine Energie verlorengeht. Angewandt auf die Ökologie besagt dieses Gesetz, daß es in der Natur keinerlei »Abfall« gibt. Für jedes natürliche System gilt, daß die »Abfälle« oder Absonderungen eines Organismus einem anderen als Nahrung dienen. Das »Abfallprodukt« des tierischen Atmungsprozesses ist Kohlendioxyd — ein lebenswichtiger Nährstoff der grünen Pflanzen; Pflanzen sondern Sauerstoff ab, der wiederum von den Tieren verwertet wird. Von den organischen Ausscheidungen der Tiere leben die Zersetzungsbakterien. Und deren »Abfälle« — anorganische Stoffe wie Nitrat, Phosphat und Kohlendioxyd — ernähren die Algen.

Die fortlaufende Bemühung, eine Antwort auf die Frage: »Wo bleibt es?« zu finden, kann überraschend viele Informationen über ein ökologisches System erbringen. Betrachten wir zum Beispiel das Schicksal irgendeines ganz alltäglichen Gegenstandes, der Quecksilber enthält — eine Substanz, deren Ansammlung ernste Folgen für die Umwelt haben kann, wie sie gerade in letzter Zeit zu beobachten sind. Man kauft also etwa eine quecksilberhaltige Trockenbatterie, benutzt sie, bis sie leer ist, und wirft sie dann »weg«. Aber was passiert damit in Wirklichkeit? Zunächst landet sie in einer Mülltonne; diese wird zusammen mit etlichen anderen entleert und der gesammelte Inhalt zu einer Verbrennungsanlage gebracht.

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Darin wird unser Batterie-Quecksilber erhitzt; dabei entsteht Quecksilberdampf, der durch den Schornstein des Ofens entweicht — Quecksilberdampf aber ist giftig. Vom Wind zunächst davongetragen, gelangt die giftige Substanz im Regen oder Schnee schließlich wieder auf die Erdoberfläche. Nehmen wir an, der Ort des Niederschlags sei ein Gebirgssee, dann kondensiert der Quecksilberdampf und sinkt auf den Grund des Sees. Hier wird das Quecksilber von Bakterien in Methylquecksilber umgewandelt. Dieser Stoff ist wasserlöslich und wird von den Fischen aufgenommen; da er in deren Stoffwechsel jedoch nicht eingeht, reichert er sich in den Organen und Geweben der Fische an. Menschen fangen die Fische, essen sie und speichern das Quecksilber in ihren Organen, wo es gefährliche Schäden anrichten kann. Und so weiter.

Dies ist eine recht effektive Methode, einen ökologischen Weg zu verfolgen. Sie eignet sich außerdem hervorragend dazu, jener weitverbreiteten Ansicht entgegenzuwirken, wonach nutzlos erscheinende Dinge »weg« sind, sobald sie ausrangiert wurden. Nichts »kommt weg«; es wird nur einfach von einem Ort an einen anderen gebracht und von einer molekularen Form in eine andere, und jedesmal beeinflußt es die Lebensfunktionen des Organismus, in dem es sich gerade aufhält. Einer der Hauptgründe für die gegenwärtige Umweltkrise besteht darin, daß Unmengen von Stoffen dem Erdboden entzogen, für unsere Zwecke umgeformt und schließlich der Umwelt wieder überantwortet wurden, ohne daß man berücksichtigt hätte, daß »alles irgendwo bleiben muß«. Das Endergebnis war nur allzuoft eine gefährliche Anhäufung von Stoffen an Orten, wo sie von Natur aus nicht hingehören.

 

    Das dritte Gesetz der Ökologie: Die Natur weiß es besser  

 

Meine Erfahrung sagt mir, daß dieses Prinzip wahrscheinlich auf heftigen Widerspruch stoßen wird, da es im Gegensatz zu der tiefeingewurzelten Vorstellung von den unerreichten Fähigkeiten des Menschen zu stehen scheint. Eines der hervorragendsten Merkmale der modernen Technologie ist, daß man von ihr die Vorstellung hat, sie übertreffe die Natur, indem sie Nahrung, Kleidung, Obdach, Kommunikations- und Ausdrucksmittel zur Verfügung stellt, die denjenigen überlegen seien, die dem Menschen in der Natur bereitstehen.

