10 - Die gesellschaftlichen Probleme
Commoner-1971
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Die vorangehenden Kapitel dieses Buches befaßten sich mit den Ursprüngen der Umweltkrise. Die Analyse hat, glaube ich, deutlich genug gezeigt, daß diese Krise nicht das Ergebnis einer Naturkatastrophe oder gewisser fehlgelenkter biologischer Aktivitäten des Menschen ist. Die Erde ist weder deshalb verschmutzt, weil der Mensch ein besonders schmutziges Tier ist noch weil es so viele Exemplare von ihm gibt.
Der Fehler liegt in der menschlichen Gesellschaft — in der Art und Weise, wie diese Gesellschaft die Reichtümer schafft, verteilt und nutzt, die menschliche Arbeit den natürlichen Hilfsquellen dieses Planeten abgewinnt.
Wenn aber der soziale Ursprung der Krise erkannt ist, dann kann man damit beginnen, soziale Maßnahmen zu konzipieren, die geeignet wären, sie zu beheben. Das ist das Thema dieses zehnten Kapitels.
In den modernen Industriestaaten ist die Technik das wichtigste Bindeglied zwischen der Gesellschaft und dem Ökosystem, von dem sie abhängt. Es gibt genügend Beweise dafür, daß viele der neuen Techniken, die heute die Produktion in einem hochentwickelten Staat wie den Vereinigten Staaten beherrschen, mit dem Ökosystem kollidieren. Sie verschlechtern daher die Umweltqualität. Wie können wir diesem Fehler nun in der modernen Technologie Rechnung tragen?
An diesem Punkt ist es wichtig, sich den besonderen Status von Wissenschaft und Technik in unserer modernen Gesellschaft zu vergegenwärtigen. Die Technik scheint sich häufig wie eine autonome Macht zu verhalten — relativ unabhängig von den und sehr viel kompetenter als die menschlichen Wesen, die sie betreiben. So nimmt man beispielsweise im allgemeinen an, daß eine sichere Vorhersage künftiger Ereignisse die Fähigkeiten gewöhnlicher Sterblicher übersteigt. Das gilt für Technologen offenbar nicht. So sagt Simon Ramo, einer der führenden Technophilen105:
»Man stelle irgendeine Gruppe fähiger Technologen zusammen und gebe ihnen die Aufgabe, Entwicklungen auf ihrem jeweiligen Fachgebiet vorauszusagen; die Chance ist sehr groß, daß sie einen wesentlichen Teil der wichtigen Ereignisse benennen werden, die tatsächlich innerhalb des von ihnen angegebenen Zeitraums eintreten werden.«
Die Technologie, so scheint es, besitzt eine Kristallkugel — eine, die funktioniert. Einer der Gründe, weshalb die Technologen dazu neigen, der technischen Zukunft so gewiß zu sein, wurde von einem der scharfsinnigsten Beurteiler der gesellschaftlichen Bedeutung der Technik, John Kenneth Galbraith106, angedeutet, der schrieb:
»Für die moderne Technologie ist es eine Binsenwahrheit, daß sich gewisse Probleme mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit lösen lassen, auch wenn man zunächst noch keine Ahnung hat, worin diese Lösung bestehen könnte.«
Mit diesem Satz hat Galbraith die Technologie ausgezeichnet charakterisiert: Sie gründet sich auf den Glauben — an sich selbst. Tatsächlich ist ja die Macht der Technologie derart offensichtlich und überwältigend, daß sie anscheinend selbst ihre Kritiker einzuschüchtern vermag. So schreibt Jacques Ellul107, einer der schärfsten Kritiker des Einflusses der Technik auf die Wertvorstellungen des Menschen:
»Die Technik ist autonom geworden; sie hat eine alles verschlingende Welt aufgerichtet, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht und sich von aller Tradition losgesagt hat... Die Technik hat sich nach und nach alle Elemente der Zivilisation unterworfen ... Der Mensch selbst wird von der Technik überwältigt und zu ihrem Objekt gemacht.«
So scheinen sowohl die Fürsprecher der Technologie als auch diejenigen, die eine »Gegenkultur« unterstützen, die Technik als eine Art autonomen, sich selbst regierenden Moloch zu betrachten, der gegen menschliche Fehlbarkeit relativ immun und durch menschliche Willenskraft eben einfach nicht zu lenken ist. Die Bewunderer solch grenzenloser Fähigkeiten der Technik sind der Ansicht, daß die Menschheit sich ihnen anpassen müsse; so schreibt etwa Ramo108:
»Wir müssen heute einen Plan entwerfen, wie wir die Erde mit den Maschinen teilen wollen ... Wir werden zu Partnern. Die Maschinen erfordern, um ihre Leistungsfähigkeit optimal ausnutzen zu können, bestimmte gesellschaftliche Strukturen. Auch wir haben Ordnungen, die wir bevorzugen. Aber wir wollen auch bekommen, was die Maschinen liefern können, und so müssen wir einen Kompromiß schließen. Wir müssen die Funktionsregeln der Gesellschaft so verändern, daß wir und sie verträglich miteinander auskommen können.«
* (d-2015:) wikipedia Transhumanismus Heutzutage viel weiterentwickelt. Barry Commoner war 1971 hier prophetisch.
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Ramo setzt hier voraus, daß Maschinen irgendeine gänzlich unabhängige »optimale Leistungsfähigkeit« hätten, der gegenüber die Menschen nur gewisse »bevorzugte Ordnungen« in die Waagschale werfen könnten. Bei einem solchen Ungleichgewicht ist jene Art von »Kompromiß« dann unvermeidlich; Ramo verlangt, die Funktionsregeln der Gesellschaft, nicht aber die der Maschinen zu verändern.
Dem Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit, das sich bei denjenigen einstellen muß, die an den Vorrang menschlicher Werte glauben, hat Archibald MacLeish(109) bewundernswert Ausdruck verliehen:
»Nach Hiroshima war es offensichtlich, daß die Loyalität der Wissenschaft nicht der Humanität, sondern der Wahrheit - ihrer eigenen Wahrheit - gehört und daß das Prinzip der Wissenschaft nicht das Prinzip des Guten - also dessen, was die Menschheit für gut im Sinne von moralisch, anständig, human ansieht -, sondern das Prinzip des Möglichen ist. Was der Wissenschaft an neuen Erkenntnissen möglich ist, muß sie erkennen. Was der Technik an Leistungen möglich ist, wird sie leisten ... Aus der Hoffnungslosigkeit, in der wir heute versinken — einer wirklichen und entwürdigenden Hoffnungslosigkeit —, würden wir erst dann befreit sein, wenn wir wieder an uns glauben, wenn wir die Herrschaft über unser Leben und unsere Mittel wieder selbst übernommen haben.«
Vor diesem Hintergrund ist es von besonderer Bedeutung, daß die Fehlbarkeit der Technologie sich als ein Kernproblem der Umweltkrise erwiesen hat. Als Präsident Nixon die Leute, die ihn aufgrund seiner programmatischen Erklärungen zur Frage der »Verbrechen auf unseren Straßen« gewählt hatten, damit überraschte, daß er seine erste Botschaft an die Nation hauptsächlich der Umweltkrise widmete, schlug er daher auch vor, die Krise dadurch zu beheben, daß man Energien »aus demselben Reservoir schöpferischen Geistes« mobilisiere, »das diese Probleme in erster Linie geschaffen« habe.110.
Während Präsident Nixons Erklärung als Bestätigung des ökologischen Versagens der modernen Technologie — das wir in den voranstehenden Kapiteln ausführlich belegt haben — sehr willkommen ist, scheint es uns doch klüger, den von ihm vorgeschlagenen Weg zu einer Lösung des Problems etwas genauer zu betrachten. Denn wenn der Technologie in der Tat die Schuld an der Umweltkrise zuzuschreiben ist, dann wäre es nur vernünftig, zunächst aufzudecken, inwiefern ihr »schöpferischer Geist« uns im Stich gelassen hat, und diesen Mangel zu korrigieren, bevor wir unser künftiges Leben und Überleben wieder dem Glauben der Technologie an sich selbst anvertrauen.
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Wollen wir besonnen vorgehen, dann studieren wir also zunächst die Liste der vergangenen technologischen Errungenschaften und suchen herauszufinden, warum sie in der Umwelt so häufig versagt haben.
Die Technologie der Abwasseraufbereitung ist hierfür ein gutes Beispiel.
Das grundlegende Problem dabei haben wir bereits beschrieben. Wenn die Abwässer, die eine beträchtliche Menge organischen Materials enthalten, in einen Fluß oder See gepumpt werden, rufen sie einen ungewöhnlich hohen Bedarf an Sauerstoff hervor, da dieses Element von den Bakterien für die Umwandlung des organischen Materials in anorganische Abbauprodukte benötigt wird. Durch ein solches Vorgehen werden die Sauerstoffvorräte der Oberflächenwasser im allgemeinen erschöpft, die Zersetzungsbakterien abgetötet und damit der Selbstreinigungszyklus des Wassers zum Stillstand gebracht.
Da tritt der Hygienetechniker auf den Plan. Als erstes definiert er das technologische Problem: Wie kann der Sauerstoffbedarf der Abwässer vermindert werden, bevor sie ins Oberflächenwasser gelangen? Als nächstes zeigt er entsprechende Methoden auf: Die Zersetzungsbakterien werden unter Kontrolle gebracht, indem man sie in einer Kläranlage zusammenhält und künstlich soviel Sauerstoff zuführt, wie es der Eingangsmenge organischen Materials jeweils entspricht. Was aus der Kläranlage freigesetzt wird, sind dann im wesentlichen nur noch die anorganischen Rückstände der bakteriellen Tätigkeit. Da mit diesen kein Sauerstoffbedarf mehr verbunden ist, ist das Problem — so wie es gestellt wurde — gelöst; die moderne Technik der Abwasserbehandlung ist geboren.
Das ist in knappen Zügen das technologische Szenario, eine Geschichte, die — sozusagen zur Bestätigung des Glaubens an die Allmacht der Technik — mit einem Happy-End auszugehen scheint. Leider läßt sich die Inszenierung hinter der Bühne — in den natürlichen Gewässern — nicht ganz so gut an. Die behandelten Abwässer sind ja nun mit anorganischen Abbauprodukten — mit Kohlendioxyd, Nitraten und Phosphaten — angereichert, die im natürlichen Wasserzyklus das Algenwachstum begünstigen. Da die Algen nun intensiv gedüngt werden, treiben sie ungestüm »Blüten«, sterben dann schnell ab und setzen damit organische Materie frei, die nun den Sauerstoffbedarf neu entstehen läßt, den der Klärtechniker gerade beseitigt zu haben glaubte.
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Seine »erfolgreiche« Lösung des Problems ist überhaupt keine. Die Ursache seines Versagens ist klar: Der Technologe definierte sein Problem zu eng, da sich sein Gesichtskreis nur über einen Teilbereich dessen erstreckte, was in der Natur als unendlicher Kreislauf vorliegt und zusammenbricht, wenn es an irgendeinem Punkt übermäßig beansprucht wird. Derselbe Fehler liegt auch in anderen Fällen vor, in denen die moderne Technologie in ökologischer Hinsicht versagt hat: Beachtung nur eines einzigen Aspekts eines höchst komplexen natürlichen Sachverhalts.
Betrachten wir noch ein weiteres Beispiel: Detergentien.
Hier bestand das technologische Ziel einzig und allein darin, ein synthetisches Reinigungsmittel zu finden, das die Seife ersetzen konnte. Die Forschungsarbeiten für die ursprünglichen synthetischen Waschmittel orientierten sich dementsprechend nur an solchen Fragen, die für dieses Ziel relevant waren: Hat das Detergens eine ausreichende Waschkraft? Ist es mild genug für die Hände der Hausfrauen? Macht es die Wäsche »weißer als weiß«? Kann man es verkaufen?
