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3. Gefühlszyklen 

 

 

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In den beiden ersten Kapiteln haben wir eine besondere Art des Fühlens, ein vollständiges oder integrales Fühlen, als die Grundlage der therapeutischen Veränderung erkannt und den Augenblick des Fühlens — das Spüren, daß Gefühle unvollständig sind — als Ausgangspunkt für die Therapie bezeichnet. Jetzt wollen wir erklären, welche Prozesse bei der Vollständigkeit eines Gefühls vor sich gehen.

Es gibt vier grundlegende therapeutische Komponenten eines Gefühlszyklus. Sie müssen vorhanden sein, wenn jemand von partiellen, durcheinandergeratenen Gefühlen auf einem bestimmten Gefühlsniveau zu voll­ständigen, geordneten Gefühlen auf einem höheren Niveau gelangen soll. Wir nennen diese Prozesse Gegen­aktion, Abreaktion, Proaktion und Integration. Jedem Prozeß geht ein eindeutiger Augenblick des Fühlens voraus, in dem der Patient wählen muß, ob er mit seinen Gefühlen weitergehen oder unvollständig bleiben will. Abbildung 1 zeigt eine grafische Übersicht über die Prozesse und Augenblicke, aus denen der Gefühlszyklus besteht.

 

Abbildung 1: Der Gefühlszyklus. 
AF = Augenblick des Fühlens

Gegenaktion
 (Gefühltes Vermischen von Vergangenheit und Gegenwart)

Bewußte Regression (AF)                          (AF) Bewußte Verrücktheit

 Abreaktion .................................................................. Integration
(Vergangenheit)                                 (Gegenwart)

Bewußte Progression (AF)                            (AF) Bewußte Integration

Proaktion 
(Gefühltes Entmischen von Vergangenheit und Gegenwart)

 

Wir haben diesen Gefühlszyklus nicht auf einmal entdeckt. Wenn Sie sich eine Gruppe von Menschen vorstellen, die alle an derselben periodischen Augenkrankheit leiden, so daß einige gelegentlich Farben sehen und einige nicht, dann können Sie sich in etwa vorstellen, welche Schwierigkeiten wir hatten. Manchmal kamen wir zu dem Schluß, daß rot die Farbe sei, manchmal hielten wir blau oder grün oder gelb für die Farbe. Und dann wieder konnten wir nicht sagen, ob wir die Farben geträumt oder im Wachzustand gesehen hatten. Darum mußten wir uns damals so sehr aufeinander verlassen. Wenn einige von uns blind oder in bezug auf unsere Gefühle verwirrt waren, so waren andere es nicht.


Gegenaktion ist der Prozeß, bei dem die Formen der Abwehr, die ein Gefühl unvollständig lassen, gefühlt und zum Ausdruck gebracht werden. Die Menschen können nicht nur teilweise sehen; sie halten sich davon ab, ganz zu sehen und zu fühlen. Der erste Schritt zur Vervollständigung eines Gefühls besteht darin, die Abwehr zu fühlen, die bestimmte Gefühle unvollständig macht. Zum Beispiel muß ein Patient längere Zeit hindurch fühlen und zum Ausdruck bringen: "Mir liegt nichts an den Menschen"; erst viel später kann sich das wandeln, so daß er sagt: "Doch, mir liegt an ihnen. Es tut weh, gleichgültig zu sein."

Abreaktion ist das Fühlen des Ursprungs der Abwehr und der Ausdruck früherer Gefühle, die blockiert waren. Gefühlsblindheit entsteht nicht einfach so; sie wird verursacht durch bestimmte Geschehnisse in der Vergangenheit eines Menschen. Erst wenn der Patient beginnt, die Gefühle, die er als Kind nicht äußern konnte, zu erkennen und zum Ausdruck zu bringen, wird er seine frühere Abwehr abbauen. Das "Mir liegt nichts an den Menschen" könnte auf dieser Stufe zu "Ich brauche es, daß ihnen an mir liegt", werden. Bei der Abreaktion sieht der Patient wie ein Kind aus, handelt und klingt auch so.

Proaktion ist der erste Schritt zurück zum Fühlen in der Gegenwart. Der Patient kann in der Welt nicht erfolgreich sein, wenn er in der regressiven Haltung des Kindes verharrt. Er muß Gefühlen, die ihm in der Vergangenheit versperrt waren, erwachsenen Ausdruck geben. Zum Beispiel könnte er zum Therapeuten sagen: "Ich möchte, daß dir an mir liegt." Bei der Proaktion ist der Patient ebenso offen, wie er es als Kind war, aber jetzt ist sein Verhältnis zu Menschen das eines Erwachsenen.

Integration ist Leben auf dem neuen Niveau der fühlenden Bewußtheit und Ausdruckskraft, das nach der Vervollständigung eines zusätzlichen Gefühls jetzt vorhanden ist. Der Patient muß weiterhin auf die zusätzlichen Gefühle reagieren, die er nun spüren kann, sonst wird er sein Niveau nicht verändern. In mancher Beziehung ist es bequemer, weiterhin nur teilweise zu sehen, statt zu sehen und auf das zu reagieren, was man sieht. Wenn der Patient seine eigene Offenheit nicht aufrechterhält und nicht aus ihr heraus antwortet, wird er sein Leben nicht verändern. Das bedeutet, er kann nicht zu dem vertrauten "Mir liegt nichts an ..." zurückkehren; er muß wählen, auf sehr verletzbare Weise offen zu sein und in jedem Bereich seines Lebens zeigen: "Mir liegt an ...".

Da die Vervollständigung eines Gefühlszyklus die Art und Weise ist, wie jemand von Verworrenheit zu Geordnetsein und von einem Gefühlsniveau zum anderen gelangt, ist sie das Mittel zur persönlichen Umwandlung. 

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Eine Möglichkeit, diese Art der Umwandlung zu betrachten, ist, zu verstehen, wie jemand von außerhalb seiner selbst in sich hineingelangt, unvollständige oder verworrene Gefühle enthalten abwehrende Ersatzgefühle; der Betreffende wählt diesen Ersatz nicht — der kommt von außen. Wenn jemand sich in sein Inneres hineinbewegt, kann er seine innere Wirklichkeit zum Ausdruck bringen, frei von verwirrenden Einflüssen von außen.

Hier ein Beispiel dafür. Eine der häufigsten Aussagen eines Patienten zu Beginn einer Therapiesitzung ist: "Ich fühle mich schlecht. Ich weiß nicht, was los ist, ich fühle mich einfach schlecht." Wir wissen aus der Theorie der Feeling Therapie, aus wiederholten klinischen Beobachtungen und aus unseren eigenen Erfahrungen als Patienten, daß eine Aussage dieser Art immer auf ein bestimmtes Geschehnis im gegenwärtigen Leben des Patienten zurückzuführen ist, bei dem er Gefühle, die er gegenüber jemandem empfand, zurückhielt. 

Die erste aufspürbare Ursache des Sich-schlecht-Fühlens ist immer, daß der Patient im wirklichen Leben, bei einer Begegnung in der Gegenwart seine Gefühle nicht vollständig zum Ausdruck gebracht hat. Gefühle nicht auszudrücken, ist 'bedrückend' — sich im Zaum halten oder zurückhalten ist das direkte Gegenteil des ursprünglichen Antriebs zu freifließendem Ausdruck. Selbst wenn ein nebensächliches Gefühl zum Ausdruck gebracht oder das reale Gefühl nur teilweise geäußert wird, fühlt man sich wohl. Das tut man nur beim vollständigen Ausdruck vollständiger Gefühle, und nur dadurch bleibt Juan in einem spannungsfreien Zustand.

Die zweite erkennbare Ursache für ein Sich-schlecht-Fühlen ist, daß jemand sein vollständiges Gefühl zurückhält, weil man ihn als Kind dazu, brachte, sich schlecht zu fühlen, wenn er dieses Gefühl ausdrückte. Jetzt 'fühlt' er sich jedesmal 'schlecht', wenn er den Impuls verspürt, das verbotene Gefühl zu äußern. Dieser Impuls verwandelt sich gewöhnlich rasch in eine Introjektion — "ich bin schlecht" —, oder eine Projektion — "es ist schlecht" — oder "du bist schlecht". 