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Das dritte Gesetz der Ökologie behauptet dagegen ganz unverblümt, daß jede größere von Menschen herbeigeführte Veränderung eines natürlichen Systems diesem System mit größter Wahrscheinlichkeit schädlich ist. Das ist eine recht radikale Behauptung; nichtsdestoweniger glaube ich, daß sie von einigem Wert sein kann, wenn sie in einem genau definierten Zusammenhang verwendet und verstanden wird.

Ich will versuchen, dieses Gesetz mit Hilfe einer Analogie zu erläutern.

Man stelle sich vor, man hebe die Rückseite seiner Armbanduhr ab, schließe die Augen und steche mit einem Bleistift mitten in das offen daliegende Uhrwerk hinein. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde dadurch das Uhrwerk beschädigt. Aber dieses Ergebnis ist eben nicht absolut sicher. Es gäbe ja noch die winzig kleine Chance, daß das Uhrwerk nicht ganz regelmäßig gearbeitet hat und der Bleistift zufällig gerade so hineingestoßen wurde, daß er genau die erforderliche Regulierung bewirkte. Dieses Resultat ist jedoch mehr als unwahrscheinlich. Die Frage ist nur: warum eigentlich? Die Antwort liegt auf der Hand: Ein ganz erheblicher Aufwand an dem, was die Technologen heute als »Forschung und Entwicklung« bezeichnen, steckt hinter jeder Uhr.

Das will besagen, daß jahrzehntelang zahlreiche Uhrmacher, die alle von ihren jeweiligen Vorgängern gelernt haben, eine Unmenge verschiedener Anordnungen aller Einzelteile eines Uhrwerks ausprobiert, diejenigen, die nicht mit der Funktionsweise des Gesamtsystems in Einklang standen, aufgegeben und die geeigneten beibehalten haben. In der Tat stellt der heutige Uhrmechanismus das Ergebnis einer sehr strengen Auswahl aus all den möglichen Teilanordnungen eines einzigen, hohen Anforderungen genügenden Systems von Uhrwerken dar. Jede zufällige Veränderung, die an der Uhr vorgenommen wird, gehört wahrscheinlich der Unmenge von widersinnigen oder nachteiligen Anordnungen an, die Generationen von Uhrmachern längst ausprobiert und verworfen haben. Auf Uhren bezogen, könnte unser Gesetz auch lauten: »Der Uhrmacher weiß es besser.«

Dies ist eine enge Analogie zu den biologischen Systemen. Wir haben die Möglichkeit, eine gewisse Reihe zufälliger, vererbbarer Veränderungen in einem Organismus hervorzurufen, indem wir ihn einem Wirkstoff — wie etwa Röntgenstrahlen — aussetzen, der die Häufigkeit von Mutationen erhöht.

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Theoretisch wird durch Röntgenbestrahlung die Häufigkeit sämtlicher Mutationen heraufgesetzt, die bislang — wenn auch selten — in der Natur beobachtet worden sind und die daher alle als grundsätzlich mögliche Veränderungen angesehen werden müssen. Für uns ist die weltweite Erfahrung von Bedeutung, daß fast alle durch Röntgenstrahlen oder andere Wirkstoffe ausgelösten Mutationen für das jeweilige Lebewesen nachteilig und die meisten von ihnen derart schädlich sind, daß sie das Individuum sterben lassen, bevor es noch voll ausgereift ist.

