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6. Die Therapie-Erfahrung

 

 

    Das Wesen der Therapie   

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Es ist wichtig zu verstehen, daß die Feeling-Therapeuten keine Therapie machen: sie sind die Therapie. Unsere Therapeuten verkörpern das Wesen der therapeutischen Erfahrung — das Erkennen und die Bejahung des Fühlens, die Wahl, zu fühlen, und die Vervollständigung der Gefühlsreaktionen. Bei unserer Ausbildung im Center bieten wir sehr wohl ein Programm an, das didaktische und direkt überwachte klinische Arbeit einschließt, aber die Bedeutung des Satzes "Wir sind die Therapie" wird immer wieder betont, wie die folgenden Absätze aus der Einführung zu unserem Ausbildungsbuch zeigen:

Als fühlendes menschliches Wesen bist du bereits fähig, anderen Menschen zu helfen, ganz be­son­ders, wenn du gut zuhörst und jemandem behilflich bist, sein Fühlen unter dem oberflächlichen Gerede, das er dir bietet, zu erkennen. Das Wesentliche unserer Therapie besteht darin, dein vollständiges Fühlen einer anderen Person gegenüber zum Ausdruck zu bringen, um ihr damit die Möglichkeit zu bieten, ihre vollständigen Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

Du wirst im Verlauf der Ausbildung den Unterschied zwischen eigenem Reagieren und therapeut­ischem Reagieren kennenlernen, aber es wichtig zu wissen, daß du immer noch du bist, wenn du als Therapeut arbeitest, genauso, wie wenn du mit jemandem schläfst, Bowling spielst, kochst, redest oder sonst etwas tust. Deine Gefühle sind immer deine eigenen und brauchen nie aufgegeben zu werden. Deine Reaktionen werden therapeutisch in dem Augenblick, in dem du die Verantwortung übernimmst, einem anderen zu helfen.  

Es gibt zahlreiche Variationen zu dem Thema des Reagierens zu seinem eigenen Wohl oder zum Wohl eines Patienten. Einer unserer Therapeuten, Werner, unterscheidet die beiden Arten folgendermaßen:

"Ich kann meine Gefühle für mich ausdrücken und zeigen; mit meinem Patienten kann ich meine Gefühle für ihn ausdrücken und zeigen. Auf sich reagieren bedeutet, ich lasse nicht zu, daß meine Verrücktheit den Sieg über mich davonträgt; beim therapeutischen Reagieren lasse ich nicht zu, daß das Verrücktsein des Patienten den Sieg über ihn davonträgt. 

Für mich selbst könnte ich sagen: <Dabei habe ich kein gutes Gefühl>, und das gibt mir eine Chance zu fühlen. Zu meinem Patienten könnte ich sagen: <Dabei habe ich kein gutes Gefühl. Was meinst du eigentlich?> Das gibt ihm die Chance zu fühlen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß mein Reagieren auf mich selbst sich auf meine eigenen Gefühle bezieht, während mein Reagieren auf den Patienten ihn dazu bringt, sich seine Gefühle zu eigen zu machen."  

 

In einer Therapie-Sitzung erfüllt ein Feeling-Therapeut die Pflichten eines Therapeuten, indem er seinen Patienten Möglichkeiten zu fühlen bietet. Der Feeling-Therapeut führt sein Handwerk aus einer inneren Position des Wissens heraus aus, die manchmal erstaunlich oder sogar arrogant erscheinen mag. Patienten sagen manchmal: "Wie kannst du das wissen?" oder "Du warst nicht dabei; wie kannst du sagen, was wahr ist und was nicht?" Das Wissen des Therapeuten rührt von der Tiefe seines Fühlens her. Er ist ein höchst sensibler Lügendetektor, der die Dissonanz der nicht stimmigen Worte seines Patienten und die Disharmonie seiner Handlungen fühlen kann. Das ist möglich, denn wenn der Ausdruck eines Menschen vollständig ist, entsteht ein Gefühlsstrom; ist der Ausdruck verworren, kann das als eine Unterbrechung des Stroms gefühlt werden1).

Durcheinandergeratene Menschen übermitteln ihre unvollständigen Gefühle arhythmisch und unharmonisch. Wie glatt ihre Sprache auch sein mag oder wie gewandt ihr Benehmen, der Therapeut spürt den verworrenen Ausdruck. Gefühlsverwirrung kann innerhalb einer Person und auch zwischen Menschen gefühlt werden. Innerhalb seiner Person selbst kann der Fühlende es spüren, wenn seine eigenen Empfindungen, Bedeutungen und der Ausdruck nicht übereinstimmen; er fühlt sich nicht gut, wenn er seine Gefühle abstumpft oder umbiegt. Im Kontakt mit anderen kann der Fühlende die Verworrenheit verrückten Ausdrucks auf sich zukommen fühlen. Was als eine sozial akzeptable Gefühlsäußerung gelten könnte, wird von einem Feeling-Therapeuten immer als falsch entdeckt werden, weil er die Gefühlsverwirrung hinter dem Inhalt bemerkt.

Wir bemühen uns besonders, die Bedeutung von Gefühlsreaktionen und Wahrnehmungs­vermögen zu betonen, weil das entscheidend wichtig ist, um die Praxis der Feeling-Therapie zu verstehen. Wir haben bereits gesagt, daß vollständige Gefühlsreaktionen grundlegend sind, um voll und ganz zu leben. Therapie heißt, die Hilfe zu erhalten, um aus dem Gefühl heraus zu leben. Die Hilfe, die wir für uns erhalten, stammt aus den Reaktionen anderer Feeling-Therapeuten; die Hilfe, die wir gewähren, stammt aus unseren vollständigen Gefühls­reaktionen.

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   Freiwilliges Verrücktsein   

 

Freiwilliges Verrücktsein bedeutet, daß der Patient sich verfügbar machen und sich dafür entscheiden muß, verletzbar zu sein. Das ist sein erster Schritt. Dazu muß der Patient vor allem zulassen, daß er seine Verrückt­heit fühlt und spürt, wie er sich selbst durcheinanderbringt

Das läßt sich allein durch den Entschluß, die Wahrheit zu sagen, nicht erreichen. Worauf es ankommt, sind die kleinen, jeden Augenblick wieder getroffenen Entscheidungen. Gefühle so zu zeigen, wie sie sind, ohne auf Ersatz­formen auszuweichen. 

Das ist nicht einfach, denn die Menschen erkennen ihre Gefühlsverwirrungen nur selten. Zuerst wird der neue Patient das Gefühl haben, er werde "verrückt" gemacht. Manchmal wird ein Patient aufschreien: "Das halte ich nicht aus — ich werde sterben, ich werde sterben!" Er hat recht, aber nur bildlich. Das, was er als Sterben spürt, ist das Sterben des einzigen "Ich", das er je gekannt hat — die umgebogene Persönlichkeit "Ich" und die damit verbindenden Vorstellungen, Symbole, Rollen und Ersatzbefriedigungen.

Es ist wichtig zu verstehen, daß verworrene Menschen nicht unbedingt ihre Verwirrung fühlen oder ändern wollen. Darum können sie ihr Leben lang aus nicht stimmigen Empfindungen und Bedeutungen, heraus leben, sich immer wieder Schmerz zufügen und glauben, es ginge ihnen gut. Sie machen sich und die Menschen ihrer Umgebung verrückt. Denn sie haben die Entscheidungsfreiheit verloren, nicht an Verrücktheit zu glauben. Die Beraubung um die Wahlmöglichkeit geschieht schon früh in der Kindheit, wenn es zu gefährlich und schmerzhaft gewesen wäre, nicht nachzugeben, nicht zu glauben. Gefühllos zu werden, ist die Art und Weise, wie sich das Kind mit seiner Existenz in einer verrückten Welt abfindet.

Man kann nicht plötzlich aufhören, verrückt zu sein. Man kann nicht sofort auf alle Vorstellungen, Ersatzformen, Rollen und Symbole des Daseins verzichten, denn dann würde man die erschreckende Wahrheit der eigenen Verrücktheit entdecken. Man braucht jemanden, der einen in die Realität der Impulse, Gedanken und des Ausdrucks ein- und hindurchführt. Der verrückte Mensch ist ein Wanderer, der gelernt hat, sich nach einem irren Kompaß des Lebens zu richten: West - Prestige; Süd - Sex; Nordost - Geld; Ost - Macht. Er schweift in eine Richtung nach der anderen, glaubt, er werde "hinkommen" und hält nie inne, um festzustellen, daß er genau dort, wo er steht, zu fühlen beginnen kann.

Wenn Menschen verrückt sind, werden Aufforderungen, gesund zu werden, als Drohungen empfunden. Eine typische Aussage eines Patienten könnte lauten: "Du willst mich dazu bringen, etwas zu fühlen." Wir Feeling Therapeuten können anstacheln, sondieren, anleiten, lenken, zeigen, einführen, sammeln, führen und entgegenwirken — aber wenn ein Patient es ablehnt, das freiwillige Verrücktsein zu wählen, wird er nicht zu einer Gefühlserfahrung kommen. Die Mehrzahl unserer Patienten hat den Wunsch, einem Therapeuten zu vertrauen, und entscheidet sich, in verletzbarer Weise offen für dessen Reaktionen zu sein; andere brauchen mehr Zeit und geben ihre Verrücktheit nur widerwillig auf.