Niemand fragte danach, was mit dem Detergens geschähe, sobald es ins Kanalisations- und endlich ins Ökosystem hineingespült würde. Zahlreiche Tests, in denen man die »Verbrauchereignung« der neuen Waschmittel prüfte, wurden vorgenommen. Aber die »Endverbraucher«, die Bakterien in den Oberflächenwassern, Kläranlagen und Rieselfeldern wurden ignoriert. Das Ergebnis war ein technologischer Fehlschlag, denn die anfänglichen, nichtzersetzbaren Detergentien mußten vom Markt zurückgezogen werden.
Aber selbst diese traurige Erfahrung konnte die Waschmitteltechnologen nicht davon abhalten, weiterhin derart engstirnig vorzugehen. Ich erinnere mich an einen Vortrag über das Problem der Eutrophierung, den ich vor einigen Jahren vor einer Gruppe von Chemieingenieuren hielt. Nachdem ich darauf hingewiesen hatte, wie heftig das Algenwachstum durch Nitrate und Phosphate angeregt würde und wie wichtiges daher sei, die Phosphate aus den Detergentien zu entfernen, meldete sich ein Angestellter einer großen Waschmittelfabrik zu Wort. In seiner Firma, so sagte er, würde intensiv nach einem Ersatz für den Phosphatzusatz gesucht. Als ich ihn fragte, ob diese Forschungsarbeiten bereits irgendwelche geeigneten neuen Möglichkeiten aufgezeigt hätten, antwortete er eifrig: »Ja, ein Polynitrat.«
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Später begann die Industrie tatsächlich Anlagen aufzubauen, in denen NTE, ein Phosphatersatz auf Nitratbasis, hergestellt werden sollte; das Projekt wurde freilich sofort aufgegeben, als sich herausstellte, daß NTE bei Versuchstieren Mißbildungen hervorrief. Auch als man die Waschmittelhersteller aufforderte, ihre nichtabbaubaren Detergentien durch andere zu ersetzen, konzentrierten sie sich ausschließlich auf dieses Problem: Da die Bakterien verzweigte Molekülketten nicht »knacken« konnten, meinten sie, nun unverzweigte und damit abbaubare Detergentien herstellen zu müssen. Dabei übersahen sie die Benzolringe, die an dem neuen Molekül hafteten — und im Oberflächenwasser zu Phenol, einer giftigen Substanz, umgewandelt werden können.
Die Flintenrohrperspektive der Technologie ist ebenfalls für das Düngemittelproblem verantwortlich. Hier verfolgte man allein das Ziel, die Agrarerträge zu steigern; dem Schicksal des überschüssigen Nitrats im Ökosystem wurde keinerlei Beachtung geschenkt — bis die dadurch verursachte Verschmutzung der Oberflächenwasser schließlich eingetreten war.
Bei den Pestiziden war man nur darauf aus, die Schadinsekten zu vernichten, und ignorierte die unvermeidlichen Auswirkungen auf die Feinde dieser Insekten (die deren Population natürlicherweise unter Kontrolle halten), auf die sonstige Tierwelt und auf den Menschen.
Das moderne Hochleistungsauto ist ein Denkmal für jene zielbewußte Technik, der es kaum nach etwas anderem verlangte als nach immer stärkeren Motoren — wobei die unvermeidlichen Umweltfolgen, die die schädlichen Verbrennungsprodukte aus Motoren mit hoher Kompression zeitigen mußten, geflissentlich übersehen wurden.
Synthetische Kunststoffe sind das Endergebnis eines ungeheuren Aufwands an Forschung und Entwicklung, die sich beide ausschließlich auf die jeweilige Verwendungsmöglichkeit des gewünschten Plastikmaterials konzentrierten: als Kunstfaser, Behälter oder Verpackungsmaterial. Niemand verschwendete einen Gedanken an die Zukunft dieser Kunstprodukte, die erst dann begann, wenn sie unbrauchbar geworden waren und der Umwelt zur Last fielen.
Mit dem Assuandamm — wie mit vielen anderen Großprojekten der Technik — plante man nur, Energie zu erzeugen und Wasser für den ständigen Betrieb einer riesigen Bewässerungsanlage zu speichern; die Auswirkung der Berieselungsgräben auf die Verbreitung der Bilharziose, einer schweren Wurmkrankheit, wurde außer acht gelassen.
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In der chemischen Industrie führte man Quecksilber ein, um die besonderen elektrischen und chemischen Eigenschaften dieses Elements auszunützen; daß Quecksilberabfälle das Ökosystem des Wassers durchwandern und sich in den Fischen anreichern würden, erlebte man als eine plötzliche und unangenehme Überraschung.
Kernwaffen wurden als Explosivstoffe konzipiert und konstruiert; lange Zeit — nämlich bis sie durch äußeren Druck dazu gezwungen wurden — versuchten die verantwortlichen Behörden die Tatsache zu ignorieren, daß sie nicht nur einen neuen Sprengkörper, sondern das Instrument einer weltweiten ökologischen Katastrophe geschaffen hatten.
All diese Verschmutzungsprobleme rühren nicht von irgendwelchen kleinen Unzulänglichkeiten in den neuen Technologien her, sondern gerade daher, daß sie die in sie gesetzten Erwartungen vollkommen erfüllen. Eine moderne Kläranlage verursacht Algen-»Blüten« und Wasserverschmutzung, weil ihre Abflüsse so viele Pflanzennährstoffe enthalten, wie sie enthalten sollen. Die modernen, hochkonzentrierten Stickstoffdünger schwemmen so viel Nitrat in Flüsse und Seen, weil sie das Ziel, den Nährstoffgehalt des Bodens zu erhöhen, tatsächlich verwirklichen. Der moderne, hochverdichtende Benzinmotor trägt zur Smogbildung und Nitratverschmutzung bei, weil er der Konzeption eines Hochleistungsmotors vollkommen entspricht. Die modernen künstlichen Insektizide töten Vögel, Fische und nützliche Insekten gerade deshalb, weil die Insekten sie leicht aufnehmen und an ihnen zugrunde gehen — genau, wie es erwünscht ist. Die modernen Kunststoffe verschandeln die Landschaft, eben weil sie unnatürliche, künstliche Substanzen sind, die dem biologischen Abbau gegenüber resistent sind — also aufgrund derselben Eigenschaften, auf denen ihr technologischer Wert beruht.
Wir ahnen jetzt, wie der Widerspruch zwischen der angeblichen Unfehlbarkeit der Technologie und ihren offensichtlichen Mängeln im Rahmen der Umwelt zu erklären ist. Die neuen Technologien wiesen in der Tat keine Mängel auf, solange man sie an den in sie gesetzten Erwartungen maß. So erfüllte die Kernwaffentechnik geradezu brillant die in sie gesetzte Erwartung, Bomben ungeheurer Gewalt explodieren zu lassen; Tausende japanischer Gräberund die Radioaktivität unserer Knochen sind der beste Beweis dafür.
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Auch die moderne Kläranlage ist ein großartiger Erfolg, denn schließlich erreicht man mit ihrer Hilfe tatsächlich das Ziel, den biologischen Sauerstoffbedarf der Abwässer zu reduzieren. Ebenso erfüllt der Stickstoffdünger den Zweck, für den er geschaffen wurde: höhere Ernteerträge. Und niemand würde bestreiten, daß synthetische Pestizide Insekten töten, synthetische Waschmittel Wäsche waschen und Plastiktüten plastisch und haltbar sind.
Somit wird deutlich, daß wir es nicht mit irgendeinem Fehler in der Technologie zu tun haben, der nur gleichzeitig oder neben ihren wertvollen Eigenschaften auftritt, sondern mit einem Fehler, der gerade darauf beruht, daß sie im Bereich der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion einen Erfolg darstellt.
Wenn das ökologische Fiasko der modernen Technologie aber auf dem Erfolg beruht, mit dem sie die ihr gesetzten Ziele verfolgt, dann muß der Fehler offenbar bei diesen Zielen liegen.
Weshalb sollte die moderne Technologie ausgerechnet Ziele verfolgen, die vom ökologischen Standpunkt aus derart verfehlt sind? Wir können hier wieder Galbraith zu Hilfe rufen. Er definiert Technologie — besonders im Hinblick auf die Produktion — folgendermaßen111:
»Technologie ist die systematische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder anderen organisierten Wissens bei praktischen Aufgaben. Ihre wichtigste Folge, jedenfalls in ökonomischer Hinsicht, ist die Teilung und Unterteilung solcher Aufgaben in ihre einzelnen Komponenten. Nur so kann organisiertes Wissen praktisch verwertet werden.
Es ist beispielsweise unmöglich, organisiertes Wissen bei der Produktion des ganzen Automobils oder auch nur bei der Herstellung eines Rahmens oder Chassis zur Anwendung zu bringen. Die Anwendungsmöglichkeit beginnt erst dann, wenn eine bestimmte Aufgabe so weit unterteilt ist, daß die einzelnen Teilgebiete in den Bereich festumrissener Sachgebiete der Wissenschaft und Technik fallen. Metallurgische Erkenntnisse lassen sich nicht für die Herstellung des gesamten Fahrzeugs verwerten, wohl aber für die Gestaltung des Kühlsystems oder des Motorblocks. Spezialwissen auf dem Gebiet der Mechanik nützt nichts bei der Herstellung des ganzen Fahrzeugs, wohl aber bei der Entwicklung der Kurbelwelle. Die Chemie vermag nichts über die Zusammensetzung des gesamten Fahrzeugs auszusagen, man kann sie aber zu Rate ziehen, wenn es um die Zusammensetzung des Lacks geht... Die Notwendigkeit, Aufgaben immer weiter zu unterteilen, dann Spezialwissen auf die Teilgebiete anzuwenden und schließlich die fertigen Elemente der Aufgabe wieder zu einem Gesamtprodukt zusammenzufügen, ist der Ausgangspunkt fast aller Konsequenzen der Technologie und bestimmend für das Bild der modernen Industrie.«
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Nun ist der Grund für das ökologische Fiasko der Technologie klar ersichtlich:
Anders als das Automobil, kann das Ökosystem nicht in handliche Teilbereiche untergliedert werden, denn seine besonderen Eigenschaften beruhen ja gerade auf dem Ganzen, auf den Verbindungen, die zwischen seinen Teilen bestehen. Jeder Prozeß, der verlangt, daß man es nur mit einzelnen Teilen zu tun habe, muß bei diesem System versagen. Der Vorgang, den Galbraith schildert — wie die moderne Technologie bei der Herstellung eines Autos zur Anwendung kommt: nämlich Bruchstück für Bruchstück —, dieser Vorgang ist genau derselbe, der zu jener Reihe grober Fehler geführt hat, die schließlich die Umweltkrise entstehen ließen. Er erklärt, warum die Technologie ein brauchbares Düngemittel, ein leistungsstarkes Auto oder eine hochwirksame Atombombe zustande bringen kann.
