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14  Die Feeling-Therapie und andere Therapien

 

 

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Bevor wir auf einige zeitgenössische Psychotherapien näher eingehen, wollen wir — um Mißverständnissen vorzu­beugen — zwei Dinge klarstellen. 

Erstens: wir glauben nicht, daß die Feeling-Therapie für jeden gut ist oder jemals sein wird. Wenn wir Therapien wegen ihres nicht transformativen Charakters oder ihrer Unvoll­kommenheit kritisieren, verkennen wir dabei keineswegs, daß sie trotzdem wertvolle Hilfe geben können. Wieder funktionstüchtig machenden Therapien kommt ein erheblicher sozialer Stellenwert zu, denn sie bieten hilfsbedürftigen Menschen ein breitgefächertes Spektrum von Hilfsleistungen an. 

Zweitens, wir befürworten therapeutische Vielfältigkeit. Es wäre in unseren Augen zu begrüßen, wenn es Hunderte verschiedener Therapien gäbe. Den von einer einzelnen Therapie angesprochenen Personenkreis halten wir für nicht sehr groß. Das heißt, wenn eine Therapie eine solche Bedeutung gewonnen hat, daß sie sich geographisch ausdehnen kann, sind aus der ursprünglichen Therapie vermutlich bereits mehrere Therapien entstanden.

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Wir glauben, daß das Stammes-Modell ein wünschenswertes Modell für Psychotherapien ist. Stämme beein­flussen sich gegenseitig, behalten aber ihre Eigentümlichkeit und spezifischen Charakteristika. Im Bereich der Naturwissenschaften und Medizin sind allerdings eklektische Tendenzen unverkennbar sowie das vorrangige Streben nach allgemeingültigen Aussagen über die Realität. Solche Tendenzen sind nicht vereinbar mit einer am Center für transformative Therapie notwendigen Verpflichtung, in der Realität zu leben.

Eine Therapie läßt sich nicht wie ein Puzzlespiel zusammensetzen. Auch wenn die Feeling Therapie in zahlreichen Elementen anderen Therapien ähnelt, haben wir uns nicht nach solchen Elementen umgesehen und versucht, sie zu einem Bild mit der Aufschrift "Feeling Therapie" zusammenzufügen. Eine Therapie setzt ein vitales, im Zentrum stehendes Grunderlebnis voraus, gleichsam als Gerüst für den gesamten übrigen Rahmen. In der Feeling-Therapie ist dieses Grunderlebnis vollständiges Fühlen und Kontakt durch Gefühle.

Viele Therapien arbeiten mit integralen Gefühlen und ähneln in ihrer Praxis diesem oder jenem Bestandteil der Feeling- Therapie. Die Betonung des Hier-und-jetzt in der Gestalttherapie kommt dem nahe, was wir mit einem Leben aus integralen Gefühlen in der Gegenwart meinen. Die Psychoanalyse versucht wie die Feeling-Therapie, vergangene Gefühle von gegenwärtigen behutsam zu trennen.


Das Re-Evaluative Counseling hält ein wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen Patienten, bei dem diese sich helfen, Gefühle freizusetzen, für notwendig; dies ähnelt inhaltlich unserem Co-Therapie­programm. Bioenergetisch orientierte Therapeuten arbeiten mit körperlichen Bewegungsabläufen, um den Patienten über kathartische Freisetzungen das schöne Gefühl ihrer eigenen Körperlichkeit zurückzugeben. Die Transaktionale Analyse legt eine sorgfältige Analyse vor, wie das Kind und seine Eltern in der "erwachsenen" Person lebendig sind. Die Existentielle Analyse betont die Bedeutung von Verantwortung, Entscheidung und Freiheit in Therapien, die über reine Anwendung von Techniken hinausgehen. Die Primärtherapie strukturiert das therapeutische Geschehen, damit intensive Abreaktionen auftreten können. Die Klienten-Zentrierte Gesprächstherapie sieht in der Echtheit- und Gefühlsbewußtheit des Therapeuten die bestimmenden Komponenten therapeutischer Veränderungen. 

