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7 - Der Mensch in der Ökosphäre 

   Commoner-1971

 

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Die Umweltkrise ist ein Zeichen dafür, daß die Ökosphäre gegenwärtig derart starken Belastungen ausgesetzt ist, daß ihre Stabilität gefährdet wird. Sie ist ein Alarmsignal dafür, daß wir endlich den Ursprung der hier wirksamen, selbstmörderischen Triebkraft aufdecken und unter Kontrolle bringen müssen, bevor sie die Umwelt — und uns selbst — zermalmt hat.

Selbst durch menschliches Handeln verursacht, übt der Verfall der Umwelt unerträgliche Wirkungen auf die menschlichen Lebens­verhältnisse aus. Die Umwelt­krise ist daher nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein soziales Problem.

Die ohnehin bereits recht komplizierte Struktur der Ökosphäre wird dadurch noch komplizierter, muß sie doch in ihrer engen Verflechtung mit den verschiedensten Aktivitäten des Menschen gesehen werden: der Vermehrung der Weltbevölkerung; den Wissenschaften, die die Natur zu ergründen suchen; der Technologie, die das neue Wissen praktisch anwendet; der sich daraus ergebenden industriellen und landwirtschaftlichen Produktion, die die Erdoberfläche zur Erzeugung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern nutzt; den Wirtschaftssystemen, die die Verteilung und Nutzung dieser Güter lenken; den sozialen, kulturellen und politischen Prozessen, die die Welt des Menschen prägen.

Wo können wir nun in diesem Wirrwarr der verschiedensten Geschehnisse eine Erklärung für die Umweltkrise finden?

Auch hier — wie bei der Ökosphäre selbst — stehen wir wieder vor einer Aufgabe, für die die moderne Wissenschaft nur schlecht gerüstet ist: der Analyse eines überaus komplexen Systems. Was wir anfangs über die Biosphäre ausgeführt haben, läßt es nützlich erscheinen, daß wir auch hier zu demselben Hilfsmittel greifen, das heißt, eine Kette von Beziehungen suchen, die jeweils einen Faktor mit einem nächsten verbindet. Wir sollten uns jedoch bewußt sein, daß dieses Hilfsmittel nicht etwa die einzig mögliche und richtige Beschreibung des gesamten Bezugssystems erbringen, sondern nur eine teil- oder ausschnittsweise Darstellung ermöglichen soll, die einem bestimmten Ziel dienlich sein kann.

Das Ziel, dessen Verfolgung uns im Hinblick auf die Umweltproblematik am relevantesten zu sein scheint, besteht darin, aufzudecken, wie die verschiedenen menschlichen Aktivitäten von der Umwelt abhängen und sie beeinflussen.

Der Schlüssel zum Verständnis eines solchen Netzwerks von Beziehungen liegt darin, herauszufinden, wie jedes einzelne Teil von allem übrigen abhängig ist. So wissen wir beispielsweise im Fall des Ökosystems von Gewässern, daß die Fische infolge ihres Nahrungsbedarfs von den Algen abhängig sind, daß die Produktion organischer Abfallstoffe von den Fischen, die Produktion anorganischer Nährstoffe von den organischen Abfallstoffen und das Wachstum der Algen von den anorganischen Nährstoffen abhängen. Es ist nützlich, in solchen Abhängigkeitszyklen zu denken, wenn man die Beziehungen zwischen irgendeinem Teil des Systems und dem Verhalten des Gesamtsystems verstehen möchte. Genauso können wir nun nach Beziehungen suchen, die eine Reihe von menschlichen Aktivitäten mit dem ökologischen System verknüpfen, von dem sie abhängen und das sie selbst wiederum beeinflussen.

Lassen Sie uns bei der Ökosphäre beginnen.

 

Zusammen mit den Bodenschätzen der Erde stellt sie die Quelle für all jene Güter dar, die menschliche Arbeit hervorbringt. Unser Wohlstand ist also von der Ökosphäre abhängig. Die Menschen wiederum sind auf einen gewissen Wohlstand angewiesen: Entwicklung und Wohlbefinden des Menschen sind nur möglich, wenn bestimmte Güter zur Verfügung stehen — Nahrung, Kleidung, ein schützendes Obdach, Transport- und Kommunikationsmittel, eine gewisse Fürsorge und auch einige zusätzliche Annehmlichkeiten.