Aber da die Technologie, wie sie gegenwärtig »konstruiert« ist, nicht mit dem ganzen System fertig werden kann, auf das Düngemittel, Kraftfahrzeuge oder Atombomben einwirken, sind verheerende ökologische Überraschungen — Wasserverseuchung, Smog und weltweite radioaktive Niederschläge — unvermeidlich. Das ökologische Fiasko ist offensichtlich eine notwendige Folge der Natur der modernen Technologie, wie Galbraith sie definiert hat. Fügt man dem noch den Glauben hinzu, daß Probleme sich lösen lassen, »auch wenn man zunächst noch keine Ahnung hat, worin diese Lösung bestehen könnte«, wird es vollends klar, warum wir im Zeitalter der Technologie blind und massiv auf die Natur einwirken konnten, bevor wir uns der Konsequenzen einer solchen Handlungsweise bewußt waren. In der Vorstellung von Laien gleicht die Technologie häufig einem modernen Hexenmeister, einer Art wissenschaftlichem Zauberer. Es hat jedoch den Anschein, als wäre sie nicht so sehr ein Zauberer als vielmehr ein Zauberlehrling.
An diesem Punkt ist es vielleicht ganz nützlich, wenn man aufzeigt, daß eine wissenschaftlich entsprechend fundierte und angeleitete Technologie sich innerhalb des Ökosystems durchaus bewähren kann, wenn ihre Ziele auf das System als Ganzes gerichtet sind, anstatt auf irgendeinen scheinbar leicht zugänglichen Teilbereich.
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Betrachten wir doch noch einmal die Abwasserbeseitigung.
Eine vom ökologischen Gesichtspunkt vernünftige Technologie würde mit einer Definition des natürlichen Prozesses beginnen, der zur »Beseitigung« organischer Abfallprodukte wie der Abwässer führt. Dies ist selbstverständlich das terrestrische Ökosystem, das die organische Materie in den natürlichen Nährstoffzyklus reintegriert. In Anbetracht der Tatsache, daß viele Menschen heute nicht mehr in enger Verbindung mit dem Erdboden leben, sondern sich in den Städten zusammenballen, bestünde die ökologisch angemessene Methode, die Abwässer aus den Städten zu entfernen, offensichtlich darin, sie wieder dem Erdboden zuzuführen.
Nehmen wir also an, die Abwässer würden — statt, wie es jetzt der Fall ist, in das Oberflächenwasser geleitet zu werden — mittels Rohrleitungen aus einer städtischen Sammelanlage auf landwirtschaftlich genutztes Gebiet geleitet werden, wo sie — nach entsprechenden Sterilisationsmaßnahmen — dem Erdboden zugeführt würden. Die Pipeline würde dann die Stadtbevölkerung buchstäblich in den ökologischen Bodenzyklus reintegrieren. Dadurch wäre die Geschlossenheit dieses Zyklus wiederhergestellt, und der Bedarf an anorganischem Stickstoffdünger (der ja auch den Wasserzyklus belastet) aufgehoben. Die städtische Bevölkerung stünde nicht mehr außerhalb des Bodenzyklus und wäre daher nicht in der Lage, entweder den Bodenzyklus biologisch negativ oder den Wasserzyklus biologisch positiv zu belasten. Diese Situation, in der die Umweltbelastung gleich Null wäre, wird, wohlgemerkt, nicht dadurch erreicht, daß man primitive Lebensbedingungen wiederherstellt: Nicht die Menschen müssen auf das Land zurückgebracht werden, sondern die Abwässer. Dazu wäre ein neuer Fortschritt der Technologie erforderlich: die Konstruktion eines Abwasser-Pipeline-Systems.
Der Fortbestand eines funktionsfähigen Ökosystems bedeutet keine Absage an die Technologie. Er macht es vielmehr notwendig, daß die Technologie von einer wissenschaftlichen Analyse hergeleitet wird, die den Verhältnissen in der Natur, auf die diese Technologie ja Einfluß nimmt, angemessen ist.
Das legt den Gedanken nahe, daß hinter den ökologischen Fehlkonzeptionen der modernen Technologie entsprechende Fehlkonzeptionen ihrer wissenschaftlichen Grundlage stecken. Denn, um noch einmal Galbraith zu zitieren, die bruchstückhafte Natur der Technologie ist durch die Notwendigkeit bedingt, die Aufgabe der Technologie soweit zu unterteilen, »daß die einzelnen Teilgebiete in den Bereich festumrissener Sachgebiete der Wissenschaft und der Technik fallen«.
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Der Fehler in der Technologie scheint also von der bruchstückhaften Natur ihrer wissenschaftlichen Grundlage herzurühren.
Und in der Tat weist das System unserer Wissenschaft — und das sich daraus ergebende Verständnis der Natur — einen spezifischen Fehler auf, der, wie ich glaube, das ökologische Fiasko der Technologie zu erklären hilft. Dieser grundsätzliche Fehler besteht im »Reduktionismus«, in der Vorstellung also, daß man zu einem effektiven Verständnis eines komplexen Systems gelangen kann, indem man die Eigenschaften seiner voneinander isolierten Teilbereiche untersucht. Der reduktionistische Ansatz, der für den Großteil der modernen Forschung überaus charakteristisch ist, stellt jedoch keine effektive Methode dar, um die riesigen natürlichen Systeme zu analysieren, die heute vom Zerfall bedroht sind.
Beispielsweise belasten die Wasserverunreinigungen ein bestimmtes ökologisches Gesamtgefüge sowie die zahllosen Organismen, die daran beteiligt sind; die Auswirkungen auf das ganze natürliche System können aber nicht erkannt oder verstanden werden, wenn man im Labor nur Reinkulturen einzelner Organismen studiert. Der führende Vertreter des entgegengesetzten Ansatzes, des Holismus (oder der Ganzheitstheorie), ist Rene Dubos von der Rockefeller-Universität, der ausgezeichnete Untersuchungen über das Abhängigkeitsverhältnis von Mensch und Natur vorgelegt hat.112.
Der reduktionistische Ansatz hat eine ausgesprochen nachteilige Wirkung auf unsere Kenntnisse von den biologischen Systemen gehabt, die heute Umweltgefahren ausgesetzt sind. Die Biologie hat sich in den Vereinigten Staaten zu einer blühenden und großzügig unterstützten Wissenschaft entwickelt; sie liefert Berge neuer Erkenntnisse und eine Vielzahl frisch ausgebildeter Wissenschaftler, die ihre neue Methode vorzüglich beherrschen. Aber die biologische Forschung wird heute von der Überzeugung geleitet, daß der fruchtbarste Weg zu einem Verständnis des Lebens darin bestünde, einen spezifischen Vorgang auf molekularer Ebene zu entdecken, der dann mit »dem Mechanismus« eines bestimmten biologischen Prozesses gleichgesetzt werden kann.
Die komplexe Biologie des Erdbodens oder das empfindliche Gleichgewicht des Stickstoffzyklus in einem Gewässer — Phänomene, die nicht auf einfache molekulare Mechanismen zu reduzieren sind — werden heute oft als uninteressante Forschungsobjekte irgendeiner altertümlichen Zunft angesehen.
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Im reinen Glanz der Molekularbiologie erscheint das Studium der Biologie der Abwässer als langweilige und widerliche Übung, die kaum der Aufmerksamkeit eines »modernen« Biologen wert ist.
Auf diese Weise erklärt sich zu einem Teil auch der merkwürdige Widerspruch im Status der Umweltwissenschaft in den Vereinigten Staaten. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die biologische Forschung einen beispiellosen Aufschwung genommen; dennoch wissen wir bis heute erstaunlich wenig von den tiefgreifenden Veränderungen, die während desselben Zeitraums mit unseren biologischen Umweltverhältnissen erfolgt sind. So fehlen uns beispielsweise länger zurückreichende Angaben über die Konzentration von Blei, Quecksilber, Kadmium und anderen metallischen Verunreinigungen in Boden, Wasser und Luft; Messungen von Smog und anderen städtischen Luftverunreinigungen erfolgen auf nationaler Ebene erst seit kurzer Zeit und noch immer in ungenügender Form. Ohne solche Ausgangswerte ist die Beurteilung der gegenwärtigen Verschmutzungspegel schwierig.
Ich habe einmal einen der für die Forschung zuständigen Regierungsbeamten gebeten, mir diesen Mangel zu erklären. Die Antwort war geradeheraus: Vorschläge, den Grad der verschiedenen Formen von Umweltverschmutzung zu messen, seien fast immer unter der Rubrik »Forschung des Fußvolks« abgelehnt worden. Was hätten solche Daten denn schließlich auch zum »Grundlagen«-Wissen der Biologie beitragen können, worunter man immer nur Theorien auf molekularer Ebene verstand, die ausschließlich aus Daten von Reagenzglasversuchen hervorgegangen waren?
Glücklicherweise hat sich die National Science Foundation als direkte Reaktion auf die Umweltkrise in den letzten Jahren dafür stark gemacht, eine völlig neue Art von Forschungsprogrammen zu subventionieren: Research Applied to National Needs (auf nationale Bedürfnisse bezogene Forschung). Daß wir heute ein größeres Forschungsprogramm im Hinblick auf unsere »nationalen Bedürfnisse« entwickeln müssen, ist ein tragischer Beweis dafür, daß frühere Programme an ihnen vorübergegangen sind.
Reduktionismus beschränkt sich aber nicht nur auf den Bereich der Biologie; er ist vielmehr die herrschende Anschauungsweise in der modernen Wissenschaft überhaupt. Das führt dazu, daß Soziologen sich häufig veranlaßt sehen, Psychologen zu werden, Psychologen Physiologen, Physiologen Zellforscher, Zellforscher sich zu Chemikern wandeln, Chemiker zu Physikern und Physiker zu Mathematikern.
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Der Reduktionismus tendiert dazu, die wissenschaftlichen Disziplinen voneinander zu isolieren und alle zusammen von der wirklichen Welt. In jedem Fall scheint sich die betreffende Disziplin von der Beobachtung des natürlichen, realen Objekts weiter zu entfernen: So neigen eben beispielsweise die Biologen dazu, nicht den lebenden Organismus in seiner natürlichen Erscheinungsweise zu studieren, sondern dessen Zellen und schließlich nur noch die aus ihnen isolierten Moleküle. Ein Ergebnis dieses Ansatzes besteht darin, daß die Kommunikation der verschiedenen Disziplinen untereinander erschwert ist, es sei denn, man reduzierte den Gegenstand auf den jeweils einfachsten gemeinsamen Nenner; ein Biologe kann sich etwa nur dann mit einem Chemiker unterhalten, wenn er sein analytisches biologisches Problem zu einem molekularen verkürzt.
Es ist jedoch wahrscheinlich, daß das Problem dabei für die Realität gänzlich irrelevant wird. Daß die Kommunikation zwischen derart spezialisierten Grundlagenwissenschaften versagt, ist ein wichtiger Grund dafür, daß wir solche Schwierigkeiten haben, unsere Umweltprobleme zu verstehen. Die Chemiker beispielsweise, die die Methoden entwickelten, mit deren Hilfe man Detergentien mit verzweigten Ketten synthetisieren kann, hätten im voraus wegen dieser sich letztlich als grundlegender Fehler erweisenden Eigenschaft ihrer Produkte gewarnt werden können, wenn sie in engem Kontakt mit Biochemikern gestanden hätten — die bereits wußten, daß derlei verzweigte Moleküle dem enzymatischen Abbau gegenüber resistent sind und daher in den Kanalisationssystemen unbeschadet weiterbestehen würden.
Der Reduktionismus hat auch dazu beigetragen, die wissenschaftlichen Disziplinen von den Problemen zu isolieren, die die Lebensverhältnisse des Menschen berühren. Solche Probleme — wie etwa der Verfall der Umwelt — sind mit von Natur aus sehr komplexen Systemen verknüpft. Das Leben, wie wir es leben, kann eine einzelne akademische Disziplin nicht erfassen. Die wirklichen Probleme, die in unser Leben eingreifen und mit dem, was wir als Werte anerkennen, in Konflikt geraten, lassen sich recht selten in die säuberlich voneinander getrennten Kategorien des Vorlesungsverzeichnisses — wie Physikalische Chemie, Kernphysik oder Molekularbiologie — einordnen.