Mit anderen Worten: Ein Lebewesen, das gezwungen wird, eine zufällige Veränderung seiner inneren Organisation zu erleiden, wird — wie die Uhr — mit größter Wahrscheinlichkeit eher Schaden als Nutzen davontragen. Und für beide Fälle gilt dieselbe Erklärung: ein Riesenaufwand an »Forschung und Entwicklung«. Denn tatsächlich stehen ja auch so ungefähr zwei bis drei Milliarden Jahre »Forschung und Entwicklung« hinter jedem Lebewesen. In diesem Zeitraum ist eine ganz beträchtliche Zahl von Individuen entstanden, von denen jedes einzelne irgendeine zufällige Veränderung seines Erbguts auf ihre Tauglichkeit prüfen mußte. Wenn durch eine solche Veränderung die Lebensfähigkeit des Organismus beeinträchtigt wird, geht er zugrunde, bevor er diese Veränderung einer nächsten Generation übertragen kann. Auf diese Art und Weise bildet sich eine komplexe Struktur miteinander harmonierender Funktionselemente heraus; mögliche, mit dem Funktionsganzen jedoch unvereinbare Zusammenstellungen werden während des langwierigen Evolutionsprozesses eliminiert. Daher ist die gegenwärtige Struktur eines Organismus oder eines ökologischen Systems als die wahrscheinlich »bestmögliche« anzusehen, und zwar in dem Sinne, daß sie so gründlich auf ungünstige Elemente hin überprüft worden ist, daß jedes neue Element höchstwahrscheinlich unvorteilhafter ist als die derzeit vorhandenen.

Dieses dritte Gesetz ist von ganz besonderer Bedeutung für den Bereich der organischen Chemie. Der Körper jedes Lebewesens besteht aus Abertausenden verschiedener organischer Verbindungen, und es wird zuweilen behauptet, daß mindestens ein Teil davon durch künstliche Varianten der natürlichen Substanz vorteilhaft ersetzt werden könnte. Das dritte Gesetz der Ökologie besagt hier, daß die künstliche Einführung einer organischen Verbindung — die in der Natur selbst nicht vorkommt, nichtsdestoweniger aber innerhalb des Organismus höchst wirksam ist — sich mit aller Wahrscheinlichkeit als schädlich erweisen wird.

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Diese Überlegung geht von der Tatsache aus, daß weit mehr Varianten chemischer Stoffe möglich als tatsächlich in den Lebewesen vorhanden sind. Das läßt sich an folgendem Beispiel eindrucksvoll illustrieren: Wenn von einem Proteinmolekül alle Eiweiße hergestellt werden würden, die überhaupt möglich sind, dann würden sie zusammen schwerer sein als das gesamte sichtbare Universum. Es ist offensichtlich, daß es eine phantastisch große Zahl von Eiweißtypen gibt, die nicht von den Zellen hergestellt werden. Nach dem Vorangehenden darf man aber annehmen, daß viele dieser überhaupt möglichen Proteine doch einmal in irgendwelchen einzelnen Lebewesen gebildet worden sind, sich dann aber als schädlich erwiesen und ausgeschieden wurden, indem das betreffende Individuum zugrunde ging.

So werden in den lebenden Zellen auch Fettsäuren synthetisiert (eine Gruppe von organischen Molekülen, die aus Kohlenstoffketten unterschiedlicher Länge aufgebaut sind) — allerdings nur solche, die eine gerade Zahl an Kohlenstoffatomen aufweisen. Das läßt vermuten, daß Fettsäuren mit einer ungeraden Zahl an Kohlenstoffatomen einmal ausprobiert und als mangelhaft verworfen wurden. Ähnlich verhält es sich mit den organischen Verbindungen, an deren Grundstruktur sich Stickstoff- und Sauerstoffatome anlagern: Sie sind überaus selten in lebenden Organismen vorzufinden. Das sollte uns warnend darauf hinweisen, daß die Verwendung von derartigen künstlich erzeugten Substanzen gefährlich sein könnte. Das ist auch tatsächlich der Fall, denn diese Stoffe sind in der Regel giftig und häufig krebserregend. Übrigens möchte ich aus der Tatsache, daß DDT in der Natur nirgends anzutreffen ist, schließen, daß irgendwo irgendwann einmal irgendeine bedauernswerte Zelle dieses Molekül synthetisiert hat — und prompt daran zugrunde gegangen ist.

Als eines der erstaunlichsten Merkmale der Chemie lebender Systeme muß wohl die Tatsache angesehen werden, daß zu jeder von einem Organismus gebildeten Substanz irgendwo in der Natur ein korrespondierendes Enzym vorhanden ist, welches diese Substanz abzubauen vermag. Keine einzige organische Verbindung wird hergestellt, ohne daß für die Möglichkeit ihres Abbaus gesorgt wäre; dadurch wird ein ständiger Zirkulationsprozeß bedingt.