Es ist eine Binsenwahrheit, daß es ohne Menschen weder Wissenschaft noch Technik, weder Industrie noch Landwirtschaft, noch all jene ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Prozesse gäbe, die das Ganze beherrschen.

Diejenigen, die sich wegen der »Übervölkerung« der Erde so besorgt zeigen, überschütten uns mit Zahlen, die die Bevölkerungsexplosion verdeutlichen sollen:69 5 Millionen Menschen bewohnten die Erde in vorhistorischer Zeit, 250 Millionen zur Zeit von Christi Geburt, 500 Millionen um 1650, 1000 Millionen um 1850, 3500 Millionen sind es heute, und ungefähr 6000 Millionen erwartet man etwa für das Jahr 2000.

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Man sollte aber nicht vergessen, daß eine entsprechende Steigerung in der Anzahl, Mannigfaltigkeit und Verwendung von Maschinen, Gebäuden, Verkehrs­mitteln und Kochgeräten zu verzeichnen ist, ebenso in der Anzahl, Mannigfaltigkeit und dem geistigen Reichtum literarischer, musikalischer, bildnerischer und wissenschaftlicher Werke. Nicht nur eine »Bevölkerungsexplosion« hat auf der Erde stattgefunden, sondern auch — und das ist vielleicht noch bedeutsamer — eine »Zivilisationsexplosion«.

Die Menschheit — und deren Zunahme selbstverständlich — sind der Ursprung jenes dichtgeflochtenen Netzes vielfältigster Ereignisse und Erscheinungen, das unsere Zivilisation ausmacht: die immer neuen Erkenntnisse über die Natur, die die Wissenschaft zutage fördert, die Macht der Technik, die uns die Naturkräfte nutzbar zu machen erlaubt, die ungeheure Zunahme des materiellen Wohlstands, die Weiterentwicklung der ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Prozesse.

Um die Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und seinem Lebensraum zu erhellen, müssen wir also aus all diesen Formen menschlicher Aktivität jene herausfinden, die eine zusammenhängende Kette bilden und es uns dadurch ermöglichen, an unseren Ausgangspunkt, die Ökosphäre, zurückzukehren. Eine solche Auswahl ist natürlich willkürlich. Denn nahezu alles, was Menschen denken oder tun, kann ihre Haltung und demzufolge auch ihr tatsächliches Verhalten gegenüber der Welt, in der sie leben, beeinflussen.

So spiegeln zum Beispiel Malerei, Musik und Bildhauerei menschliche Erfahrungen mit der Umwelt, der Natur oder Biosphäre wider. Und wer wollte bestreiten, daß großartige Gemälde oder Musikstücke nicht ihrerseits das Handeln eines Menschen in bezug auf seine Umwelt beeinflussen könnten? Es ist nicht meine Absicht, diese Formen menschlicher Aktivität zu ignorieren oder ihr Gewicht zu leugnen; ich möchte nur die materielle Grundlage des menschlichen Lebens auf der Erde in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken.

Demgemäß wähle ich, um die Beschreibung des Geflechts von Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur fortzuführen, unter den vom Menschen abhängigen Phänomenen dieser Welt nur eines aus — die Wissenschaft. Sie ist ja schließlich das Mittel oder Werkzeug, dessen er sich bedient, um die Natur seiner Umwelt kennenzulernen und auf sie einzuwirken. Vor allem in bezug auf die Ökosphäre ist unser Handeln heute bewußt gelenkt von dem, was die Wissenschaft uns über die Natur zu sagen weiß (oder von dem wir glauben, sie sage es).

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Unmittelbar abhängig von der Naturwissenschaft — nämlich von dem von ihr angesammelten Erkenntnisschatz über die Funktionsweise der Natur — ist die Technik. Zwar wurden technische Verfahren in der Vergangenheit häufig auf dem Weg von Versuch und Irrtum entwickelt und nicht so sehr auf dem Weg der direkten Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis; in moderner Zeit werden jedoch fast alle technologischen Fortschritte dadurch erzielt, daß man sich bewußt von der Wissenschaft leiten läßt.