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Wollen wir zum Beispiel den erschreckenden Verfall unserer Städte voll erfassen, dann müssen wir nicht nur die Gesetze von Wirtschaft, Architektur und Sozialplanung kennen, sondern auch die Physik und Chemie der Luft, die Biologie von Wassersystemen und die Ökologie der Hausratte und der Küchenschabe. Mit einem Wort, wir müssen von Wissenschaft und Technologie das verstehen, was für die menschlichen Lebensverhältnisse relevant ist.
Wir, die wir zu dem Kreis der Wissenschaftler gehören, sind jedoch mit einer ganz anderen Tradition aufgewachsen. Wir sind mit Recht stolz auf unsere intellektuelle Unabhängigkeit — denn wir müssen oft genug darum kämpfen, daß sie erhalten bleibt — und auf unser Wissen, wie unabdingbar diese Unabhängigkeit für die Suche nach der Wahrheit ist. Manchmal jedoch neigen Wissenschaftler dazu, intellektuelle Unabhängigkeit als eine Art obligatorischer Umgehung aller Probleme, die nicht in ihrem eigenen Kopf aufgetaucht sind, auszulegen, eine Haltung, die sie von den wirklichen und dringenden Bedürfnissen der Gesellschaft — und oft auch von ihren Studenten — isoliert. Das Ergebnis ist, daß sich die Wissenschaft allzuweit von den realen Problemen der Welt entfernt hat und ein schlechtes Hilfsmittel geworden ist, um die Gefahren, die ihrem Fortbestehen drohen, zu verstehen.
Den Ursprung der Umweltkrise können wir nun durch die folgende Kausalkette beschreiben: Der Verfall der Umwelt ist weitgehend auf die Einführung neuer Produktionstechniken in Industrie und Landwirtschaft zurückzuführen. Diese sind ökologisch mangelhaft, weil sie nur zur Lösung einzelner, isolierter Probleme entwickelt wurden und nicht die unvermeidlichen »Nebenwirkungen« berücksichtigten, die auftauchen müssen, weil in der Natur kein Teil gesondert vom ökologischen Gesamtgefüge existiert. Die bruchstückhafte Anlage der Technologie reflektiert wiederum nur ihre wissenschaftliche Grundlage, denn die Wissenschaft ist in Disziplinen untergliedert, die weitgehend von der Anschauung beherrscht werden, komplexe Systeme könnten nur dann verstanden werden, wenn sie zunächst in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt würden. Dieses reduktionistische Vorurteil hat auch dazu beigetragen, die Grundlagenwissenschaften gegenüber den Problemen des wirklichen Lebens — wie etwa der Zerrüttung der Umwelt — abzuschirmen.
Die Isolierung der Wissenschaft von solchen praktischen Problemen hat aber noch eine weitere unglückliche Folge. Die meisten Menschen interessieren sich weniger für die Wissenschaft als dafür, welche praktischen Auswirkungen sie auf ihr tägliches Leben hat.
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Und die Trennung zwischen der Wissenschaft und den Problemen, die die Menschen unmittelbar berühren, hat dazu geführt, daß die meisten Menschen nur über ganz beschränkte Kenntnisse von den wissenschaftlichen Hintergründen der Umweltprobleme verfügen. Solche öffentliche Informiertheit ist aber unabdingbar für die Lösung eines jeden Umweltproblems, denn diese hängt ja nicht nur von wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern letzten Endes immer von der Öffentlichen Meinung ab, die die Wohltaten einer speziellen Technik gegenüber den damit verbundenen Umweltrisiken abzuwägen hat.
In der Tat sieht sich der Bürger heute vor eine grundsätzliche Frage in bezug auf die modernen Technologien gestellt: Machen sie sich überhaupt bezahlt? Diese Frage ist entscheidend, ob wir sie nun ganz direkt auf Gewinn oder Verlust im wirtschaftlichen Sinn oder mehr abstrakt auf das soziale Wohlergehen der Menschen beziehen. Früher oder später muß jede menschliche Bemühung — sofern sie fortgeführt werden soll — die simple Prüfung bestehen, die da lautet: Lohnt sich der Aufwand?
Es könnte scheinen, als sei diese Frage in bezug auf die meisten Umweltprobleme bereits beantwortet. Schließlich sind die Elektrizitätsgesellschaften offensichtlich mehr darauf erpicht, Kraftwerke zu errichten, die mit nuklearen, als solche, die mit fossilen Brennstoffen arbeiten, und die Bauern verwenden schnell jedes neue Schädlingsbekämpfungs- und Düngemittel, das auf den Markt kommt. Anscheinend sagt ihnen ihre Kostenberechnung, daß sie mit Hilfe der neuen Technologien die bestmögliche Spanne zwischen Kosten und Einkünften erzielen. Die Umweltkrise sagt uns jedoch, daß diese Berechnungen unvollständig sind, daß also gewisse Kosten noch nicht in Rechnung gestellt werden.
Denn was kostet es beispielsweise wirklich, ein Kraftwerk mit Kohlenfeuerung in einem Stadtgebiet zu betreiben? Die augenfälligen Kosten wie Kapitalaufwand, Instandhaltungs-, Betriebskosten und Steuern, sind natürlich wohlbekannt. In jüngster Zeit hat man jedoch noch andere Kosten entdeckt und begonnen, ihnen einen Barwert beizumessen. Wir wissen heute, daß ein Kohlenkraftwerk nicht nur Elektrizität produziert, sondern auch eine ganze Reihe weniger wünschenswerter Dinge: Rauch und Ruß, Schwefel- und Stickstoffoxyde, Kohlendioxyd, verschiedene organische Verbindungen sowie Abwärme.
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Dies alles sind keine Güter; sie verursachen ausschließlich irgend jemandem irgendwelche Kosten. Rauch und Ruß erhöhen die Rechnungen, die wir für Wäscherei und Reinigungen zu bezahlen haben; Schwefeloxyde erhöhen die Kosten für die Gebäudeunterhaltung; für organische Schmutzstoffe zahlen wir den Preis einiger Fälle von Lungenkrebs — und zwar nicht nur in Dollar, sondern auch in menschlichem Leiden.
Von diesen Kosten können einige in Geldbeträgen ausgedrückt werden. Der öffentliche Gesundheitsdienst der Vereinigten Staaten schätzt die Gesamtkosten der Luftverschmutzung auf jährlich etwa 60 Dollar pro Person113. Ungefähr ein Drittel der städtischen Luftverschmutzung ist auf die Elektrizitätsgewinnung mittels fossiler Brennstoffe zurückzuführen, was einen jährlichen Betrag von 20 Dollar pro Person bedeutet. Das heißt, daß in der Stadt auf jede vierköpfige Familie zusätzlich zu den reinen Kosten der Elektrizitätsgewinnung ein jährlicher Betrag von ungefähr 80 Dollar entfällt — eine im Verhältnis zu der jährlichen Elektrizitätsrechnung ansehnliche Summe.
Der wesentliche Punkt an dieser Berechnung ist augenfällig. Die versteckten Kosten der Energiegewinnung — wie beispielsweise die Luftverschmutzung — sind gesellschaftlicher Art; sie werden nicht von dem einzelnen Produzenten, sondern von der Öffentlichkeit getragen. Um die wirklichen Kosten aufzudecken, die die vielen Wohltaten der modernen Technologie verursachen, muß man die versteckten sozialen Kosten ausmachen und abschätzen, die sich in Form der Umweltverschmutzung bemerkbar machen.
Jede Entscheidung, von der die Umwelt berührt wird, erfordert daher ein Abwägen zwischen dem Nutzen und den Gefahren, die sie erbringen kann. Die offizielle politische Linie, die in den Vereinigten Staaten hinsichtlich der erlaubten Strahlenbelastung der Allgemeinbevölkerung durch den Einsatz von Kernkraft zu verschiedenen Zwecken verfolgt wird, verleiht diesem Prinzip Ausdruck:
»Die Festlegung von Strahlenschutzrichtlinien erfordert ein Abwägen der Vorteile, die aus der kontrollierten Anwendung radioaktiver Strahlung und atomarer Energie gezogen werden können, gegenüber dem Risiko der Strahlenexposition. Dieser Grundsatz beruht auf dem Standpunkt, den sich der <Federal Radiation Council> zu eigen gemacht hat und der besagt, daß jede Strahlenexposition ein gewisses Risiko mit sich bringt, dessen Höhe mit der Dauer und Intensität der Exposition ansteigt ... die verschiedenartigen Vorteile, die — nach Schätzung einer geeigneten Gruppe von Verantwortlichen — als Ergebnis der Exposition erwartet werden können, müssen gewichtiger sein als die potentielle Gefahr oder das Risiko.«
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Auf dieser Grundlage hat es sich die Regierung zum Prinzip gemacht, daß eine gewisse Strahlenbelastung — bei der Schilddrüse beispielsweise 10 rad — für die Allgemeinbevölkerung »annehmbar« sei. Da aber eben jede Erhöhung der Strahlenbelastung das Gesundheitsrisiko vergrößert, ist auch eine Dosis von 10 rad auf die Schilddrüse mit einem ganz bestimmten Risiko verbunden. Es gibt Schätzungen, wonach diese Dosis die Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs in der Gesamtbevölkerung verzehnfachen könnte; andere kommen zu einem nur 50-prozentigen Anstieg115.
Wenn wir also als Preis für die Kernkraft akzeptieren, daß die Bürger unseres Landes ihre Schilddrüsen einer Dosis von 10 rad aussetzen, dann werden in jedem Fall irgendwelche Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt diesen Preis mit ihrer Gesundheit zu bezahlen haben.
Dasselbe gilt bei anderen Umweltproblemen. Denn jede Anstrengung, die gemacht wird, um eine Gefährdung der Umwelt herabzusetzen, konkurriert mit den Vorteilen, die aus dem technologischen Verfahren zu ziehen sind, das eben diese Gefährdung verursacht. Wenn man strengere Strahlenschutzbestimmungen erlassen würde, könnte das Gesundheitsrisiko, das der Betrieb von Atomkraftwerken mit sich bringt, verringert werden, aber die zusätzlichen Ausgaben, die für deren Einhaltung aufgebracht werden müßten, würden den Strompreis erhöhen und die Kernkraftindustrie eventuell außerstande setzen, mit konventionell betriebenen Kraftwerken zu konkurrieren. Dadurch würde ein großes, vom Bund finanziertes technologisches Programm ernsthaft beschnitten werden, und gewichtige politische Probleme würden sich ergeben.
Ebenso wäre es möglich, die Nitratverschmutzung durch die Mastanstalten zu verringern, indem man die Abfallstoffe auf das Land zurückbringt, wo sie natürlicherweise hingehören. Dadurch würde aber die Kosteneinsparung, die die Mastanstalten darstellen, abnehmen. Statt der anorganischen Stickstoffdünger könnte man — um die Umweltgefährdung durch überschüssige Nitratmengen im Oberflächenwasser zu verringern — wieder organische Düngemittel einführen; aber da die Anschaffung und Anwendung anorganischer Düngemittel billiger ist, würden die Kosten der Getreideerzeugung steigen.
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Die Verschmutzung der Städte ist von vielen Kosten/Nutzen-Entscheidungen abhängig. So können beispielsweise die Smogwerte nicht gesenkt werden, ohne daß der private Kraftfahrzeugverkehr durch elektrisch betriebene Massentransportmittel oder durch ganz neue Arten von Beförderungsmitteln ersetzt wird. Die zuerst genannte Maßnahme würde Städte, die ohnehin schon nicht ihren sozialen Verpflichtungen nachkommen können, wirtschaftlich außerordentlich belasten; die zweite Möglichkeit bedeutete den Fortfall einer der jetzigen Hauptstützen unseres Wirtschaftssystems, der Kraftfahrzeugindustrie.