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Aufforderungen, sich für das Fühlen zu entscheiden, erschrecken die meisten Patienten zuerst. Sie sind so viele Jahre verrückt gewesen, daß solche Anregungen zu anderen Möglichkeiten beängstigend sind. Der vernünftig Verrückte lebt ein Leben unbewußter Verrücktheit. Das heißt, er läßt sich treiben und merkt gar nicht, was er sich selbst antut und was ihm angetan wird. Seine Wahlmöglichkeiten sind streng begrenzt — Jahr für Jahr dieselbe Ernährung, dieselben Gewohnheiten, dieselben Gespräche, dieselben Ängste und beunruhigenden Gedanken.

Sich für die bewußte Verrücktheit zu entscheiden, bedeutet, das Ungleichgewicht vorgetäuschter Geordnet­heit zu empfinden; es bedeutet weiter das Zusammenbrechen von Lügen und die Reintegration des Fühlens auf einer neuen Ebene der Klarheit und Aufgeschlossenheit.

Es bedeutet auch, freiwillig die Verletzbarkeit statt der schützenden Abkapselung zu wählen. Ein Patient gibt nicht alles auf einmal auf — das ist unmöglich. Aber mit der jeden Augenblick neu getroffenen Wahl, zu fühlen, erlangt er einen Teil des Lebens zurück und trennt sich von einem beunruhigenden Stückchen Verrücktheit. Das leitet das Gesundwerden ein.

 

   In Übereinstimmung bringen   

 

Wir können ganz allgemein beschreiben, was der Therapeut tut, indem wir fünf Tätigkeiten anführen: er spürt Gefühle auf, konzentriert das Fühlen, wirkt Widerständen gegen das Fühlen entgegen, erleichtert den vollen Ausdruck eines Gefühls und leitet am Ende einer Sitzung den Patienten an, über die Einsichten zu sprechen, die aus seinen Gefühlserfahrungen hervorgehen. 

Aber diese Beschreibungen sind irreführend, denn der Therapeut beschließt nicht, Gefühle aufzuspüren und zu konzentrieren — er reagiert einfach aus seinen Gefühlen heraus, und diese Reaktion besorgt das Aufspüren und Konzentrieren. Keine dieser Tätigkeiten ist mit einer spezifischen Technik verknüpft. Unserer Ansicht nach ist die einzige wirkungsvolle Technik ein Feeling-Therapeut.

Während einer Sitzung hört der Therapeut dem Patienten zu und kann wahrnehmen, wenn eine Diskrepanz zwischen dem berichteten Erlebnis und seinem Ausdruck besteht. Das ist ein Hinweis darauf, daß der Patient in diesem Augenblick durcheinander ist. Jedes Vermischen von vergangenen Empfindungen und gegenwärtigen Bedeutungen läßt sich daran feststellen, wie der Patient aussieht und klingt.

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Sein Gefühlsausdruck wird verworren sein und sein gesamtes Verhalten ebenfalls. Zum Beispiel mag eine Frau lustlos klingen, wenn sie von den Freuden des Orgasmus spricht, oder kichern, wenn sie von einem gefährlichen Erlebnis berichtet. Oder — weniger offensichtlich: sie mag ganz richtig aussehen und klingen, aber sie fühlt sich für den Therapeuten, der auf in Einklang gebrachte Gefühle eingestimmt ist, nicht richtig an.

Emotional in Unordnung gebrachte menschliche Wesen wirken auf Feeling-Therapeuten ebenso vermixt wie gemischter Salat mit Schokoladensauce übergossen. Verworren zu sein heißt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Kind und gealtertem Kind hin und her zu driften. 

Einige typische verworrene Aussagen sind:

"Mir liegt wirklich an meinen Eltern, aber es ist schwierig, mit ihnen zusammen zu sein."  
"Ich will einfach bumsen; am Reden liegt mir nichts."  
"Ich liebe meine Frau, aber es ist schwierig, keine Seitensprünge zu machen."  
"Ich möchte wirklich Sex haben, aber es gibt so wenige feinfühlige Männer."  
"Mein Körper will wirklich mit dir ins Bett gehen, aber ich bin mehr fürs Geistige."  
"Ich möchte das auch wollen können."  
"Ich liebe dich, aber mein Körper noch nicht."  

Solche Wolkenkuckucks-Aussagen machen die Menschen tagtäglich; sie verharren in ständiger Unbeweg­lich­keit. Jede Aussage enthält eine Mischung von Vergangenheit und Gegenwart, Kind und Erwachsenem, Denken anstelle von Fühlen, Zweifel im Gegensatz zu Gewißheit, Kompliziertheit anstelle von Einfachheit. In Tabelle 1 stellen wir die charakteristischen Merkmale, die für geordnete Gefühlsäußerung in der Abreaktion oder Integration typisch sind, den verwirrten halben Äußerungen gegenüber, die durcheinandergeratene Gefühle kennzeichnen.

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Tabelle 1: Gefühlsstile (Abreaktion und Integration) und verworrene Stile (Gefühlsverwirrung)

 

 

Zeitraum

Lebensstil

Ausdrucks-
bereich

Fühlen

Ausdruck

Aufnahme / Ausdruck

Abreaktion

Vergangenheit

aktiv

flexibel

vollständig

stark 

sucht und ermöglicht Kontakt / offen

Integration

Gegenwart

aktiv

flexibel

vollständig

stark

sucht und ermöglicht Kontakt / offen

Gefühls-
verwirrung

durcheinander

passiv

starr

partiell

zurückhaltend

vermeidet Kontakt / bloß reagierend

 

Feeling-Therapeuten brauchen die Verrücktheit eines Patienten nicht herbeizuführen — sie ist dauernd vorhanden und wird jedesmal sichtbar, wenn eine vollständige Gefühlsreaktion verlangt wird. Jede Nichtübereinstimmung von Ausdruck und Gefühl wird eine grundlegende Verworrenheit im Leben eines Menschen offenbaren. Nichts ist zufällig: die Art, wie jemand seinen Körper hält, um Reaktionen zu unterbinden, oder die Art und Weise, in der er seine Worte wählt, um etwas Bestimmtes zu sagen und nicht etwas anderes, oder wie er sich mit mehr oder weniger Heftigkeit als erforderlich ausdrückt — all das sind Verrücktheitsmuster. Die vernünftig Verrückten hören nie lange auf, sich selber verrückt zu machen.

 

   Die grundlegende Anweisung   

 

Alles, was ein Feeling-Therapeut zu tun braucht, ist, nur mit einem Patienten zusammen im Raum zu sein. Der verworrene Patient empfindet ihn als anders. Der Therapeut kommt immer wieder auf ein und dieselbe simple Anweisung zurück: "Rede einfach für dich." Irgendwelche <Techniken>, die gebraucht werden, ergeben sich von selbst, wenn der Ausdruck des Gefühls mehr und mehr zu einer Übereinstimmung von früheren Empfindungen mit früheren Bedeutungen oder von gegenwärtigen Empfindungen mit gegenwärtigen Bedeutungen gelangt.

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Spezifische Verfahren, um Verwirrung, Passivität, Starrheit, Weitschweifigkeit, Zurückhalten und Verleugnung entgegenzuwirken, ergeben sich während der Sitzung von selbst.

Da unseren Patienten von vornherein bekannt ist, daß die Feeling Therapie eine intensive und ausdrucks­starke Therapie ist, bemühen sie sich manchmal sehr, so intensiv und ausdrucksstark zu sein wie sie nur können. Manche Patienten versuchen es mit Hysterie, aber Hysteriker sind die großen Schauspieler in der klinischen Welt. Was sie in Szene setzen, ist eine Gefühlsäußerung, die ungeordnet und ohne Kontext ist. 

Es kann mehrere Wochen oder Monate dauern, bis die Patienten wissen, was es heißt, Gefühle aus der Vergangenheit vervollständigen und aus vollständigen Gefühlen in der Gegenwart heraus zu leben. Es ist nicht einfach für sie, zwischen dem symbolischen Ausagieren der Vergangenheit und dem Fühlen, was wirklich geschah, zu unterscheiden. Und es ist ebenso schwierig für sie, zu erkennen, daß alle Gefühle einfach Gefühle sind; es gibt keine guten oder schlechten, richtigen oder falschen Gefühle.

Zuerst kann die Anweisung: "Rede einfach" von den Patienten nicht befolgt werden. Sie werden versuchen, über ungefähr alles zu reden, bloß nicht einfach. Sie werden versuchen, mehr zu tun; sie reagieren mit allerlei Klischees, antworten mit vorgetäuschter Reserviertheit und ziehen irgendeine besondere Sorte von Philosophie heran. Einige Patienten bringen sogar ein Buch mit und sagen: "Dieses Buch gibt wirklich meine Gefühle wieder." Viele Patienten "versuchen" zu fühlen; sie "versuchen" die einfache Anweisung zu verstehen, aber ihre Verrücktheit verzerrt sie zu etwas anderem. 