Wenn wir also eine organische Verbindung künstlich herstellen, deren molekulare Struktur entscheidend von den in der Natur vorhandenen abweicht, existiert vermutlich kein entsprechendes Abbau-Enzym, so daß sich die Substanz anhäufen wird.

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Unter diesen Umständen ist es, glaube ich, nur vernünftig, wenn man jede künstliche organische Verbindung, die nicht gleichzeitig in der Natur vorkommt und die eine starke Wirkung auf irgendeinen Organismus ausübt, als potentiell gefährlich für andere Lebewesen ansieht. Für die Praxis bedeutet das, daß wir mit allen künstlichen organischen Verbindungen, die auch nur im geringsten biologisch aktiv sind, so umgehen sollten wie mit Arzneimitteln — oder besser noch: überaus gewissenhaft und vorsichtig. Gewissenhaftigkeit und Vorsicht aber sind natürlich illusionär, wenn derartige Substanzen zu Milliarden Pfunden hergestellt und in der Natur herumgestreut werden, wo sie zahllose Organismen erreichen und schädigen können, die unserer Beobachtung entzogen sind. Genauso haben wir es bis heute mit Detergentien, Insekten- und Unkrautvertilgungsmitteln gemacht. Die oft katastrophalen Folgen sprechen deutlich zugunsten der Ansicht, daß es »die Natur besser weiß«.

 

   Das vierte Gesetz der Ökologie: So etwas wie »Freibier« gibt es nicht  

 

Meiner Erfahrung nach vermag dieser Gedanke die Umweltproblematik derart zu erhellen, daß ich ihn mir immer wieder dort entleihe, wo er ursprünglich aufgetaucht ist — im Bereich der Wirtschaftswissenschaften. Unser viertes Gesetz geht nämlich auf eine Anekdote zurück, die unter Wirtschaftsexperten gern erzählt wird und von einem Ölpotentaten handelt, der eines Tages zu dem Schluß kam, seinem ungeheuren Reichtum mangele es an der sicheren Führung durch die Wirtschaftswissenschaft.

Also wies er seine Ratgeber an, die gesamten Erkenntnisse der Ökonomie in ein paar Bänden zusammenzutragen, andernfalls würden sie mit dem Tode bestraft. Als man ihm die dicken Wälzer überreichte, war der Potentat ungehalten und gab den neuen Befehl, die gesamten Erkenntnisse der Ökonomie doch gefälligst nur in einen einzigen Band zusammenzufassen. In dieser Art geht die Geschichte weiter, wie es bei solchen Geschichten eben üblich ist — die Ratgeber mußten schließlich, um ihren Kopf zu behalten, das Gesamtgebäude der Wirtschaftswissenschaften auf einen einzigen Satz reduzieren. Dies ist der Ursprung des »Freibier«-Gesetzes.

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In der Ökologie — genau wie in der Ökonomie — soll das Gesetz darauf aufmerksam machen, daß jeder Gewinn seinen Preis hat. In gewisser Hinsicht schließt dieses ökologische Gesetz die übrigen drei ein. Da das weltumspannende Ökosystem ein unzertrennliches Ganzes darstellt, in dem nichts hinzugewonnen werden oder verlorengehen kann und das bei einer Detailveränderung nicht zu einer Gesamtverbesserung neigt, muß alles, was menschliche Arbeit ihm entzieht, in irgendeiner Form ersetzt werden. Dieser Preis muß entrichtet werden — man kann die Zahlung nur aufschieben. Die gegenwärtige Umweltkrise ist ein Alarmzeichen dafür, daß wir mit der Zahlung schon fast allzulange im Rückstand sind.

Wir haben auf den voranstehenden Seiten eine grobe Skizze des engmaschigen Gewebes irdischen Lebens entworfen. Dabei haben wir uns bemüht, nur von den verfügbaren Tatsachen auszugehen und durch logische Schlüsse zu einer Reihe umfassender Verallgemeinerungen zu kommen. Mit anderen Worten: Wir sind wissenschaftlich vorgegangen.