So protestierte die örtliche Handelskammer auch gegen den 1970 getroffenen Beschluß der Bundesregierung, das biologische Waffenarsenal in Pine Bluff/Arkansas116 zu schließen, und brachte zum Ausdruck, daß sie das Umweltrisiko in Kauf nehmen und die Vorteile der 200 mit dem Waffenarsenal verbundenen Arbeitsplätze weiterhin ausnutzen wolle, um der Möglichkeit willen, Feinde mittels der Drohung eines biologischen Angriffs »abzuschrecken«.
Wir kommen somit zu der vielleicht entscheidenden Frage:
Wer nämlich soll der Salomo der modernen Technologie sein und all den Nutzen, den sie zu bringen vermag, gegen die ökologischen und sozialen Kosten, die sie verursacht, abwägen? Oder: Wer soll die Bilanz ziehen, wenn das wirtschaftliche Interesse des klugen Atomkraftmanagers dem Interesse einer Mutter für die Gesundheit ihres Kindes gegenübersteht?
Angesichts der Notwendigkeit, daß Entscheidungen über Kernkraft, radioaktive Strahlung, Nitratkonzentrationen, photochemischen Smog, biologische Kriegführung und andere Feinheiten der Umweltverschmutzung getroffen werden müssen, ist man versucht, nach dem wissenschaftlichen Experten zu rufen. Wissenschaftler können natürlich den Nutzen abschätzen, der jeweils zu erzielen wäre: Wie viele Kilowattstunden beispielsweise ein Atomkraftwerk liefern könnte und zu welchem Preis, oder welche Hektarerträge man bei der Anwendung von Stickstoffdünger erwarten kann. Und sie können auch die jeweils damit verbundenen Risiken abschätzen: die Strahlenbelastung der in der Nähe des Atomkraftwerks wohnenden Menschen und die durch die Düngemittel verstärkte Gefährdung der Kinder infolge von Nitrataufnahme. Solche Berechnungen können aufgrund entsprechender wissenschaftlicher Theorien, Gesetze und Daten vorgenommen werden.
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Kein einziges wissenschaftliches Gesetz kann uns jedoch anleiten, wenn wir zwischen einer bestimmten Anzahl von Kilowattstunden und einer bestimmten Anzahl von Krebserkrankungen der Schilddrüse oder zwischen einer bestimmten Höhe der Maiserträge und einer bestimmten Häufigkeit kindlicher Methämoglobinämie-Fälle zu wählen haben. Dieses sind Werturteile; sie werden nicht von wissenschaftlichen Prinzipien, sondern von dem Wert bestimmt, den wir dem wirtschaftlichen Gewinn und dem menschlichen Leben beimessen, oder durch unseren Glauben an die Vernunft der Entscheidung, eine Nation öffentlichen Verkehrsmitteln oder biologischer Kriegführung anzuvertrauen. Wir haben es hier mit Fragen der Moral, der gesellschaftlichen und politischen Bewertung zu tun. In einer Demokratie können solche Fragen aber nicht von »Fachleuten«, sondern nur von den Staatsbürgern und ihren gewählten Vertretern entschieden werden.
Die Umweltkrise ist das Ergebnis unseres unwissentlichen Angriffs auf die natürlichen Systeme, die unser Leben unterhalten. Sie repräsentiert die verborgenen Kosten dieses Beutezugs, die allmählich ein katastrophales Ausmaß annehmen. Wenn die Umweltkrise behoben werden soll, dann müssen die Kosten aufgedeckt und im Rahmen einer freien, öffentlichen Diskussion gegen die Vorteile der Technologie abgewogen werden. Eine solche Diskussion wird jedoch nicht leicht in Gang kommen, denn die Öffentlichkeit hat kaum Zugang zu den nötigen wissenschaftlichen Daten. Die erforderlichen Informationen wurden und werden noch heute zum großen Teil von Regierung und Industrie geheimgehalten. Die Wissenschaftler aber haben, so glaube ich, die Verpflichtung, die benötigten Informationen auszugraben und in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Denn damit die Öffentlichkeit ihr Recht auf Mitverantwortung ausüben kann, müssen ihr die einschlägigen wissenschaftlichen Daten in verständlicher Form zugänglich gemacht werden. Als Hüter dieses Erkenntnisschatzes sind wir es unseren Mitbürgern schuldig, daß wir dazu beitragen, sie über die Umweltkrise zu informieren.
Diese Partnerschaft zwischen Wissenschaftlern und Bürgern ist, meiner Ansicht nach, die Erklärung für die bemerkenswerte Verstärkung des öffentlichen Engagements in bezug auf die Umweltprobleme, die wir in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten erlebt haben. Hier einige Beispiele:
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1. Der Kernwaffenteststoppvertrag von 1963, Zeichen eines Umschwungs in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, ist wohl der erste große ökologische Sieg, der durch die Partnerschaft von Wissenschaftlern und Bürgern in Amerika errungen wurde. Für einen Zeitraum von fast zehn Jahren nach Hiroshima wurde die amerikanische Bevölkerung — während in den Vereinigten Staaten, der UdSSR und Großbritannien die Kernwaffen rasch weiterentwickelt und getestet wurden — in Unwissenheit über die entscheidenden Umweltfolgen gelassen. Niemand wußte, daß bei jeder Explosion große Mengen an Strontium-90 und anderen radioaktiven Isotopen freigesetzt wurden; daß Strontium-90 die Nahrungskette durchlaufen und sich in den noch in der Entwicklung befindlichen Knochen der Kinder anreichern würde; daß jede Vergrößerung der Strahlenexposition das Krebsrisiko und Strahlengefährdungen anderer Art erhöht. Vor der Öffentlichkeit wurden diese Tatsachen streng geheimgehalten; das amerikanische Volk bezahlte den biologischen Preis für die Atomwaffentests, ohne überhaupt zu ahnen, daß er von ihm eingefordert wurde.
Ungefähr im Jahr 1953 begann die unabhängige Gemeinschaft der Wissenschaftler für die Freigabe von der Regierung zurückgehaltener Daten über die radioaktiven Niederschläge zu agitieren. Um das Jahr 1956 waren dann so viele Informationen freigegeben worden, daß es den Wissenschaftlern möglich war, sich ein klares Bild von dem zu machen, was eigentlich vorging. Zu diesem Zeitpunkt riefen die Wissenschaftler, zuerst in den Vereinigten Staaten — angeführt von Linus Pauling —, später dann in der ganzen Welt, dazu auf, die Kernwaffentests einzustellen und die Verbreitung radioaktiver Niederschläge zu stoppen. Diesem Aufruf folgten keine unmittelbaren Maßnahmen; aber große Teile der Bevölkerung begriffen erstmals die Gefahr, die von den Kernwaffen drohte.
Dann entstand in den Vereinigten Staaten die Aufklärungsbewegung der Wissenschaftler — der Versuch unabhängiger, in örtlichen Komitees unter der Schirmherrschaft des <Scientists' Institute for Public Information> organisierter Wissenschaftler, die Öffentlichkeit über die grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse hinsichtlich des Fallout zu informieren. Durch die Kampagne wurde jener Faktor, der aus dem politischen Geschehen bis dahin ausgeklammert worden war, wieder zur Geltung gebracht — was man zuvor an Daten ausgesiebt hatte, wurde nun dem Gewissen der Öffentlichkeit überantwortet.
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Die Folgen dieser Aktion sind recht gut festgehalten worden. Senatoren, die zuvor völlig gleichgültig gewesen waren, wurden zur Unterstützung des Teststoppabkommens veranlaßt — durch eine Flut zorniger Briefe von Eltern, die dagegen protestierten, ihre Kinder mit strontium-90-verseuchter Milch aufzuziehen. Was die Abgeordneten beeindruckte, war nicht so sehr die Tatsache, daß ihre Wähler wütend waren (das sind sie gewohnt), als vielmehr der Umstand, daß sie Strontium-90 richtig buchstabieren konnten! Vermutlich drängte sie nicht so sehr die Vorstellung, es mit einer erbosten, als vielmehr die, es mit einer gut informierten Wählerschaft zu tun zu haben, dazu, sich zu rühren. Selbstverständlich gab es auch einen ausschließlich politisch motivierten Druck, den Vertrag zu befürworten, aber dieser Druck, davon bin ich überzeugt, hatte nur deshalb Erfolg, weil er selbst bewaffnet war — mit Fakten.
Nach der Unterzeichnung des Kernwaffenteststoppvertrags erwarteten manche Beobachter, daß die Wissenschaftler nun ihr Interesse am Fallout verlieren würden. Statt dessen erkannten viele von ihnen, daß die radioaktiven Niederschläge nur Teil eines viel umfangreicheren Problems waren — der widrigen Umweltfolgen der modernen Technologie nämlich — und daß hies eine Aufklärung der Öffentlichkeit ebenso lebenswichtig wäre. Damals ersetzte das St. Louis Committee for Nuclear Information das Wort »Nuclear« durch »Environmental« (so daß es sich jetzt »St.-Louis-Komitee für Informationen über die Umwelt« nannte) und wandelte sein kleines Nachrichtenblatt in die heute unter dem Namen »Environment« (Umwelt) bekannte Zeitschrift um.
2.
Ein Beispiel aus neuerer Zeit ist der Sieg der Öffentlichkeit über das Pentagon in der Frage der Nervengasbeseitigung. Jahrelang lagerte ein riesiger, todbringender Vorrat an Nervengasen in Tanks direkt unter der Anflugbahn des Flughafens von Denver. Diese Gefahr blieb unbeachtet, bis die Wissenschaftler des Colorado Committee for Environmental Information an die Öffentlichkeit traten und darauf hinwiesen, daß bei einem Flugzeugunglück der größte Teil der Bevölkerung von Denver vergiftet werden könne. Diese und weitere Darstellungen unabhängiger Wissenschaftler in »Environment«, die schilderten, wie in Utah 6000 Schafe durch Nervengas umgekommen waren (was die Armee lange Zeit bestritten hatte), und der Schrei der Entrüstung, der sich daraufhin unter der Bevölkerung erhob, brachten die Regierung schließlich dazu, das Nervengas zu entfernen.
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Auf den Rat ihrer Fachleute hin begann die Armee das Gas mit der Eisenbahn über Land zu transportieren, mit dem Ziel, es im Atlantik zu versenken. Sofort zeigten Wissenschaftler des St. Louis Committee for Environmental Information die ungeheuren Risiken auf, die eine solche Prozedur mit sich brächte, und legten dar, daß das Material ja an Ort und Stelle unschädlich gemacht werden könne. Seltsamerweise wurde die neue Entscheidung, das Material unschädlich zu machen, genau wie die frühere, es zu verschiffen, von den Expertenkomitees der Regierung für richtig erklärt. Sie korrigierten ihren ursprünglichen Fehler, und die Regierung änderte die Art und Weise ihres Vorgehens, aber erst, nachdem Wissenschaftler die relevanten Fakten ausgegraben und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht hatten.
3.