Ein Patient reagierte folgendermaßen: 

"Du meinst bloß reden — stimmt's? Über irgend was, was ich will? Na schön, okay. Aber warte mal, was hat das damit zu tun, zu meinen Gefühlen zu kommen? Es ist Reden — stimmt's? Wenn Reden Reden ist, was ist dann die Therapie? — Ich will Therapie, Mann. Taten sprechen lauter als Reden. Reden ist billig. Reden kann jeder. Reden ist Reden. Gib mir irgendetwas zu tun." 

Manche Patienten versuchen den Therapeuten zu überzeugen, daß sie "mehr beieinander" seien als er glauben mag, während andere bestrebt sind, den Therapeuten zu überzeugen, daß es ihnen schlechter gehe als er glauben mag. Aber was kein Patient zuerst fertig bringt, ist, einfach im selben Raum wie der Therapeut zu leben und für sich zu reden.

Wie schwierig es für den durcheinandergeratenen Patienten ist, einfach mit dem Therapeuten in einem Raum zu sein und über sein Leben zu reden, zeigt das folgende Beispiel. Gordon ist Mitte dreißig und war schon in verschiedenen anderen Therapien, ehe er zu uns ins Center kam.

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In der ersten Sitzung erzählte er seinem Therapeuten, er habe den ganzen Vormittag an seine Mutter gedacht. Als er aufgefordert wurde, mehr über diese Gedanken zu sagen; erwiderte Gordon, er habe sich angespannt gefühlt, als er sich daran erinnerte, wie seine Mutter ihn ansah, wenn sie redete, als er ein kleiner Junge war. Er sagte, ihre Augen seien durchbohrend und kalt gewesen und ihr Mund verkniffen. Er begann sofort zu schreien: "O nein ... o nein ... o nein ... o nein" und weinte ungefähr fünf Minuten lang, bis er erschöpft aufhörte. Obwohl sein Ausbruch heftig zu sein schien, war es kein vollständiges Gefühl. Tatsächlich war er sehr ungefährlich. Der Patient fühlte sich niemals am Rande von etwas Schreckerregendem oder Unbekanntem; er hatte dasselbe Theater mehrmals bei anderen Therapeuten gemacht. Tatsächlich bedeutete es etwas aus seiner Vergangenheit, das er wieder darzustellen versuchte, aber es dauerte mehrere Wochen, bis er zu der passenden Bedeutung gelangte.

Gordon mußte als erstes die Erfahrung machen, daß solche Ausbrüche es ihm unmöglich machten, bloß im Raum zu sein und einfach für sich zu sprechen. Mit der Zeit erkannte er, daß er solche Ausbrüche als eine Möglichkeit benutzte, das Fühlen ungefährlich für ihn zu machen. Es für ihn ungefährlich machen bedeutete, sich eines vertrauten, gut geübten Ausbruchs zu bedienen und im voraus zu wissen, wohin ein bestimmtes Gefühl führen würde. Es bedeutete auch, daß er über seine Gefühle getrennt von sich reden und ziemlich sicher sein konnte, daß der anwesende Therapeut einen solchen Schwall von Gefühl billigen würde. Jeder dieser Aspekte von Gordons verworrenem Gefühlsausdruck mußte geordnet werden. Ersatzbedeutungen, -empfindungen und -äußerungen mußten aufgegeben werden, ehe er bloß für sich sprechen konnte.

An einem Punkt zu Beginn von Gordons Therapie durfte er in seinen Sitzungen nichts anderes tun als ruhig atmen und hörbar ausatmen. Häufig unterbrach Gordon das Atmen und rief aus: "Okay, jetzt weiß ich, warum du willst, daß ich das mache — ich kann nicht einfach reden, stimmt's? Okay, ich hab's kapiert. Ich habe einen Denkzettel bekommen. Was jetzt?" — "Jetzt atme", antwortete sein Therapeut, "und atme weiter".

Das war keine esoterische Yoga-Übung, die der Therapeut Gordon auferlegte; er brachte den Patienten lediglich auf das Gefühlsniveau, das er wirklich hatte2). Auf keine andere Weise konnte Gordon die Instruktion: "Sei voll da und rede" befolgen. Seine Protestrufe waren nur auf Effekt berechnet. Die fühlende Person wird dagegen durch Affekt bewegt.

Manchmal hörte Gordon dann wieder mit dem ruhigen Atmen auf Und ließ im Brustton der Überzeugung einen Redeschwall vom Stapel: "Glaubst du, ich halte das für Therapie? Vor Gericht würde sich keiner täuschen lassen. Das hier ist Atmen — aber ich will, daß mir gezeigt wird, daß mir das hilft." Sein Therapeut antwortete darauf: "Atme nur und hör' auf, deinen Fall vor Gericht zu vertreten."

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Gordons Therapeut mußte jedem Effekt, den sein Patient hervorbrachte, um nicht zu fühlen, entgegen­wirken. Immer wieder brachte er Gordon zu der einfachen Erfahrung zurück, zu atmen und Laute herauszulassen.

Gordon oder irgendein anderer Patient haben keine Möglichkeit, sich vorzustellen, was ihr Therapeut tut oder tun wird. Die entgegenwirkenden Reaktionen eines Therapeuten sind immer für diesen einen Patienten in diesem Augenblick und an diesem Ort bestimmt; selten werden sie je wiederholt. Techniken werden dagegen immer wieder angewandt und können vorausgesehen und in die Verwirrung eines Patienten eingebaut werden. In der Feeling Therapie bedeutet vorwegnehmen, erraten, erklären oder psychologisieren woanders sein' als zu leben und dem Therapeuten in dem Augenblick zu antworten, in dem er eine Frage stellt. "Sei voll da und rede für dich" kann nicht erklärt werden. Es kann nur erfahren werden, und in diesem Augenblick kann alles und jedes gefühlt werden.

Bei dem nächsten Beispiel können wir deutlich sehen, daß der Patient Glenn nicht imstande war, für sich zu reden. Er war außerordentlich passiv. In diesem kurzen Protokoll hat ihn sein Therapeut gerade angewiesen, darüber zu reden, wie er für seinen Körper sorgt.

P: Wie meinst du das?  
T: Nun ja, wie oft badest du?  
P: Hm ... Ich bade nicht. Ich dusche vielleicht ein- oder zweimal in der Woche. (Schweigen)  
T: Nun los, sag mehr.  
P: Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Ich dusche eben. (Längeres Schweigen)  
T: Na schön, dann reden wir von 'eben duschen'. Wie lange duschst du? Eine Stunde? Zwei Minuten?  
P: Hm ... kurz. Fünf Minuten oder weniger.  
T: Das ist ziemlich kurz für einmal in der Woche.  
P: Na ja, ich verschwende nicht gern Wasser.  
T: Deinen Körper waschen ist Wasserverschwendung?  
P: (lacht) Nein ... Ich meine, sich waschen ist keine Wasserverschwendung, aber zuviel Wasser verbrauchen ist Verschwendung.  
T: Das ist blah-blah . 
P: Ja, du hast recht ... Ach, ich weiß nicht. Das hat mir meine Mutter immer gesagt.  
T: Wie steht's mit Seife? Welche benutzt, du?  

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P: Die Seife, die meine Mutter kaufte - die gerade preisgünstig war.  
T: Jetzt! Ich spreche von jetzt.  
P: Genauso - die billigste, die gerade zu haben ist. Ich kaufe gern, wenn es Sonderangebote gibt - da bekommt man mehr für sein Geld.  
T: Sprichst du von dir? 
P: Ja ...  
T: Kennst du das Wort "ich"?  
P: Hm ...  
T: Gebrauche es, wenn du von dir sprichst.  
P: Ich kaufe gern, wenn es Sonderangebote gibt - da bekommt man ... ha, ha ... ich meine, da bekomme ich mehr für mein Geld.  
T: Wie steht's mit Shompoo - benutzt du das?  
P: Sie sind alle gleich, deshalb nehme ich Seife.  
T: Was meinst du damit - sie sind alle gleich?  
P: Ach, weißt du, das Zeug, woraus sie gemacht werden. Es ist bei allen dasselbe Waschmittel mit Schaum. Mein Vater hat da mal einen Artikel darüber gelesen und mir gesagt, alle Shompoos sind da bewertet worden, und es hieß, es bestehe kein Unterschied zwischen ihnen. Man könnte genauso gut Zitronensaft mit Wasser verdünnen, und das würde auch keinen Unterschied machen. (Schweigen)  
T: Was kannst du noch über dich sagen?  
P: (Schweigen)  
T: Deine Socken haben Löcher.  
P: Ja. Meine Unterwäsche hat auch Löcher. Und Flecke. Wenn ich scheiße, wische ich mich nicht richtig ab, das geht dann in die Unterhose. Es riecht auch.  
T: Um Gottes Willen, tust du was dagegen?  
P: Ach, ich gebe nicht gern Geld für solche Kleinigkeiten aus. Außerdem sagte meine Mutter immer, keiner könne die Löcher sehen, also wem macht das schon was? Es ist besser, Geld zu sparen, wenn man ... Ha ha ... wenn ich es brauche. (Schweigen) Ich bin ...  
T: Du bist nicht, du bist ein Sprachrohr!  
P: Ich weiß nicht, was du damit meinst.  
T: Doch! Rede!  
P: Du hast gesagt reden, und ich habe.....  