Dennoch können wir schwerlich die eher peinliche Tatsache außer acht lassen, daß mit den Verallgemeinerungen, die das Endergebnis unserer wissenschaftlichen Bemühungen darstellen — mit den vier Gesetzen der Ökologie also —, Gedanken formuliert sind, die bereits von vielen Leuten ohne jede vorherige wissenschaftliche Analyse oder entsprechende berufliche Qualifikation vertreten worden sind. Das komplizierte Netzwerk, das alle Lebewesen miteinander verknüpft, und der dem Menschen darin zugewiesene Ort werden in vollendeter Klarheit — und Schönheit — in Walt Whitmans Gedichten beschrieben.

Aus »Moby Dick« kann man sehr viel über das Wechselspiel der physikalischen Umweltfaktoren und über die Lebewesen, die diese Umwelt bewohnen, erfahren. Mark Twains Werke strotzen nicht nur von klugen Erkenntnissen über die Natur westlich des Mississippi; er ist außerdem ein recht scharfer Beobachter und Kritiker der Belanglosigkeit von Wissenschaften, die jede Beziehung zu den Realitäten des Lebens verloren haben. Und der Kritiker Leo Marx meinte: »Jeder, dem die klassische amerikanische Literatur vertraut ist (ich denke dabei an Schriftsteller wie Cooper, Emerson, Thoreau, Melville, Whitman und Mark Twain), wird wahrscheinlich ein Interesse für jenen Gegenstand entwickelt haben, den wir seit kurzem als Ökologie zu bezeichnen gelernt haben.«

Unglücklicherweise hat dieses literarische Erbteil jedoch nicht ausgereicht, um uns vor einer ökologischen Katastrophe zu bewahren. Schließlich hat jeder einzelne amerikanische Techniker und Industrielle, jeder Landwirt und jeder Beamte, der den Angriff auf unsere Umwelt geduldet, gefördert oder gar mitgemacht hat, mindestens ein paar Seiten von Cooper, Emerson, Thoreau, Melville, Whitman und Mark Twain gelesen. Viele von ihnen sind begeisterte Campingurlauber, Vogelbeobachter oder Angler und haben daher bis zu einem gewissen Grad sogar persönlich Kenntnis von jenen Naturvorgängen, die die ökologischen Wissenschaften zu erhellen hoffen. Und dennoch wurden die meisten von ihnen von der Umweltkrise überrascht — offenbar haben sie einfach nicht verstanden, daß Thoreaus Wälder, Mark Twains Flüsse und Melvilles Meere heute in Gefahr sind.

Erst die seuchenartig um sich greifende Umweltverschmutzung hat uns endlich zu dieser Erkenntnis verholfen. Denn »die heutige Umweltkrise hat«, um mit Leo Marx23 zu sprechen, »dieser poetischen Vorstellung eines notwendigen Einklangs von Mensch und Natur eine ganz prosaische, sachliche und quantitativ zu bestimmende Grundlage verliehen«. Eben darin liegt vielleicht auch der größte Wert des Versuchs, in den Fakten und Prinzipien der ökologischen Wissenschaften die solide Grundlage jener einfachen Verallgemeinerungen nachzuweisen, die der Mensch aus seinen unmittelbaren Wahrnehmungen im Kontakt mit der Natur schon längst entwickelt hat. Verknüpft mit den entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen werden diese Ideen zu dem geistigen Rüstzeug, das wir brauchen, wenn wir den Schaden, der der Natur mit der Umweltkrise beigebracht wurde, beheben wollen.

In den Wäldern rund um Waliden Pond oder in den Niederungen des Mississippi reicht die persönliche Erfahrung eines Menschen aus, um ihn mit den Kenntnissen auszustatten, die ihm ein Verständnis seiner natürlichen Umwelt ermöglichen. In einer Welt der Atombomben, der verpesteten Lüfte und verschmutzten Gewässer ist er auf die Hilfe des Wissenschaftlers angewiesen.

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