Industrielle und landwirtschaftliche Produktion wiederum — und auch das gilt insbesondere für moderne Verhältnisse — sind von der Technik abhängig. Der beherrschende Einfluß der Technik auf die Entwicklung der Produktivität in den Vereinigten Staaten ist gründlich belegt worden, so etwa durch John Kenneth Galbraith.70. Und in allen modernen Gesellschaften ist die Produktion außerdem von jenen Prozessen abhängig, die die Verteilung und den Austausch des erzielten Gesamtprodukts bestimmen — vom Wirtschaftssystem.

Und schließlich ist es das Wirtschaftssystem, das die Ausbeutung der Ökosphäre zur Schaffung weiteren Vermögens regelt. Denn produktive Tätigkeiten werden stets nur insofern ausgeführt, als sie irgendeinen erwünschten Wert zu erbringen versprechen. Was ein solcher Wert ist, definiert aber eben das Wirtschaftssystem. Hier sind wir nun wieder beim Ökosystem angelangt, denn alle vermögensproduzierenden Unternehmungen des Menschen sind aufgrund des biologischen Kapitals, das jede Art von Produktivität erfordert, von der Biosphäre abhängig.

Der Wohlstand also, der für die Erhaltung des menschlichen Lebens und all seiner Aktionsformen notwendig ist, wird selbst durch menschliche Aktivität erzeugt; diese wiederum wird von der Wissenschaft angeleitet, von der Technik vermittelt, von einem Wirtschaftssystem gesteuert und in der Biosphäre ausgeübt. Mit dieser einfachen Reihenfolge soll natürlich nicht das gesamte Funktionssystem der menschlichen Gesellschaft beschrieben werden, das ja keinen einfachen Kreislauf, sondern ein recht komplexes, reichverzweigtes Netzwerk von Prozessen darstellt.

So wird der aus den natürlichen Hilfsquellen gewonnene Reichtum auch nicht nur dazu verwendet, die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sie zu ernähren, am Leben zu erhalten und neues Leben zu schaffen; er wird außerdem dazu benutzt, neue Geräte, Fabriken, Verkehrsmittel, Krankenhäuser, Museen, Kunstwerke — oder Waffen herzustellen.

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Außerdem ist es wichtig, daran zu erinnern, daß die Beziehung zwischen Wissenschaft und Technik einerseits und dem Wirtschaftssystem andererseits in zwei Richtungen wirksam wird. Während die wirtschaftliche Aktivität von Produktionsprozessen abhängig ist, die von Wissenschaft und Technik geprägt werden, ist das Umgekehrte ebenso der Fall. Das Wirtschaftssystem — und die politische Weltanschauung, der es Ausdruck verleiht — üben auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik erhebliche Zwänge aus. Eines der dabei eingesetzten Zwangsmittel ist ganz einfach das Geld, das von Regierungsstellen, privaten Stiftungen und Wirtschaftsunternehmen für wissenschaftliche und technische Zwecke zur Verfügung gestellt wird. Diejenigen, die diese Unterstützung gewähren, können den Gang der Wissenschaft und Technik schon allein dadurch beeinflussen — und sie tun es auch —, daß sie bestimmte Forschungsbereiche bevorzugen und andere ignorieren.

Die Umweltforschung bietet ein ganz eklatantes Beispiel dafür.

Bevor das Interesse der Öffentlichkeit an Umweltproblemen erwacht war, wurde sie in den Vereinigten Staaten nur ganz spärlich gefördert. In den letzten Jahren wurden dagegen die Gelder, die für das Studium von Problemen aus dem Bereich der Grundlagenforschung bewilligt wurden, sehr viel knapper, während die Mittel für das Studium von Umweltproblemen beträchtlich gestiegen sind. Als Folge davon haben sich auch sehr viel mehr Wissenschaftler entschlossen, sich mit Dingen zu befassen, die für die Umweltproblematik relevant sind. Wissenschaft und Technik sind also keineswegs unabhängige Informationsquellen, die die Gesellschaft nutzen oder ignorieren kann — sie sind vielmehr einer mehr oder weniger straffen Lenkung durch eben diese Gesellschaft unterworfen. Dennoch bleibt es richtig, daß jede für das Umweltsystem belangvolle Maßnahme von Wirtschaftsunternehmen oder Regierungs­stellen davon abhängig ist, daß ihnen die Wissenschaft die nötigen Informationen und die Technik die nötigen Hilfsmittel zur Verfügung stellen.

