Start   Weiter

8. Therapie mit einem neuen Patienten 

 

 

 

178-206

Einige Leser unseres ersten Manuskripts sagten Die Therapie wird zu schwierig erscheinen und befürchten, das Gute an der Therapie würde durch die Schwierigkeiten in den Hintergrund geraten. So war es bei der Überarbeitung und Neufassung unserer Konzeptionen verlockend, von dem Gesagten ein wenig abzurücken, abstrakte Versprechungen zu machen und die Feeling-Therapie weniger schwierig und anziehender erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist.

Wir wissen, daß jedes Buch eine Art Reklame darstellt, eine Art Aufforderung: Schaut her, das machen wir; was wir machen — ist gut! Und Leser sind nur allzu gern bereit zu glauben — sie möchten, daß das, was sie lesen, lauter Versprechen und Hoffnungen für sie bereithält. Aber das tut unsere Therapie nicht.

Während wir dieses Buch schrieben, entschieden wir uns dafür, seine Popularität aufs Spiel zu setzen, indem wir alle falschen Versprechungen herausnahmen, und es zu einem Buch zu machen, das seinen Lesern als Bezugspunkt für das Fühlen dienen würde. Da wir an unsere Arbeit keine Abstriche machen oder sie verwässern wollen, können wir einzig als Bezugspunkt unsere Erfahrungen anbieten, so daß andere die Möglichkeit haben, zu vergleichen, was sie fühlen, und sich fragen können — "Gilt dies für mich?"

Das vorliegende Buch soll denjenigen Menschen, die in die Therapie kommen wollen, das Wesen der Feeling-Therapie erläutern. Niemand kann durch sie hindurchspazieren. Dieses Buch und insbesondere dieses Kapitel werden die Erfahrungen verdeutlichen, die ein neuer Patient macht. Janets Abwehr im folgenden Beispiel ist verworren und chaotisch; häufig ist sie beschuldigend und indirekt. Immer wieder kommt ihre Abwehr zum Vorschein. Linda, ihre Therapeutin, durchkreuzt ständig diese Abwehr­mechanismen. Sie arbeitet nicht auf eine bestimmte Erfahrung oder Einsicht hin. Sie führt die Patientin während dieser Sitzung lediglich in ihre Abwehr hinein und tritt ihr entgegen. Die eigentliche Arbeit zu Beginn der Therapie ist nicht dramatisch und voller Entladungen, wie es mit dem erfahrenen Patienten in Kapitel 7 der Fall war.

Im Verlauf dieser Sitzung wird deutlich, daß die Patientin "mehr" fühlen will als ihre Abwehr und ihre augen­blicklichen Gefühle. Sie will eine große Entladung — doch all das, was die Erfahrungen dieser Sitzung überschreitet, würde sie nur weiter von sich selbst entfernen. Sie muß allmählich aus ihrem Innern heraus erkennen, wann und wie sie abwehrt; erst dann wird sie fühlen können.


Bisweilen erscheint es geradezu unvorstellbar, mit welcher Verbissenheit sich diese Patientin abschirmt. Trotz allem suchte sie Therapie und Hilfe und möchte zu Gefühlen gelangen — soweit ist alles sehr vernünftig. Aber wenn sie in Augenblicke wirklichen Fühlens gedrängt wird, will sie nichts mehr von all dem wissen, was sie je mit dem Wunsch nach Hilfe und dem Wunsch nach Gefühlen für sich hatte haben wollen. Es überrascht uns nicht, daß heftige Abwehrhaltung von Patienten bedeutet, daß ein intensives Fühlen sehr wohl möglich ist. In den Bereich des Fühlens einzudringen, ist für die Patienten häufig derart entsetzlich, daß sie alle möglichen Abwehrstrukturen dagegen aufbauen.

In solchen Augenblicken ist ein Feeling-Therapeut ein wahrhaft verständnisvolles menschliches Wesen — nicht lediglich ein ausgebildeter Therapeut: er oder sie kann einen Patienten zum Fühlen hinführen.

 

  Das Tonbandprotokoll  

 

Das folgende Protokoll veranschaulicht, wie vernünftig und kooperationsbereit die Patientin ist, bis die Therapeutin ihrer vernünftigen Verrücktheit entgegenarbeitet. Dann jedoch beginnt die Patientin buchstäb­lich um ihre Verrücktheit zu kämpfen. Die Therapeutin muß mit aller Kraft entgegenarbeiten, um sie an seelische Gesundheit heranzuführen.

Janets Gefühlsniveau ist sehr niedrig. Sie ist nicht in der Lage, ihrer eigenen Abwehr entgegenzuwirken, weil sie nicht einmal spürt, daß sie abwehrt. Sie zeigt in dieser Sitzung Abwehr auf Abwehr, während die Therapeutin jeder einzelnen entgegenarbeitet. Schließlich nimmt sie das Entgegenarbeiten auf und beginnt ein wenig zu fühlen.

P: Könntest du ein bißchen mehr Licht machen ... Ich wurde heute morgen um 6:30 von selbst wach. Das ist nicht mehr vorgekommen, weißt du, seit ich in dem Motel bin. Wenn ich aufwache, fühle ich mich einfach wie betäubt. So wachte ich auch heute auf, und ich hatte diesen Traum im Kopf, es war wie in Wirklichkeit, es war einer dieser Träume, die anscheinend die ganze Nacht über andauern. Jill - Jill ist meine Nachbarin über mir, mit der ich eng befreundet bin. Und sie und ich fuhren gemeinsam nach Spanien. Jedenfalls kam Jill in dem Traum vor und meine Mutter. - Wir waren an so einem piekfeinen Strandbad und trafen uns mit dieser Sorte Männer wie aus'm Showgeschäft, die so wie Jill waren, weil nämlich, weil das die Art Männer ist, die sie mag; sie kann mit keinem unscheinbaren Mann schlafen. Wir machten auch einen Ausflug mit ihnen, und ich glaube, einer der Männer war Bart. Bart ist ihr Geliebter. Er ist geschieden, und er ist schon ziemlich lange mit ihr zusammen, seit vier Jahren, obwohl sie jetzt versucht, von ihm loszukommen, weil er sehr grausam ist.  

179


Für diese Frau ist es "normal", ohne jeglichen Eigenbezug zu reden. Ihre erste Abwehr besteht darin, sich von sich selbst zu entfernen und einen Monolog über ihre Freundin Jill zu halten. Die Therapeutin führt sie einfach zu dem zurück, was ihr gehört — der Traum.

T: Komm auf deinen Traum zurück.  
P: Ich trug ein Kostüm mit einem Pelzkragen. Und der Mann an diesem Punkt war glaube ich Bart, der wollte, daß wir schönere Blusen anziehen, damit wir für ihn etwas hermachten." Er gab jeder von uns ein paar hundert Dollar als Taschengeld und für die Ausflugskarten. Ich hatte aber keine Zeit, die Bluse zu kaufen, deshalb borgte ich mir von Betty oben eine Bluse und einen Badeanzug. Doch beides paßte nicht sonderlich gut, weil Betty einen kleineren Busen hat als ich. Mein Freund war irgendwie jung, aber trotzdem einer dieser unechten Typen. Auf jeden Fall hatten wir Eintrittskarten für einen Haufen Schwimmclubs, und wollten sie auch benutzen. Einige hatten wir auch gekauft. Einige davon gehörten mir, und offenbar benutzte er sowohl meine als auch seine. Er hatte eine riesige Angelrute; damit konnte man im See angeln, nicht im Meer. Sie war so schwer, daß er sie kaum auswerfen konnte. Und dann, an einem Punkt, frühstückten Jill und ich, und sie gab von Barts Geld 3,50 Dollar für jeden von uns als Trinkgeld. Ich wurde sauer und sagte: "Das ist zuviel", aber sie hat keine Ahnung, wie man mit solchen Sachen umgeht. Daher schaltete sich meine Mutter ein und verringerte das Trinkgeld. Dann stolzierte Susan am Flughafen allein voran, ganz steif, so wie sie's an Flughäfen immer macht, und meine Mutter erklärte mir, Susan habe sich entschlossen, jetzt alles allein zu machen. Mutter trug auch meine Jacke in ihrem Mantel eingeschlagen, zuerst dachte ich, ich hätte sie verloren. Während meines Ausflugs hatte sich inzwischen diese andere Frau, sie war nicht so hübsch wie ich, an den jungen Mann herangemacht, der wie Bart aussah und auch mein Freund war. Ich war ein bißchen ärgerlich, denn ich hatte gedacht, daß ich gut genug aussehe, um sein Interesse an mir aufrechtzuerhalten. Dann erschien Gretta, meine Stief-Schwägerin. Sie sah fabelhaft aus und zog alle mit ihrer reizenden Art in ihren Bann. Und das ist der Traum.  

Dieser Traum der Patientin entspringt, wie ihr Leben, aus einer Matrix ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Sie ist innerlich durcheinander und lebt dieses Durcheinander in ihrer fahrigen Art zu reden aus. Die Therapeutin bemerkte zu diesem Teil des Transkripts: "Janets ganze Art zu reden ist vollkommen abgehoben von der Gegenwart. Was sie erzählt, hat mir ihr selbst nichts zu tun — vielmehr macht sie aus dem Traum, der für sie eine reale Bedeutung hatte — "Er war in meinem Kopf" — eine langweilige Erzählung. Sie hat kein Gefühl und weiß es nicht.

180


T: Und was ist mit dem Traum?  
P: Na ja, dieser Traum hat mit all den Dingen zu tun, von denen ich loskommen will. Alles, was ich hasse. Alles, was in meiner Jugend unecht war ... und die ganzen unechten Leute und das ganze Unwirkliche in meinem Verhalten.  
T: Janet, hast du irqendetwas gefühlt, als du aus diesem Traum aufgewacht bist? Wie hast du dich gefühlt, als du wach wurdest?  
P: Unbehaglich.  
T: Inwiefern unbehaglich?  
P: Nun ... ich überlegte mir, weißt du, welche Gefühle dieser Traum bei mir ausgelöst hat. Es war ein sehr interessanter Traum, und viele meiner Freunde kamen darin vor, viele Leute, die ich kannte. Aber mir, mir gefällt diese ganze Welt nicht, weißt du, sie macht mich sehr nervös, und ich hasse sie, und ich will da raus. Sie ist nicht echt. Die Leute sind nicht echt. Die Männer interessiert es nur, wie man aussieht ... ich meine, wenn man nicht gut aussieht, können sie einen nicht lieben, weil sie so schrecklich oberflächlich sind. Und wenn man nicht schlank ist und nicht die richtige Frisur hat und sich nicht richtig anzieht und die Nägel nicht gemacht sind ... lieben sie einen nicht. Ooooooh. (Seufzer) ...  
T: Denkst du jetzt gerade an etwas Bestimmtes?  
P: Nein, ich meine bloß diese ganze Verlogenheit der Männer, mit denen ich zu tun habe.  
T: Welche Männer meinst du?  
P: George, der zu meiner Mutter sagte, als ich aus Europa zurückkam und als er auf meine Oberlippe sah: "Sandra, mein Gott, bring sie irgendwohin und laß das wegmachen ...", denn ich hatte Haarflaum auf meiner Oberlippe. "Helen, oooh, das ist ja widerlich". Mein italienischer Freund mochte das und fand es niedlich. Und mir fällt dieser andere verrückte Typ ein, Bill. Er ist heute ein großer Schriftsteller und überall dabei. Bill war wirklich verrückt und er wollte, daß ich mit ihm zusammenlebe, aber ich sollte mir Mini-Röcke anschaffen und ich ... meine Frisur stimmte nicht. Armer Bill.  