All diese und zahlreiche andere Therapien haben gewisse Bestandteile mit der Feeling-Therapie gemeinsam. Trotz solcher Übereinstimmungen gibt es unserer Meinung nach keine anderen transformativen therapeut­ischen Systeme, obwohl höchstwahrscheinlich einige Therapeuten die konzeptionellen, strukturellen und technischen Grenzen ihrer jeweiligen therapeutischen Ausrichtung überschreiten, um ihren Patienten Transformation zu ermöglichen. Eine natürliche Transformation ist nur dann möglich, wenn die Therapietechnik so einfach und die Struktur so vollkommen ist, daß der zyklische Prozeß der Gegenaktion, Abreaktion, Proaktion und Integration zeitlich geordnet ablaufen kann.

Tabelle 2 zeigt, welche der genannten therapeutischen Prozesse mit welcher Intensität unserer Ansicht nach in anderen Therapien, zur Geltung kommen. Unsere Beurteilung läßt erkennen, daß keine einzige Therapie sämtliche notwendigen Prozesse enthält (vgl. Tabelle 1). Wenn wir davon sprechen, daß eine Therapie Elemente der Abreaktion, Gegenaktion oder Proaktion enthält, müßte es eigentlich richtiger, partielle Abreaktion, partielle Proaktion und partielle Gegenaktion heißen. Jeder einzelne Prozeß hängt in dynamischer Weise mit den anderen zusammen und kann erst dann vervollständigt werden, wenn die anderen Prozesse auftreten. 

Partielle Abreaktion ohne Gegenaktion und Proaktion auf dem gleichen Gefühlsniveau wird bald zu einer vorgestellten Abreaktion führen: der Patient wird sich wie ein Kind verhalten, statt sich als Kind zu fühlen. Gerade dies aber ist in Therapien wie der Primärtherapie der Fall, in denen intensive Abreaktionen nicht durch gleich intensive Gegenaktion und Proaktion vervollständigt werden; das therapeutische Gesehenen ist nicht integrativ, und der Patient hat keine Wachstumsmöglichkeit. 

Im Vergleich zur Primärtherapie ist das therapeutische Vorgehen in der Psychoanalyse abgestufter und ausgeglichener, allerdings vollzieht der Patient niemals den letzten Schritt, nämlich die Verantwortung für seine Gefühle zu übernehmen, indem er sein eigener Therapeut und der seiner Mitpatienten wird; die Integration wird gehemmt.

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Die Verhaltenstherapie erlaubt lediglich eine partielle Gegenaktion, weil die dem unangepaßten Abwehr­verhalten zugrundeliegenden Gefühle nicht aufgedeckt werden. Der Patient kann in der Verhaltenstherapie zwar angepaßtere Gewohnheiten erlernen, sich aber kein Mehr an Gefühlen erschließen.

Man muß daher, wenn wir von Teilen unserer Therapie sprechen, die anderen Therapien ähneln, daran denken, daß ein Teil einer Therapie viel weniger ist als ein Teil eines Puzzlespiels, Ein unvollständiges Puzzle richtet keinerlei Schaden an, eine unvollständige Therapie dagegen trägt zu einem unvollständigen Leben bei. Unserer Meinung nach bieten die wesentlichen Einsichts- und Verhaltenstherapien nicht mehr als Teile vom Ganzen. Partielle Abreaktion, partielle Gegenaktion und partielle Proaktion haben aber partielle Integration zur Folge.

 

   Tabelle 2: Prozesse, die in anderen Therapien auftreten  
Die Sternchen (Plus) geben an, mit welcher Intensität die Prozesse normalerweise 
im Rahmen einer Therapiesitzung auftreten, von - bis ++ ++

  

Abreaktion

Gegenaktion

Proaktion

1

Autogene abreaktive Therapie 

++

-

-

2

Verhaltenstherapie 

-

++

-

3

Bioenergetik 

+++

++

+

4

Klienten-zentrierte Gesprächstherapie

+

+

+++

5

Direkte Analyse 

 ++

+

+

6

Encounter   

+

+

++

7

Existentielle Analyse  

+

++

++

8

Gestalttherapie 

++

+

++++

9

Implosive Therapie

 ++

+

+

10

Primärtherapie 

++++

-

+

11

   Psychoanalyse 

+++

+++

+++

12

    Psychodrama 

++

+

++

13

Rational-Emotive Therapie 

  -

+++

+

14

 Realitätstherapie 

+

+++

+

15

   Transaktionale Analyse

 +

+

++

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Wir können andere Therapien unter vier Gesichtspunkten beurteilen. 