Unsere bisherigen Ausführungen vermitteln nur ein statisches, ein Zustandsbild von dem, was in Wirklichkeit ein dynamischer Prozeß ständiger Veränderungen ist: der Fortgang der Zivilisation. Aber auch unter diesem Aspekt erweist es sich als nützlich, wieder jene äußerst vereinfachte Abfolge von Ereignissen herauszugreifen, die wir oben beschrieben haben und die uns nun einen Einblick in den Ablauf des Gesamtgeschehens vermitteln kann.

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Wir wollen mit der Ausbeutung der Ökosphäre beginnen. Der Reichtum, den der Mensch aus der ökosphäre gewinnt, bewirkt einen Bevölkerungsanstieg. Denn es ist ausreichend bewiesen, daß mit wachsendem Wohlstand die Sterblichkeitsrate zurückgeht, die — unter der Voraussetzung, daß die Geburtenrate nicht ebenfalls zurückgeht — einen Bevölkerungsanstieg zur Folge hat. Da der Mensch sich, wie alle Lebewesen, aus eigenem Antrieb fortpflanzt, macht sich diese natürliche Tendenz zur Bevölkerungszunahme so lange bemerkbar, als ausreichend Güter für den Unterhalt der neu hinzugekommenen Menschen zur Verfügung stehen. Die Bevölkerungszunahme wiederum trägt dazu bei, jene Leistungen zu steigern, die vom Menschen selbst abhängig sind: Wissenschaft, Technik, Erzeugung lebensnotwendiger Güter, Wohlstand.

Nun wird ab und zu behauptet, diese sich selbst beschleunigende Wechselwirkung zwischen zunehmendem Wohlstand, steigenden technischen Möglichkeiten einerseits und dem Bevölkerungsanstieg andererseits müsse zu einer »Bevölkerungsexplosion« führen, wenn die Geburtenrate nicht durch entsprechende Maßnahmen gesenkt würde. Es gibt jedoch unumstößliche Beweise dafür, daß durch diesen Prozeß selbst ein Gegengewicht geschaffen wird, das den Bevölkerungsanstieg erheblich verlangsamt. Dieser Verlauf, den die Bevölkerungsstatistiker als »Bevölkerungswandel« (demographic transition) bezeichnen, ist in den meisten Industrienationen der Welt zu beobachten gewesen71. Zunächst, das heißt in den frühen Phasen der industriellen und landwirtschaftlichen Revolution des 18. Jahrhunderts, führte der gestiegene Lebensstandard zu einer Senkung der Sterbeziffer, so daß die betreffenden Nationen — bei gleichbleibender Geburtenziffer — einen schnellen Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen hatten. Mit der weiteren Verbesserung des Lebensstandards im 19. Jahrhundert sanken dann jedoch auch die Geburtenziffern, und die Bevölkerungszunahme erfolgte immer langsamer. Dieser Wandel hat keine biologischen, sondern soziale Ursachen.

Die veränderte Rolle der Kinder in der Gesellschaft ist hier besonders wichtig.

Bei niedrigem Lebensstandard — wie etwa in den Frühstadien der industriellen Revolution — war ihre Arbeitsleistung für den Unterhalt der Familie lebensnotwendig; Kinderarbeit war damals üblich. Später, bei höherem

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Lebensstandard, reichte der Arbeitserlös der Erwachsenen aus, um die Familie zu versorgen; die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt; statt lebensnotwendiger wirtschaftlicher »Aktiva« stellten die Kinder nunmehr wirtschaftliche »Passiva« dar.

Da gleichzeitig die Sozialleistungen verbessert wurden, waren die Eltern nicht mehr in dem Maße auf ihre Kinder als eine Art Altersversicherung angewiesen. Die natürliche Folge davon war eine Senkung der Geburtenrate, die sogar eintrat, als noch keine modernen empfängnisverhütenden Mittel zur Verfügung standen. So ist der Produktionszuwachs zwar eng mit dem Bevölkerungszuwachs verbunden, dieser wird aber normalerweise wieder auf dieselbe Weise begrenzt, wie er anfangs ausgelöst wurde — durch den wirtschaftlichen Prozeß, der zu einer Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums führt. In denjenigen Nationen, die sich jetzt in der Entwicklungsphase befinden und einen schnellen Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen haben, wurde der Bevölkerungswandel durch einige neuartige Erscheinungen erheblich beeinträchtigt; wir werden später noch darauf zurückkommen.