Ein Kind wird nicht nur dazu gebracht, sich schlecht zu fühlen, sondern auch zu glauben, es sei schlecht, wenn es gewisse Gefühle zum Ausdruck bringt. Das erwachsen gewordene Kind bleibt bei dem Zurückhalten und den gelernten Ersatzformen, weil es sich dann sicherer fühlt: und das "schlecht fühlen" hält es für etwas außerhalb von sich und sieht seine eigenen Gefühle als äußerliche, unveränderliche Tatsachen des Lebens an.

Dieses grundlegende Durcheinanderbringen von außen und innen ist der Kern jedes Verrücktseins. Ihr Leben lang begreifen die Menschen nicht, daß sie sich durch das Zurückhalten selbst dazu bringen, sich schlecht zu fühlen, und daß sie aus sich herausstellen, was innen ist. Wenn ein Patient den Gefühlszyklus zum ersten Mal durchläuft, geht er von der Verwirrung und dem Durcheinander des "Sich-schlecht-Fühlens" aus; das bringt ihm die volle Bedeutung der Transformation zum Bewußtsein.

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Er weiß dann unmittelbar, daß das, was er als ein "schlechtes Gefühl" gelernt hat, etwas, das unterbunden und aus ihm herausgehalten werden muß, eben sein Gefühl ist. Er kann dann von den festgefügten Grundsätzen seiner Kindheit und von seiner Verrücktheit zu den umwandelbaren gefühlten Wirklichkeiten seines Lebens übergehen. 

Ein Patient beschreibt seine Umwandlung von Verrücktheit zum Fühlen wie folgt:

"Es erscheint mir immer unglaublich, wenn ich mich zu Beginn einer Sitzung so fühle und am Ende ganz anders. Es ist, als ob ich mich wieder an mich selbst erinnerte. Wenn ich außerhalb von mir bin und mich einfach 'schlecht fühle', weiß ich gar nichts — ich versuche nur immer, Antworten auf die Fragen zu finden: "Was soll ich tun?" oder "Was stimmt nicht?" Sobald ich mich selbst wieder fühle, verschwinden die Antworten und Fragen. Dann fühle ich nur mich, Augenblick für Augenblick. In meiner letzten Sitzung konnte ich am Schluß wirklich den Unterschied spüren zwischen dem verworrenen Fühlen, mit dem ich anfing und das bewirkte, daß ich mich schlecht fühlte: "Ich kann doch nicht wollen, daß Lisa mich überall berührt — es ist hoffnungslos, sie würde es nicht tun," und dem Gefühl in mir: "Ich will überall berührt, werden." Es geschieht immer wieder, daß ich mich selber verliere, indem ich das lebe, was ich als Kind tun mußte."  

 

Die Abbildungen, Definitionen und kurzen Beispiele, die wir bisher anführten, lassen diese Prozesse sehr klar und einfach erscheinen, aber das ist irreführend. Die tatsächliche Erfahrung eines Patienten, zuzulassen, daß er verrückt wird und seine Abwehr spürt, ist ganz anders als die Bezeichnung Gegenaktion; die tatsächliche Erfahrung, wie es ist, bewußt zu regredieren und ein Gefühl aus der Kindheit zuzulassen, ist ganz anders als das Erkennen eines Punktes auf einem Diagramm, der Abreaktion genannt wird. 

Das ist einleuchtend, aber wir betonen es, weil wir aus unseren Erfahrungen mit Patienten wissen, wie erschütternd der Übergang vom Lesen oder Reden über die Therapie zum tatsächlichen Erleben sein kann. Einige Patienten schaffen den Übergang nie. Sie ziehen es vor, über ihre Verrücktheit nachzudenken und ihre Gefühle zu bekennen, statt sie zu fühlen. Sie sind wie Menschen, die glauben, sie könnten ihr Leben ändern, wenn sie die Farbe ihrer Sonnenbrille ändern.

 

Ebenso wie es stimmt, daß Gefühle anders sind als Diagramme über Gefühle, stimmt es, daß es schwierig ist, integrale Gefühle zu verstehen, wenn man nur verworrene, partielle Gefühle hat. Sobald jemand einen Gefühlszyklus vollendet hat, versteht er unmittelbar und leicht, wovon wir reden, aber vorher hält er vielleicht unvollständige Gefühle fälschlich für vollständig und Abwehrverhalten für ausdrucksstark.

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Das In-Einklang-Bringen von Gefühlen ist eine viel differenziertere Tätigkeit, als das gezeigte Beispiel erkennen lassen mag. Um die Vielschichtigkeit und die Feinheiten deutlicher zu machen, wollen wir den Gefühlszyklus eines Patienten innerhalb einer einzigen Sitzung schildern. Der Patient, Ramon, war seit zwei Jahren in der Therapie, als diese Sitzung aufgezeichnet wurde. Ramon und die Therapeutin Kathy, die ihm half, waren beide im Therapeuten-Trainings­programm. Wir stützen uns auf ihre anschließend gemachten Notizen über die Sitzung, um zu veranschaulichen, was geschah.

Weil Ramon verhältnismäßig offen für seine Gefühle war, können wir einen vollständigen Gefühlszyklus umreißen — von der Abwehr hin zu Gefühlen aus der Vergangenheit bis zur Reintegration auf einem neuen Gefühlsniveau in der Gegenwart. Wir können auch aufzeigen, daß das Anhalten in irgendeiner Phase des Gefühlszyklus eine unvollständige Befreiung zur Folge hätte.

Aber nicht in jeder Satzung wird der Kreis voll durchlaufen. Der Unterschied zwischen der Vervollständ­igung einfacher Gefühle und dem Durchlaufen eines Gefühlszyklus besteht darin, daß im zweiten Teil bewußte Regression stattfindet und durch die Freisetzung von Gefühlsempfindungen und -äußerungen, die in der Vergangenheit blockiert waren, eine Erhöhung des Gefühlsniveaus erfolgt. Viele Therapiesitzungen können einer einzigen Phase des Zyklus gewidmet sein, zum Beispiel, wenn ein Patient dazu gebracht wird, seine Abwehr zu spüren. Selbst bei erfahrenen Patienten konzentrieren sich viele Sitzungen nur auf gegenwärtige Gefühle und die Schwierigkeiten, die es jemandem bereitet, aus der Gefühlsbewußtheit heraus zu leben, über die er bereits verfügt. Aber früher oder später muß jeder einen Gefühlszyklus durchlaufen und sein Gefühlsniveau verändern.

In jeder Feeling Therapie-Sitzung wird versucht, die Patienten von unvollständigen, durcheinandergeratenen Gefühlen zu integralen Gefühlen, von defensiven Ersatzformen zu direktem Ausdruck zu bringen. Ob ein Patient von einem Gefühlsniveau zu einem anderen überwechseln kann oder nicht, hängt entscheidend davon ab, wie vollständig er alle Gefühle, die für ihn zugänglich sind, zum Ausdruck bringt. Wenn ein Patient. Gefühlsäußerungen zurückhält, die er spüren und erkennen kann, oder wenn er vollständigen Ausdruck durch partiellen ersetzt, dann braucht er Vergangenheit und Gegenwart nicht zu entwirren. Er braucht nur die Gefühle, die bereits bewußt sind, vollständig zum Ausdruck zu bringen. Er braucht nur die Gegenwart zu erleben, die er schon besitzt. Dann wird er auf einem bestimmten Integrationsniveau in seinem Leben funktionstüchtig sein und eine Wirklichkeit haben, die sich entfaltet und in der er sich entfaltet.

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Erste Phase: Integration  

Jede Sitzung geht zu Beginn von irgendeinem Integrationsniveau im täglichen Leben des Patienten aus. Wenn jemand aus einem höheren Gefühlsniveau heraus lebt, wird er mehr von seiner Abwehr und von seiner Vergangenheit fühlen können. Befindet er sich hingegen in seinem täglichen Leben auf einem flachen, niedrigen Gefühlsniveau, wird er während der Therapiesitzung weniger Gefühle haben. Ein neuer Patient beginnt auf einer niedrigeren Stufe der Empfänglichkeit für Gefühle und der Ausdruckskraft (I-1); ein erfahrener Patient hat seine Integrationsfähigkeit auf die Ebene der Gefühlsbewußtheit ausgedehnt, die über das hinausgeht, was ein neuer Patient aufrechterhalten könnte (I-5). Der Unterschied zwischen einem hohen und einem niedrigen Integrationsniveau im Hinblick auf die Prozesse von Abreaktion, Gegenaktion und Proaktion wird in Abbildung 2 gezeigt. Der Unterschied entwickelt sich zunehmend, wenn der Patient über längere Zeit in aufrechterhaltenem Kontakt mit anderen lebt.