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T: Du hast alles herausgeplappert, was deine Eltern dir in deinen Hohlkopf eingetrichtert haben. Du bist ein Sprachrohr für sie.  
P: (wütend) Na und? Das wußtest du schon, ehe ich herkam. Ich habe das alles in meinem Aufnahmeantrag geschrieben. Ich habe geschrieben, ich wollte mich von ihnen befreien. Mein Leben ist eine Hölle gewesen ...  
T: Gelogen! Rede!  
P: Was willst du denn, daß ich sage?  
T: Was hast du denn zu sagen?  

 

An diesem Punkt beginnt der Therapeut Glenn in seine Abwehr zu bringen, damit er fühlen kann, wie es ist, wenn man glaubt, man habe selber nichts zu sagen. Glenn kann für sich reden, aber er weiß es noch nicht. Es ist offensichtlich, daß aus seinem Mund nur herauskommt, was seine Eltern ihm gesagt haben. Und wenn sein Therapeut dieser Verwirrung entgegenzuwirken beginnt, bittet Glenn ihn, ihm zu sagen, was er machen soll. Aber Feeling-Therapeuten sind anders als verrückte Eltern, die die Verrücktheit eines Kindes belohnen; sie fördern die Gesundheit. Der erste kleine Schritt, den Glenn tun wird, um gesund zu werden, ist, mit seinem Therapeuten im Raum zu sein und für sich zu reden.

 

   Die ersten Tage in der Therapie   

 

Neue Patienten finden im allgemeinen, daß der Therapeut zu hohe Ansprüche stelle und zu schnell zu viel verlange. "Zu viel" bedeutet, daß der Patient vom ersten Tag an zumindest zu wissen beginnt, daß seine Gefühle nicht vollständig sind. "Zu schnell" bedeutet gleich jetzt — nicht später. "Zu viel, zu schnell" bedeutet, daß der Therapeut keine Vorstellungen und Rollen und auch nicht die Patientenrolle akzeptiert. Er verlangt eine einfache Antwort von dem einzelnen selbst. Da diese Antwort vom Patienten für sich selbst kommen muß, scheint sie überwältigend schwierig zu sein. Der Patient weiß nicht, wie er seine Gefühle vervollständigen soll; der Therapeut sagt es ihm nicht, akzeptiert aber auch nicht weniger.

Vom allerersten Tag der Therapie an glauben die meisten Patienten, ihre Anwesenheit bedeute, daß sie herge­kommen seien, um Hilfe zu erhalten und behandelt zu werden. Sie glauben, sie brauchten nur das Honorar zu bezahlen und sich zur verabredeten Zeit einzufinden, um frei werden zu können. Was wir unseren Patienten geben, ist das, wovor sie ihr ganzes Leben lang weggerannt sind — sich selbst. Dennoch ist es erschreckend für einen Menschen, der an jahrelange Unvollständigkeit gewöhnt war, es zu wagen, seine Gefühlsverwirrung zu zeigen.

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Es ist nicht schwer zu verstehen, daß jemand, der jahrelang mit seiner Verwirrung gelebt hat, den Kontakt zum Ausdruck der in ihm ruhenden, vollständigen Gefühle verliert und nicht einfach über sich zu reden vermag, denn er ist ganz erfüllt von den Bedeutungen und Worten anderer Menschen. Wir helfen dem Patienten zuerst, die Umbiegung zu empfinden, die er durchgemacht hatte, um in der Umwelt vernünftiger Verrücktheit zu leben. Der Patient nimmt die Umbiegung vor; der Therapeut spürt sie auf. Dieses Umbiegen nennen wir Retrogression.

 

   Retrogression  

 

Retrogression ist das Sich-Entfernen vom Ausdruck integraler Gefühle. Sie ist das Gegenteil von Transformation, die wir als ein Fortschreiten zu vollständigerem Gefühlsausdruck bezeichnen. Weiter oben definierten wir "Abwehr" als eine Gefühlsverwirrung, die eine Ersatz- oder nicht stimmige Empfindung, Bedeutung oder einen nicht stimmenden Ausdruck enthält. Retrogression ist der Prozeß dieser Gefühlsverwirrung; es ist ein Vorgang, der sich in jedem verrückten Menschen abspielt.

Retrogression ist die manifeste Verrücktheit einer Person im Gegensatz zur Gegenaktion, die ausgedrückte und gefühlte Verrücktheit ist. Zum Beispiel bekundet Donald, der Patient im 4. Kapitel, sein Verrücktsein mit seiner freundlichen Fassade, den bedeutungslosen Fragen, passiver Unterwürfigkeit und symbolischer Sprache über seine Gefühle; er fühlte seine Verrücktheit, als sein Therapeut ihn zwang, sie in der Phase der Gegenaktion in seiner Sitzung zu empfinden. Daran können wir sehen, daß Retrogression einen Menschen nicht nur vom Fühlen entfernt, sondern zu seiner Vergangenheit hinbringt; er lebt dann in einer Mischung von vergangener Gegenwart.

Es gibt so viele Varianten von Regression und so viele mit jeder Variante verknüpfte Kontexte, daß ein Patient und seine Therapeuten mit dem Versuch scheitern würden, sie zu bezeichnen. Wir wissen, die grundlegende Tatsache bei der Retrogression ist, daß es sich um eine Entfernung vom Gefühls-ausdruck handelt, und wir wirken ihr entgegen, indem wir den Patienten zu vollständigen Gefühlen bringen.

Es hat nur begrenzten Wert, Abwehrformen in Kategorien einzuteilen. Wichtig ist, daran zu denken, daß sie alle dasselbe sind — Entfernungen vom Ausdruck vollständigen Fühlens. Es ist nicht einfach für die Patienten, die Retrogression umzukehren, denn sie kennen nichts als diese Vorgänge und haben sie ihr Leben lang gekannt. Zu Beginn der Therapie sind unerfahrene Patienten in Retrogression so gefangen, daß sie wenige vollständige Gefühle empfinden; der relativ erfahrene Patient vervollständigt viel mehr Gefühle.

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Nur Patienten, die die Therapie fortsetzen und die Transformation aufrechterhalten, vermindern die Retrogression und lassen zu, daß ihre Gefühle vollständig werden. Retrogressive Vorgänge dauern nur Sekunden; sie sind Augenblicke des Nicht-Wählens. Die Retrogression umzukehren und zu beginnen, sich zu Gefühlen hin zu bewegen, kann auch Sekunden dauern, oder Minuten, Stunden oder Tage, je nach der Bereitschaft des Patienten, sich für das Fühlen zu entscheiden.

Obgleich wir auf den folgenden Seiten einige Formen der Retrogression beschreiben, sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß es sich nur um Beispiele handelt. Beschreibungen und Kategorisierungen gehören nicht zu unserem Vokabular, wenn wir mit Patienten oder miteinander reden, wenn wir Patienten sind. Die deskriptive Sprache erleichtert zwar das Verständnis für das, was wir tun, aber nicht, es zu erfahren.

 

  Denken und Reden mit doppeltem Boden  

 

Das ist eine übliche Form der Retrogression — jemand denkt sich "Gründe" aus, um nicht für sich selbst reden zu müssen, und schiebt seine Gefühle anderen zu.

"Die Leute auf dieser Party reden zu viel."
"Sie sind alle so hochgestochen."
"Sie wird nie mit mir ausgehen wollen."
"Skilaufen ist zu schwierig."
"Wie kann ich das zu ihm sagen?"
"Ich kann nicht tanzen."

Bei einer anderen Form des Redens mit doppeltem Boden werden Fragen gestellt, statt Gedanken auszusprechen:

"He, verstehen Sie mich?"  
"Was würdest du sagen, wenn ich dir sagte, daß ich mit dir ins Bett gehen möchte?"  
"Hat Ihnen jemals jemand gesagt, daß Sie schön sind?"  
"Sag mal, warum willst du mir das antun?"  

Hier berichtet ein Patient, wie er selbst doppelbödig zu denken und zu reden pflegte:

"Erst in der Therapie wurde mir klar, daß ich mir bei allem, was ich tat oder sagte, Vorschriften machte mit irgendeinem lächerlichen Spruch, der nichts mit dem zu tun hatte, was ich fühlte. 

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Wenn ich bloß mit einem Mädchen reden wollte, dachte ich: 'Überlege dir vorher, was du sagst'; wenn ich etwas sagte, das anstößig klang, dachte ich: 'Beiß dir auf die Zunge'; wenn ich mit Leuten zusammen war, die ich nicht sehr gut kannte, dachte ich: 'Mach einen guten Eindruck'. Wenn es mir nicht sehr gefiel, wie mich ein älterer Mensch behandelte, dann dachte ich: 'Vor dem Alter sollst du Ehrfurcht haben'; oder wenn ich nach meiner Meinung über einen Kollegen gefragt wurde, dann fiel mir ein: 'Wenn du nichts Nettes sagen kannst, sage gar nichts'. 