Wir haben in diesem Buch vernünftige Verrücktheit erörtert. Janets vernünftige Verrücktheit besteht zu einem großen Teil aus ihrer fortwährenden Beurteilung ihrer Welt. Sie spürt nicht, was ihre Welt ihr antut und wie sie sich in ihr verhält. Sie wird beurteilt und erwidert ihrerseits mit Urteilen.

181


T: Was meinst du mit "armer Bill"?  
P: Ich meine, weißt du, das war sein Kriterium. Ich meine, ich reizte ihn, doch ich trug nicht die richt igen,Röcke und, und, und ich sollte mir eine andere Frisur zulegen, und wenn ich bei ihm geblieben wäre, hätte ich mich so anziehen müssen, daß er mit mir hätte angeben können, weißt du, er hätte dann sagen können: "Das ist Bills Frau".  
T: Wie empfindest du es; daß diese Männer dich anders wollten?  
P: Nun, ich meine, sie wollten mich, weil ich, weißt du, sie sagen, daß ich hübsch wäre und daß ich auch ich wäre, weißt du, und ich glaube, das zog sie an. Aber sie waren so oberflächlich, und ich bin es auch, weißt du, ein Haarschnitt ist für mich sehr wichtig. Ich kann mit keinem Mann ausgehen, der zu kurzes Haar hat, weil es mich krank macht ... Bei Männern mit kurzen Haaren wird mir übel. Sie kommen mir irgendwie krank vor, und umgekehrt ist es genauso, die gleiche verdammte Scheiße.  

Als Linda dieses Transkript las, bemerkte sie: "An diesem Punkt der Sitzung versuchte ich, sie näher an ein zumindest Erkennen ihrer Abwehr heranzuführen. Ihre ganze Art zu reden war entweder belanglos oder fast schon hysterisch. Häufig wurde ich bei der Arbeit mit Janet sehr traurig. Sie war so vollkommen in Worten und Erklärungen verloren. Sie war verloren und konnte kaum erkennen, daß sie gefunden werden will".

T: Warum sprichst du nicht darüber, wie du es empfindest, daß du ein Teil dieser Unsinnigkeit bist?   
P: Na ja (Seufzer), mich interessiert kein Mann, der zu ordentlich ist. Da wird mir schlecht; ich mag keine Leute, die zu rechtschaffen sind.  
T: Was meinst du mit "zu rechtschaffen"?  
P: Sie ... tragen zu kurzes Haar, und sie tragen Anzüge und ... sind kleinkariert. Ich mag sie nicht. Da stimmt irgendetwas nicht ...  
T: Was mißfällt dir an ihnen?  
P: Ich meine so. Jack mit seiner anal verklemmten Persönlichkeit. Man kann überhaupt nicht auf einer realen Ebene mit ihm reden, weil er so verkniffen ist. Er wird (holt Luft) einfach so angespannt.  
T: So?  
P: Und bei ihm dreht sich alles um Positionen und Titel und wer und was, und seine Haare sind kurz, und ich mag eben keine Leute mir kurzen Haaren. Ich traue ihnen nicht. Andererseits mag ich keine Leute, weißt du, die zu sehr dahertönen. Ich meine zu sehr, es gibt etwas dazwischen, es gibt, es gibt eine Natürlichkeit. Es gibt Leute, weißt du, die nicht ständig darüber nachdenken, darüber puh - was andere denken. Jack gehört zu der anderen Sorte.  

182


Janets weitschweifende Monologe über ihre Ansichten sind nicht ungewöhnlich. Sie steckt, wie jeder verworrene Erwachsene, voller Klischees und Ansichten, die es verhindern, daß sie fühlt, was in ihr vorgeht. Linda bringt Janet langsam dazu, ein bißchen mehr von ihrer Abwehr zu sehen. Viele andere Therapeuten am Center erklärten, als sie diesen Kommentar lasen, daß sie sie härter angefaßt hätten. Erst beim Abhören der Bandaufnahme von dieser Sitzung konnten wir hören, wie zerbrechlich Janet in Wirklichkeit war. Linda schrieb in ihren Anmerkungen über sie: "Janet gibt sich in einer großen, starken und überlegenen Rolle. Aber wenn man sie etwas ruhiger bekommt und sie fragt, wird sie Pudding. Sie ist wirklich zerbrechlich."

T: Bist du jemand von denen, Janet, die sich den Kopf darüber zerbrechen, was andere Leute denken?  
P: Ich kämpfe mit aller Macht dagegen.  
T: Um was kämpfst du?  
P: Zu versuchen, mich nicht darum zu kümmern, was andere denken, weil ich es in gewisser Hinsicht nicht tue. Ich meine, wenn ich glaube, daß etwas richtig ist, dann ist es mir egal, was andere denken. Doch dazwischen liegt ein unklarer Bereich, wo ich mir nicht sicher bin, weißt du. Wo ich keine Überzeugungen habe und mir unsicher bin. Ich meine, wenn ich von etwas wirklich überzeugt bin, ist es mir ganz egal, was irgendwelche anderen Leute denken. Sie können sich alle zum Teufel scheren, weißt du, ich tue einfach das, was ich tun muß. In dieser Hinsicht bin ich irgendwie immer ein Einzelgänger gewesen. Ich meine, ich bin kein Opportunist. Größtenteils tue ich das, was ich tun will, und dann werde ich total unsicher und zerbreche mir den Kopf darüber, was die anderen wohl denken werden, weil ich nicht an das glaube, was ich tue. Ich meine, wenn ich daran glaube, ist es okay ...  
T: Wie oft glaubst du an das, was du tust?  
P: Nicht mehr besonders oft.  

Viele Erwachsene erreichen im Leben diesen Punkt, ohne sich jemals dem zu stellen, was geschieht. Wenn die Menschen an das zu glauben aufhören, was sie tun, beginnen sie sehr schnell zu altern. Nichts läßt jemanden schneller altern, als etwas zu tun, woran er nicht mehr glaubt. Dies heißt im Fall von Janet, daß sie vor langer Zeit aufgehört hat, das zu tun, was sie fühlte. Dieser Abwehr des An-Nichts-Glauben muß entgegengearbeitet werden. Andernfalls würde Janet herauszufinden versuchen, wie man Therapie macht, ohne sich jemals selbst zu fühlen.

183


T: Glaubst du an das, was du hier tust?  
P: Oh ja.  
T: Was tust du hier?  
P: Ich versuche, mein Leben zu retten.  
T: Was meinst du damit?  
P: Versuchen, zu meinen Gefühlen durchzudringen.  
T: Was meinst du mit "versuchen, zu deinen Gefühlen durchzudringen"?  
P: Nun, ich versuche, zu ihnen durchzudringen. Ich kann überhaupt nichts fühlen; und ich möchte zu meinen Gefühlen durchdringen. Ich will herausbekommen, warum ich die ganze Zeit Schmerzen habe und warum ich damit nicht fertig werden kann.  
T: Was hast du für Schmerzen?  
P: Schmerzen!  
T: Was für Schmerzen?  
P: Physische Schmerzen in der Brust, Spannungsgefühle, physische Schmerzen aus Angst.  
T: Angst vor was?  
P: Und Wut.  
T: Warte mal, woher weißt du, daß es Angst ist, und woher weißt du, daß es Wut ist?  
P: Nun, ich empfinde es als Angst; und ich empfinde es als Wut.  
T: Nun, das heißt, du hast also gefühlt.  
P: Ja, ich habe es gefühlt, doch ich kann es nicht fühlen, weißt du, weil ...  

Beachten Sie, daß Janet sämtliche richtigen Gefühlsworte benutzt (Schmerz, Angst, Wut), ohne jedoch zu fühlen. Die Therapeutin versucht nicht, Therapie zu machen oder eine Technik auf sie anzuwenden; ihr eilt es nicht, durch etwas hindurch zu gelangen.

T: Einen Augenblick, jetzt mal ganz langsam, Janet. Laß uns herausfinden, worüber du jetzt gerade redest. 
P: Ja, zum Beispiel.  
T: Du weißt, es ist Angst, und du weißt, es ist Wut.  
P: Ja.  
T: Weil du es gefühlt hast?  
P: Ja. 

184


T: Und wenn du es also gefühlt hast, erzähl mir genau, was du gefühlt hast.  
P: Nun, ich meine, ich empfinde es als Angst, und ich empfinde es als Wut.  
T: Was ist das für ein Gefühl?  
P: Nun, weißt du, wie meine Angst vor Erdbeben.  
T: Jeder hat Angst vor Erdbeben.  
P: Nicht so wie ich ... nicht so wie ich.  
T: Du bist also hergekommen, weil du Angst vor Erdbeben hast?  
P: NEIN! Ich bin hierher gekommen, weil ich vor allem möglichen Angst habe.  
T: Zum Beispiel? 
P: Erdbeben, Einbrechern, Autounfällen, in Beziehungen zu versagen, Erfolg, Alter, Schmerz ...  
T: Wovor hast du im Augenblick Angst?  

Linda hat sehr klar einen Weg durch Janets erste Abwehr des endlosen Redens gebahnt. Das ganze Gespräch kommt jetzt in einem Moment und einer Frage zur Ruhe: "Wovor hast du hier Angst?" Janets Antwort auf diesen Moment war, zu regredieren oder sich vom Fühlen zu entfernen. Sie ersetzt die selbstsichere Abgeklärtheit durch hilflose Konfusion.