Jahrelang wendete die Regierung Milliarden Dollars und kostbare menschliche Energie für die Entwicklung und Herstellung biologischer Waffen auf — nur, um beides unlängst wieder aufzugeben, nachdem der Bevölkerung allen Barrieren militärischer Geheimhaltung zum Trotz ein paar entscheidende Tatsachen über die unkontrollierbaren Gefahren solcher Waffen im Fall ihres Einsatzes von einigen unabhängigen Wissenschaftlern verdeutlicht worden waren: so unter anderen von Matthew Meselson (Harvard), E.G.Pfeiffer (Universität von Montana), Arthur Galston (Yale) und Victor Sidel (Einstein Medical College).4.
Und was bewirkte die jüngste Entscheidung der Regierung, die Verbreitung von DDT zu bremsen? Sicherlich nicht der Ratschlag von Industriefachleuten, die, zusammen mit vielen Regierungsberatern, jahrelang nur immer von den Vorteilen dieses Insektizids geredet hatten. Nein, es war Rachel Carson, die mutig und gelassen die ökologischen Fakten aufdeckte und sie einer aufmerksam gewordenen Öffentlichkeit überzeugend darzustellen wußte (Der stumme Frühling, München 1963). Ihrem Beispiel folgend, meldeten sich andere Wissenschaftler zu Wort. Nun forderten die Bürger dringend entsprechende Maßnahmen. Fast allzu spät wurden dann tatsächlich Maßnahmen ergriffen; damit ist diese Aufgabe aber noch nicht erledigt: Da die amerikanischen Märkte für DDT gesperrt sind, verkaufen die Hersteller das Insektizid zunehmend ins Ausland.
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5.
Die Ablehnung der SST (supersonic transport, Überschallfrachtflugzeuge) gegen die massive und beharrliche Opposition der Nixon-Regierung, der Flugzeugindustrie und einer Reihe von Gewerkschaften wird als einer der entscheidenden Wendepunkte in der Umweltpolitik angesehen. 1969 konnten Senator Gaylord Nelson von Wisconsin und seine Kollegen im Senat nur 19 Stimmen gegen die SST aufbieten; 1970 brachten sie das Projekt mit 52 Stimmen zu Fall. Was während des dazwischenliegenden Jahres geschah, weiß jedermann: Die Öffentlichkeit wurde mit den Tatsachen des Überschallflugs bekanntgemacht — seinem Überschallknall, seinen möglichen Auswirkungen auf die Ozonhülle, die die Erde gegen die ultraviolette Sonnenstrahlung abschirmt, und seiner wirtschaftlichen Nutzlosigkeit —, und sie wußte ihren Einspruch anzumelden. Die Abgeordneten schenkten ihr Gehör. Es war so, wie es einer der Senatoren formulierte, als man ihn um eine Erklärung bat, wieso sich seine positive in eine ablehnende Haltung in bezug auf das SST-Projekt gewandelt habe; er sagte: »Ich habe meine Post gelesen.«6.
Und schließlich wollen wir auch noch Mr. Norwald Fimreite unsere Anerkennung zollen, einem graduierten Studenten der Zoologie an der Universität von West-Ontario, denn er hält, glaube ich, den Weltrekord für die schnellste, von einem einzelnen unternommene weitreichende Aktion zugunsten des Umweltschutzes118. Am 19. März 1970 teilte er dem Kanadischen Amt für Fischerei- und Forstwesen mit, daß er 7,09 ppm Quecksilber — das heißt 35 mal soviel wie der erlaubte Grenzwert — in Hechten nachgewiesen habe, die in Zuflüssen des Eriesees gefangen worden waren. Die kanadische Regierung reagierte sofort. Innerhalb eines Monats stellte man fest, daß Chloralkalifabriken eine Hauptquelle des Quecksilbers darstellten; sie wurden gezwungen, ihren Betrieb umzustellen. Inzwischen hat die kanadische Regierung die Handels- und Sportfischerei in der Gegend untersagt und allen Verschmutzern juristische Konsequenzen angedroht.Und es gibt noch viele andere Beispiele:
der Kernreaktor, der für Bodega Bay/Kalifornien geplant war und dann nicht gebaut wurde, nachdem ein Örtliches Bürgerkomitee, mit Unterstützung des St. Louis Committee for Environmental Information, einen Bericht verbreitet hatte, in dem dargelegt war, daß der Reaktor — da sein vorgesehener Standort unmittelbar über der großen Verwerfung von St. Andreas lag — bei einem Erdbeben auseinanderbersten könne; das <Minnesota Committee for Environmental Information>, das eine Studie vorlegte,
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die den Bundesstaat Minnesota dazu veranlaßte, neue Emissionsrichtlinien für Kernreaktoren festzusetzen — und zwar sehr viel strengere als die der AEC; das Northern California Committee for Environmental Information, das dazu beitrug, daß Berkeley als erste amerikanische Stadt dazu überging, wieder natürliche, biologische Schädlingsbekämpfungsmethoden in Straßen und Grünanlagen anzuwenden; die Wissenschaftler des Rochester Committee for Environmental Information, die Wasserproben entnahmen und damit aufdeckten, wie unzureichend die Abwasserbehandlung ihrer Stadt sei — eine Aktion, die zur Ausgabe neuer Anleihen führte; das New York Scientists' Committee for Public Information, das in einem offiziellen Bericht nachwies, auf einer neuen Schnellstraße, die quer durch die Stadt führen sollte, würde wahrscheinlich soviel Kohlenmonoxyd anfallen, daß die Fußgänger in den Straßen zu taumeln anfangen müßten: Obwohl die Planung schon weit fortgeschritten war, wurde das Projekt fallengelassen.
Hinzu kommen noch die mutigen Bemühungen von Ralph Nader und seinen emsigen studentischen Mitarbeitern, die zusammen erschreckende Tatsachen über die Luft- und Wasserverschmutzung und die Unzulänglichkeit der Umweltschutzverordnungen aufdeckten und an die Öffentlichkeit brachten. Hinzu kommen außerdem die juristischen Verfahren, die von Umweltschutzverbänden, von Bürgern betroffener Gemeinden oder einfach von einzelnen, entschlossenen Staatsbürgern in Gang gebracht wurden, um ernste Gefahren von der Umwelt abzuwenden. All diese Bemühungen beruhten nicht nur auf moralischen Entscheidungen der Öffentlichkeit, sondern auch auf Fakten, die von Wissenschaftlern entdeckt und durch Presse, Rundfunk und Fernsehen der Bevölkerung vor Augen geführt worden waren.
Für all diese Erfolge gibt es einen bedauerlichen Grund: Die Nation befand sich in völliger Unkenntnis über Ausmaß und Schwere der Umweltkrise, weil entscheidende Fakten in unzugänglichen Berichten vergraben blieben oder von Regierung und Industrie geheimgehalten wurden. Als man die Fakten aufdeckte, waren die Bürger bereit, Vorteile und Gefahren gegeneinander abzuwägen und die moralische Beurteilung vorzunehmen, die der Zündfunke jeder politischen Aktion ist.
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Das alles kam für manche Leute höchst überraschend. Denn in manchen politischen Kreisen herrscht der Mythos, die Öffentlichkeit engagiere sich eher, wenn Eigeninteressen im engeren Sinn berührt werden als wenn so nebulöse Werte wie etwa die Unversehrtheit der Umwelt auf dem Spiel stehen. Und dieselben Kreise neigen außerdem zu der Behauptung, daß es keine Möglichkeit gäbe, die Haltung der Öffentlichkeit zur Frage der moralischen Annehmbarkeit eines bestimmten Verhältnisses zwischen Vorteilen und Risiken festzustellen, und daß, wolle man realistisch sein, eine solche Bewertung ohnehin nur von irgendeiner entsprechenden Regierungsstelle vorgenommen werden könne. Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, daß die öffentliche Meinung ja bereits recht engumrissene Grenzen für die Risiken festgesetzt hat, die die Bevölkerung um der sich aus einer Vielfalt von Unternehmungen ergebenden Vorteile willen in Kauf zu nehmen bereit ist.
Das Problem der Abwägung von Vor- und Nachteilen ist mit vielen Aspekten der persönlichen Lebensweise verknüpft: mit dem Fahren eines eigenen Autos, dem Reisen per Flugzeug oder Eisenbahn, dem Skifahren, der Arbeit in einem Industriebetrieb oder dem Wohnen in der Nähe eines solchen Betriebs, der medizinischen Diagnostik mit Hilfe von Röntgenstrahlen, der Benutzung eines Farbfernsehers, dem Gebrauch eines Mikrowellenheizkörpers oder eines künstlichen Insektizids. All diese Momente sind der persönlichen Entscheidung anheimgestellt; die jeweiligen Risiken werden freiwillig in Kauf genommen. Andere Fragen betreffen die Gesellschaft insgesamt; Entscheidungen zugunsten der einen oder anderen Verfahrensweise müssen Risiken berücksichtigen, denen der einzelne unfreiwillig ausgesetzt wird. Hierher gehören das Problem des weitverbreiteten Einsatzes von Schädlingsbekämpfungs- und Düngemitteln in der Landwirtschaft, das Problem der Energiegewinnung, die Luftverschmutzung infolge des städtischen Kraftfahrzeugverkehrs wie überhaupt alle Hauptquellen der Umweltverschmutzung.
Erst unlängst hat man versucht, aus den verfügbaren Statistiken das quantitative Verhältnis zwischen den Vorteilen und Risiken solcher Aktivitäten zu ermitteln, das von der Allgemeinbevölkerung akzeptiert wird. Chauncey Starr119 berechnete das Risiko (das er als »die statistische Wahrscheinlichkeit von Unglücksfällen pro einstündiger Expositionszeit des Individuums« definiert) und den Nutzen, den das Individuum — in Form des Dollar-Gegenwerts — aus der jeweiligen Aktivität zieht.
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Das Verhältnis des Nutzens zum Risiko, das der Bevölkerung annehmbar erscheint, wird aus einem Diagramm ersichtlich, in das die beiden Kurven eingezeichnet sind.
Die Auswertung eines solchen Diagramms erbringt einigermaßen verblüffende Resultate. Wenn der Wert des Nutzens gering ist, dann ist das akzeptierte Risiko ebenfalls relativ gering; mit steigendem Wert erhöht sich auch das annehmbare Risiko — allerdings in einem sehr viel stärkeren Ausmaß (das annehmbare Risiko steigt annähernd proportional zur dritten Potenz des Nutzens). Ferner erreicht das akzeptable Risiko bei steigendem Nutzwert eine Höchstgrenze.
Da dieses Schema auf eine breite Vielfalt von Aktivitäten zutrifft, muß man den Schluß ziehen, daß unserer Gesellschaft irgendein allgemeiner Wertmaßstab tief eingewurzelt ist, der jeweils bei der Beurteilung des akzeptablen Verhältnisses zwischen Nutzen und Risiken angelegt wird. Darüber hinaus läßt sich an den Ergebnissen exakt der Einfluß eines rein moralischen Faktors wie der Unterscheidung zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Betroffensein ablesen. Trägt man die Aktivitäten mit unfreiwilligem und mit freiwilligem Risiko als getrennte Kurven auf, dann zeigen beide die beschriebene allgemeine Verlaufsform — bei ein und demselben Nutzwert ist der akzeptable Wert der unfreiwilligen Risiken jedoch 10.000-mal niedriger als der der freiwilligen Risiken. Das annehmbare Verhältnis zwischen Nutzen und Risiken wird also mittels eines allgemeinen Konsenses der Bevölkerung festgesetzt; wo irgendwelche ausführenden Behörden beteiligt sind, scheinen deren Entscheidungen die öffentliche Meinung eher widerzuspiegeln als hervorzurufen. Tatsächlich bestimmen diese Berechnungen den genauen »Stellenwert« jener Eigenheit der öffentlichen Moral, die darin besteht, daß wir, mit Starrs Worten, »abgeneigt sind, uns von anderen etwas antun zu lassen, was wir uns doch begeistert selbst antun«.