Eine Art angeborene Fortpflanzungs- oder Vermehrungstendenz ist auch den Bereichen von Wissenschaft und Technik eigen. Sie sind Teile der menschlichen Zivilisation und stellen eine ständig weiterentwickelte und wachsende Ansammlung von Fakten, Ideen und Standpunkten dar, die schriftlich fixiert werden und auf diese Weise fortbestehen. Die Gesamtheit der wissenschaftlichen Literatur und die handgreiflichen Beweise des technischen Fortschritts werden zu Ausgangspunkten weiterer Fortschritte und neuer Erkenntnisse. In diesem Sinn pflanzen sich Wissenschaft und Technik — wie die Menschheit — selbständig fort und entfalten sich, zumindest gegenwärtig noch, mit immer größerer Geschwindigkeit.

Die »Informations-Explosion« im Bereich der Wissenschaft läßt sich an der Wachstumskurve der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ablesen: Ihre Zahl verdoppelt sich heute alle fünfzehn Jahre. Die starke »Vermehrung« neuer Instrumente und Techniken, die von einer gleichsam als »Keimzelle« fungierenden ursprünglichen Erfindung — wie beispielsweise dem Transistor — ausgehen, macht deutlich, daß sich auch die Entwicklung der Technik immer mehr beschleunigt. Wissenschaft und Technik neigen gewissermaßen dazu, alle Dimensionen zu sprengen, so lange nämlich die gesellschaftlichen Faktoren, von denen sie abhängig sind, es ihnen erlauben.

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Ein solcher sich selbst beschleunigender Wachstumsprozeß ist ebenfalls charakteristisch für Industrie und Landwirtschaft. Vor allem in den modernen Industriestaaten führt der Produktionsprozeß zur Anhäufung von Kapital und Produktionsmitteln und dadurch wiederum zu einer Ausweitung der Produktion und ihrer werteschaffenden Kapazität. Alle modernen Wirtschaftssysteme sind so angelegt, daß ihre Expansionsprozesse sich selbst steuern und unterhalten. Auch diese beiden Faktoren stellen also zwei sich selbst antreibende Kräfte dar, die den Gesamtbereich menschlicher Aktivität und Produktivität beträchtlich zu erweitern streben. Ob die Wirtschaftssysteme auf die Dauer fähig sind, ein solch enormes Wachstum zu verkraften, ist eine offene Frage, auf die wir in einem der nächsten Kapitel noch zurückkommen wollen.

Wir kehren mit unserer Betrachtung nun zu dem noch verbliebenen und grundlegenden Ausschnitt des Systems Mensch/Natur zurück — zur Ökosphäre und den Bodenschätzen der Erde. Hier liegen die Dinge nun ganz anders. Dies ist zunächst einmal der einzige Teil des Gesamtsystems, der nicht vom Menschen geschaffen wurde. Er ging der Existenz menschlicher Lebewesen auf der Erde weit voraus; seine grundlegenden Eigenschaften oder Gesetzmäßigkeiten standen längst fest, als die ersten Menschen auftauchten. Und — im Gegensatz zu den »menschlichen« Teilbereichen des Systems — gehört es zu den wesentlichen Merkmalen dieses natürlichen Bereichs, daß er zu einem fortgesetzten Wachstum oder einer fortgesetzten Ausweitung nicht fähig ist.

Die Masse von Erde und Ökosphäre ist unveränderlich. Ebenso unveränderlich — innerhalb der zeitlichen Kategorien, die für das menschliche Leben gelten — ist die Menge der Sonnenenergie, die die dynamischen Prozesse in der Ökosphäre unterhält (obgleich sie natürlich mit dem Erlöschen der Sonne über einen Zeitraum von vielen Milliarden Jahren allmählich abnimmt). Darüber hinaus müssen sich Erde und Ökosphäre — weil zyklische Vorgänge das Ökosystem beherrschen — stets in einem Gleichgewichtszustand befinden. Es ist somit eine unumstößliche, naturgegebene Tatsache, daß die Grundlage der menschlichen Existenz, wie sie Biosphäre und Bodenschätze darstellen, quantitativ und funktionell begrenzt ist. Man kann darüber streiten, ob die Ökosphäre in ihrem gegenwärtigen oder in ihrem vormenschlichen, »natürlichen« Zustand bereits die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit erreicht hatte oder nun bald erreichen wird; aber daß es eine solche Grenze gibt und daß eine unbeschränkte Funktionssteigerung dieses Systems ausgeschlossen ist — daran gibt es keinen Zweifel.