P: Es ist zu viel.  
T: Was ist zu viel?  
P: Ich bin so verwirrt ... ich weiß nicht, was ich tun soll.  
T: Erzähl mir, was dich verwirrt.  
P: Ich bin einfach so verwirrt. Ich möchte dies so gern tun. Mir ist speiübel. Mir ist, als müßte ich mich übergeben. Ich fühle mich, ich fühle mich sehr, sehr krank und dann kann ich es nicht tun. Ich glaube, ich mache alles falsch. Meine Gedanken gehen anscheinend in die ganz falschen Richtungen. Ich kann nicht fühlen, was ich fühlen soll. Und ich fühle, wenn ich's nicht soll. Ich will Dinge tun, die ich nicht tun sollte. Und ich mache mir wirklich Gedanken wegen meiner Frisur, und ich wollte einen Knopf an mein Hemd annähen. Und ich mache mir Gedanken wegen des Essens. Ich mache mir Sorgen über, weißt du, ich meine wie ... Ich hab mir so eine kleine Routine entwickelt, um mit dieser Angst fertig zu werden.

An dieser Stelle richtet die Therapeutin ihr Hauptaugenmerk auf ein bestimmtes Ritual im Tagesablauf von Janet. Dies wird im weiteren Verlauf zum Ausgangspunkt für ihren Kampf gegen ihre Verrücktheit.

185


T: Was ist das für eine Routine?  
P: Nun ich stehe morgens um sieben Uhr auf, gehe ins Badezimmer und pinkle und putze mir die Zähne und wasche mir das Gesicht. Danach lege ich mein Vibra-Life auf. Während ich es auflege, denke ich ständig...  
T: Was ist das?  
P: Es ist das Zeug für meine Haut. Und während ich es auflege, denke ich, ich sollte es nicht tun, weil es Mache ist, und dann frage ich mich, was daran denn Mache ist. Es ist so gut, meine Haut ist viel besser. Ich habe überhaupt keine Pickel mehr.  
T: Was ist Vibra-Life? Ist es eine medizinische Behandlung oder eine Hautcreme oder ist es ...  
P: Es besteht aus Seifen und Astringents und so einem Zeug, das man unter die: Augen aufträgt, Creme, und dann dieses Zeug für tagsüber, das die Haut schützt und die Poren offenhält. Ich finde es wirklich herrlich. Und ich habe es gern. Und ich will es nehmen. Weil es gut für mich ist. Weißt du, es ist nicht einfach irgendetwas, es hält die Haut wirklich geschmeidig und schön. Es gefällt mir einfach. Und ich tue es, weißt du, ich tue es gern, weil es gut für mich ist. Und dann ...  
T: Was Wäre, wenn du es nicht nehmen würdest?  
P: Nun, meine Haut würde komisch werden, es würde mich überall jucken, und ich würde Pickel und Schuppen bekommen und es, und es .... wenn ich es nicht habe, fühle ich mich unwohl.  
T: Nun, was passiert denn mit diesem pechschwarzen Mädchen, dieser Schönheit, wenn sie ihr Vibra-Life nicht mehr nimmt?  
P: Na ja, ich werde alt und schuppig. So, wie wenn ich aufhören würde, Shampoo zu nehmen und meine Haare zu waschen. Wenn ich meine Haare nicht wasche, bekomme ich wie verrückt Kopfjucken. Und deshalb nehme ich es, und wenn das Mache ist, dann bin ich eben so.  
T: Hast du dich jemals so gesehen, wie du wirklich aussiehst?  
P: Na klar.  
T: Und was geschieht, wenn du dich so siehst, wie du wirklich aussiehst?  

Linda kommentiert das Geschehen folgendermaßen: "Da Janet nicht aus ihrem Innern heraus antworten konnte, erzählte sie mir von dieser allmorgendlichen Routine oder diesem Ritual. Sie hat sich zur Erklärung ihres täglichen Lebens einen Wortschatz unsinniger Wörter aufgebaut". Statt sich mit dem zu konfrontieren, wie sie wirklich war, entwickelte Janet ein Ritual, um ihrer Rolle als hübsches Mädchen gerecht zu werden. Ihr Ritual hält ihre Rolle aufrecht.

186


Wenn wir Anthropologen wären und primitive Stämme erforschten, könnten wir in Janet jemanden erkennen, der den Göttern der Schönheit kleine Gaben darbringt. Ihr Ritual erscheint indes nur deshalb als normal, weil die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft vernünftig verrückt ist. Ihr Ritual könnte dem Gott des Geldes, der Macht, des Ruhmes, des Bewußtseins oder dem Gott der guten Staatsbürgerschaft dargeboten werden.

P: Nichts. Nur meine Augen.  
T: Stört es dich? Was stört dich an deinen Augen?  
P: Nun, sie sind so blaß und machen mich alt. Sie sind sehr blaß. Jedenfalls, weißt du, dann lege ich etwas Augen-Make-up auf. Ziehe mich an, bürste dann meine Haare und nehme danach etwas Haarspray, weil sie mir sonst ins Gesicht fallen. Und dann mache ich einen Spaziergang und dann frühstücke ich. Danach gehe ich aufs Zimmer zurück, schaue in mein Buch und trage etwas ein und denke eine Zeitlang darüber nach, was ich gefühlt und was ich nicht gefühlt habe. Und dann werde ich langsam1 unruhig, weil ich hierher kommen muß und Angst habe, mich zu verspäten. Und wenn ich pünktlich hier bin, möchte ich nicht hineingehen, weil ich diese Dunkelheit hier drin nicht ausstehen kann. So blieb ich im Auto sitzen, bis du mich hereingerufen hast. Also muß ich hereinkommen. Ich trete ein und mache diese Sache hier, und es dauert den gesamten Vormittag. Und es ist sehr schmerzhaft. Und ich glaube, ich habe mir überlegt, daß es besser gewesen wäre, wenn ich alles hingeschmissen hätte, als hierher zu kommen.  
T: Wie ist es, wenn du hier bist?  
P: Nun, es ist so schmerzhaft für mich. Du stößt mich herum, und ich kann nicht das tun, was ich tun muß. Das alles ist wie ein Alptraum, so wie ein Alptraum. Es ist wie ein schlimmer Traum. Genauso fühle ich mich, wenn ich morgens aufwache und mir vorstelle, mein Gott, jetzt ist alles wahr. Ich muß da reingehen, ich muß mich auf diesen Fußboden legen, und ich muß es versuchen, und es klappt nicht.  
T: Warte, warte einen Moment. Was heißt "du mußt"?  
P: Ich muß.  
T: Wer hat deine Bewerbung geschrieben?  
P: Ich.  
T: Mußtest du sie schreiben?  
P: Wenn ich mich nicht hätte aufgeben wollen ... Ich weiß, was hier passiert.  
T: Was geschieht hier?  
P: Ich kämpfe um mein Leben ...  

187


T: Irgendwie wirst du anfangen, um dein Leben zu kämpfen, und du wirst anfangen müssen, ein paar simple Dinge zu tun, Janet. Als erstes brechen wir deine kleine Routine. Morgens nach dem Aufstehen nimmst du entweder nur eine Dusche oder wäschst dein Gesicht und bürstest bloß deine Haare, und das ist alles. 

Die Therapeutin interveniert hier direkt. Mit dieser einfachen Anweisung nimmt sie dieser Frau den Schleier ihrer Illusion. Janet muß sich nun entscheiden, ob sie wirklich fühlen will, wer sie hinter ihrer Maske und ihren Ritualen ist. Dies signalisiert den Obergang von einem Geplänkel in einen regelrechten Kampf. Sie kämpft um ihre seelische Krankheit, die Therapeutin um ihre seelische Gesundheit.

Es ist interessant, zu lesen, was Janet zu diesem Teil ihrer Sitzung zu sagen hatte: "Als Linda von mir verlangte, mein Vibra-Life nicht mehr zu nehmen, war mein ganzer Körper in Aufwallung. Ich fand sie unausstehlich. Alles, was ich wußte, war, daß sie etwas Lächerliches von mir verlangte."

Janet befindet sich eindeutig in einer Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart. Sie ist innerlich verwirrt und kann nicht zwischen dem unterscheiden, was sie tun — angeblich "fühlen" — will, und dem, was sie tut, um ihr Nichtfühlen zu bewahren. Sie will fühlen, aber schmerzlos und ohne Mühe.

P: Ich muß meine Creme auflegen, bitte ...  
T: Genug damit. 
P: Ich kann nicht, nein, bitte meine Haut wird ganz ... 
T: Du hast mir gerade noch gesagt, du würdest um dein Leben kämpfen, und dann kannst du nicht einmal ein paar simple Dinge tun ....  
P: Nein, tu mir das nicht an ... (weinend) Es hat ein ganzes Jahr gedauert, bis meine Haut völlig rein war, und du wirst mir das nicht antun! Du kannst dich selbst bescheißen!!! Nein !!! (weinend) Mir ist egal, was du tust -Du erzählst mir, ich soll ehrlich sein, und dann bestrafst du mich. Du Miststück!! (tief atmend) Du bestrafst mich!! Du wirst mich nicht dafür bestrafen!  
T: Was meinst du mit "Ich bestrafe dich"?  
P: (tief atmend) Du bestrafst mich!!  
T: Ich sage dir etwas sehr einfach ...  
P: Nein!!  
T: Sehr einfach.  
P: Nein! Du nimmst mir etwas, woran mir liegt, und du wirst es nicht tun!  
T: Das bedeutet Nichtfühlen - nichts anderes.

188


P: Nein!  
T: Genau das heißt es für dich.  
P: Nein, das stimmt nicht.  
T: Warum wehrst du dich denn dann so stark dagegen?  
P: Das Augen-Make-up ist mir egal! Und die Bedingungen sind mir egal. Du wirst es mir nicht wegnehmen! Mir sind die Bedingungen egal! Aha! (tief atmend) Nein! Nein! Du wirst es picht tun! (.schluchzend) (schluchzend), und du kannst es nicht herausbekommen (tief atmend). Man sieht es nicht, wenn es drauf ist (ausatmend ... schluchzend) ...  
T: Janet, du hast gesagt, du wärst hier, um dein Leben zu retten.  
P: (atmend ... schluchzend) ...  
T: Ich hab dich um eine einfache Sache gebeten, und du kannst nicht einmal das.  
P: Was?  
T: Ab morgen kein Vibra-Life, kein Augen-Make-up, kein Shampoo,' kein Bürsten - ganz einfach, sehr einfach.  
P: (schluchzend) ... (seufzend) ...  
T: Woran denkst du jetzt gerade?  
P: (ausatmend) Ich dachte daran, daß ich deshalb fast weggegangen wäre.  
T: Soviel ist dir also dein Leben wert? 
P: (seufzend) Was hat das mit meinem Leben zu tun? (jammernd) Bloß weil ich dieses Zeug nehme, es auf ein Stück Watte tue und es über mein Gesicht verteile (weinend) ... Wie weit nach unten muß ich denn gehen? (schluchzend) ...  
T: Ganz herunter, Janet.  