Es ist augenscheinlich, daß wir uns heute mitten in einer Phase des Umschwungs befinden, was die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber dem Ausmaß der verschiedenen Formen von Umweltzerstörung anbelangt, die lange Zeit ohne irgendwelche Klagen hingenommen worden sind. Der klare Unterschied um den Faktor 10.000, der zwischen dem Verhältnis der annehmbaren freiwilligen und der unfreiwilligen Belastungen besteht, bietet eine Erklärung für diesen Wandel.
Er spiegelt eine strengere moralische Beurteilung solcher Fälle durch die Öffentlichkeit wider, in denen durch das Verhalten bestimmter Mit-
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glieder der Gesellschaft Gefahren für andere heraufbeschworen werden, die in der betreffenden Angelegenheit keine Wahl hatten.
Die neuen Angriffe auf die Umwelt verstärkten diesen moralischen Faktor erheblich. Die Öffentlichkeit ist sich jetzt, wie ich glaube, bewußt geworden, daß die neuartigen Verunreinigungen einen Angriff der heutigen Generation nicht nur auf die heute lebenden unfreiwilligen Opfer darstellen — die ihnen, so schwer es auch sein mag, noch bis zu einem gewissen Grad begegnen können —, sondern auch auf noch gar nicht geborene und daher absolut wehrlose Generationen. Als Reaktion hierauf beginnt die Gesellschaft nun einen neuen Katalog annehmbarer Verhältnisse zwischen Nutzen und Risiken zu entwickeln. Bei einem bestimmten Nutzwert wird das neue Verhältnis nur ein Risiko zulassen, das weit geringer ist als selbst das heute noch annehmbare, wenn es sich um die unfreiwillige Belastung der gegenwärtig lebenden Bevölkerung handelt. Dies also ist die moralische Reaktion auf die Angriffe, denen die Umwelt ausgesetzt ist und die das Wohlergehen, wenn nicht das Überleben der folgenden Generationen gefährden.
In der Politik wird die Frage des Umweltschutzes zuweilen als ein Streit um die »Mutterschaft« angesehen — das heißt eigentlich als recht sinnlos, da niemand ernsthaft gegen derlei offenkundige Fakten oder Notwendigkeiten Einspruch erheben kann. Tatsächlich wird oft genug behauptet, die Umweltfrage sei so harmlos, daß sie nur dazu diene, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von sehr viel ernsteren Streitfragen abzulenken — eine Art ökologisches Ablenkungsmanöver von Problemen wie Armut, Rassendiskriminierung und Krieg. In Wirklichkeit sieht es jedoch anders aus; als politische Streitfrage ist der Umweltschutz weder harmlos noch ohne Beziehung zu grundlegenden Problemen der sozialen Gerechtigkeit.
Zum Beispiel wird im Getto der Umweltschutz manchmal als ein für die Schwarzen völlig irrelevantes Problem und somit als Mittel der Ablenkung von der wirklichen Notlage dieses Bevölkerungsteils angesehen. Diese Ansicht wird von gewissen Ausdrucksformen, die Umweltengagement und -aktionen zuweilen annehmen, untermauert. In besonders zugespitzter Weise zeigte sich dies 1970 während der »Woche der Erde« im San Jose State College in Kalifornien, wo als Höhepunkt der studentischen Umweltkampagne ein nagelneuer Wagen vergraben wurde — als Symbol der Rebellion gegen die Umweltverschmutzung.
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Schwarze Studenten brandmarkten diesen Vorfall, weil sie der Meinung waren, mit den 2500 Dollar, die der Wagen gekostet habe, hätte man im Getto etwas Besseres anfangen können. Das Begräbnis von San Jose ist Ausdruck jener gleichsam »personifizierenden« Auffassung der Umweltkrise, die häufig bei ökologischen Kreuzrittern anzutreffen ist. Sie meinen — irrtümlicherweise, wie wir gesehen haben —, daß die Umweltverschmutzung auf den übermäßigen Verbrauch von Gütern und Bodenschätzen durch die amerikanische Bevölkerung zurückzuführen sei. Und da die Abfälle, die dieser eifrige Konsum abwirft, unsere Umwelt verschmutzen, wird dem ökoaktivisten geraten, »weniger zu konsumieren«. Fügt man dem nicht hinzu, daß der Pro-Kopf-Verbrauch der Schwarzen in den Vereinigten Staaten weit unter dem der Weißen liegt, dann dürfte derlei Betrachtung den Schwarzen wie allen anderen Bürgern, die das soziale Unrecht bekümmert, wahrscheinlich nicht überaus sinnvoll erscheinen.
Ein Ausschluß der schwarzen Minderheit von der Umweltschutzbewegung wäre besonders bedauerlich, weil in vieler Hinsicht vornehmlich die Schwarzen Opfer der Umweltverschmutzung sind. Ein weißer Vorstädter entkommt dem Schmutz, dem Smog, dem Kohlenmonoxyd, dem Blei und Lärm der Stadt, wenn er nach Hause fährt; der Gettobewohner aber arbeitet dagegen nicht nur in einem verseuchten Milieu, er muß auch darin leben. Und im Getto sieht er sich zusätzlich noch mit seinen eigenen Umweltproblemen konfrontiert: den Ratten und anderem Ungeziefer, der Gefahr der Bleivergiftung seiner Kinder, wenn sie kleine Stückchen alter, von den Wänden abblätternder Farbe essen. Außerdem kann die schwarze Bevölkerung — aufgrund ihrer Geschichte — ein starker Verbündeter im Kampf gegen die Umweltzerrüttung sein.
Die Umweltkrise ist eine Überlebenskrise und damit eine Angelegenheit, mit der Amerikaner der Mittelschicht nicht gerade vertraut sind. Sie haben noch nicht gelernt, wie man einer solchen erschreckenden Gefahr zu begegnen hat; das beweist unser fortgesetztes Unvermögen einzusehen, daß allein die Existenz schußbereiter Kernwaffen schon morgen den Anbruch des Jüngsten Tages auslösen kann.
Für Schwarze ist das Problem des Überlebens einige hundert Jahre alt. Wenn sie es auch noch nicht gemeistert haben, so haben sie doch zumindest eine ganze Menge Erfahrungen, die sich als überaus wertvoll für eine Gesellschaft erweisen könnten, die — nun als Ganzes — der Gefahr ihrer Auslöschung ins Auge sehen muß. Die Schwarzen brauchen die Umweltbewegung, und die Bewegung braucht die Schwarzen.
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Darüber hinaus besteht eine enge Beziehung zwischen Umweltfragen und Armut. Veranschaulicht wurde sie in klassischer Weise etwa durch die gar nicht weit zurückliegenden Ereignisse in Hilton Head / Süd-Carolina120. Eine Firma der chemischen Industrie wollte dort — auf einer herrlichen Uferstrecke, in Nachbarschaft einiger weitläufiger, gepflegter Grundstücke — ein größeres Werk bauen, das die örtlichen Umweltbedingungen zweifellos verschlechtert hätte, da man aufwendige Umweltschutzmaßnahmen, wie sie in diesem Fall nötig gewesen wären, nicht vorgesehen hatte. Gegen das Werk waren Grundstückseigentümer, Umweltschützer und Garnelenfischer, die die ästhetischen und ökologischen Auswirkungen der Industrieabwässer fürchteten.
Befürwortet wurde das Vorhaben von der Chemiefirma und vielen armen Mitbürgern, die hofften, nach langer Zeit wieder einen Arbeitsplatz finden zu können. Wie läßt sich in einem solchen Fall gerecht entscheiden? Man könnte unter Umständen den wirtschaftlichen Nutzen des Betriebs errechnen und den Kosten gegenüberstellen, die die Auswirkungen der Schmutz- und Schadstoffe auf die Garnelenfischerei und die natürliche Umgebung verursachen. Wäre es aber ausreichend, Gewinne und Verluste miteinander zu vergleichen und dann sich zugunsten der wirtschaftlicheren Maßnahme zu entscheiden?
Es ist offensichtlich, daß das Problem weitreichender gesehen werden muß, denn im Zusammenhang mit jedem Umweltproblem — selbst, wenn es auf diese Weise »gelost« werden würde — tauchen noch andere, grundsätzlichere Fragen auf, die damit noch längst nicht gelöst sind. Wenn beispielsweise der Bau eines solchen Werks verhindert wird (was hier auch tatsächlich geschah), dann bedeutet dies für die Arbeitslosen, daß ihr Recht auf Arbeit weniger gilt als die Unversehrtheit ihrer Umwelt. Die angemessene Antwort auf unsere Frage dürfte wohl lauten, daß eine Gesellschaft, die Mittel und Wege finden kann, einen Sumpf zu retten, auch Mittel und Wege zu finden imstande sein müßte, ihren Mitgliedern Arbeit zu verschaffen.
Vor eine ganz ähnliche Situation sah man sich im Zusammenhang mit der SST gestellt; die Gewerkschaften unterstützten dieses Projekt sehr stark, weil seine Aufgabe ein paar Tausend Arbeitern den Arbeitsplatz kosten würde. Jemand, der auf diese Weise arbeitslos geworden ist, mag zunächst über die »Umweltspinner« in Wut geraten, die gegen die SST opponieren.
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Bei weiterem Nachdenken wird er aber vielleicht an der Vernünftigkeit eines Wirtschaftssystems zu zweifeln beginnen, das einen Menschen zwingt, um eine Arbeit zu kämpfen, von der er genau weiß, daß deren Produkt die Babys nachts wach werden läßt und die Häufigkeit von Hautkrebs erhöht.
Eine ebenso enge Beziehung besteht zwischen den Umweltproblemen und den Fragen von Krieg und Frieden. So wie Detergentien und DDT sind auch die Kernwaffen als unermeßlicher technologischer Mißgriff anzusehen. Als die Generale des Pentagon und ihre Sachverständigen in den fünfziger Jahren die Entscheidung fällten, daß man zur Verteidigung der Nation auf die Kernwaffen bauen wolle, waren sie sich offensichtlich jener Tatsache nicht bewußt, die die Stimme der Wissenschaft, millionenfach verstärkt durch die Reaktion der Öffentlichkeit, ihnen seither immer wieder eingehämmert hat: daß der Plan nicht funktionieren wird, daß kein Land einen Atomkrieg überleben würde.
Auf dieselbe Art und Weise beantwortete das Pentagon eine Anfrage der AAAS, indem es erklärte, daß es in Vietnam keine Herbizide einsetzen würde, wenn es glaubte, diese Mittel würden »langfristige ökologische Auswirkungen« für das gepeinigte Land mit sich bringen121. Heute wissen wir aufgrund der Bemühungen der AAAS und anderer unabhängiger Wissenschaftler, daß die Vereinigten Staaten in Vietnam tatsächlich eine ökologische Kriegführung praktiziert haben. Nachdem diese Tatsache bekannt geworden war, schränkte die Regierung schließlich die militärische Anwendung von Herbiziden in Vietnam erheblich ein. Der gleiche Druck steht hinter der Tatsache, daß die Regierung der Vereinigten Staaten auf die Herstellung biologischer Waffen verzichtet hat, nachdem sie sie lange Zeit — gegen die Opposition der Wissenschaftler — mit dem Argument gerechtfertigt hatte, sie seien für die »Verteidigung« der Nation notwendig und höchst wirksam.
Mir scheint, daß ein solches Verständnis für die Umweltproblematik erhebliche Zweifel an der Kompetenz unseres Militärs wecken muß, die Nation so zu schützen, wie es seine Aufgabe wäre.