Natürlich gehörten 'bitte' und 'danke' zu meinem ständigen Vokabular, sie rutschten mir einfach heraus, selbst wenn ich innerlich wütend war. Ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, daß "danke" und "bitte" in Wirklichkeit für mich manchmal bedeuteten: 'Leck mich' und 'Scher dich zum Teufel'"

Eine andere Form des doppelbödigen Denkens bestand darin, Gedanken auszusieben oder zu zensieren. Hier einige Beispiele:

"Das sage ich lieber nicht, sonst hält sie mich für lesbisch."  
"Das kann ich nicht sagen, sonst denkt sie, ich will sie bumsen."  
"Wenn ich das sage, weiß sie, daß ich verrückt bin."  
"Ach, das ist bloß ein Therapietrick — da antworte ich gar nicht."  
"Dieser Mensch versteht es nicht, mir zu helfen."  
"Was immer ich auch sage, es ist doch verkehrt."  
"Was bildet er sich denn ein, daß er so mit mir redet?"  
"Wenn ich ihm sage, daß ich ihn will, hält er mich für ein Flittchen."  
"Vielleicht sollte ich mehr sagen."  

Doppelbödig reden und denken sind all die endlosen Aussagen, Beurteilungen, Projektionen, Introjektionen, Ankündigungen, Unschlüssigkeiten und Verweigerungen. Es spielt keine Rolle, wie wir sie bezeichnen, denn sie haben alle dieselbe Wirkung auf den Patienten — sie bringen ihn vom Fühlen weg.

 

 Das Weg-Lachen 

 

Ein altes Sprichwort lautet: "Lachen ist die beste Medizin." Das stimmt nicht. Die Wirkungen der Gefühls­verwirrung sind nicht komisch — wie laut auch die Leute über die Armut ihrer Kindheit, ihr sexuelles Mißgeschick als Erwachsene oder ihr Entkommen mit knapper Not wehklagen. 

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Lachen oder Scherzen kann einen vollständigen Gefühlsausdruck verhindern; ein Feeling-Therapeut kann diese Abwehr leicht entdecken, denn der Kontext des vom Patienten berichteten Erlebnisses stimmt damit nicht überein. Vor kurzem sollten zwei unserer Therapeuten zu einer Vortragsreise aufbrechen, und einer von ihnen. Jerry erzählte uns, wie ihm beim Fliegen zumute sei:

"Ich fliege wirklich nicht gern. Ich sehe mich schon beim Start, angeschnallt auf meinem Sitz und Riggs' Hand packend, wenn das Flugzeug abhebt. Die Stewardess kommt vorbei und sagt: <Ach, ihr Neuvermählten!> Da begann unser Freund zu lachen und fuhr dann fort: Ich sehe es jetzt vor mir — ich muß kotzen, und es ist keine Tüte da. Ich bemühe mich also aufzustehen und diskret zur Toilette zu gehen, aber auf halbem Weg — schwupps ergießt sich mein Frühstück über den Geheimagenten. Könnt ihr euch die Zeitungsüberschriften vorstellen? Psychologe wird verhaftet wegen tätlichen Angriffs auf Bundesbeauftragten. Ha ha! Aber das Schönste ist, daß wir mitten beim Mittagessen abstürzen. Da kreischen wir nun der Erde entgegen. Ein Freund von mir ist Angestellter der Luftfahrtgesellschaft und sagte mir, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, denn ich würde wahrscheinlich binnen Sekunden bewußtlos, aber es ist eben mein Glück, daß ich bis zum Aufschlag bei Bewußtsein bleibe. Dann finden sie mich, immer noch auf dem Sitz angeschnallt, irgendwo auf einer Straße in Iowa, das Lunchtablett immer noch auf dem Schoß und mein Gesicht voller Kartoffelbrei und Schokoladenpudding."  

 

Jetzt lachte er lauter, und Tränen rannen ihm übers Gesicht. Allmählich wurde sein Wiehern zu einer Schreckens­äußerung, und wir wußten, daß er die Bedeutung seiner Tränen fühlte. "Ich habe Angst", weinte er. "Ich habe wirklich Angst."

Jemand in Abwehrhaltung hätte seine Rede mit hysterischem Gelächter abgeschlossen und nicht die Wahl getroffen, sein vollständiges Gefühl auszudrücken, wie es unser Freund tat. Dessen in Verwirrung befindliche Freunde hätten ihm das Lachen durchgehen lassen. Sich durch Lachen von einem Gefühl zu befreien, ist ein für verworrene Menschen typisches retrogressives Verhalten. Wenn Sie nächstesmal mit Leuten zusammen sind, achten Sie darauf, wie Erlebnisse berichtet werden; Sie werden Witzeleien anstelle eines stimmigen, vervollständigten Gefühlsausdrucks hören. Die Vorfälle brauchen nicht tragisch zu sein; sie können harmlos sein. Einem hübschen Mädchen wird vielleicht von einem Verehrer gesagt, er finde sie attraktiv, und sie wird mit Gekicher darauf antworten; oft ist Gekicher die einzige Möglichkeit für eine gefühlsverwirrte Person, um auf Zuneigung zu reagieren.

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   Berichten  

 

Wenige Menschen sind imstande, bei sich selbst oder anderen zu entdecken, daß das, was gesagt wird, nicht die Äußerung. eines inneren Gefühls ist, sondern die Meinung eines außenstehenden Berichterstatters. Menschen, die Gefühle berichten, verstehen es, eine Fülle von Einzelheiten zu übermitteln, und das können sie, weil sie so außerhalb des Fühlens bei dem Erlebnis sind, über das sie berichten. Eine Patientin sprach vom Tod ihrer Mutter:

"Es ging ihr schon ein paar Tage sehr schlecht, ehe ich die Kinder woanders unterbringen und nach Minneapolis fahren konnte. Nun, ich muß schon sagen, sie wurde bestens versorgt — die Leute waren großartig. Der Krebs war so fortgeschritten, daß er offensichtlich unheilbar war. Kobalt kam nicht mehr in Frage. So war es also eine ausgemachte Sache. Ich war bei ihr, soviel ich konnte, aber sie war kaum noch richtig klar — Sie wissen ja, wie das gegen Ende ist."  

Als der Therapeut diese Patientin fragte: "Wie?", mußte sie mehr sagen. Als die dann gefragt wurde, wie ihr in dem Krankenhauszimmer zumute gewesen sei, wurde ihre Sprache weniger artikuliert und zeugte von mehr Gefühlen. Binnen weniger Minuten war diese Patientin vom klinischen, objektiven Berichten zum Reden aus ihren Gefühlen heraus übergegangen, und sie schluchzte.

 

   Ein Gefühl verschieben  

 

"Ich bin nicht ärgerlich — ich verstehe bloß nicht, was du gemacht hast."
"Krieg doch heraus, wie ich bin."
"Ich weiß nicht, ob dir wirklich an mir liegt."
"Ich bin bloß Patient, und du bist der Therapeut."
"Ich will eigentlich gar nicht hier sein."  

Gedanken dieser Art haben Patienten, die ein einfaches Gefühl — "Hilf mir" — in ein Versteckspiel verwandeln. Manchmal bieten Patienten Erinnerungen und Gefühle aus der Vergangenheit an, ohne jemals Gefühle in der Gegenwart ausgedrückt zu haben: "Ich will eigentlich gar nicht hier sein. Was versuchst du mit mir zu machen?" Das Verschieben eines Gefühls hat den Übergang zu mehr symbolischen Formen der Retrogression zur Folge. 

Indem ein Patient zu verstehen gibt, daß er eigentlich gar nicht hier sein wolle, leugnet er, daß er sechs Monate oder mehr darauf gewartet hat, zur Therapie zu kommen, und daß all das dafür aufgewandte Geld und Nachdenken, wie er ans Center kommen könne, sinnvoll waren. 

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Der Patient überläßt sich dann völlig dem Abwehrprozeß und wird von dem beherrscht, was er sein Leben lang gekannt hat — Gefühlsverwirrung. Er verwandelt die Therapie in eine symbolische Tätigkeit, statt zu fühlen, was sie in Wirklichkeit ist — ein Ort, wo Menschen ihm helfen können.

Therapeuten lassen das nicht als real gelten. Der Patient kommt zur Therapie und muß vom ersten Tag gegen seine Verwirrung ankämpfen. Das Fühlen kommt erst später. Die Therapie zu beginnen heißt, den Kampf aufzunehmen. Das bedeutet, der Augenblick des Fühlens wird benutzt, nicht ignoriert. Ein Zustand wirklichen Fühlens ist den meisten Menschen so fremd, daß sie sich darauf vorbereiten müssen; sie müssen wissen, wie man sich vom Fühlen entfernt, ehe sie lernen, wie man mehr fühlt. Wir beginnen damit, daß wir der Retrogression entgegenwirken. Das bedeutet nicht, daß der Therapeut das Sich-Durcheinanderbringen verhindert, denn manchmal verstärkt er es sogar. Ein Patient beginnt zu kämpfen, wenn er auszudrücken beginnt, was in ihm passiert, und wenn er diesen Kampf gemeinsam mit dem Therapeuten als einem Verbündeten gegen seine Verrücktheit führt.

Indem der Therapeut der Abwehr des Patienten entgegenwirkt und ein Fühlen in der Gegenwart verlangt, leitet er den Patienten. Der Kampf wäre sinnlos, wenn nicht der Therapeut, als gesunder Mensch, dem Patienten dabei helfen könnte zu merken, wann seine Verwirrung, die Oberhand gewinnt und wann sich der Patient dafür entscheidet, nicht auf den Therapeuten zu reagieren, bringt er sich um einen weiteren Schritt von der Gegenwart weg und liefert sich der Verrücktheit und dem Unsinn aus; er besitzt dann weniger Ausdruck und weniger Gefühl. Das ist ganz anders, als wenn der Patient um sein Fühlen kämpft — dann empfindet er die Stärke, und das Ausmaß seines verrücktmachenden Verhaltens.