 

Abbildung 2: Der Gefühlszyklus bei einem erfahrenen Patienten  

GEGENAKTION 

ABREAKTION      I-1    I-2   I-3   I-4   I-5       INTEGRATION

PROAKTION  

 

Kathy ließ Ramon zu Beginn der Sitzung einfach über das reden, was in seinem Leben vorging. Es zeigte sich bald, daß in seinem gegenwärtigen Leben sehr wenig ungesagt oder ungefühlt blieb oder irgendeine vergangene Verwirrung sein Leben beeinträchtigte. Er lebte in seinem täglichen Leben auf einem hohen Integrationsniveau, mußte aber zu einem anderen Gefühlsniveau gelangen.

Was Ramon als quälend schilderte, war, daß er gelegentlich den Gedanken hatte, er wolle jemanden erwürgen. Dieser Gedanke komme ihm manchmal, wenn er mit seiner Freundin zusammen sei, und er habe mit ihr darüber gesprochen und Gefühle darüber geäußert, daß er niedergeschlagen sei, weil er einen "verrückten Gedanken" habe. Er schrieb darüber in seinem Therapie-Tagebuch:

"Ich glaube, das Schlimmste, was ich bisher in der Therapie fühlen mußte, ist, daß ich Maureen liebe und sie mich liebt. Was mit mir passiert ist, daß, wenn wir einander sehr nahe sind und sie sich zurückzieht und zurückhält, ich all diese verworrenen Gedanken aus meiner Vergangenheit bekomme. 

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Meine Kindheit war sehr gewaltsam, und ich lernte mich zu schützen, indem ich ebenso gewaltsam war wie meine Umgebung. Aber seit ich mit der Therapie begann, spüre ich, daß ich weicher werde — Augen, Mund und Magen und alle Muskeln in meinem Körper. Früher bemühte ich mich sehr, meinen Körper stark zu erhalten, aber jetzt will ich diese Weichheit. Vor der Therapie war ich niemandem wirklich nahe und glaubte meinen wütenden Gedanken und verrückten Ideen. Wenn jemand mich bedrängte, wollte ich ihn umbringen. Ich war innerlich wie eine Bombe. 

Die Gedanken, daß ich meine Freundin erwürgen und umbringen wollte, erschreckten mich. Ich kam mir wahnsinnig und schlecht vor. Aber allmählich erkenne ich sie immer mehr als ein Zeichen dafür, daß ich etwas fühle, und daß ich die Waffen strecken muß. Ich sehe, daß viele meiner Freunde außerhalb der Therapie verrückte Gedanken haben — aber keine klaren — sie sagen: <Ich mag das Mädchen nicht mehr> und geben die Beziehung auf —, während ich Gedanken habe, die mich quälen und mich wissen lassen, daß ich die Gedanken nicht haben will; ich will das vertraute Gefühl, das ich mit Maureen habe. Zuerst verbarg ich vor ihr, was mit mir los war, aber schließlich gab ich nach, und jetzt erzähle ich ihr alles."  

 

Ramons Aussage zeigt zwei wichtige Möglichkeiten, sich zugänglich zu machen. Erstens öffnet er sich, indem er über seine verrückten Gedanken spricht, sich seiner Freundin entdeckt und ihr zeigt, was in ihm vorgeht. Er wußte, daß es ein Gefühl für ihn war, das den verrückten Gedanken hervorbrachte, aber das minderte seine Angst in der Gegenwart nicht. Nur dadurch, daß er sich offenbarte, konnte er erfahren, daß sein jetziger Gedanke nicht schlecht war — sondern ein Gefühl —, und daß seine Freundin ihn anzuhören vermochte, obwohl er sich nicht gut fühlte. Zu der Zeit, als Ramon um Hilfe bat, hatte er seine Ängste und Abwehr­mechanismen in der Gegenwart bereits durchgearbeitet.

Dadurch, daß Ramon um Hilfe bat, entschied er sich zweitens dafür, zum Fühlen zu gelangen, statt sich gegen seine verrückten Gedanken zu wehren. Er hätte sagen können: "Es ist bloß ein verrückter Gedanke" oder sich dafür bestrafen — in beiden Fällen hätte er verleugnet, daß reale Gefühle den Gedanken hervorgebracht hatten. Kathy, seine Therapeutin bemerkte dazu:

"Wenn ich mit Ramon arbeite, habe ich keine Angst vor irgendwelchen Gedanken und Gefühlen, die er zum Ausdruck bringt, und die man als verrückt bezeichnen könnte. Er ist nicht 'verrückt ohne Kontakt'. Seine Äußerungen sind verworren, aber ich spüre, daß er durch die ganze Unordnung seiner verworrenen Gefühle hindurchgehen will. Er will anderen nahe und in seinen Gefühlen sein. In mancher Beziehung ist es einfacher, ihm zu helfen, als vielen Menschen, deren Gefühle weniger gewalttätig klingen."  

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Durch die Aufrechterhaltung eines hohen Integrationsniveaus in seiner Gegenwart begann Ramon nicht mit einem vagen "Ich fühle mich schlecht", das auf irgendeine gegenwärtige Situation zurückgeführt werden mußte. Er wußte, was bewirkte, daß er sich schlecht fühlte und er hatte die Gefühle geäußert, die er empfand. Das machte es ihm leicht, die Abwehrhaltungen seiner Kindheit zu spüren. 

Wäre er als Erwachsener nicht offen gewesen, hätte die Therapeutin zuerst die erwachsenen, unterdrück­enden Abwehrmechanismen durcharbeiten müssen, ehe sie zu den verworrenen Gefühlen aus der Vergangenheit hätte kommen können. Wie ist einem zumute, wenn man von einer vollständigen Integration, bei der jedes Gefühl ausgedrückt wird und es keine Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart gibt, in einen Zustand der Verwirrung gerät? 

Ramon beschreibt es so:

"Wenn ich wirklich ganz beieinander bin, habe ich keine verrückten Gedanken, alles paßt einfach. Ich kann fühlen, was in mir und um mich herum vorgeht, und ich zeige es. Da gibt es keinen Rest oder kein Durcheinander aus der Vergangenheit. Aber ich kann dieses Gefühl nicht unbegrenzt aufrechterhalten — ziemlich bald geschieht etwas, das altes Zeug aus meiner Vergangenheit heraufbringt, und ich beginne zu fühlen, daß ich den Kontakt verliere. Ich kann immer noch verrückt von vernünftig unterscheiden, aber ich kann nicht mehr aus meinen Gefühlen heraus leben. Ich werde dann vielleicht ganz verwirrt oder verspüre manchmal eine gewaltige Spannung. Oft ist mir auch so, als verlöre ich meinen eigenen Rhythmus oder käme aus dem tritt."  

 

Zweite Phase: Gegenaktion

Kathy beschreibt, wie sie Ramon in die zweite Phase brachte, indem sie ihn seine Verrücktheit ganz ausdrücken und fühlen ließ:

Es war, als ob getrennte Gefühle versuchten, zum Ausdruck zu kommen. Er wirkte zugleich zornig und traurig. Ich bestärkte ihn in seinem Zorn, denn das war im Augenblick das stärkste Gefühl. Nach einer Weile wurde er immer erregter. Zuerst war er widerstrebend, aber dann begann er, über seine Verrücktheit zu sprechen: "Ich will töten und Menschen verletzen!" Dann ließ er zu, daß er fühlte und sich von der Abwehr wegbewegte.  

In diesem besonderen Fall war niemand da, dem er die Schuld an irgendetwas zuschieben konnte, und deshalb war es für ihn nicht sinnvoll, so wütend zu sein. Angeleitet von seiner Therapeutin wurde er verrückt wütend in der Gegenwart über völlig belanglose Dinge. Bald ließ sie ihn alles und jeden in seinem Leben angreifen.