Was ohnehin immer deutlicher wird, daß nämlich die amerikanische Kriegführung in Südostasien ein einziges militärisches Versagen darstellt, wird hierdurch noch bekräftigt. Es stellt sich die überaus folgenschwere Aufgabe, die Menschheit wenigstens von der Drohung der Vernichtung zu befreien, von der untragbaren Last eines Lebens, über das täglich innerhalb von Minuten die Katastrophe hereinbrechen kann.
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Die Umweltkrise ist kaum eine Streitfrage um die »Mutterschaft«. Sie ist auch kein Ablenkungsmanöver von anderen Sozialproblemen. Denn wenn wir aufgrund der Umweltkrise zu handeln beginnen, tauchen sofort weitreichendere Probleme auf, die den Kern unseres Gesellschaftssystems berühren und grundlegende politische Zielsetzungen in Frage stellen.
Die Gewalt dieser Herausforderung wird offenbar, wenn man sich die Implikationen zweier Alternativen umweltbezogener Maßnahmen verdeutlicht: Maßnahmen der Öffentlichkeit und durch die Öffentlichkeit. Diejenigen, die den ersten Weg befürworten, treten unter Pogos Fahne an: »Wir sind auf den Feind gestoßen, und der Feind sind wir.« Sie haben sich auf individuelle Maßnahmen festgelegt, die die Umweltbelastung verringern. Sie laufen zu Fuß oder benutzen ein Fahrrad, statt Auto zu fahren; sie kaufen nur Pfandflaschen und phosphatfreie Waschmittel; sie zeugen nicht mehr als zwei Kinder. Dies sind die Grundlagen eines neuen, umweltbewußten persönlichen Lebensstils. Damit sollen die beiden Faktoren, die zur Umweltverschmutzung beitragen und der Kontrolle des einzelnen unterliegen — Konsum und Bevölkerungszahl —, so gering wie irgend möglich gehalten werden.
Im Gegensatz hierzu ist das Vorgehen gegen die dritte Ursache der Umweltbelastung — die antiökologische Konzeption der Produktionstechnik — notwendigerweise gesellschaftlicher Natur122. Wie wir früher bereits aufgezeigt haben, ist dieser Faktor von erheblich größerem Einfluß auf den Grad der Umweltverschmutzung als die beiden übrigen. Man wird sich daran erinnern, daß der Bevölkerungszuwachs in den Vereinigten Staaten für 12 bis 20 Prozent der während der Nachkriegszeit eingetretenen Zunahme der Umweltbelastung verantwortlich zu machen ist, während der technologische Faktor zu 40 bis 85 Prozent dazu beigetragen hat.
Wenn der technologische Faktor — um es an einem noch relativ günstigen Beispiel zu veranschaulichen — eine fünfmal so große Wirkung gehabt hat wie die Bevölkerungszunahme, dann hätte es die folgenden beiden Möglichkeiten gegeben, den Anstieg der Umweltverschmutzung seit dem Zweiten Weltkrieg zu verhindern:
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Wir hätten uns dafür entscheiden können, die Bevölkerung um etwa 43 Prozent wachsen zu lassen, wie es tatsächlich geschah; dann hätte die Umweltbelastung durch die Produktionstechnologie um 30 Prozent gesenkt werden müssen. Hätten wir uns andererseits für die dann tatsächlich erfolgte Erhöhung der Umweltbelastung durch die Technik von annähernd 600 Prozent (in diesem Beispiel) entschieden, dann hätte die Bevölkerungszahl um 86 Prozent gesenkt werden müssen (vgl. Anmerkung 122). Es scheint mithin ziemlich klar, daß die Technik der weit einflußreichere der beiden Faktoren ist. Andererseits ist dieser Faktor der direkten Kontrolle durch das Individuum entzogen.
Welchen Weg sollen wir nun einschlagen? Sollte die Bevölkerung dazu angehalten werden, weniger zu konsumieren und weniger Kinder zu zeugen, damit auf diese Weise die Umweltverschmutzung verringert wird? Oder sollten wir uns statt dessen auf eine Reform der Technologie unter ökologischem Aspekt konzentrieren? Oder beides?
Da technologischen Reformen wahrscheinlich ein mächtiger Widerstand entgegengesetzt werden würde, der sie zumindest erheblich aufhalten könnte, und eine Beschränkung des Konsums angesichts der fortbestehenden Armut und unbefriedigten Bedürfnisse kaum vernünftig erscheint, wird des öfteren vorgeschlagen, daß man primär alles daransetzen müsse, die Bevölkerungszunahme in den Vereinigten Staaten zu bremsen. Sieht man von der Tatsache ab, daß eine beträchtliche Reduzierung der Bevölkerungszahl notwendig wäre, um eine merkliche Verringerung der Umweltverschmutzung zu bewirken, ist dies selbstverständlich eine völlig logische Schlußfolgerung. Solange wir fortfahren, uns einer ökologisch mangelhaften Produktionstechnologie zu bedienen, wird diese sicher weniger Schaden anrichten, wenn weniger Leute nach ihren Produkten verlangen. Zweifellos gibt es also logische Gründe dafür, sowohl für eine ökologische Reform der Produktionstechnologie als auch für eine Verringerung des Bevölkerungswachstums als Grundlage der angestrebten Umweltverbesserung einzutreten.
Aber hier sind nicht nur Logik und Ökologie im Spiel. Denn mit derselben Logik läßt sich dieses Prinzip auf fast jedes Sozialproblem anwenden — und ist in jüngster Zeit auch tatsächlich angewandt worden. Hier nur zwei Beispiele, zitiert aus einer Rede des ehemaligen Arbeitsministers William Wirtz(123): wikipedia W._Willard_Wirtz 1912-2010
197/198
»Ein Arbeitsminister verbringt Jahre, die er im Amt ist, mit dem aussichtslosen Versuch, durch die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen gegen die Arbeitslosigkeit anzugehen; erst später, wenn er von den Hemmnissen, die Amt und politische Rücksichtnahme mit sich bringen, befreit ist, vermag er der Wahrheit ins Auge zu blicken, daß es nämlich zuwenig Arbeitsplätze gibt, weil es zu viele Menschen gibt.
Betrachtet man die Probleme, die Luft- und Wasserverschmutzung, Armut, verstopfte Schnellstraßen, überfüllte Schulen, unzulängliche Gerichte und Gefängnisse, der Pesthauch der verfallenden Städte usw. darstellen, dann wird deutlich, daß in den Vereinigten Staaten mehr Menschen leben als das Land ertragen kann.«
Hier, so will mir scheinen, wird das Problem in den richtigen Zusammenhang gestellt: Das Gesellschaftssystem des Landes ist nahezu unfähig, die gegenwärtige und zu erwartende Anzahl von Menschen zu ertragen, die es geschaffen haben124; daher leiden sie unter Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, einem unzureichenden Schulwesen, Ungerechtigkeit und der Tyrannei des Krieges.
Wenn also der Grund für diese Unzulänglichkeit darin liegt, daß die Nation — selbst bei höchster Ausnutzung ihrer Leistungsfähigkeit und vollkommener sozialer Gerechtigkeit — nicht mehr über ausreichende Mittel verfügt, die zu erwartende Zahl von Menschen zu versorgen, dann haben wir gar keine andere Wahl, als den Bevölkerungsumfang einzuschränken. Nach der <U.S.-Kommission für das Bevölkerungswachstum und die Zukunft Amerikas> besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, »daß die Vereinigten Staaten über die Mittel verfügen, mit denen sie, wenn sie sich dazu entschließen würden, von ihnen Gebrauch zu machen, sowohl die Bedürfnisse einer Bevölkerung befriedigen könnten, die mit der jetzigen Geschwindigkeit wächst, als auch die verschiedenen noch bestehenden sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten beseitigen könnten«.125
Wenn das der Fall ist, dann scheint mir ein deutlicher Zwiespalt zwischen den beiden Wegen zu bestehen, die zu einem sozialen Fortschritt führen. Wir sind in einer Art politischen »Nullspiels« begriffen: In demselben Maß, in dem die Bevölkerungsgröße vermindert wird, könnten wir einige der technologischen, ökonomischen und sozialen Mängel verkraften, die uns quälen; in demselben Maß, in dem wir diese Mängel beheben, kann die Nation erfolgreich für eine größere Zahl von Menschen sorgen.
198/199
Wie diese beiden Möglichkeiten gegeneinander abgewogen werden sollen, hängt von dem kollektiven Gefühl für soziale Gerechtigkeit ab, das die amerikanische Bevölkerung besitzt. Falls sie gewillt ist, eine individuelle Verpflichtung zu akzeptieren, die Krise in den Umweltbedingungen, auf dem Arbeitsmarkt, im Erziehungs- und Gesundheitswesen und in den Städten zu lindern, wird sie die Geburtenrate freiwillig senken. Falls die amerikanische Bevölkerung nicht gewillt ist, diese persönlichen Maßnahmen zu ergreifen, wird sie eine Veränderung der ökonomischen, sozialen und politischen Prioritäten vornehmen müssen, die die Verteilung der Reichtümer unseres Landes bestimmen.
Bei alldem gehe ich von einer freien Entscheidung der Öffentlichkeit aus. Manche auf die Einschränkung des Bevölkerungszuwachses erpichte Ökologen126 sind jedoch der Ansicht, daß »wir mit der Geburtenkontrolle zu Hause ansetzen müssen, zunächst mit Hilfe eines Systems von Prämien und Bußen, jedoch unter Zuhilfenahme von Zwangsmaßnahmen, wenn freiwillige Methoden versagen«. Die Folge wäre, daß die Öffentlichkeit unter Androhung von Zwang genötigt würde, sich zugunsten des einen der beiden Wege zum sozialen Fortschritt zu entscheiden.
Dies ist, um es einfacher auszudrücken, politische Repression.
Es ist auch nicht möglich, diese häßliche Tatsache damit zu verschleiern, daß man Formulierungen wie »wechselseitige Ausübung von wechselseitig vereinbartem Zwang« verwendet127. Wenn eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung freiwillig eine Geburtenkontrolle betreiben würde, die dem Ziel, die Bevölkerungszahl konstant zu halten, angemessen ist, dann bestünde keinerlei Notwendigkeit für Zwangsmaßnahmen. Daraus folgt, daß Zwangsmaßnahmen nur dann erforderlich sind, wenn sich die Bevölkerungsmehrheit weigert, freiwillig eine entsprechende Geburtenkontrolle zu praktizieren. Das bedeutet aber, daß die Mehrheit von der Minderheit zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden müßte.
Genau das aber ist eben politische Unterdrückung.
In gewisser Hinsicht ist es zu begrüßen, daß die Umweltkrise eine so intensive Diskussion des Bevölkerungsproblems ausgelöst hat. Unser Land quält sich seit vielen Jahren mit dem Widerspruch zwischen seinem beispiellosen Reichtum und seiner Unfähigkeit, der Bevölkerung angemessene Umweltbedingungen, Arbeitsmöglichkeiten, Ausbildungsstätten, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen und ein Leben in Frieden zu gewährleisten.
Lange Zeit wurde diese nackte Tatsache von Ausflüchten, Entschuldigungen und Schwaden technischer Details verdunkelt. Ich habe den Eindruck, daß diese Nebelwand jetzt irgendwie durch die Umweltkrise zerrissen worden ist. Wir können jetzt deutlicher erkennen, daß die mannigfaltige nationale Krise, von der jene nur einen Teil darstellt, um mit MacLeish zu sprechen, »nicht von uns weichen wird, solange wir nicht wieder an uns selbst glauben und die Herrschaft über unser Leben und unsere Mittel nicht wieder selbst übernommen haben«.
199-200
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