 

   Theatereffekte  

 

Weil viele Patienten glauben, die Feeling Therapie sei eine regressive Therapie, bieten sie Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit an. Wir wissen, daß diese Art Retrogression anders ist als bewußte Regression. Bei der bewußten Regression sieht der Patient wie ein kleines Kind oder sogar wie ein Säugling aus, verhält sich so und klingt auch so. Diese Manieriertheiten rufen, wenn sie nicht echt sind, keine Gefühlsreaktion hervor, weil nachgemachtes Fühlen von solchen Menschen, die aus dem Fühlen heraus leben, leicht entdeckt wird. Theatereffekte sind symbolische Darbietungen einer generalisierten Empfindung, der eine generalisierte Bedeutung beigelegt wurde; kurzum, sie werden im Kopf ausgeknobelt.

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Einer unserer Therapeuten berichtet von dem folgenden Theatereffekt:

"Barry sprach von seiner Angst vor dem Meer und daß er nicht schwimmen könne, als er plötzlich eine <Bewegung> in seinem Körper erwähnte; langsam begann er, die Arme zu bewegen, dann die Beine, und es sah wie Schwimmbewegungen aus. Das dauerte etwa eine Minute, dann kamen tief aus seiner Kehle gurgelnde Geräusche. Ich fragte, was los sei, und er antwortete, er komme sich wie Sperma vor. <Sperma kann nicht reden>, sagte ich. <Also hör damit auf.>"  

Ein anderer Therapeut berichtete den folgenden Vorfall: "Ich arbeitete mit Pat in der Gruppe, und sie sprach davon, daß ihr Vater sie immer geschurigelt habe, als sie zehn oder zwölf war. Ihr Gefühlsniveau war apathisch, und nach fünfzehn Minuten sagte ich, sie solle einfach Laute von sich geben, um zu zeigen, wie ihr zumute sei, und ich würde dann wiederkommen. Während ich ein paar Minuten später mit einem anderen Patienten arbeitete, hörte ich Pat schreien: <Nein ... nein ... nein> und verstümmelte Laute äußern. Ich ging zurück ins Zimmer und sah sie mit weit ausgebreiteten Armen auf den Zehenspitzen und mit dem Rücken zur Wand stehen, als wolle sie sie erklimmen. Offenbar spürte sie, daß ich neben ihr stand, und machte die Augen auf. 'Was ist das?' fragte ich. 'Mein Vater', antwortete sie. 'Ich fühle es, daß er mich mit seinem ewigen Schurigeln dazu treibt, die Wände hochzugehen.'

In beiden Fällen haben die Therapeuten nicht einfach ihre Patienten daran gehindert, ein Gefühl theatralisch darzustellen — sie mußten über die symbolischen Schilderungen von generalisierten Empfindungen und Bedeutungen hinausgehen und ihren Patienten helfen, reale Gefühle zu erkennen. Der Feeling Therapeut spürt es, wenn die Aktionen seines Patienten ihn vom Fühlen entfernen, und wenn sie sein Fühlen ausdrücken. Wir wissen natürlich, daß der menschliche Körper Erlebnisse "erinnert". Wir helfen unseren Patienten, die geordneten Elemente eines vollständigen Gefühlserlebnisses zum Ausdruck zu bringen, aber nicht die generalisierten Empfindungen von nur partiellen Gefühlen.

 

  Körperliche Verbiegung  

 

Der Körper eines Patienten verhält sich entweder retrogressiv oder transformativ. Empfindungen wohnen bekanntlich dem Körper inne; wenn die kortikale Bedeutung nicht paßt, manifestiert sich das in nichtüber­einstimmendem Körperausdruck. Unharmonische körperliche Ausdrucksweisen sind retrogressiv. 

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Sehen Sie sich einmal eine Menschenmenge genau an, und Sie werden Tics, Zuckungen, krumme und verbogene Körper, Starrheit, mangelnde Koordination, Herumstochern in den Zähnen, Nasebohren und Zappeligkeit sehen; sie werden flache, gedämpfte, dröhnende und piepsende Stimmen hören und Reden, die kurz oder endlos sind. Wenn wir unsere Patienten ansehen, sehen wir alles an ihnen — körperliche Verfassung, Gesichtsausdruck, Gestik, Reagieren der Stimme. Sie haben sicherlich schon Ausdrücke wie "Nervenbündel", "Lahmarsch", "Dickkopf", "halsstarrig", hartnäckig" gehört — alle sind anschauliche Schilderungen der Retrogression. Da die Retrogression einen Patienten vom Fühlen wegbringt, dient seine Körperhaltung dazu, das Zurückhalten des vollständigen Ausdrucks aufrechtzuerhalten. Wir bemühen uns, das Fühlen in Ordnung zu bringen, und oft üben wir physischen Druck auf die Körper unserer Patienten aus.

 

  Verwirrtheit   

 

Es kann sein, daß Patienten in zufriedene Verwirrtheit hineingleiten, wenn der Unsinn die Oberhand über das Fühlen gewinnt. Gewöhnlich erfolgt der retrogressive Schritt, wenn eine Gefühlssteigerung stattfindet. Jetzt wird der Patient aus den Gefühlen noch mehr in Spielchen und Rollen hinein­schlüpfen, während seine Gefühle auf einen immer kleineren Bereich zusammengepreßt werden, bis sie entweder aufs Geratewohl und symbolisch hervorbrechen oder zum Ausdruck gebracht werden. Der Therapeut treibt mit seiner Forderung nach einer Gefühlsrealität den Patienten in diese Krise das Fühlen wird unter Druck gesetzt, bis es zum Ausdruck gebracht werden muß. Er läßt keine der Ersatzformen gelten. Er glaubt nicht an die scheinbar mißliche Lage des Patienten.

Kurzum, der Patient sagt: "Ich bin dir völlig egal. Du machst dir gar keine Gedanken um mich." — "Du verstehst nicht wirklich." — "Krieg doch heraus, wie ich bin, wenn du so schlau bist." — "Mach etwas mit mir — komm an mich ran." Hier nimmt der Patient bestimmte Empfindungen und Impulse und vermischt sie zu Generalisierungen. Das Ungereimte dabei ist, daß der Patient das vor dem Therapeuten ausagiert, als ob der Therapeut den Patienten brauchte und nicht der Patient den Therapeuten.

Verworrenheit bedeutet, daß der Patient seine Zuflucht zu abwehrenden Ersatzformen genommen hat, um Ausdruck und Erfahrung auszubalancieren; aber das tut er, indem, er ein Mißverhältnis in sich und zwischen zeitlichem Geschehen schafft. Nichts scheint an diesem Punkt vernünftig zu sein, und dem Patienten mag es sogar gleichgültig sein. Er vermag zu empfinden, daß es beängstigend ist, sich für das Fühlen zu entscheiden, aber er ist nicht einmal sicher, ob er fühlen will.

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In diesem Stadium der Retrogression verstärkt der Therapeut seine Reaktionen, bis das therapeutische Ordnen unvermeidlich ist. Der folgende Bericht über eine Sitzung macht das deutlich.

Barbara kam zu ihrer Sitzung, völlig im Unklaren, was sie mit ihrem Leben tun sollte. Alles sei so chaotisch, sagte sie, und ihr Therapeut wollte Genaueres über dieses Chaos wissen. Je mehr sie zu reden versuchte, um so verwirrter klang sie. Hier berichtet sie, was geschah:

"Jerry begann mich zu drängen, ich sollte genauer angeben, was ich meiner Ansicht nach für die Kinder tun sollte. Ich sagte, sie haben abends ein Bad nötig, aber ich bade sie nicht immer, nur vielleicht ein- oder zweimal in der Woche, und sie kamen wirklich zu spät ins Bett, und sie hatten Mühe, morgens rechtzeitig für die Schule aufzustehen, und ich ging um halb acht ins Bett, als ich ein kleines Mädchen war. Immer wenn ich mit Reden aufhörte, schlug Jerry mit der Hand auf das Kissen neben mir oder mit der Faust an die Wand neben meinem Kopf und sagte, ich solle weiterreden und aus meinem Kopf herausgehen. 