Linda bemerkt: "Zum erstenmal in dieser Sitzung hatte Janet begonnen, im Zimmer zu sein. Sie fühlte nicht viel, aber sie fing an, etwas mehr als lediglich Monologe zu äußern — sie und ich waren dort zusammen. Es war ein Schritt in die richtige Richtung."

P: (seufzend ... schluchzend) Mein Gott ... (schluchzend ... seufzend ... ausatmend) Onhh ...  
T: Sprich weiter. Was geht jetzt gerade in dir vor?  
P: (seufzend ... schluchzend) ...  
T: Weshalb weinst du jetzt, Janet. Beantworte bloß meine Frage, weshalb weinst du jetzt gerade?  
P: (einatmend) Weil du mir genau das antust, was sie mir angetan hat. (schluchzend) ... -

189


T: Aha ... aha ... aha ...  
P: (schluchzend) Und du trittst meine Wahrheit mit Füßen, (schluchzend) ...  
T: Was meinst du damit?  
P: (schluchzend) ...  
T: Was meinst du damit?  
P: (einatmend) Ich sage dir die Wahrheit, und du schlägst mich mit ihr.  
T: Was ist die Wahrheit, die du mir erzählt hast?  
P: Ich habe dir von dem Vibra-Life erzählt, und dann nimmst du es weg. (einatmend) ... Du hast kein Recht, mir das anzutun. (schluchzend ... einatmend) Du sagst, du seist ein warmherziger und fühlender Mensch, und du bist es nicht, du bist ein gemeines, kaltes Miststück, (einatmend.... schluchzend) Du halst mich nur für ein Stück Dreck ... oh, oh, du halst mich nur für ein Stück Dreck.  
T: Hälst du dich selbst dafür?  
P: Ich glaube, ich bin abgestorben. Ich kann es nicht tun. Ich bin zu weit gegangen, (schluchzend) Ich werde tun, was du sagst, aber ich kann es nicht, (schlägt ihre Hände zusammen) (seufzend) Ich muß irgendeinen Weg finden, da durchzukommen, {schluchzend ... einatmend) Irgendeinen Weg. (weinend) Oh, oh, du wirfst mir vor, ich sei lesbisch, oh, darauf hab ich gewartet, darauf hab ich gewartet! "Was ist das - Spiel Nummer "Susie 7A"? Ich hab darauf gewartet, weil ich es in meiner Bewerbung angegeben habe, und hab bloß darauf gewartet, daß du mich damit angreifst, (schluchzend) Ich hab darauf gewartet, denn ich wußte, daß du meine Bewerbung liest ...  
T: Was verletzt dich daran?  
P: Nichts! Weil ich darauf gewartet habe. Was weh tut, ist, daß ich darauf gewartet habe und du schließlich damit herausgerückt bist. Das tut weh! (schluchzend) Das tut weh. Ich hab nur darauf gewartet, daß du davon anfängst.  Weil es bloß ein weiterer Schachzug ist. Oh ... oh ... oh ... Es ist bloß ein weiterer Schachzug.  
T: Ein weiterer Schachzug wozu?  
P: Um mich dazu zu bringen, etwas zu fühlen, ich kann es nicht, ich kann es nicht, (schluchzend) Ein anderes Mädchen geht hierein, und sie brüllt und schreit, und sie fährt übers Wochenende nach Hause, und sie kann fühlen (schluchzend), und ich kann es nicht (schluchzend). Ich kann nicht leben!! Ich muß mich um mich selbst kümmern, weil es niemand sonst tut. Ich muß mich um mich selbst kümmern.  
T: Du hast jahrelang versucht, dich um dich selbst, zu kümmern, und jetzt bist du Hier auf dem Fußboden-gelandet (sehr sanft).

190


P: (weinend)  
T: Nein, es gibt keine anderen Leute, es gibt nur Janet ... irgendetwas, muß falsch daran gewesen sein, wie du dich um dich selbst gekümmert hast. Also ...

Janet steht sich selbst gegenüber. Ihren Abwehrmechanismen ist entgegengewirkt worden, so daß die Ebene ihres Fühlens offen daliegt. Linda schreibt: "Hier konnten wir beide fühlen, daß sich etwas in ihr regt, nicht viel zwar, doch mehr als vorher. Es schien zumindest möglich, daß sie für ihre Gefühle kämpfen würde, daß sie fühlen würde, wie sie abwehrt.

P: (seufzend) Oh ... (seufzend) ... Man hat mich nie verstanden.  
T: Wer hat dich nicht verstanden?  
P: Meine Mutter. Sie hat mich nie richtig verstanden. Ich bemühte mich so sehr, lieb zu sein. Ich hab alles für sie getan. Ich hab ihr den Rücken gerieben, ich brachte ihr das Frühstück, und ich putzte das Haus und war nett zu ihrem Mann ... und ich tat alles für sie, und ich hörte mir ihre. Probleme an, und mir hörte sie niemals zu, niemals. Fast hätte ich ihr heute eine Muttertagskarte geschickt. Aber da standen so liebe Sachen drauf, daß ich es nicht fertig brachte. Dann sah ich eine Kondolationskarte. Ich wollte ihr die schicken. Dann überlegte ich mir, daß es zu grausam sei. Ich kann beides nicht ... (redete sehr leise) ...  
T: Inwiefern hat dich deine Mutter nicht verstanden?  
P: Puh, meine Güte (schniefend). Sie hat mich überlistet.  
T: Wie?  
P: Eine Sache ist mir eingefallen
bitte laß mich dir erzählen, was sich da abspielte. Alle meine Freunde wollten nichts mehr von mir wissen. Es war ein Massenboykott, und ich bin überzeugt, sie stand dahinter. Und bis vor ein paar Jahren habe ich mich nicht einmal daran erinnert. Erst kürzlich fiel mir wieder ein, daß sie sie gerade vorher aus dem Haus geworfen hatte. Jedenfalls kamen sie alle zu mir nach Hause und warfen mich aus der Gruppe raus und machten mich bei meinem Freund madig, so daß er sich von mir zurückzog. Und so hatte ich niemanden mehr - das war im Sommer. Meine Mutter kam dann zu mir und meinte: "Was möchtest du machen, möchtest du deine Tante Mary in Sacramento besuchen?" Sie redete nicht mit mir darüber und half mir nicht, damit fertig zu werden. Sie ließ mich fortlaufen. Sie legte mir nahe, fortzulaufen. Das soll jetzt nicht heißen, daß zu Hause alles so großartig war, daß ich nicht weg wollte, denn es war entsetzlich. Wir haben uns dauernd gestritten, besonders beim Essen. Ich sehe sie vor mir, wie sie das Fleisch schneidet nahe neben mir und mich dabei die ganze Zeit anbrüllt.   

191


Als ob ich gar nicht da wäre, so brüllte sie. Jedenfalls fuhr ich dann nach Sacramento zu meiner Tante Mary. Sie ist die Schwester meines Vaters, und sie ist wahrscheinlich einer der nettesten Menschen auf der ganzen Welt ... eine liebe, gutmütige, aufopferungsvolle Dame. Obwohl sie auch Probleme hat. Trotzdem ist sie ein richtig netter Mensch. Sie ist wie mein Vater, weißt du, sie waren liebe Menschen, einfach lieb. Ich blieb also einige Wochen bei ihr und erzählte ihr, wie unglücklich ich zu Hause wäre, weißt du, ich weinte viel. Aber sie konnte nichts machen, weißt du, es ging ihr zu Herzen, aber was hätte sie tun können? Mein ganzes Leben bröckelte um mich herum ab - meine Freunde waren weg. Und so fuhr ich zurück nach Los Angeles, und meine Mutter war von oben heruntergezogen, und es waren die gleichen Wohnungen - außer einem zusätzlichen kleinen Zimmer, und meine Mutter sagte zu mir: "Ich bin wegen dieses zusätzlichen Zimmers heruntergezogen, und daher könnte ich hier auf dem Sofa im Eßzimmer schlafen, und du kannst dein eigenes Zimmer haben, und wenn du abends spät nach Hause kommst, wirst du mich nicht aufwecken." Ich war zwölf und wollte wirklich ein eigenes Zimmer, denn ich war schon ordentlich und räumte auf, und ich hab wirklich gern alles da, wo es hingehört. Meine Mutter ließ immer ihre Büstenhalter und ihr Korsett herumliegen, und wenn meine Freunde vorbeikamen, setzten sie sich drauf, weißt du, und ich wollte wirklich mein eigenes Zimmer. Ich dachte, sie hätte das getan, weil sie es wollte. Deshalb sagte ich: "Vielen Dank, das ist ja toll". Dann fiel sie über mich her. Sie beschimpfte mich als egoistisches Schwein und meinte, ich hätte ihr wenigstens anbieten können: "Sag Mamma, willst du nicht das Zimmer mit mir teilen?" Sie hatte erwartet, daß ich das von mir selbst aus sage, verstehst du, nach dieser tollen Überraschung. Sie hatte das von mir erwartet. Zum Schluß war ich in dem kleinen Zimmer und weinte hysterisch darüber, daß ich gerade da war ... das ist die Erinnerung an sie. Sie war wirklich so ähnlich wie du.  
T: Wie meinst du das?  
P: Sie war grausam.  
T: So wie ich?  

Linda merkte, daß Janet sich nicht dafür entscheiden würde, zu fühlen. Vielmehr wandte sie sich wieder vom Fühlen ab und geriet in weiteres Monologisieren, mit dem einzigen Unterschied, daß sich dieses jetzt auf die Vergangenheit bezog. Sie entscheidet sich, nicht zu fühlen und weiter zu regredieren. Linda muß Janet nun auf das Niveau zurückbringen, das sie kurz vorher erreicht hatten. Wenn man dieses Transkript liest, täuscht die Geschwindigkeit, mit der Janet aus ihrem Moment des Fühlens in ihr Moment der Retrogression abglitt.

192


P: Du bist grausam, sie war früher genauso zu mir. Sie war nicht eher zufrieden, bis ich brüllte und heulte, und du bist nicht eher zufrieden, bis ich brülle und heule. Und deshalb habe ich zu brüllen und heulen aufgehört. Warum hätte ich das ihretwegen tun sollen - aus welchem Grund? Sie war erst zufrieden, wenn sie es geschafft hatte, mich hysterisch zu machen, erst dann. So sind sie alle. Du mußt auch Skorpion sein. Wäre es nicht lustig, wenn es stimmte? Haha.  
T: Nein Janet, ich bin es nicht. Ich warte hier nur darauf, daß du ankommst. Ich möchte, daß du mir etwas mehr darüber erzählst, wie deine Mutter das Fleisch schnitt und dich dabei anschrie. Ist das einmal beim Essen vorgekommen?