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Er würgte und zerrte am Kissen, an den Matten, schlug gegen die Wände und die Tür. Seine heftigen Ausbrüche wurden unterbrochen von Perioden des Würgens und Erstickens. Langsam wurde sein Fühlen klarer. Er erlebte ein Gefühl aus seiner Vergangenheit und verzerrte es in der Gegenwart. Es war eine Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart. Er vermochte eine gewisse emotionale Entlastung zu erreichen, indem er seine Abwehr zum Ausdruck brachte und fühlte. Da seine Wut jedoch so verallgemeinert und diffus war, konnte er natürlich kein vollständiges Gefühl empfinden. 

Die Therapeutin bestärkte ihn darin, verrückt zu sein:

"Ich merkte, daß er sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit fühlte. Aber ich wußte auch, ihn jetzt in seine Vergangenheit zu fuhren, wäre verfrüht, denn auf die Weise würde vermieden, ihn in der Gegenwart verletzbar sein zu lassen. Wenn er nicht wußte, daß es in der Gegenwart in Ordnung war, unbeherrscht zu sein, würde er das später in der Sitzung niemals fühlen können. Er konnte in der Gegenwart 'ein rasender Verrückter' sein. Sein Körper ließ all die konfusen Empfindungen frei, die die Ursache seiner verrückten Gedanken waren." 

 

Indem er sich seinem verrückten Fühlen überläßt, erlangt er Zugang zur dritten Phase seines Gefühlszyklus — zur Abreaktion. Es ist ein sehr gefährliches Verfahren, bei einem Patienten die Verrücktheit zu fördern, wenn der Therapeut nicht ebenfalls Phasen der Verrücktheit durchgemacht hat. Es ist nämlich insofern reizvoll, verrückt zu sein, weil man dann einen Freibrief hat, irrational zu sein und Gefühle rückhaltlos zu äußern. Ein Patient kann bei allem, was als Auslöser wirkt, wütend werden — lächelnde Gesichter, bellende Hunde, Verkehrsstauungen oder blauer Himmel, was auch immer. Indes muß man wissen, daß die übermäßigen Reaktionen auf harmlose Dinge durch eine innerliche Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart ausgelöst werden.

Wir möchten betonen, daß wir, wenn wir von 'Verrücktheit' in einer Therapiesitzung sprechen, eine zum Ausdruck gebrachte Verrücktheit meinen. Menschen in Irrenanstalten erfahren es innerlich nicht, daß sie verrückt sind, sie agieren es lediglich aus. Kommt man dem Gefühl von Nichtigkeit und Sinnlosigkeit, das empfundene Verrücktheit heraufbeschwört, nahe, sind enger Kontakt und Integration in der Gegenwart erforderlich. Ohne engen Kontakt mit Kathy wäre Ramons Verrücktheit nur Theater gewesen. Aus dem Kontakt heraus kann er zulassen, daß seine Gefühle auf völlig irrationale Weise die Oberhand gewinnen. Er weiß nicht, was er fühlt oder ob er verrückt ist oder nicht. Er kennt nur das konfuse Gefühl.

Ramon würde nur so tun, als wäre er verrückt, wenn er, als Kathy seine Abwehrmechanismen unwirksam gemacht hatte, von ihr erwartete, daß sie ihm helfen würde. Das ist ein wichtiger Moment für Ramon oder jeden Patienten, der Moment, in dem er dem Fühlen, was in ihm ist, entweder entfliehen kann oder es erkennt und erlebt.

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Nachdem seine Abwehrmechanismen unwirksam waren, beschloß Ramon, sich den Gefühlen zu überlassen, die in ihm wogten. Während er sich ihnen überließ, warf er sich im Raum herum. Sein Körper begann einige der verrückten chronischen Muskelhaltungen zu entwirren. Sich windend und zuckend, mit den Füßen stpßend und um sich schlagend hatte Ramons Körper seinem Kopf die Herrschaft abgerungen; sein Gefühlsausdruck war nicht glatt und einfach, sondern unfreiwillig und krampfhaft. 

Hätte Ramon zu irgendeiner Zeit während der zweiten Phase innegehalten oder hätte die Therapeutin ihm Einhalt geboten, dann wäre er verrückt geblieben. Er hätte funktional verrückt sein können, indem er Pseudo-Einsichten hervorzaubert, um die Therapeutin zu beschwichtigen, zum Beispiel: "Ich werde so wütend auf die Menschen meiner Umgebung, daß ich einfach alle erwürgen möchte." 

Er könnte sogar eine falsche Erinnerung heraufbeschwören, die zu seiner Abwehr paßt, etwa: "Ich mußte als Kind meine Gefühle abwürgen." Oder er könnte eine reale Erinnerung heranziehen, die seiner Vorstellung von dem Gefühl entspricht, aber nicht zu dem gegenwärtigen Gefühl paßt, das er in der Sitzung empfindet. Solche Erinnerungen fungieren als Abwehr. Er hätte aber auch nichtfunktional verrückt sein können, indem er weiterhin alle erwürgen wollte. Es ist durchaus möglich, durch massive Gefühlsäußerungen irregeführt zu werden. Jedes dieser möglichen Ergebnisse wäre eine Pseudo-Katharsis mit Pseudo-Einsichten und einer nur teilweisen Auflösung der Spannung1).

 

Ramon machte nicht in der zweiten Phase halt, sondern konnte dadurch auf eine tiefergehende Gefühls­ebene gelangen, indem er seine Abwehr erfuhr, ohne zu versuchen, sein Fühlen irgendeinem idealisierten Zustand anzupassen. Zwischen seinem Toben begann Ramon zu würgen. Im richtigen Augenblick spielte die Therapeutin seine wütenden Äußerungen herunter, die in der zweiten Phase richtig waren, aber anderen Äußerungen weichen mußten, damit es zur dritten Phase kommen konnte. Es ist wichtig zu verstehen, daß, hätte die Therapeutin Ramon nicht im richtigen Augenblick Einhalt geboten, die bisher gültigen Äußerungen in sein Abwehrsystem eingebaut worden wären und er die Gefühlsbedeutung, die sie ursprünglich enthielten, verloren hätte.

Folgendes sagte Ramon in seinen Notizen über die Entscheidung zur bewußten Verrücktheit:

"Immer, wenn ich daran denke oder die Vorstellung habe, ich müßte jemanden erwürgen, fühle ich mich gewöhnlich stark, aber wenn ich tatsächlich beginne, dieses verrückte Gefühl zum Ausdruck zu bringen, komme ich mir schwach und abscheulich vor. Es ist bloß ein falsches Gefühl von Stärke, das ich habe, solange ich die Abwehr zwischen mir und der Welt aufrecht erhalte. 

Als ich wirklich zu würgen und gegen Menschen und Dinge zu wüten begann, kam ich mir unbeherrscht und schwach vor, gar nicht stark. Es tut meinem Körper weh, mich auf das Zuschlagen und Würgen vorzubereiten; ich bin dann fix und fertig wie ein alter, zusammen­geschlagener Boxer."  

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Dritte Phase: Abreaktion  

Während die Therapeutin Ramons Gefühle bis in die dritte Phase verfolgte, wirkte sie allen Abwehrformen aus der zweiten Phase entgegen. In diesem Stadium der Abreaktion brachen Ramons Wut und sein lauter Ausdruck zusammen, als er wirkliche Erstickungsempfindungen verspürte. Er begann zu würgen. Während er seine Wut zum Ausdruck brachte, fiel ihm eine Erinnerung an seinen Vater ein: daß er mit ihm gerungen hatte. 

Als die Therapeutin mit ihm arbeitete, erwähnte Ramon mehrmals, daß sein Vater, wenn er mit ihm rang, "verrückt spielte" und ihn so hielt, daß er schier erstickte. Eine vergnügliche Vater-Sohn-Betätigung wurde für den kleinen Jungen zu einem Alptraum. Kathy bemerkte dazu: "An diesem Punkt der Sitzung war Ramon nicht imstande, überhaupt irgendwelche Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sein Gesicht war bleich und seine Augen angstvoll." Der Übergang von seinem Wutanfall mit dem verworrenen Gefühl zur dritten Phase war so schlimm, daß er die Szene aus der Kindheit nicht deutlich erinnern und nichts äußern konnte als einen hilflosen, verzweifelten kleinen Seufzer mit würgenden Geräuschen.