Mir war es egal , ob ich aus dem Kopf redete oder nicht, und ich schrie ihn an, er solle aufhören, mich zu erschrecken, aber er tat es nicht. Ich sagte, ich gebe den Kindern kein gutes Abendessen. 'Was ist ein gutes Abendessen?' brüllte er. Ich weiß es nicht - Fleisch, Huhn schrie ich. (Du weißt es - was ist ein gutes Abendessen?) Ich weiß es nicht. Er schlug wieder mit dem Kissen nach mir. (Was für Huhn?) Ich weiß es nicht - eben Huhn! Huhn! (Huhn cacciatore?) Ich konnte gar nichts mehr überlegen (Brathähnchen?) Ich weiß es nicht - ich wurde ganz fimmelig. (Hühnerfrikassee?) 'Nun los, rede', schrie er. Ich war fix und fertig, ich sagte gekocht - gekochtes Huhn, das ist, was ich gegessen habe. Was noch? Ich weiß es nicht, laß mich zufrieden. 'Was noch, was noch?' schrie er dauernd und haute auf das Kissen. Salat, sagte ich. Ich war wirklich in einem total verwirrten Zustand. (Was für Salat?) Ich weiß es nicht - grünen Salat. Bohnen. Salat, sie müßten Salat haben, aber ich hasse . Salat, schrie ich.. Und Milch. Sie brauchen Milch, aber ICH HASSE MILCH, schrie ich. Ich will keine Milch, ich will keine, ich hasse Milch. Ich war ganz verwirrt. Ich wußte nicht, was geschah - ich "kam mir wie ein Kind vor und zugleich wie eine Mutter, alles in eins. Als ich so schrie, hörte ich mich jetzt und mich, wie ich klein und wütend war. Ich HASSE Milch, schrie ich. Ich schrie meine Mutter an, daß ich Milch hasse, aber dann sprach ich wieder über meine Kinder. Ich fühlte mich nicht mehr wie eine Mutter. Ich kam mir jünger vor, viel jünger — und wütend auf meine Mutter."  

Das ist nur der Anfang von Barbaras Sitzung. Ihr Therapeut hat ihrer defensiven Verworrenheit entgegen­gewirkt (beachten Sie, wie anschaulich das Durcheinander der Zeit ist), und sie gerät in Wut auf ihre Mutter. Später geriet sie in Leblosigkeit, und dem wurde entgegengewirkt, bis sie zu einer Entscheidung gezwungen wurde, zu fühlen, was ihr wirklich widerfuhr.

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  Verrückt werden  

 

Einige Patienten begeben sich ganz in ihre Unsinns-Schicht und verhalten sich "verrückt"; das ist eine Abwehr gegen das Fühlen. Dabei fühlen sie ihre eigene Verrücktheit bestimmt nicht. Solche Patienten lallen, geben sinnlose Laute von sich und gestikulieren wild mit Armen und Beinen. Jemand mag zetern: "Die ganze Welt ist verrückt — was macht's schon aus; wenn ich es auch bin?" Andere werden schreien: "Ich bringe dich um" oder vielleicht "Ich bringe mich um." 

All ihre verbogenen, verrückten Gedanken und Taten schwappen heraus, aber auch das ist Retrogression; damit andere Gefühle zurückgehalten werden können. Die Patienten äußern auch positive verrückte Gedanken. "Ich bin jetzt okay, mir bleibt nichts mehr zu fühlen. Meine Sitzung ist für heute vorbei." Oder: "Na ja, so ist es eben — ich bin allein auf der Welt und weiß endlich, was das bedeutet, und jetzt brauche ich vor nichts mehr Angst zu haben." Selbst auf diesem Niveau der Retrogression hat ein Patient immer noch eine Wahlmöglichkeit: er kann 'entweder weiterhin Unsinn ausagieren oder seine Gefühle ausdrücken. Sie auszudrücken bedeutet, zum ursprünglichen Gefühlsniveau zu gelangen und das Ordnen zu beginnen. Sie zurückhalten bedeutet, im Unsinn ohne Fühlen zu leben.

Wir wissen, daß die Gefühle in einem Menschen ein Gleichgewicht fordern. Sie können indirekt ins Gleich­gewicht gebracht werden, durch symbolischen Ausdruck, der zu mehr Unsinnigkeit führt, oder direkt durch Gefühlsreaktionen, die zur Ordnung führen. Wir wissen auch, daß die Vervollständigung eines einzelnen Gefühls für Patienten schwierig ist; ob es ein tiefes Gefühl ist oder nicht, ist nicht so wichtig; es muß nur ein vollständiges Gefühl sein. 

Überdies wissen wir, daß wenn das Fühlen zunimmt, die Unsinns-Schichten geringer und auch direkter und offener werden. Eine ganze Ebene dessen, was bisher als Realität wahrgenommen wurde, weicht einer realeren Gefühlswirklichkeit, und das vollständige Fühlen wächst immer weiter, wenn der spiralig verlaufende Prozeß der Transformation gelebt wird.

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   Der erste Tag des Fühlens: Gesund werden  

 

Bisher haben wir den Augenblick der Wahl, der Krise, die Retrogression und die Gefühlsverwirrung besprochen. Um gesund zu werden, wird eine innere Krise durchgemacht. Ein Patient sagt sich: "Ich will das nicht weitermachen, was ich mache. Ich will nicht mehr zulassen, daß meine Gefühle durch Ersatzformen verdrängt werden. Ich will mich so fühlen, wie ich bin." 

Solche Erklärungen werden nie wirklich ausgesprochen oder gedacht, sondern nur wahrgenommen. Die Wahrnehmung ruft eine Krise hervor, wenn der Patient sich entschließt, sich zu seinen Gefühlen zu bekennen, gegen seine Gefühlsverwirrung anzukämpfen und sich dem vollständigen Gefühlsausdruck zu nähern. Verrückte Gedanken auszudrücken, aufzuhören, sich der Verwirrung zu überlassen, aufzuhören, Gefühle zu verändern und mit der Abwehr aufzuhören — all das bedeutet einen Kampf gegen die Gefühls­verwirrung und für das Fühlen. Die erste Krise ist der Beginn vieler Krisen. Damit ein Patient zur Gefühlsgegenwart gelangen kann, muß er sagen, was er fühlt und denkt.

Der Therapeut beginnt die Therapie am ersten Tag, an dem der Patient kommt. Der Patient beginnt die Therapie in Wirklichkeit erst, wenn er sich dazu entschließt, sich so zu fühlen, wie er tatsächlich ist.

*

Das folgende Protokoll einer Sitzung veranschaulicht, wie der Therapeut der Retrogression des Patienten entgegenwirkt und ihn zum Ausdruck eines vollständigen Gefühls in der Gegenwart bringt. Es ist Stans erste Sitzung in seiner zweiten Therapie-Woche. In der ersten Woche war ihm sehr zugesetzt worden, und dennoch entschied er sich nicht für das Fühlen. Wie viele Menschen war er durchaus bereit, sein Leben lang abzuwarten und die Zeit totzuschlagen, ohne sich darüber klar zu sein, daß die Zeit ihn totschlug. Mit Neunundzwanzig war er immer noch unberührt und passiv. 

Am Freitag seiner ersten Therapie-Woche hatte sein Therapeut ihm gesagt, er solle übers Wochenende Geschlechts­verkehr haben. Der Therapeut wollte damit nicht auf wunderbare Weise Stans sexuelle Unberührt­heit aufheben, sondern ihn zwingen, seine Abwehr zu spüren und sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Ohne diese Krise würde Stan womöglich befriedigt in seiner Passivität verharren. Zu Beginn der Sitzung erzählte Stan seinem Therapeuten hastig, er habe fast zwanzig Stunden mit einer anderen Patientin verbracht und sich um sie gekümmert, weil "sie jemanden brauchte, denn sie drohte verrückt zu werden". Der Therapeut nahm ihm diese Fabel nicht ab und verlangte die Wahrheit.

 

P: Die Wahrheit ist, daß ich das ganze Wochenende Angst vor dem Auftrag hatte. Ich rief Molly an und war wirklich dämlich am Telefon. Ich weiß, ich hätte ihr sagen müssen, was ich wollte, aber statt dessen stellte ich mich dumm. Ich hatte wieder Angst. Ich fühlte mich verletzt, als sie mir sagte, sie wolle nicht mit mir zusammen sein. Ich kam mir abgelehnt vor.  
T: Du bist unehrlich. Ein unehrlicher Mensch kann gar nicht fühlen — kann sich vor allem nicht verletzt fühlen.

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P: Na ja, okay, ich fühlte mich nicht richtig verletzt. Ich hatte das Gefühl, ich wollte etwas zu ihr sagen. Ich kam mir schwach vor, aber ich versuchte doch, eine Kellnerin aufzugabeln. Und dann ging ich in einen Massagesalon. Na ja, das ist doch Hollywood, dachte ich, hier kann ich's kriegen. Aber keine wollte es mit mir treiben. Die haben mich über's Ohr gehauen — zwanzig Dollar für eine popelige Massage. Dann ging ich ins Hotel zurück, um Molly zu besuchen. Als ich ihr sagte, ich wolle bei ihr bleiben, begann sie zu spinnen — sie zitterte und schrie. Sie sagte mir, sie wolle nicht vögeln, denn sie sei als Kind vergewaltigt worden. Ich sagte ihr, ich würde nichts dergleichen tun, ich wollte bloß bei ihr sein.  
T: Du wolltest bloß bei ihr sein! Du lügst. Du hast Molly angelogen, und jetzt lügst du hier. 
P: Ich wollte mit ihr allein sein!  
T: Noch ein Märchen. Immer noch nicht die Wahrheit.  
P: Okay. Vielleicht wollte ich wirklich vögeln, aber ich hatte Angst, abgelehnt zu werden.  

Dieser Dialog zog sich noch fünfzehn Minuten hin. Der Patient entfernt sich noch weiter von seinen Gefühlen und offeriert seinem Therapeuten immer mehr Gründe, um seine Verrücktheit zu rechtfertigen. Er bastelt sich seinen eigenen Fall zusammen. Sein Therapeut greift diese vernünftige Falldarstellung mit barschen Antworten an und bietet Stan dann Gelegenheiten, seine Gefühle zu äußern.