Linda meint: "Bei alledem, was Janet erzählte, zeigte sie nur bei dem einen Bild ihrer Mutter, wie diese sie anschrie, Ansätze von Gefühlsregungen. An diesem Punkt der Sitzung wußte ich, daß Janet zu einer vorgestellten Abreaktion kommen könnte — das heißt, sie könnte zumindest über das zu weinen beginnen, was ihr widerfahren war. Sie war eindeutig noch nicht so weit, eine integrale Abreaktion zu fühlen".

P: Mir scheint, als hätten wir uns immer beim Essen gestritten, weißt du.  
T: Wer hat sich gestritten? Um was ging es dabei normalerweise?  
P: Nun, Mamma, Jeffrey und ich. Sie schrie uns wegen irgendetwas an - wegen allem - schrie sie uns an. Wir machten nichts richtig, ich weiß nicht was. Ich kann es mir nicht vorstellen, weißt du. Ich kann mir nicht vorstellen, was wir falsch machten. Weil ich gar nichts falsch machte! Ich meine, ich trieb mich nicht herum, ich lief nicht in der Gegend herum, ohne ihr Bescheid zu geben, wohin ich ging. Ich machte überhaupt nichts falsch. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was sie hatte. Es war alles so ungerecht, weißt du, so verdammt ungerecht. Ich habe genau dieses Bild vor Augen, wie sie das Fleisch schneidet, und ich sitze hier, dort der Toaster, mein Bruder da drüben, und sie ist hier und schneidet das Fleisch und schreit und schubst mich mit ihrem Ellbogen! Es war ihr ganz egal. Da war ich, weißt du!  
T: Betrachte die Szene so wie du sie mir gerade beschrieben hast und erzähl mir, was du sagen willst.  
P: Mutter! Mutter (leise), laß mich in Ruhe (traurig). Ich kann sie nicht einmal anschreien, ich bin so erschöpft ... (schluchzend) (einatmend) Ich will sie anschreien (weinend), ich bekomme einen solchen Schrecken, wenn ich zu schreien versuche, (schluchzend) Warum erschreckt es mich so, wenn ich zu schreien versuche? (weinend) Ich will schreien, und ich kann nicht! (schluchzend) ....

193


T: Laß nach und nach ein bißchen heraus, Janet. Bloß ein kleines bißchen.  
P: Was?  
T: Schrei sie nur so laut an wie du kannst.  
P: (einatmend) Ahahaha! (weinend) Mist! (einatmend) Ahaha laß mich in Ruhe! Mutter, laß mich in Ruheeee — quäle mich nicht. Bitte sie! Ich bat sie immer, nicht zu quälen  

Janets Abwehr gegen jede reale Äußerung kam zum Vorschein, als sie vor einem weiteren Augenblick des Fühlens und der Wahl stand. Linda verlangte von ihr nichts weiter als einen winzigen Ausdruck — das würde ihre Abwehr des Über-sich-selbst-Redens sprengen und sie zum Ausdruck ihrer Gefühle bringen. Sie versucht nicht, Janet zu tiefem Fühlen zu veranlassen — sie führt sie an das Ausdrücken heran. Solange sie nicht zum Ausdruck in der Lage ist, werden ihre Gefühle niemals hervortreten.

T: Bitte sie jetzt.  
P: Mutter, laß mich in Ruhe!! Quäl mich nicht, (schluchzend ... schreiend) So hat sie mich früher angeschrien, (einatmend) Sie schreit mich an!! (weinend) Sie schreit. Sie schreit, (weinend) Weshalb war sie wütend?! Ich hab gar nichts getan?! Weshalb war sie so wütend? (einatmend) Warum brüllte sie mich an, daß sich ihre Stimme fast überschlug, wie bei mir jetzt. Ich meine, ich kann es nicht (schluchzend ... weinend) ...  
T: Frag sie einfach.  
P: Mutter sagt: "Janet!! Hör auf!!" (weinend) Warum? Warum? Ich hab nichts getan, (weinend) Ich hab gar nichts getan, Mutter. Warum mußt du ... mir das antun ... (trommelt mit den Händen auf dem Boden) Was hab ich getan? Oberhaupt nichts. Laß mich in Ruhe, (einatmend) Ich bin zornig. Ohh ... was hab ich getan? Mein Bruder - ich sehe ihn da sitzen, (weinend) Mein armer Bruder. Jeffrey! (einatmend) Er sitzt da!! Ach mein Bruder! Jeffrey! (einatmend) Jeffrey! (weinend) Jeffrey bitte, (weinend) Mein armer Bruder, mein armer Bruder, (weinend) Oh Gott!  
T: Was ist los?  
R: Er sitzt gegenüber am Tisch, ich sehe ihn da. (einatmend) Sein süßes Gesicht. Oh Gott!, (weinend) Jeffrey! Geh nicht weg. Sie schlägt ihm einfach ins Gesicht!! (tief atmend) Seine Nase fängt zu bluten an. Oh Jeffrey, Jeffrey mein Bruder.  
T: Janet, ich möchte, daß du dich selbst da am Eßtisch siehst. Hör, wie deine Mutter brüllt. Hör, was sie sagt.  
P: Ohhh.  

194


T: Schau sie an. Sieh sie in deiner Vorstellung.  
P: Sie sagte immer genau das, was ich sage. Sie sagte immer: "Warum quälst du mich? Was machst du?" Sie sagte: "Warum quälst du mich?" Was hab ich getan? Ich hab überhaupt n-ichts getan. Was hätte ich getan haben können? (schniefend) Ich wollte nur meinen Vater. Und daß. sie nicht mehr schreit. Ich war so ein liebes Kind, ich war so ein liebes Kind. Mensch, ich war so hilfsbereit, so helle, so lieb - was hab ich falsch gemacht? Warum hat sie das getan? Ich hab mich immer gefragt, warum, warum, warum, warum tut sie mir das an? Sie hat uns wahnsinnig gemacht. Ich kann mich wirklich nicht erinnern weswegen. Ich will essen gehen. Ich will essen gehen.  
T: Du meinst jetzt im Moment?  
P: Ja, Ich möchte essen gehen und alles vergessen. Den Schmerz anhalten. Ich will essen gehen. Ich will eine Menge Lebensmittel einkaufen und nach Hause gehen und die Tür schließen und essen und essen und essen. Und nie wieder rauskommen. Ich will essen gehen ...  
T: Erzähl es mir. Erzähl mir, wieviel du essen willst. Sag es mir so laut, wie du es innerlich fühlst.  
P: Linda, ich will essen und essen.  

Während Janet redete, begann sie, immer mehr zum Ausdruck zu bringen. Endlich kamen ihre Gefühle langsam zum Vorschein. Sie redete nicht mehr unentwegt herum und begann, ihrer Abwehr gegenüber­zutreten.

P: Linda, sie macht mich wahnsinnig. Sie will, daß ich esse. Ich will es ihr sagen, ich muß es ihr sagen, oder ich werde hier abhauen und essen. Das will ich nicht. Ich muß es ihr sagen. Laß mich in Ruhe. Laß mich in Ruhe. Mutter, laß mich in Ruhe! Laß mich in Ruhe. LASS WlW IN RUHE! LASS MICH IN RUHE!! LASS MICH IN RUHE !! LASS MICH IN RUHE!! LASS MICH IN RUHE!! LASS MICH IN RUHE!! HÖR AUF!! HÖR AUF!! LASS MICH IN RUHE!! ICH BRINGE DICH UM!! LASS MICH IN RUHE!! HÖR AUF!! HÖR AUF!! HÖR AUF!! HÖR AUF, hör auf, laß mich in Ruhe (schniefend) "Macht mir Kopfschmerzen.  
T: Weiter, Janet.  
P: Ich kann nicht ....  
T: Noch ein bißchen weiter jetzt. Los, stell' sie dir vor, bewege deinen Arm, bewege deinen Arm so.  
P: Oh ... oh ...  
T: Stell' dir vor, wie sie dieses Fleisch so schneidet.  
P: Mamma!  
T: Dieser feste Stoß, mach weiter.

195


P: Mamma! Nicht Mamma! Nicht Mamma!  
T: Komm, folge mit diesem Arm deiner .Körperbewegung. Beweg' deinen Arm, sag ihr, sie soll dich in Ruhe lassen. Mach' weiter.  
P: Mamma. Laß mich in Ruhe!!! Mamma, laß mich in RUHE!!! LASS MICH IN RUHE!! OH, LASS MICH IN RUHE!!! Tu mir das nicht an ... (schluchzend ... einatmend) Warum tust du mir das an? Ich will meinen Bruder nehmen und losrennen. 
T:. Bleib' bei dem,, was sie dir jetzt gerade angetan hat, Janet.  
P: (einatmend) Ahh (stöhnend) Oh oh. Warum tust du mir das an? Du mußt mich hassen. Du haßt mich, du mußt mich hassen. Sonst würdest du mir das nicht antun (schluchzend). Was hab ich getan? Was hab ich getan? (einatmend) Ich weiß nicht, was ich getan habe ... getan habe ... getan habe ... (einatmend) Oh Mamma, warum tust du mir das an? (schluchzend) Warum? Warum? Oh, ich bin immer auf mein Zimmer gegangen und hab geweint» Ich hab geweint, bis ich mich so wie jetzt fühlte. Hilflos. (putzt sich die Nase) Hilflos. Die ganze Zeit, (schniefend) Sie versuchte, sich die Haare auszureißen, sie wurde so rasend. Und sie schrie genauso wie ich schrie, weil ich so bin wie sie. Ich fürchte, ich bin genauso wie sie. Du kannst meine Mutter sehen, wenn ich wütend werde. Das ist sie, das ist Sie, das ist es, was sie mir angetan hat ... (seufzend) Ich bin sie. (schniefend) Ich habe ihre Hände. Ich hasse sie.  
T: Was fühlst du jetzt gerade, Janet?  
P: Verzweiflung, (schwer atmend) Ich muß hier raus. Raus aus meinem Körper. Linda, ich kann nicht fühlen, ich kann nicht.  
T: Erzähl mir, worüber du verzweifelt bist.  
P: Ich bin verzweifelt. Ich muß hier raus. Ich muß aus diesem Körper raus. Das ist der Körper meiner Mutter. Ich muß hier raus. Es stimmt wirklich, weißt du, ich bin ihr Körper. Meine Füße, meine Hände, meine Brust, alles. Ich sehe aus wie sie. Ich hab ihre Augen. Ich muß daher hier raus. Weißt du, ich tue fast alles, um meinen Körper zu verändern. Damit er nicht wie ihrer aussieht. Ich hasse sie. Ich hasse ihren Körper. 0ooo~ ... 
T: Du mußt es fühlen.  
P: Ich hasse ihre Füße. Ich hasse ihren Ballen am großen Zeh.  
T: Schließ' deine Augen.  
P: Ich hasse ihre Haut ... ich hasse sie. Mutter, ich hasse deinen Körper ...  
T: Schau sie an, stell sie dir vor.  