 

Der Übergang vom Verrücktsein vor Wut zum Ersticken war für Ramon außerordentlich zermürbend. Er kehrte immer wieder zu dem Gedanken zurück, er wolle jemanden erwürgen, und das war eine Flucht vor dem einfacheren und schmerzhafteren Gefühl, erwürgt zu werden. Als er sich schließlich der Regression überließ, brach er zusammen. Es war, als befände er sich wieder in den ihn strangulierenden Armen seines Vaters. Er hatte Angst vor allem und konnte sich nicht rühren.

Die Abwehrmechanismen der dritten Phase sind sehr stark; sie hängen auch eng zusammen mit dem tatsächlichen Grund ihres Entstehens. Ramon, der Junge, konnte nur beobachten, was geschah. Als der Erwachsene die Erfahrung noch einmal erlebte, bediente er sich derselben Abwehr wie als Kind. Er nahm stellvertretend an der Szene teil2). Er war traurig — aber nicht völlig traurig. Er beobachtete nur, er blieb außerhalb seiner selbst. Wegen seiner Abwehrmechanismen erlebt er die Vergangenheit stellvertretend. Er beobachtet die Erinnerung und weint über die Erinnerung. Er fühlt nicht vollständig.

Hätte der Patient bei diesem Teil der dritten Phase haltgemacht, wäre er in einer sehr prekären Läge gewesen. Er hätte seine verrückte erwachsene Wut und seine totale Hilflosigkeit als Kind gehabt.

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Um zu verstehen, wie jemand aussieht, der in dieser Phase steckenbleibt, stellen Sie sich einen Erwachsenen vor, den Sie kennen und der Sie wegen irgendeiner Belanglosigkeit anbrüllt, während er innerlich angetrieben wird vom Druck der Hilflosigkeit aus der Kindheit. Und stellen Sie sich weiterhin vor, daß er völlig vergessen hat, was ihn antreibt. Dann wäre die Befreiung unzureichend, und es bestünde keine Möglichkeit der Transformation.

Was statt dessen bei Ramon vor sich ging, war ein anhaltendes Aufspüren des Gefühls und ein Widerstand gegen die Abwehrmechanismen, die in jedem Augenblick des Fühlens wieder auftauchten. Das bedeutete, daß der Junge Ramon dazu gebracht werden mußte, mehr als seine Hilflosigkeit zum Ausdruck zu bringen.

Ramon äußert sich darüber, wie einem zumute ist, wenn man die Regression wählt und zuläßt, daß man sich genauso fühlt wie als Kind:

"Zu Anfang der Sitzung war ich sehr heftig — aber dann kamen Gefühle aus meiner Vergangen­heit hoch und drängten die, die ich jetzt hatte, weg. Es tat mir weh zu fühlen, wie hilflos ich war. Mir war, als könnte ich überhaupt nichts tun. Ich war sehr traurig, als ich mich daran erinnerte, wie mein Papi mich würgte — aber ich hatte körperliche Schmerzen, als ich fühlte, was er meinem Körper angetan hatte. Es machte mich hilflos, und ich könnte nur darauf hoffen, daß es vorüberging." 

Kathy durchkreuzte immer wieder Ramons Rückzüge in die Hilflosigkeit, und er begann, den Zorn zum Ausdruck zu bringen, der in der zweiten Phase undifferenziert gewesen war. Er vermochte jetzt sein Gefühl auf seinen Vater zu richten, weil er fühlte, was der ihm angetan hatte. Sein Zorn war ebenso groß wie seine Hilflosigkeit. Die Therapeutin arbeitete mit Ramons Körper, um ihm zu helfen, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie er sich zusammennahm und daß es jetzt möglich war, sich gehen zu lassen und den Zorn ganz zum Ausdruck zu bringen. Ramons Wut wich dann einer erschütternden Traurigkeit, als er seinen Vater bat, er möge vorsichtig mit ihm sein und ihn nicht würgen. Der Junge bat seinen Vater flehentlich, liebevoll mit ihm zu ringen und mehr als das zu tun, nämlich immer ein liebevoller Vater zu sein.

Als sich die Erinnerung entfaltete, wurden mehr Gefühlsbereiche deutlich. Ramons Ringen mit seinem Vater war seine einzige Möglichkeit des Kontakts zu ihm. Tatsächlich war es der einzige Kontakt, den Ramon überhaupt als real empfand. Wenn er mit Ringen aufhörte und zum Abendessen ging, waren da nur die leeren Blicke der anderen Familienmitglieder und die vorwurfsvolle und nörgelnde Stimme seiner Mutter: "Wenigstens das Ersticken ist real!" 

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Dieses Kind, dem Gefühlskontakt versagt war, akzeptierte schmerzenden Kontakt, weil er darauf wenigstens reagieren konnte. Die schwerste Störung, die Menschen durchmachen, ist nicht auf traumatische oder dramatische Szenen des täglichen Lebens zurückzuführen, sondern auf ständige Kontaktdeprivation.

In den späteren Teilen der dritten Phase wurden viele von Ramons Abwehrhaltungen überwunden, und er erlebte seine Gefühle, wie er sie als Kind empfunden hatte, voll und ganz. Er war nicht länger Zuschauer, er war mitten drin. Er fühlte, daß nichts wirklich war außer dem Ersticken — daß dieser brutale Kontakt mit seinem Vater realer für ihn war als die unausgesprochenen Gefühle, die er beim Abendessen spürte. Wenn er mit seinem Vater rang, fühlte er sich lebendig. Das Ersticken stellt jetzt sein ganzes Gefühl dar — er will sich zur Wehr setzen, aber er ist schwach und hilflos. Er will, daß sein Vater ihn freiläßt, aber er kann nicht darum bitten; er hat schreckliche Angst. In seiner Einsamkeit ist nichts real als das Ersticken. Er erlebt die Welt, wie er sie kannte. Er wird von Krämpfen, Würgen, Tränen und starken körperlichen Schmerzen befallen.

Aber dieses Fühlen ist immer noch nur eine partielle Gefühlsfreisetzung, weil der Patient mit seiner Äußerung: "Nichts ist real als das Ersticken" nicht ganz auf alles, was in ihm ist, reagiert. Kathy bemerkt dazu:

"Bei der Arbeit mit Ramon an diesem Punkt der Sitzung konnte ich spüren, wie hoffnungslos er als Junge gewesen war. Er glaubte allmählich, daß es wirklich keine andere Art des Kontakts gäbe. Der Schmerz und die Traurigkeit, die er empfand, waren überwältigend. Es war, als ob der Raum mit Gefühlen angefüllt wäre. Ich wußte, es würde der Moment kommen, in dem ich ihm helfen müßte, seine kindliche Version der Realität zu überbrücken. Ich würde ihn dazu bringen müssen, zu fühlen, was tief in seinem Inneren war, nicht die Ersatz-"Realität", die er akzeptiert hatte."  

 

Vierte Phase: Proaktion  

Um den Patienten in die vierte Phase seiner Gefühle einzuführen, muß der Therapeut das ändern, was der Erwachsene in der Kindheit als Realität anzusehen gelernt hat. "Nichts ist wirklieb außer dem Ersticken" war für das Kind Ramon real, aber es war eine begrenzte Realität. Was daran weh tut, daß das Kind nichts hat außer dem Ersticken, ist daß es mehr will. Statt dessen muß es sich mit dem Gedanken abfinden, daß nichts anderes als das, was es hat, real ist. 

Kathy beschrieb, was vor sich ging:

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An diesem Punkt wußte ich, daß Ramon verlieren würde, was er erfahren hatte, wenn er nicht einen vollständigen Kontakt zu mir herstellen könnte. Ich bemerkte, daß seine Hände sich leicht bewegten, und ich fragte ihn, was er mache. "Das kann ich dir nicht sagen", erwiderte er. Zögernd erklärte er mir dann, seine "verrückten Gedanken seien wieder da". "Zeig' es mir", sagte ich. Schüchtern ging er auf mich zu, und ehe seine Hände meinen Hals umschlossen, begann er zu weinen. Er würgte mich nicht, er lernte das Umarmen. Die Art des Weinens änderte sich völlig. Er war wehrlos mir gegenüber. Er brachte alles zum Ausdruck, was für ihn als Junge und als Mann real war. Er sprach davon, wie sehr er wirklichen Kontakt und wirkliches Fühlen brauche: "Ich will nicht erwürgen. Ich will berühren."  