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Solange sein Gleichgewicht nicht empfindlich gestört ist, erneuert sich der ökologische Gesamtzyklus unablässig aus eigener Kraft und eigenem Antrieb — zumindest in dem Zeitraum, der für die Geschichte des Menschen relevant ist. Innerhalb dieses Zeitraums unterhält er für eine mehr oder weniger unbegrenzte Dauer — als voll integrierte Komponente seines Wirkungsgefüges — auch eine gewisse Anzahl menschlicher Lebewesen. Von diesem sich selbst erneuernden Kreislauf sind die Bodenschätze jedoch ausgenommen: Sie können, wenn sie genutzt und verbraucht werden, nur ständig weiter abnehmen. Anders als die Bestandteile der Biosphäre sind Bodenschätze nicht regenerierbar. Die fossilen Brennstoffe wie Kohle, Erdöl und Erdgas wurden in der Erdrinde während einer besonderen Phase ihrer Evolution abgelagert, die sich seither nicht wiederholt hat — es sei denn, man wolle die langsame Ansammlung von äußerst geringen Ablagerungen jüngerer Brennstoffe wie Torf als etwas Vergleichbares ansehen. Werden fossile Brennstoffe erst einmal verbrannt, dann ist die Sonnenenergie, die sie vor Millionen von Jahren einfingen, unwiderruflich verloren.

Nicht erneuerungsfähig ist auch der Metallvorrat der Erde, der im Verlauf unwiederholbarer geologischer Prozesse angelegt werden konnte. Aber natürlich verbleiben die Metalle, die man aus den Erzlagern der Erde gewonnen hat — da Materie unzerstörbar ist —, nach ihrer Verwendung auf der Erde und könnten theoretisch auch von neuem verwendet werden. Wenn aber beispielsweise Eisen in Form von konzentriertem Eisenerz gefördert und zu nützlichen Produkten verarbeitet wird, die später als Rost den Erdball übersäen, dann geht dabei unwiderruflich etwas verloren, nämlich ebenfalls Energie.

Wann immer ein Stoff einer konzentrierten Form entrissen und mit anderen Substanzen vermengt wird, wird jenes Merkmal verstärkt, das man wissenschaftlich als »Entropie« bezeichnet. Und eine Zunahme an Entropie bedeutet immer auch einen Verlust an verfügbarer Energie. Das ist umgekehrt möglicherweise leichter einzusehen, denn jeder wird begreifen, daß die Herstellung eines geordneten Ganzen aus vielen verstreuten Einzelteilen Energie erfordert. (Beim Versuch, ein Puzzle zusammenzusetzen, kann der Spieler dieses Naturgesetz am eigenen Leib erfahren.) Wird von einem Erzlager Gebrauch gemacht, dann wird das Material unweigerlich zerstreut — und sei es auch nur durch den Reibungseffekt; damit nimmt aber die Verfügbarkeit des Erzes ab und kann nur dadurch wieder vergrößert werden, daß zusätzlich Energie aufgebracht wird.

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Es gibt nichts, was uns daran hindern könnte, das starke Ausmaß, in dem die meisten Metalle nach ihrer Erstverwendung verschleudert werden und der Wiederverwertung verlorengehen, zu senken. Wenn wir wollten, könnten wir beispielsweise fast das gesamte Kupfer, das aus dem Erz gewonnen und zur Herstellung irgendeines Produkts verwendet wurde, zurückgewinnen und neu verwerten, sobald dieses unbrauchbar geworden ist. Dazu ist einzig und allein erforderlich, daß diesem Metall ein genügend hoher Wert beigemessen wird. Genau das ist ja bei den Edelmetallen wie Gold und Platin auch geschehen. Demzufolge ist auch nur ein ganz kleiner Teil aller jemals geschürften Edelmetalle der Wiederverwertung verlorengegangen. Wenn alle Metalle für so wertvoll wie Gold gehalten würden, dann wäre das Problem der Erschöpfung der Mineralien für geraume Zeit gelöst. Die Erschöpfung des Metallvorrats der Erde ist eben nicht so sehr von der Menge des verbrauchten Metalls, sondern vielmehr von dem ihm zugemessenen Wert und damit dem Ausmaß seiner Wiederverwendung abhängig.