196


P: Ich hasse deinen Körper. Ich hasse deine großen Füße. Sie sind so häßlich. Ich hasse deinen Ballen am großen Zeh. (weinend) Ich hasse deine trockene Haut, und ich hasse, hasse, hasse dich. Deinen Hals, und ich hasse es, daß du alt und häßlich wirst. Ich will nicht so sein, (schluchzend) Ich hasse deine Stimme. Ich hasse ihre Stimme, alles. Ich hasse sie, ich hasse sie. Ich sehe sie ständig in einem weißen Kleid, ganz glänzend. Und (weinend) sie hat so schöne Zähne, (einatmend) ... Sie sie-ie-ie ...  
Janet erzählt Linda, ohne es zu erkennen, warum sie Make-up benutzt und warum sie es weiterhin benutzen muß. Statt zu äußern, was ihr an ihrer Mutter mißfiel, veränderte sie sich selbst, um nicht so alt und häßlich zu sein wie ihre Mutter. Tatsächlich ist Janet fünfunddreißig Jahre alt und sieht nicht mehr jugendlich aus; sie ist eine reife Frau, die wie ein junges Mädchen auszusehen versucht.  
T: Sag deiner Mutter, was du an ihr haßt.  
P: (einatmend) Ich hasse sie.  
T: Sag ihr: "Ich hasse dich".  
P: Ich hasse dich, weil du alt und häßlich wirst. Ich hasse dich, weil du dich veränderst, (einatmend) Ohh ;.. ich bin jung und voller Leben. Ich hasse sie. (einatmend) Und sie zieht mich mit sich. Du ziehst mich mit dir. Du machst mich so, wie du bist, (weinend) Du haßt mein Aussehen!! Du haßt es, weil du alt bist! Und du willst, daß ich auch alt bin. Du hast mich nicht leben., leben lassen, weil du mich deswegen gehaßt hast (das Weinen wird gefühlvoller). Du mußt mich deswegen gehaßt haben, weil du mich nie hast leben lassen, (einatmend) Sie, sie muß (schniefend), sie muß mich gehaßt haben. Sie will durch meinen Körper leben. Sie wollte mich' verschlingen. Sie wollte durch meinen Körper leben. Und als sie es nicht konnte, redete und redete sie darüber. Sie haßte mich, sie wollte durch meinen Körper leben. Mein Körper, du kommst nicht in mich hinein. Raus hier, Dreckstück, du verfluchtes Dreckstück. Raus . ' hier, raus hier, (schniefend) ...  
T: Bleib' hierbei.  
P: Linda, bitte nicht, sei nicht grausam.  
T: Das ist genau das Gefühl, das du deiner Mutter gegenüber empfindest.  
P: Sei nicht grausam, bitte ...  
T: Jetzt hör mir mal gut zu. Wenn du ständig sagst: "Sei nicht grausam, Linda", nimmst du dir deine eigenen früheren Gefühle, indem du sie in die Gegenwart hebst. Es ist deine Mutter, über die du entsetzt bist. Ich bin nur Linda.  
P: Das sagst du mir, und das ist es ja, was mir Schwierigkeiten macht. Ich muß es also nur fühlen.  

197


T: Du mußt es da fühlen, wo es hingehört. Nur so wirst du Janet sein können. Dieses Gefühl gehört dahin zurück, worüber du geweint hast, zu deiner Mutter. 
P: Ja, sie war so boshaft ... Ich fürchte, ich kann mich an nichts erinnern, woran ich mich nicht schon erinnert hätte.  
T: Das hat keine Eile. Du mußt lediglich fühlen, was du fühlen kannst. Und dann werden dir weitere Dinge einfallen. Also keine Eile.  
P: Versprich es mir, versprich es mir. (beginnt zu weinen) Oh Gott, ich will nicht sterben. Mir ist alles gleichgültig. Mir ist alles gleichgültig. Meine Freunde sind mir gleichgültig. Was mich entsetzt, ist, daß mir alles gleichgültig ist. Daß ich nicht fühle, Linda. Ich will fühlen. Ich fühle dich hier. Du bist im Moment wirklich für mich hier. Ich will wirklich, daß du mir durch diese Verrücktheit hindurch hilfst. Linda, ich fühle das tatsächlich ein bißchen. 

*

Ein Vergleich zwischen diesem Transkript und dem des vorigen Kapitels zeigt, daß diese neue Patientin am Ende ihrer Sitzung näher an den Punkt herankam, an dem der erfahrene Patient seine Sitzung begonnen hatte — mit einem Stückchen realen Kontakts zu ihrer Therapeutin in der Gegenwart. Beachten Sie ferner, daß die Therapeutin ihr eine vorgestellte Abreaktion ermöglichte.

Einige Leser werden nach unseren Ausführungen "integrale Abreaktionen" einladender oder berechtigter finden als vorgestellte Abreaktionen. Jedoch müssen vorgestellte Abreaktionen häufig erlebt werden, ehe der Patient zu tieferen und intensiveren integralen Abreaktionen fähig ist. Vorgestellte Abreaktionen kommen einem vollständigen Ausdruck näher als Zurückhalten. Wenn sich ein Patient entscheidet, daß er sich verändern will, muß er bereit sein, alle Schritte zur Transformation einzuhalten. Ohne die voraus­gegangene therapeutische Erfahrung vorgestellter Abreaktionen wäre er nicht imstande, die Unvollständigkeit der einen und die Vollständigkeit der anderen Form gefühlsmäßig zu erkennen.

Diese Sitzung zeigt, daß es in jeder Sitzung und von Sitzung zu Sitzung verschiedene Gefühlsebenen gibt. Oftmals versuchen Patienten, mehr oder weniger zu fühlen, als sie tatsächlich fühlen können. Bei Janet dauert es vielleicht Tage, bis sie durch einen einzigen Gefühlszyklus gelangt.

Wenn sich Janet verändert, wird sie schließlich ihre eigene Abwehr außerhalb therapeutischer Sitzungen erkennen und ihr entgegenarbeiten. Dadurch wird sie eine neue Sitzung mit einer breiteren Gefühlsskala beginnen können. Wenn sie selbst entgegenzuarbeiten beginnt, wird sie auf einem neuen Gefühlsniveau bleiben. 

198


Da sie in dieser Sitzung nicht sehr weit in den Bereich des Fühlens eindrang und nicht entgegenzuarbeiten vermochte, wird sie wieder die meisten der zurückgewonnenen Gefühle verlieren. Ihre Retrogression wird indes nicht alle Gefühle wegnehmen — bei der nächsten Sitzung wird noch etwas von dem Fühlen da sein. Wichtig ist, daß sie erfahren hat, wie sie ihre Abwehr durchdringen und zu einer Spannungsabfuhr gelangen kann. In ihrer Therapie werden sich noch weitaus schwierigere Stellen ergeben, an denen sie fühlen kann, was geschehen würde, wenn sie aus ihren Gefühlen heraus zu leben begänne.2)

 

Ein anderes Beispiel: Aus Patientensicht  

Eine ältere Patientin, Madeline, schreibt:

In der Therapie kam ein Punkt, wo ich endlich fühlen konnte, worüber Carole geredet hatte. Ich konnte erkennen, wie meine Abwehrmechanismen arbeiteten, und fühlen, wie ich abstarb. Ich wußte, daß ich mich entscheiden mußte, aber ich hatte große Angst davor. Ich wußte, daß ich nicht mehr so wie früher sein wollte, doch ich wollte mich nicht in diese völlige Ungewißheit begeben. Ich tat laufend das, was mich in meinem Zustand beließ. Ich wußte immer wieder, was ich tun mußte, und tat es nicht. Schließlich sagte mir Carole, ich solle aus der Therapie aussteigen, bis ich mich entscheiden könnte. Ich ging für vier Monate nach San Fransisco. Anfangs war alles besser. Niemand drängte mich, mich zu verändern und zu handeln und mich meinen Gefühlen zu öffnen. Langsam begann ich abzusterben, indem ich mehr von mir selbst aufgab. Ich rief Carole an, und wir unterhielten uns über meine Rückkehr. Sie sagte, sie glaube nicht, daß ich schon so weit sei. Ich fand San Fransisco nicht anders als L. A. Es waren die gleichen Leute — so fuhr ich nach Marin aufs Land. Langsam wurde mir klar, wie einsam ich war. Ich hatte Wälder und saubere Luft, aber ich fühlte mich schlecht. Ich wußte, daß ich mehr von mir wollte. Ich kehrte zurück, und die Therapie ergab jetzt einen Sinn in mir. Ich konnte fühlen, und ich konnte mich entscheiden.  

*

Manche Patienten stellen sich in einer Sitzung oder über einen langen Zeitraum hinweg niemals der Tatsache, daß das Unwirksammachen von Abwehrmechanismen keine Vorschrift ist, sondern eine Einladung zu tieferen Gefühlsebenen. Das Gefühlsniveau eines Patienten wird sich nur dann ändern, wenn er auch außerhalb therapeutischer Sitzungen gegen seine eigene Abwehr vorgeht. Erfahrene Patienten, wie Madeleine, machen schließlich so viele Krisen durch, daß sie von selbst ihre Abwehr unwirksam machen.

199


Der Patientenmythos löst sich auf, wenn man der Realität des Fühlens gegenübersteht. Es ist nicht leicht zu fühlen, da Abwehrmechanismen durchdrungen werden müssen. Ehe dies möglich ist, muß sich die Patientin einem längeren Zeitraum von Unsinnigkeit aussetzen. In der Phase der Unsinnigkeit kann sie weder wie früher sein noch kann sie vollständig fühlen.

Wenn der Therapeut Kontakt mit der Patientin aufnimmt und dem Fluß in und aus dem Bewußtsein nachgeht, fühlt die Patientin den Prozeß ihrer Abwehr. Es ließe sich beschreiben, wie sie bewußt wird und aus dem Bewußtsein abgleitet, aber es ist einzig diese Erfahrung mit der Therapeutin, wie sie sie langsam zum Leben und zu sich erweckt, die einen Sinn ergibt.