Ramon selbst schrieb über diesen Teil seiner Sitzung:

Ich hatte schreckliche Angst, als mir der Gedanke kam, Kathy zu erwürgen, aber ich mußte es ihr sagen. Meine Hände wurden schwache, weiche kleine Hände. Ich begann so ungehemmt zu ihr zu sprechen, wie ich es in meinem ganzen Leben nicht getan hatte. Ich konnte nicht mehr zurück­halten. Ich hatte das Gefühl, als ob mein Herz alles ausschüttete, was ich als Kind immer zurückgehalten hatte.  

Der Patient drückt aus, was er als Kind nicht konnte — er hat eine völlige körperliche Übereinstimmung zwischen Empfindung. Bedeutung und Ausdruck. Seine Wörter kommen aus seinem Körper. In der vierten Phase ermöglicht das In-Übereinstimmung-Bringen oder Ordnen der Gefühle des Jungen und des Mannes die Transformation. Transformation findet statt, wenn man den Patienten zu einer anderen Ebene des Fühlens leitet, die ihm in der Vergangenheit verschlossen war. In Ramons Fall bedeutet das, daß er als Junge nicht nur seinen Ausdruck und seine Empfindungen eingeschränkt, sondern sich auch mit Bedeutungen abgefunden hatte, die viel weniger waren, als die realen Möglichkeiten seines Lebens. In den verschiedenen Phasen eines Gefühlszyklus erweitert Ramon die Bedeutung seines Lebens, so daß auch Lebensweisen dazugehören, die für ihn völlig neu sind. Indem er mit der Therapeutin sprach, während er in engem Gefühlskontakt mit ihr war, konnte Ramon beginnen, Wahrheiten über sich und sein Leben auszusprechen.

An einem Punkt weinte er darüber, wie schwierig es für ihn sei, zuzulassen, daß die Therapeutin wirklich für ihn da sei. Mit Tränen in den Augen saß er da im Raum, verletzlich und bedürftig. Er sprach davon, wie sehr es ihn ängstigte, bloß der Ramon ohne Abwehr zu sein. Die Therapeutin arbeitete mit ihm, bis er begreifen konnte, daß sie sich um ihn kümmerte, nicht nur wie um ein verletztes Kind oder einen kranken Erwachsenen, sondern wie um einen jetzigen Freund.

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Der Austausch zwischen dem Patienten und der Therapeutin ist ein Beweis für den Beginn der Transformation. Ramon beginnt, seine Welt in eine sanfte und vertrauliche Erfahrung zu verwandeln, in der er jetzt den engen und liebevollen Kontakt erhalten und gewähren kann, der ihm immer fehlte. In dieser Phase drückt sich der Patient unmittelbar in der Gegenwart aus seinem Körper heraus aus. Er will sich als real empfinden, will reale Gefühle haben, Freude haben: "Ich will, daß das Abendessen real ist ... ich will, daß alle real sind." Sein Flehen ist von heftigem Weinen unterbrochen. Er hat sich für das Fühlen entschieden, und seine Gefühle haben ihn in eine Wirklichkeit eingeführt, die die Art und Weise verändert, wie er sich anderen gegenüber verhält, und die Art und Weise, wie er sich selbst empfindet. Er ist nicht mehr in seiner Vergangenheit gefangen.

 

Fünfte Phase: Reintegration  

Es ist nicht allgemein bekannt, daß selbst geordnete, integrale Gefühle nicht automatisch Transformation auslösen. Wenn jemand nicht von seinem früheren Integrationsniveau zu einer neuen Ebene des Fühlens gelangt, nachdem er einen Gefühlszyklus durchlaufen hat, bleibt die Transformation bei ihm unvollständig. Er muß wählen, ob er sich der bewußten Integration, die neu für ihn ist, stellen will, statt in die Unbewußtheit seiner vertrauten guten oder schlechten Seinsweise zurückzugleiten. Ramon beschrieb, wie das war:

"Als ich zuerst zur Therapie kam, hatte ich mir vorgestellt, jemand, der mehr fühlt, sei so etwas wie ein Obermensch, niemals ängstlich oder unsicher oder verletzbar. Genau das Gegenteil ist richtig. Je mehr ich mein Fühlen zulasse, um so weniger weiß ich, was mir widerfahren wird. Ich bin ganz und gar kein Obermensch, ich fühle mich weniger sicher als je zuvor in meinem ganzen Leben. Ich kann offen bleiben, weil ich meinen Gefühlen vertraue. Nach der Sitzung mit Kathy mußte ich mich anstrengen, um nicht wieder zu den verrückten Gedanken vom Erwürgen zurückzukehren, während ich doch in Wirklichkeit mehr Kontakt wollte. Als ich begann, die verrückten Gedanken und die heftigen Wünsche dadurch zu ersetzen, daß ich einfach zeigte, was ich wollte, da empfand ich sowohl mehr Nähe als auch mehr Furchtsamkeit, als ich je als Erwachsener erlebt hatte. Nach ein paar Wochen erschien es absurd, mich mit weniger abzufinden als dem, wovon ich jetzt wußte, daß ich es mit Menschen haben und fühlen konnte."

Die Integration auf einer neuen Gefühlsebene geschieht nicht automatisch. Die Feeling Therapie ist so aufgebaut, daß diese Phase der Therapie, die hauptsächlich außerhalb der Sitzung stattfindet, ebenso betont wird wie die anderen Phasen der Gefühlsfreisetzung, die in der Sitzung vor sich gehen. 

Wie das bewerkstelligt wird, wird in den späteren Kapiteln "Aufbau der Therapie" und "Die Feeling-Gemeinschaft" beschrieben.

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  Glaube nicht an Begriffe! 

Die erste, zweite, dritte, vierte und fünfte Phase gibt es nicht. Integration, Proaktion, Abreaktion und Gegenaktion gibt es nicht. Es gibt nur Augenblicke, eine Reihe von Augenblicken, die der Therapeut fühlen muß, damit er den Patienten von durcheinandergeratenen Gefühlen zu integralen Gefühlen bringen kann. Der Therapeut muß fühlen und bereit sein, dem Patienten beim Fühlen zu helfen. Er kann den Patienten nicht beschwatzen oder überzeugen. Er muß die Verrücktheit konfrontieren, indem er die Abwehr verstärkt und sie zusammen mit dem Patienten durchlebt. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Je mehr das geschieht, um sosehr beginnt der Patient, seinem Leben ins Gesicht zu sehen und zu wissen, was er fühlt, wie er sich wehrt und was er tun muß, um seine Gefühle aufrechtzuerhalten. Wenn der Patient sein Gefühl nicht aufrechterhält, wird er in die alte abwehrende Lebensweise zurück fallen und jene Gefühle verleugnen müssen, die er so mühsam wiedererlangt hat.

Beachten Sie, daß Ramon und Kathy niemals Begriffe wie "Gegenaktion" und "Abreaktion" verwenden; vielmehr sprechen sie von Gefühlen und Geschehnissen. Die Sprache, die wir entwickelten, um die allgemeinen, in der Therapie vor sich gehenden Prozesse zu analysieren, ist eine sekundäre Fachsprache, nicht die primäre Sprache, die bei der Therapie angewandt wird. Die Fachsprache ist nützlich, weil wir immer wieder vorkommende Prozesse unter einer Bezeichnung zusammenfassen und so Strukturen und Zyklen erkennen, die von allgemeiner Bedeutung sind. Aber während einer Sitzung sind alle wichtigen Geschehnisse individuelle Fakten, nicht allgemeingültige Regeln. Ramon und Kathy gehen nie aus ihren Erfahrungen heraus, um über die Therapie zu reden — sie sind in ihren Erfahrungen. Sie brauchen sich nicht theoretisch darüber klar zu werden, was vor sich geht, sondern nur dem Strom des Fühlens zu folgen und von unvollständigen Gefühlen zu vollständigen Gefühlen überzugehen.

Es ist nützlich, wenn ein Therapeut über Gefühlszyklen und integrale Gefühle und Augenblicke des Fühlens Bescheid weiß, aber sein grundsätzliches Wissen wird angereichert werden durch die besonderen Bedeutungen und Erfahrungen, die für jeden Patienten in jeder Sitzung unterschiedlich sind.