 

Wir kommen hier nun zu dem grundlegenden Paradoxon des menschlichen Lebens auf diesem Planeten: daß nämlich die Zivilisation eine Reihe zyklisch ineinandergreifender Prozesse und Faktoren umfaßt, denen allen eine »eingebaute« Wachstumstendenz eigen ist — mit einer Ausnahme: den unersetzlichen, absolut lebensnotwendigen natürlichen Hilfsquellen, die Mineralien und Ökosphäre darstellen. Es ist unvermeidlich, daß die Tendenz der von der Existenz und Aktivität des Menschen abhängigen Teilbereiche des Gesamtsystems, sich auszuweiten, mit den starren Grenzen des natürlichen Teilbereichs in Konflikt gerät. Wenn die Tätigkeit des Menschen auf der Erde, wenn unsere Zivilisation mit dem globalen Wirkungsgefüge weiter harmonieren — und erhalten bleiben — soll, dann muß sie sich offensichtlich den Bedingungen des natürlichen Sektors, der Ökosphäre, anpassen. Die Zerrüttung der Umwelt ist ein Alarmzeichen dafür, daß wir es bisher versäumt haben, diese unbedingt erforderliche Übereinstimmung herzustellen.

Soviel ist ganz deutlich, wenn man nur von dem ausgeht, was wir heute bereits über die Umweltverschmutzung wissen.

Die Fäulnis der Oberflächenwasser ist auf eine Überlastung des natürlichen, in seiner Kapazität beschränkten ökologischen Wasserzyklus zurückzuführen, die entweder direkt durch die Einleitung organischer Materie in Form von Abwässern oder Industrieabfällen oder indirekt durch die Freisetzung von Algennährstoffen erfolgt, die bei der Abwasserbehandlung entstehen oder aus überdüngten Ackerböden ausgewaschen werden. Die Wasserverschmutzung signalisiert, daß der natürliche, begrenzt leistungsfähige, die Reinigung des Wassers selbständig vollziehende ökologische Zyklus infolge von Streß zusammengebrochen ist.

In gleicher Weise signalisiert die Luftverschmutzung, daß die Reinigungskapazität des Wettersystems überfordert ist und die natürlichen Winde, Regen- und Schneefälle die Luft nicht mehr von den Schmutzstoffen befreien können, die durch menschliche Aktivität in die Atmosphäre gelangt sind. Der Verfall des Erdbodens ist ein Zeichen dafür, daß das Ökosystem dieses Naturbereichs »zu Tode gehetzt« wurde, daß dem Zyklus organische Substanzen — in Form von Nahrungsmitteln — mit einer Geschwindigkeit entzogen wurden, die die Regenerationsgeschwindigkeit des Humus weit übersteigt.

Der technische Notbehelf, die Ackerflächen mit anorganischem Dünger zu überschütten, kann zwar die Ernteerträge wieder steigern — aber nur um den Preis einer zunehmenden Verschmutzung der Oberflächenwasser.

Die Verschmutzung der Umwelt durch synthetische Stoffe, wie Schädlingsbekämpfungsmittel, Detergentien oder Kunststoffe, und durch die Verbreitung solcher Substanzen, die natürlicherweise nicht Bestandteil des Umweltsystems sind, wie Blei und künstlich hergestellte radioaktive Materialien, ist ein Zeichen dafür, daß diese Substanzen den Selbstreinigungsprozessen der Natur nicht adäquat sind, von ihnen nicht erfaßt werden können und sich daher an bestimmten Orten zum Schaden von Mensch und Natur anhäufen.

Genauso ist die Verschmutzung der Umwelt durch ein Metall wie Quecksilber — und die Erschöpfung des natürlichen Quecksilbervorrats — einzig und allein die Folge unserer Bereitwilligkeit, es zu »verlieren«, da es den gegenwärtigen wirtschaftlichen Kriterien gemäß nicht wertvoll genug ist, um zurückgewonnen zu werden.

Offensichtlich steckt hier irgendwo ein fundamentaler Fehler.

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