Madeline schreibt:

*

Jetzt zu dem, was mir passiert, wenn ich mit meinem Mann zusammen bin und nicht all das sage, was in mir vorgeht. Ich hatte gerade erst angefangen, mich mit Grant zu treffen, und ich mochte ihn wirklich. 

Das ist mir immer wieder passiert, bis ich alle meine Gefühle herausgearbeitet hatte. Statt zu fühlen, daß ich nahe sein will, und statt meine Handlungen mit meinen Gefühlen in Einklang zu bringen, wie sich ohne zu reden bei den Händen zu halten oder sich sanft zu berühren, begann ich zu glauben, daß ich nur bumsen wollte.  

Im Laufe des Abends kamen mir schließlich Gedanken an jemand anderen. In der Therapie spürte ich schließlich meine Abwehr auf. 

Ich ging dabei in folgender Weise vor:

Das Gefühl: "Ich will nahe sein."

 

Interne Abwehr  
(Denken - in meinem Kopf) 

Externe Abwehr  
(Handeln - was ich tue)

Stufe 1: 

Ich möchte bumsen. 

Ich fasse ihn viel an.

Stufe 2: 

Ich möchte nicht, daß er mit irgendjemand anderem zusammen ist.

Er soll mich nur perfekt sehen.

Stufe 3: 

Ich möchte, daß er die ganze Zeit bei mir ist.

Ich tue vieles - kochen, putzen, etc.

Stufe 4:  

Eigentlich mag er mich nicht.

Ich bediene ihn.

Stufe 5:

Eigentlich mag ich ihn nicht.

Ich fange an, über Nebensächlichkeiten zu reden.

Stufe 6:

Vieles an ihm stört mich.

Ich fange an, daran herumzunörgeln, was er sagt.

Stufe 7: 

Ich wünschte, jemand anders wäre hier.

Ich beginne, mich von ihm zu entfernen.

*

200


An dieser Episode ist irreführend, daß, so wie sie beschrieben wird, es anscheinend sehr einfach ist, Madeleines retrogressiver Abwendung von ihren Gefühlen zu folgen. Auf jeder Ebene oder jeder Stufe innerer Verwirrung liegt ein definitiver Einfluß aus ihrer Vergangenheit vor. Diese Patientin kannte ihre Abwehr in der Gegenwart, weil sie sowohl frühere Gefühle gefühlt, als auch sie auf jedem gegenwärtigen und vergangenen Abwehrniveau unwirksam gemacht hatte. Sie weiß aus ihrer Erfahrung, daß sie an ihrem wirklichen Gefühl vorbeigeht, wenn sie bumst, ohne sich vorher offen und nahe zu fühlen. Sie entfernt sich schneller als man glaubt von einem realen Gefühl und gelangt zu zweit- und drittrangigen Gefühlen und Formen der Abwehr. 

Es bedarf nur wenig, um bei ihr einen Abwehrvorgang in Gang zu setzen. Madeline weiß, was sie tut, und sie hat aus ihrer früheren und gelösten Spannung heraus über viele Sitzungen gefühlt, wie sie die Abwehr bremsen kann. Da sie jetzt ein fühlender Mensch ist, merkt sie, wenn sie vom Fühlen in Nichtfühlen abgleitet. Sie erlebt ihre Gedanken und Gefühle, statt von ihnen beherrscht zu werden. Da sie fühlt und bedachtsamer geworden ist, kann sie sich entscheiden. Es spielt keine Rolle, auf welchem Niveau sie sich fängt oder sich ihrer bewußt wird. Sie konnte erkennen, daß, wenn der Gedanke aufkommt: "Ich wünschte, jemand anders wäre hier", dies ein Zeichen dafür ist, daß sie nicht ihr Gefühl äußert: "Ich will nahe sein". Anfangen, ihn zu bedienen, ist ein Zeichen dafür, daß sie nicht so reagiert, wie sie empfindet, sondern reaktiv aus ihrer Vergangenheit heraus lebt. 

 

Die Schwierigkeit in der Therapie ist, zu erkennen, daß defensive Gedanken bloß Gedanken sind und nicht die Wirklichkeit. Für Madeleine wäre es sehr einfach, zu warten, bis ihr Freund sie verläßt oder mit ihm zu bumsen; öder, wenn sie ehrlich wäre, ihm zu sagen, er solle gehen. Aber in Wirklichkeit haben ihre abwehrenden Gefühle nichts mit ihm zu tun. Außer ihrem realen Gefühl "Ich will nahe sein" ist alles verwirrt. Sie muß anfangen, aus ihrer Abwehr heraus zu reden und ihre Gefühle zurückzuverfolgen. Nur darin wird sie jedes ihrer einmal gehabten Gefühle, das mit ihrer Abwehr verbunden ist, empfinden können. Die Entscheidung, sich selber durch seine Abwehr hindurch zu folgen, ist sehr schwierig.

201


Den Abwehrmechanismen zu glauben heißt, sie nicht zu äußern und in der Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart, die sie repräsentieren, gefangen zu bleiben. Nicht zum Ausdruck gebrachte Abwehr macht das Gefühlsniveau niedriger. Sie muß unter den Patienten und gegenüber den Therapeuten geäußert werden, bis reale Gefühle defensive Reaktionen zu ersetzen beginnen. Was aber theoretisch leicht erscheint, ist schwierig, wenn es gefühlt wird. Da Abwehrmechanismen ein Bestandteil sozialer Verrücktheit sind, halten die Menschen ihre Abwehr für die Realität. In bezug auf Madeleine hieße das, sie möchte, daß Grant nach Hause geht. Die Gefühlswahrheit in diesem Moment besteht darin, daß sie weiß, daß sie nicht fühlt, sondern einen Gedanken hat. Nur wenn sie diesen Gedanken als Gedanken zum Ausdruck bringt, gewinnt sie die Freiheit zurück, ihre Gefühle zu finden.

Um sich zu ordnen, muß sie sich durch die Abwehr hindurch auf ihr Gefühl zuwenden. Madeline muß sich selbst festnageln und aus ihrem ursprünglichen Gefühlsniveau heraus zu leben beginnen, falls sie jemals mehr will, als bloß zu überleben. Zu Beginn der Therapie wäre sie wahrscheinlich nicht imstande gewesen, über Tage hin Gefühle auf ihren ursprünglichen Impuls zurückzuverfolgen, doch nun ist sie in der Lage, zu wählen, zu fühlen und sich in jedem Augenblick auszudrücken. Vielleicht muß sie zwanzig Minuten lang mit ihrem Freund reden, um ihre Gefühle zurückzuverfolgen. 

Sie beginnt auf der Ebene, auf der sie sich ihrer selbst bewußt wird und geht von dort aus weiter. Wichtig ist, wenn sie ihm sagt, er solle gehen oder wenn sie mit ihm schläft — hat sie ihr Gefühl verloren: "Ich will nahe sein". Bis sie nahe sein kann, ist jede andere Handlung für sie ein Ausagieren. Der Prozeß, ihre Abwehr aufzuspüren, ist der Anfang des Naheseins; sie zeigt ihre Verrücktheit. Wenn sie erst einmal nahe und offen zu sein vermag, fühlt sie sich möglicherweise sexuell von ihm angezogen oder möchte, daß er nach Hause geht. Was auch immer sie dann empfinden mag, sie muß ihre Gefühle fühlen und sich zeigen.

Wenn Madeline nicht aufhört, selber die Wahl zu treffen, sobald sie spürt, daß sie aus dem Fühlen in ein Wenigerfühlen abgleitet, wird sie voller in der Gegenwart leben können. Ist sie einmal vollkommen in der Gegenwart, so kann sie fühlen, wie die Vergangenheit war und was ihr die Verrücktheit des Durcheinander­bringens in ihrer Kindheit angetan hat. Ohne eine relativ geordnete Gegenwart besteht wenig Aussicht, die Verwirrungen der Vergangenheit zu bewältigen. Madeline ist ihren Gefühlen viel näher, wenn sie in eine Therapiesitzung geht und sagen kann: 

"Ich habe mich gestern abend mit einem Mann getroffen, und ich lief vor meinen Gefühlen weg. Zuerst dachte ich, ich wollte mit ihm schlafen, und dann kamen mir all diese anderen Gedanken, bis ich wollte, daß er nach Hause geht. Aber was ich tat, war, es auszusprechen. Ich weinte ein bißchen und konnte fühlen, daß ich wirklich nahe sein wollte. Der Abend war danach ganz nett. Wir konnten eine Zeitlang nahe sein. Ich wollte nur seine Hand halten, und wir waren uns näher." 

202


Sie hat nun einen vollständigen Bezugspunkt, von dem aus sie die Vergangenheit fühlen kann - und einen Grund, die Vergangenheit zu fühlen. Denn es ist die ungefühlte Vergangenheit, die sie von ihren Gefühlen in ihrer Gegenwart abrücken läßt.

Sollte sich Madeline dagegen in ihrer nächsten Sitzung auf vergangene Gefühle zurückziehen, wenn sie ihre eigene Abwehr in der Gegenwart nicht aufgespürt hätte, dann könnte ihre Vergangenheit als eine Abwehr gegen die Gegenwart verwendet werden. Sie könnte beispielsweise in ihre Vergangenheit springen, indem sie sagt, sie erinnere sich daran, daß "ihr ganzes Leben" nahe zu sein, bedeutete, mit einem Mann zu schlafen. Von diesem Punkt aus könnte sie erneut in die Vergangenheit springen, indem sie erzählt, was für ein "schüchternes kleines Mädchen" sie für ihren Vater sein mußte. 

All diese Sprünge in die Vergangenheit könnten einen Wahrheitsgehalt in bezug auf ihre Lebensgeschichte haben, aber sie bewirken nur eine fantasierte Wahrheit und kein wirkliches Ordnen von Gefühlen. Sie würde nämlich von einer verwirrten Gegenwart ausgehen und könnte nur in eine Phantasiewelt oder eine verwirrte Vergangenheit zurückkehren. Madeline kann in der Vergangenheit nur in dem Maße fühlen, wie sie in ihrer Gegenwart fühlt. Frühere Gefühle können überhaupt nur real sein, wenn die gegenwärtige Gefühlsebene, in welchem Ausmaß auch immer, real ist.