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Es läßt sich nur schwer bestimmen, wie die Theorie die Praxis eigentlich beeinflußt. Wir wissen, daß unsere Theorie, als sie differenzierter und präziser wurde, auch lehrbarer wurde. Wir stellten fest, daß wir in jeder Sitzung mit mehr Sicherheit reagieren konnten. Es scheint auch hilfreich zu sein, wenn Patienten die Theorie einer Therapie kennen; bis zu einem gewissen Grad ist eine Theorie beschreibend und zugleich beschwörend. 

Sobald Patienten über integrale Gefühle Bescheid wissen, können sie den Unterschied zwischen ihren partiellen und ihren vollständigen Gefühlen beschreiben. Das wird manchmal als ein Nachteil angesehen — Kritiker sagen: "Eure Patienten tun genau das, wovon sie wissen, daß ihr es haben wollt." Aber es ist nicht möglich, integrale Gefühle zu heucheln, und ein Therapeut wird keine Nachahmungen gelten lassen. Kathy ließ kein einziges von Ramons partiellen Gefühlen als Haltepunkt in der Sitzung gelten, weil sie zu fühlen vermochte, ob das, was Ramon ihr gegenüber zum Ausdruck brachte, vollständig war oder nicht.

In der Feeling Therapie wird nicht versprochen, daß jemand einen beständigen und dauerhaften Zustand erreicht. Gefühle werden durch Handeln aufrechterhalten. Die Patienten, Co-Therapeuten und Therapeuten müssen alle ständig neu wählen. Immer wieder müssen sie sagen: "Ich bin" und sich selbst ein Leben schaffen, das mit ihren Gefühlen übereinstimmt. Es ist ein neues Leben, das auf Verantwortung beruht, oft erschreckend ist und oft herrlich. Verläßlich ist allein ihr Vertrauen in ihre Gefühle, während das Ausmaß ihres Fühlens sich ständig erweitert. 

Schließlich reduziert sich alles auf einzelne Augenblicke. Der Augenblick ist jetzt — der Augenblick der Wahl und des Lebens. Oder wenn nicht gehandelt wird, ist es der Augenblick der Selbstverleugnung. In der Feeling Therapie gibt es kein Mittelding. Wir sind nicht so anmaßend, daß wir über unserer Tür eine Inschrift anbringen würden: "Ihr, die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren", aber wir haben ernstlich erwogen, ein bescheidenes kleines Warnschild aufzustellen, das wenigstens sagt: "Es ist nicht leicht3)."

 

Ein wenig Geschichte

 

Die Komponenten, die wir als notwendig für die Transformation bezeichnen, sind in der Geschichte der Psychotherapie nicht unbekannt. Neu ist der Nachdruck, den wir auf integrale Gefühle und einen Gefühlszyklus legen, die die Umwandlung von Verworrenheit zu Ordnung und von einer Gefühlsebene auf die andere bewirken. Wir nennen unsere Theorie die Theorie der Gefühlsverwirrung in der Psychopathologie ("Disorder Theory of Psychopathology").

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In der Feeling Therapie betrachten wir alle Formen der Verrücktheit als durcheinandergebrachtes Fühlen, das heißt, emotionale Störungen sind buchstäblich Gefühlsverwirrungen, ein Ver-Rücken, Durcheinander­bringen der Art und Weise, wie Menschen fühlen und auf ihre Gefühle reagieren. 

Es gibt in der Feeling Therapie drei grundlegende Leitsätze: 

1) Jeder Mensch hat ein Bedürfnis, seine eigene Verrücktheit zu fühlen; 
2) Jeder Mensch hat ein Bedürfnis, von der Verwirrung geheilt zu werden, die das Verrücktsein verursacht;
3) Jeder Mensch muß sein ganzes Leben lang jene Wandlung fühlen.

Fühlen ist die Verbindung zwischen Verrücktheit, Heilung und Transformation. Nicht gefühlte Empfindungen im Leben des heranwachsenden Kindes bringen es dazu, sich in seiner Verrücktheit einen heimlichen Ort zu schaffen, an den es sich zurückziehen kann. Nicht gefühlte Bedeutungen verhindern die Heilung eines Menschen, und nicht gefühlter Ausdruck verhindert die vollständige Umwandlung seines Lebens.

Unser grundlegender, allgemeiner Leitgedanke ist, daß es ein körperliches Bedürfnis gibt, die Gefühle zu vervollständigen. Integrale Gefühle sind der natürliche Zustand des Organismus, wobei, das was innen ist, mit dem übereinstimmt, was außen ist. Wenn gefühlsmäßiges Durcheinander herrscht, müssen unvollständige Gefühle vervollständigt werden. Die Vollendung eines Gefühlszyklus bewirkt a) ein Wieder-in-Einklang-Bringen der Empfindungen und Bedeutungen, die in der Vergangenheit des Patienten durcheinandergebracht worden waren, und b) eine Verschiebung der emotionalen Ausdruckskraft des Patienten auf ein Niveau, das den gefühlten Bedeutungen entspricht.

In seinem, ausgezeichneten Werk über die Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie, Die Entdeckung des Unbewußten , zeigt Ellenberger4), daß die Methode, eine emotionale Krise zu provozieren, und die darauffolgende Entladung zu lenken, schon von Tempelpriestern, Exorzisten, Somnambulen, Mesmerianern, Hypnotiseuren und den frühen kathartischen Therapeuten wie Janet, Breuer und Freud angewandt wurde. Geändert haben sich lediglich die Sprache und die Auffassungen, mit denen das Phänomen — Krise — Entladung — Erleichterung — beschrieben und erklärt wurde.

Alle Methoden, mit denen Verrücktheit umgewandelt wird, sind im Gegensatz zu Methoden, mit denen Verrücktheit bloß unterbunden wird, auf die Herbeiführung von Krisen angewiesen. Was während einer emotionalen Krise vor sich geht, wie sie herbeizuführen und zu vollenden ist, verstehen wir jetzt besser. Doch sollten wir so bescheiden sein, unsere Verwandtschaft zu Schamanen und Priestern zu akzeptieren. Das Bedürfnis des Menschen, durch seine Verrücktheit hindurchgeleitet zu werden, ist heute genauso da wie in alten Zeiten. Neu ist nur, daß wir uns nicht an die okkulten Rituale zu klammern brauchen, die einst mit Verrücktsein und Umwandlung verknüpft waren.

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Der Übergang vom Auslösen der emotionalen Krise zu einer modernen Theorie der Freisetzung von Gefühlen wurde Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich von Janet5), Breuer und Freud6) vollzogen. Ihr grundlegender Beitrag bestand darin, eine emotionale Krise herbeizuführen und die freiwerdenden Gefühle auf bestimmte Geschehnisse in der Vergangenheit des Patienten zu lenken. Die Katharsis hat den Vorzug, daß sie den Schwerpunkt von einer symbolischen Krise und Befreiung auf eine spezifische und persönliche Befreiung verschiebt. Was der Patient durchgemacht hat, kann er dann in bezug auf sein eigenes Leben verstehen, nicht in bezug auf irgendwelche Vorstellungen von Geistern oder Teufeln oder Giften oder mesmerianischen Kräften.

 

Es hat viele kathartische Therapien gegeben und gibt sie immer noch. Eine unvollständige Liste würde enthalten: Ferenczis Aktive Analyse, Orgon-Therapie, Bioenergetische Analyse, Autogene Therapie, Primärtherapie, Schreittherapie, Implosionstherapie, Re-Evaluations-Counseling , Hynotherapie und Narkotherapie.7) Die erste Freudsche Therapie, 1895 von Breuer und Freud in Studien über Hysterie beschrieben, war eine kathartische Therapie. 

Worin die vielen Unterschiede zwischen den verschiedenen kathartischen Theorien auch bestehen mögen, im wesentlichen sind sie der zuerst von Breuer und Freud vorgelegten Theorie bemerkenswert nahe geblieben:

1) Neurose wird verursacht durch "psychische Traumen". "Als solches kann jedes Erlebnis wirken, welches die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft....", sofern nicht "auf das affizierende Ereignis energisch reagiert wurde" (Breuer und Freud, Studien über Hysterie, S. 84 und 87 der Imago-Ausgabe).