T: Das ist ja alles Quatsch. Du bist immer noch nicht bereit, für dich zu sprechen.  
P: Okay.  
T: Okay ist auch Quatsch. Ist es okay, eine tote Jungfrau zu sein? Was hättest du sagen können?  
P: Molly, ich lüge. In Wirklichkeit will ich mit dir bumsen. Ich will mich nicht um dich kümmern, ich will wirklich bumsen. Ja, das ist es, was ich will. Ich will an dir nukkeln, dich berühren und es dir reinstecken. 
T: Es dir reinstecken? Es! Was ist "es?" 
P: Mein Schwanz, nehme ich an.  
T: Nimmst du an? Was ist es nun, dein Schwanz oder ist es dein Zeh?  
P: Du nimmst mich nicht ernst. Ich ...  
T: Du nimmst dich nicht ernst. Ist dein Schwanz ein "es"?   
P: Nein ... ich weiß nicht. Ich wollte nicht ficken. Ich sagte ihr, es sei meine Aufgabe. Ich müsse es für die Therapie tun.

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T: Du Lügner. Du bist immer noch nicht bereit, es so zu sagen, wie es für dich ist. Eine Woche lang hast du gejammert, du wolltest ficken und das Mädchen wollte ficken. Jetzt drückst du dich davor, etwas ehrlich zu sagen, indem du der Therapie die Schuld gibst.  
P: Ich bin müde. Ich fühle mich tot. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen.

Als Stan sein Fühlen zu äußern beginnt, bricht er zusammen. Er versucht, in die Vergangenheit zu gehen, um seinen Zusammenbruch in der Gegenwart nicht zu fühlen.

P: Da war Roberta, die ich auf der Oberschule bumsen wollte. Roberta, ich wollte dich bumsen.  

Jetzt tut er alles wie ein Roboter; sein Körper ist schlaff, seine Stimme flach. Er kämpft immer noch nicht gegen seine Abwehr. Er tut bloß so.

P: Was geht hier vor? Riggs, sag mir, warum du mich das tun läßt. Was versuchst du mit mir zu machen? Wirklich, das ist mein Ernst. Bitte, sag' es mir, und dann werde ich tun, was richtig ist.  
T: Du bist nicht bereit zu sagen, was du fühlst. Du willst irgendeine intellektuelle Harmonie. Entweder schaust du deine Gefühle über diese Mädchen an, oder du bleibst eine Null. 
P: Ich habe Angst. 

Der Patient hat wirklich Angst, aber er ist noch in der Retrogression. Er hat die Krise noch nicht gefühlt, daß sein Leben nicht sein eigenes ist, sondern allein durch Abwehr in Gang gehalten wird.

T: Mach den Mund auf. Ich möchte, daß du kleine Laute von dir gibst, die genau dem entsprechen, was du fühlst, wenn du mit diesen Mädchen zusammen bist.  
P : (Schweigen)  
T: Entweder triffst du die Wahl, diese Laute zu machen, oder du bleibst wie du bist - ein zusammengebrochenes Häufchen jemand, der nie etwas bekommt.  
P: Ich mag diese Laute nicht von mir geben. Willst du unbedingt, daß ich das mache? 
T: Nein, ich will das nicht, daß du dir für den Rest deines Lebens Weiter etwas vormachst. Ich will die Zeit in diesem Raum mit jemandem verbringen, der sich in einen Idioten verwandelt, sobald ein reales Gefühl in ihm aufsteigt.  
P: Riggs, ich bekomme Angst. Ich habe Angst anzufangen. Ich habe Angst aufzuhören.  

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T: Gerede.  
P: Ich habe Angst.  
T: Fühl das.  
P: (Ein leises Rummeln in seiner Kehle, das in ein sanftes Weinen übergeht.) Ich will aufhören.  
T: Mach weiter. Bloß diesen sanften Laut.  
P: Oh, oh ... (weint leise)  
T: Schau diese Mädchen an. Mach deine Laute.  

Stan beginnt jetzt, die Crux seiner Retrogression zu empfinden, die darin besteht, daß er Angst hat, anzufangen, und Angst hat, aufzuhören. Er bricht zusammen, immer wenn seine eigenen Gefühle aufsteigen. Er vermag zu tun, was andere Leute ihm sagen, aber seine eigenen Gefühle versteinern ihn.

P: Ich hatte Angst bei ihnen. Ich hatte Angst, sie zu bitten, mit mir zu schlafen, weil mein Schwanz immer schlapp wird. Ich kann nicht ficken. Ich konnte es nie (weinend).  
T: Wende dich an die Mädchen und sag es ihnen.  
P: Ich habe Angst, daß mein Schwanz weich wird, Molly. (Seine Stimme dröhnt aus dem Körper heraus. Er tritt und schlägt um sich.) Ich will ficken. Ich will wirklich ficken. Ich habe Angst, mein Schwanz funktioniert nicht. Ich will ficken.  

Stan hat jetzt eine Gefühlsgegenwart. Er hat sich dafür entschieden, alle seine Gefühle zu zeigen. Es dauerte in seiner Therapiesitzung mehr als zwei Stunden, um ihn von der Retrogression in die Gefühls­gegenwart zu bringen. Während der Sitzung war Stans manifeste Verrücktheit offenkundig — er produzierte eine Reihe von Abwehrtricks, die ihn vom Fühlen entfernen. Er gab zu, daß er sich Molly gegenüber dumm gestellt hatte, das heißt, daß er zurückgehalten hatte, was er eigentlich wollte. Er fand Entschuldigungen für sich, und bastelte daraus einen Fall. 

Er versuchte, es der Therapie in die Schuhe zu schieben, daß er sexuell sein sollte; er verbrachte zwanzig Stunden seines Lebens damit, "sich um Molly zu kümmern", und vernachlässigte sich selbst. Er reduzierte einen einfachen menschlichen Akt zu einem Suchen in der Phantasie, das in einem Massagesalon befriedigt werden sollte. Er gab Gerede von sich und ließ seinen Körper in Passivität hineinfallen; er versuchte das, was er über den regressiven Aspekt der Therapie wußte, zu benutzen, um sich vor seinem Therapeuten aufzuspielen; er versuchte sogar, eine intellektuelle Übereinstimmung mit seinem Therapeuten herzustellen und ein "guter Patient" zu sein, indem er bat, ihm zu sagen,, was er tun solle. 

Alle diese retrogressiven Schritte, die Stan in der Sitzung unternahm, hatte er sein Leben lang angewandt. Außerhalb der Therapie im Umgang mit anderen verrückten Menschen blieb Stan unbehelligt; in der Therapie ließ Stan es zu, berührt zu werden.

Wir sehen an diesem Beispiel, daß ein Patient alle möglichen Arten von Abwehrverhalten haben kann, die ihn vom Fühlen entfernen. Stan hatte die seinen innerhalb von zwei Stunden abgebaut und sich für das Fühlen entschieden. Andere Patienten mögen längere Zeit — Tage oder gar Wochen — in der Abwehrhaltung verharren. Schließlich beginnen sie aber, aus ihren Gefühlen heraus zu leben und ihre ursprünglichen Gefühle auszudrücken, und dann ändert sich der gesamte Verlauf der Therapie.

Stans Therapeut blieb die ganze Zeit unbestechlich. Er merkte, daß sein Patient kaum mehr Leben in sich hatte als ein Toter, aber hinter diesen passiven Äußeren steckte ein verängstigter, verletzter Mensch, der mehr für sich selbst wollte. Er setzte Stan nicht hart zu, wie manche Leser vielleicht finden; er setzte Stans Verrücktheit hart zu, und das sogar unerbittlich. Wir ergänzen die Therapiesitzungen, indem wir Betätigungen vorschreiben, die der selbstgenügsamen Verrücktheit der Patienten entgegenwirken sollen. Wir setzen ihn während einer Sitzung und außerhalb der Therapie einer mehr provozierenden Ebene des Gefühlsausdrucks aus und lassen ihn darauf reagieren.

Während der Retrogression treibt ein Feeling-Therapeut den Patienten auf einen Punkt hin — auf einen Augenblick hin, in dem die Wahl für das Fühlen getroffen werden kann. Dieser Augenblick führt zum Beginn des Ordnens; es ist der Sieg eines vollständigen Gefühlsausdrucks über die Abwehr.

Ohne Augenblicke der Wahl ist Therapie lediglich ein Ritual. Für uns bedeutet diese Wahl, daß ein Individuum die volle Verantwortung für sich selbst übernimmt. Ein Patient muß wissen, daß er die Therapie für sich selbst will und für sich selbst kämpfen muß, nicht für uns. Ohne diese Erkenntnis hat ein Patient immer Fluchtwege, um seinen Gefühlen zu entkommen. Wir wollen nicht, daß das geschieht, denn bei jedem Patienten investieren wir unser Leben. Und mit keinem Geld der Welt läßt sich die Art, wie wir uns einlassen, bezahlen. Feeling-Therapie findet statt, wenn zwei Menschen voll beteiligt sind — der Therapeut und der Patient.

In den folgenden drei Kapiteln werden wir die Intensität und das Ausmaß unseres Verflochtenseins mit unseren Patienten zeigen.

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