 

Wir fordern vom ersten Tag an, daß die Patienten ihre Abwehr oder Durcheinandersein zeigen und sich selbst ertappen, so wie es der Therapeut tut. Es ist nicht so wichtig, zu wissen, daß Sex für Madeline eine Möglichkeit zum Ausagieren ist, sondern vielmehr zu wissen, was mit ihr geschah, bevor sie ihrer symbolischen Handlung nachgab. Die Therapie muß, um transformativ zu sein, von einem Therapeuten durchgeführt werden, der sein eigenes Leben ordnet. Madeline muß von dem her zu leben beginnen, was sie weiß. Hätte sie alle ihre Abwehrmöglichkeiten ausagiert, wäre sie zur nächsten Sitzung mit Worten gekommen wie: "Ich fühle mich nicht gut" oder "Ich bin einsam". 

Ihr Therapeut müßte sie von ihrer retrogressiven Ebene aus zu reden anfangen lassen, um herauszufinden, was sie meint. Ehe .jemand die Vergangenheit wirklich fühlen kann, muß er in der Gegenwart sein. Madeline müßte allen ihren Abwehrebenen des letzten Abends auf den Grund gehen und dann auf ihr gegenwärtiges Gefühl - "Ich will Kontakt" - hinarbeiten. Dies würde sie für wirkliche Gefühle öffnen und Pseudo-Abreaktionen verhindern. Der Abwehrvorgang wird erlebt und stufenweise überwunden. Sie muß fühlen, was ihr jede ihrer Abwehr antut. In der Feeling Therapie versetzen wir einen Patienten häufig nicht in die Vergangenheit, wenn er niemals fühlend in der Gegenwart gelebt hat. Es wäre für einen Therapeuten unaufrichtig, zu fordern "Fühle die Vergangenheit", wenn die Gegenwart nicht gefühlt wird.

203


Das Durcharbeiten der einzelnen Ebenen des Abwehrprozesses beruht in der Feeling-Therapie auf Kontakt mit dem Therapeut ten. Der Patient muß, um zu fühlen, Kontakt herstellen. Die ersten Schritte in der Therapie sollen dem Patienten helfen, mit sich selbst Kontakt aufzunehmen, und ihn immer wieder durch den Abwehrprozeß führen, damit er gefühlsmäßig zwischen dem Ausagieren von Gefühlen oder dem Agieren weg von Gefühlen und dem Handeln um Gefühle zu haben und dem Handeln aus ihnen heraus unterscheiden kann.

In der Therapie ist die Transformation durch Gefühlszyklen möglich, wenn der Patient in der Gegenwart lebt und ein bißchen fühlt. Das Unwirksammachen der Abwehr durch den Therapeuten bereitet einen Patienten nur auf die Transformation vor. Es lassen sich zwei Phasen voneinander abgrenzen: die erste ist das Gewahrwerden von Abwehrmechanismen; die zweite ist, aus Gefühlen heraus zu leben und die Verantwortung dafür zu übernehmen, die Abwehr aufzubrechen. Der Patient wartet nicht mehr auf den Therapeuten er beginnt, auf inneres Fühlen als Bezugspunkt zu reagieren.

 

  Das Unglück des Normalseins  

 

Madeline fiel es schwer, ihre "Normalität" zu überwinden. Sie sah gut aus, war eine erfolgreiche Sozial­arbeiterin und hatte eine Reihe von Männern kennengelernt, mit denen sie entweder geschlafen oder sich gestritten hatte; in beiden Fällen hatte sie stets ihre Gefühlsoffenheit verloren. Das ist vernünftige Verrücktheit. Hätte Madeline im tiefsten Innern mit dem Gedanken gespielt, Männer umzubringen, dann wäre es für sie einleuchtend gewesen, daß sie Hilfe benötigte. So aber wurde ihr lediglich mehr Verständnis für ihr verwirrtes Leben entgegengebracht, wenn sie mit Freunden darüber sprach, daß sie niemals mit Männern eng sei, selbst nach dem Sex nicht.

Für Madeline genügte es nicht, sich dessen bewußt zu sein, was sie tat. Ihre Therapeutin bestand darauf, daß sie aus dem heraus lebt und handelt, was sie weiß und fühlt. Sobald sie den Schritt vom Unbewußten zum Bewußten, von der Verworrenheit zum Aufspüren machte, würde sie weiter werden und aus ihren Gefühlen heraus leben.

Die meisten Menschen sind aufeinander angewiesen, um verrückt zu bleiben; das heißt, das, was sie sagen, ist nicht das, was sie meinen. Falls in unserem Beispiel Madeline allein aus ihrer Abwehr heraus reagierte, würde sie mit ihrem Freund darüber sprechen, daß "er sie nicht mag". Sie würde, ganz gleich, wie er sich verhielte, fühlen, daß er sie nicht gern hat. Sie könnte mit ihm schlafen und immer noch das unbestimmte Gefühl haben, das sie als Nicht-Geliebtwerden interpretiert.

204


Dieses Gefühl bringt den Mann genauso durcheinander wie die Frau. Er erlebt mit ihr eine körperliche Nähe, und diese Nähe entspricht nicht seinem Gefühl. Er verwirrt sich selbst, indem er ihre Worte und Handlungen akzeptiert. So könnte er beispielsweise sagen: "Ich würde gern deinen Rücken streicheln", obwohl er in Wirklichkeit ihre Brüste meint oder sie küssen möchte. Sie verstehen beide die versteckten Anspielungen der abstrakten Sprache, doch dies neutralisiert nicht die Heimtücke des Durcheinander­bringens. Beide leben also die Lüge der Normalität. Sie können nicht einfach sagen, was sie fühlen oder wollen.3)  

Madeline möchte in unserem Beispiel nahe, aufgeschlossen und lebendig sein. Aber um so zu werden, muß sie in der Gegenwart immer wieder aussprechen, was sie fühlt, sieht und weiß. Sie muß dies tun, nicht um "ehrlich" zu sein, sondern weil sie fühlen wird, wie sie sich verschließt und von sich weggeht, wenn sie nicht auf ihre Gefühle antwortet. Jetzt, durch die Therapie, ist sie sich dessen bewußt; was sie als erstes erlangt, ist, daß ihr bewußt wird und sie erkennt, wenn sie sich vom Fühlen entfernt. Danach hat sie die Wahl, etwas gegen ihre alltäglichen Verwirrungen zu unternehmen."

In jedem Stadium der Therapie muß jeder fortwährend auf Gefühle reagieren und selbst die Wahl treffen. Vor der Therapie kann sich der einzelne nicht entscheiden, weil die eigenen Gefühle verworren "sind und die Bewußtheit des Fühlens begrenzt ist. Wenn er für Gefühle offen ist, kann er wählen oder das Erreichte verlieren. Er muß sagen: "Ich will ich sein. Ich will meine Gefühle".

Es gibt keine Vorschriften, wie man zu sein hat. Verrücktsein heißt einfach, sich selbst verbieten, zu sein. Die Patienten erreichen in der Therapie schließlich einen Punkt, an dem sie der Tatsache gegenüberstehen, daß sie ihr Leben selbst bestimmen. In dieser Phase fürchten sich die Patienten davor, weiterhin aus ihren Gefühlen heraus zu leben. Sie vertrauen immer noch nicht dem Grundprozeß ihres Lebens: "Ich habe das Gefühl, daß dies zu Ende geht", "Es wird etwas Schlimmes passieren"." Natürlich stammen solche Gefühlsaussagen aus der Vergangenheit, aber sie berühren ein tatsächliches Problem jeder Psychotherapie: Wenn Probleme keine Probleme mehr sind, wie treten dann Patienten dem Leben gegenüber?

Wenn das Leben der Patienten nicht mehr durch Abwehrmechanismen eingeschränkt wird und ihr Lebens­puls schneller schlägt, können sie vor der Bedeutung, die ihr Leben gewonnen hat, zurück­schrecken. Sie haben Angst, sich selbst mehr zu geben als sie jemals für möglich gehalten haben. Sich in dieser Phase durcheinander zu bringen, bedeutet, die Ausweitung und Zusammenziehung des Lebens zu leugnen und zu versuchen, an einer bestimmten Vorstellung vom Leben festzuhalten. 

Die Menschen können das Leben nicht beherrschen. Dies gerade hat sie am Anfang verrückt gemacht sie wurden beherrscht, bis sie "erwachsen" waren und selbst beherrschten. Die Leute vertauschen das "Warte, bis du älter bist" mit dem "Was ist, wenn ich vierzig bin?" Leben kann nicht beherrscht werden. Die Menschen nehmen am Leben teil; sie können entweder die Schöpfer des Lebens sein oder es zerstören. Sie können sich selbst schaffen oder unterdrücken.

 

Wir bringen allen unseren Patienten bei, auch Therapeuten zu sein, weil sie dann teilen und eine Therapie schaffen können, die auf ihren Gefühlen und Einsichten beruht. Es ist nicht die Therapie der Therapeuten. Als Therapeuten nehmen wir teil und verändern uns. Ohne aus der therapeutischen Gemeinschaft neue und belebende Transformationen zu erhalten, würden Therapeuten und Patienten weiterhin Therapeuten und Patienten bleiben. Sie würden sich ihren Rollen anpassen und Ansichten und Rituale schaffen. Am Center für Feeling Therapie gibt es eine Gemeinschaft, an der jeder teilnimmt manchmal als Helfer, manchmal als jemand, der Hilfe genötigt, am meisten als jemand, der sich erweitern und das Leben teilen will.

Es gibt keine Feeling-Therapie. Die meisten Leser werden hoffen, daß es sie gibt, hoffen, daß die Feeling Therapie so etwas wie ein Feinkostladen ist, in dem man köstliche Dinge ausprobieren kann. Aber nicht einmal dieses Buch ist Feeling-Therapie. Wir benutzen Worte, um zu beschreiben, was wir tun, doch Worte sind nicht die Erfahrung.

Manche werden über dieses Buch träumen wollen. Sie werden an die Fallstudien glauben und daran, daß das, was wir tun, ewig Bestand hat. Aber alle unsere Beispiele sind nichts anderes als Beispiele. Was bleibt ist der Therapeut und der Patient und das, was sich zwischen ihnen in der Therapiesitzung abspielt. Für jeden, der in die Therapie kommt, wird eine neue Feeling Therapie geschaffen. Sie wird genau für ihn geschaffen, denn nur dann wird er die Möglichkeit haben, sich selbst zurückzugewinnen. Dieses Zurückgewinnen ist ein Heilungs- und Transformationsprozeß. Die Menschen werden geheilt, wenn sie ihr Totsein, ihre Verrücktheit und Taubheit fühlen. Sie werden transformiert, wenn sie mit mehr Gefühlen leben.

205-206

#

 

  ^^^^