2) Neurotische Reaktionen verschwanden, "... wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab". (S. 85)

3) Die Aufgabe des Therapeuten "liegt nur darin, ihn (den Patienten) dazu zu bewegen, daß er die verursachenden pathogenen Eindrücke reproduziert und unter Affektäußerung ausspricht". Um das zu erreichen, muß der Therapeut "einen Widerstand überwinden", "eine psychische Kraft bei dem Patienten ... die sich dem Bewußtwerden (Erinnern) der pathogenen Vorstellungen widersetzt". (S. 286 u. 268).

4) Neurose ist im wesentlichen eine "Spaltung des" Bewußtseins" zwischen Erinnerung und Affekt, und das Kernproblem bei der Neurose ist es daher, diese Spaltung zu heilen, denn das "hebt die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung auf" (S. 91 und 97).

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Obwohl diese Zitate ungeordnet und aus dem Zusammenhang gerissen sind, vermitteln sie doch genau die Grundgedanken, derer sich Breuer und Freud bedienten, um ihre klinischen Beobachtungen in ein System zu bringen. Der Grund, warum diese Gedanken in jeder nachfolgenden abreaktiven Therapie wieder auftauchen (manchmal mit anderen Bezeichnungen), ist, daß sie der primären klinischen Erfahrung des Klinikers sehr entsprechen. 

Andere Leser der Studien legen besonderen Wert auf Abschnitte, in denen Freud Phänomene und Gedanken erwähnt, die später in der klassischen Psychoanalyse besondere Bedeutung erhalten sollten, zum Beispiel infantile Sexualität (vgl. James Strachey's "Introduction to the Studies"). Unserer Ansicht nach weisen Breuers und Freuds Begriffe — Trauma, Abreaktion, Katharsis, Widerstand, Abwehr und Spaltung — auf die grundlegenden Praktiken und Prozesse hin, die zu jeder transformierenden Therapie gehören müssen.

 

Zu den grundlegenden Konzeptionen, die allen Gefühle freisetzenden Therapien gemeinsam sind, fügt die Feeling Therapie weitere Gedanken hinzu:

1) Unterdrücken wird aufgehoben durch Ausdruck. Das Gegenteil der Unterdrückung eines Gefühls ist sein Ausdruck. Daher muß ein Patient nicht nur Erlebnisse, bei denen seine Gefühle blockiert waren, erinnern und über sie berichten, sondern aktiv Traurigkeit, Wut, Schmerz, Zorn oder andere Emotionen, die dem Erlebnis Bedeutung verliehen, zum Ausdruck bringen. Das bedeutet Abreaktion.

2) Ehe ein blockiertes Gefühl zum Ausdruck gebracht werden kann, muß der Patient angeleitet werden, die Abwehr auszudrücken, die das Gefühl verdeckt. Wenn er bewußt eine Abwehr zum Ausdruck bringt, kann er den Schmerz verspüren, den die Abwehr verursacht. Das, ist Gegenaktion.

3) Auf Abreaktion und Gegenaktion muß die Proaktion folgen. Das heißt, sobald ein Patient das Gefühl aus der Vergangenheit wiedererlebt und zum Ausdruck gebracht und verstanden hat, wie er es in der Gegenwart ausgelebt hat, muß er jedes Wiederauftauchen von Äußerungen oder Abwehrmaßnahmen aus der Vergangenheit ersetzen, wenn er in der Gegenwart entsprechend handelt. Er muß beginnen, neue, erwachsene Ausdrucksformen mit den alten Gefühlen zu verknüpfen.

4) Offenheit für das Fühlen kann nur bewahrt werden, wenn neuerlich vorhandene Gefühle mit gegenwärtigen Bedeutungen zum Ausdruck gebracht werden. Das ist Integration — das Leben auf der neuen Ebene der Gefühlsbewußtheit.

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5) Abreaktion - Gegenaktion - Proaktion ergeben zusammen eine Dynamik, die es dem Menschen ermöglicht, sein Leben dadurch zu integrieren, daß er aus Gefühlen in der Gegenwart heraus lebt und blockierte Gefühle aus der Vergangenheit freisetzt. Das ist die Dynamik der Transformation.

6) Jeder Erweiterung des gefühlten Zugangs zur Vergangenheit muß eine gleich große Erweiterung des Fühlens in der Gegenwart entsprechen. Wenn das nicht der Fall ist, geht die erlangte Offenheit für das Fühlen verloren. Das ist das Prinzip des im Gleichgewicht befindlichen therapeutischen Vorgehens.

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Diese Leitprinzipien der Therapie wurden auf empirischem Wege erreicht. Sie sind theoretische Zusammen­fassungen unserer klinischen Erfahrung. Sie überschneiden sich mit den Grundgedanken, die Breuer, Freud und Janet zuerst hatten, und erweitern sie. Aber ebenso wie Freud und Janet es für notwendig hielten, über die Abreaktion als einzige Komponente therapeutischen Wandels hinauszugehen, tun wir es auch. Es gibt einige heutige Theorien, und zwar die Primärtherapie und die Schreitherapie, die im wesentlichen nicht mehr sind als Neuauflagen von Abreaktion und Krisenherbeiführung. Wir möchten nachdrücklich feststellen, daß Abreaktion allein unzureichend ist.

Patienten und Therapeuten werden häufig durch die Kraft abreaktiven Freisetzens zu dem Glauben an ihre Heilkraft verleitet — aber die Heilung hält genauso lange an wie der Glaube und nicht länger. Abreaktion beseitigt früheren Schmerz nicht und hält auch einen Menschen nicht davon ab, sich selbst Schmerz zuzufügen, den er durch Abwehr fortbestehen läßt. Nur die Vervollständigung eines Gefühlszyklus kann eine Transformation von Durcheinander zu Geordnetheit, von Abwehr zu Ausdruck und von einer Gefühlsebene zur anderen bewirken.

 

    Die Theorie der Gefühlsverwirrung in der Psychopathologie   

 

Heilen und Transformation gehen Hand in Hand. Jeder von uns muß von der auf verrückte Weise durch­ein­ander­gebrachten inneren Welt geheilt werden, aus der heraus wir unser Leben führen. Aber dieses Heilen und Ordnen ist auch eine Umwandlung, ein Umschwenken von einer Gefühlswirklichkeit zu einer anderen. In der Feeling Therapie nutzen wir die Verrücktheit eines Patienten, um sein Leben zu verwandeln. Wir beschwören Krisen herauf und provozieren sie und bringen dadurch die Verrücktheit an die Oberfläche. Der Patient muß dann einen Zusammenbruch seiner Abwehr und eine Erschütterung seines vertrauten Gleichgewichts durch­machen.

Was Zusammenbruch und Erschütterung des Gleichgewichts sind, können wir besser verstehen durch eine gründliche Untersuchung, wie die Gefühle durcheinandergebracht werden.

Die Theorie der Verwirrung der Gefühle in der Psychopathologie der Feeling Therapie verschiebt den Schwerpunkt von der Konzentration auf Abreaktion und Trauma auf das vorrangige Interesse an einem vollständigen Gefühlszyklus.

Die Traumatheorie und die Theorie der Gefühlsverwirrung sind natürlich miteinander verwandt. Kindheits­traumen sind stark durcheinanderbringende Erfahrungen — sie rufen heftige innere Störungen hervor. Indes kann es sein, daß ein Kind sehr wenige traumatische Erlebnisse hat und dennoch völlig durcheinander ist.

Die Theorie der Gefühlsverwirrung gibt zu, daß Traumen vorkommen, aber sie sind nicht die Haupt­gescheh­nisse in der Kindheit. Vielmehr sind Kinder, deren Gefühle von Natur aus vollständig sind, von Erwachsenen umgeben, deren Gefühle verworren und unvollständig sind. Kinder lernen es, sich zurückzuhalten und zu zügeln und Ersatzformen zu akzeptieren. Als Erwachsene behalten sie ihre unvollständigen Gefühle bei, indem sie ihre Äußerungen, Empfindungen und Bedeutungen verwirren, um sich einer Welt anzupassen, die nicht mehr existiert. 

In den nächsten beiden Kapiteln werden wir eine vollständige Analyse darüber vorlegen, was Gefühls­verwirrungen genau sind und wie sie entstehen.

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