Den ersten haben wir bereits erwähnt: Wie genau trägt die Therapie den Grundprozessen der Transformation Rechnung? Werden verworrene Gefühle freigesetzt? Geschieht dies so, daß verworrene Gefühle neu geordnet werden können? Lernen die Patienten, in integrierter Form aus ihren Gefühlen heraus zu leben? Wie weit sind Proaktion, Gegenaktion, Abreaktion und Integration entwickelt? Zusammengefaßt: Wie adäquat fördert die Therapie die Transform­ations­dynamik? Ist der Transformationszyklus offen oder begrenzt?

Als zweites können wir die Struktur einer Therapie beurteilen. Läßt die Therapie einen intensiven und dauerhaften Kontakt zwischen Therapeut und Patient, zwischen Patient und Patient zu? Ist die Therapiestruktur in die Gesellschaft integriert? Bemühen sich die Therapeuten auch weiterhin um genügend eigene Therapie?

Als drittes lassen sich die Techniken einer Therapie beurteilen. Sind sie durchstrukturiert und konsequent im Hinblick auf den fundamentalen Vorgang, Gefühle zu vervollständigen? Sind sie flexibel oder starr? Sind die Techniken diesem Vorgang der Vervollständigung von außen aufgesetzt oder erwachsen sie aus ihm?

Und als letztes läßt sich die Theorie einer Therapie beurteilen. Bietet die Theorie eine adäquate Erklärung für das, was mit den Menschen im Verlauf der Therapie geschieht? Erklärt sie die Entwicklung des psycho­pathologischen Geschehens? Berücksichtigt die Theorie sowohl korrigierende wie transformative Veränderungen? Bringt sie den Patienten bei, in hilfreicher Weise über sich zu reden?

Auf den folgenden Seiten werden wir eine Reihe von Therapien selektiv nach diesen vier Gesichtspunkten beurteilen: Uns kommt es nicht auf eine detaillierte Punkt-für-Punkt-Beurteilung jeder einzelnen Therapie an. Vielmehr geht es uns in der Hauptsache darum, die Feeling-Therapie einigen anderen Therapien gegenüberzustellen, damit unsere eigenen Vorstellungen und Verfahren auf diese Weise verständlicher werden. Die ausgewählten Therapien ähneln in der einen oder anderen Form der Feeling-Therapie. Wir wollen hier, ohne solche Ähnlichkeiten zu verkennen, die Unterschiede herausstreichen.

 

Gegenaktive Therapien  

 

Die von Dr. William Glaser entwickelte Realitätstherapie und die von Dr. Albert Ellis entwickelte Rational-Emotive Therapie sind sich in ihrer ausschließlichen Konzentration auf gegenaktive Prozesse außerordentlich ähnlich.

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Ellis1) faßt seine Grundannahme folgendermaßen zusammen:

Auf eine signifikante Aktivierung (A) folgt in der Regel eine stark belastende emotionale Konsequenz (K). A scheint die Ursache für K zu sein, tatsächlich ist dies aber nicht der Fall. Vielmehr werden emotionale Konsequenzen weitgehend durch M hervorgerufen — dem individuellen System von Meinungen ("Belief System"). Eine unerwünschte Konsequenz, beispielsweise starke Angst, läßt sich daher meist schnell auf die irrationalen Meinungen des Individuums zurückführen und, wenn diese Meinungen wirksam erschüttert werden, indem man sie rational in Frage stellt, verschwinden die verzerrten Konsequenzen und treten schließlich nicht mehr auf.

Die Grundtechnik der Rational-Emotiven Therapie beschreibt er so: "Als wirksamer erwies sich ... um einem Klienten zu helfen, sich von der Neigung zu befreien, irrationale Gedanken zu haben, ein aktiv-direktiver, kognitiv-emotional-behavioristischer Angriff auf die zentralen selbstschädigenden Wertsysteme — ein Angriff, der sich nicht gegen den Klienten, sondern gegen seine unrealistischen Oberzeugungen richtet". Von sich selbst sagt er: "Als Ellis seine frühere psychoanalytische Orientierung aufgab, um aus mehr philosophischer als psychologischer Sicht an die Probleme, seiner Klienten heranzugehen und sie dazu zu bringen, wirklich ihren hervorstechendsten irrationalen Denkweisen entgegenzuarbeiten, stellte er fest, daß er wesentlich bessere Ergebnisse erzielte".

 

Obwohl man durchaus gewisse Erfolge erzielen kann, wenn die Klienten angeleitet und ermutigt werden, Gedanken zu unterbinden, die ihre Gefühls- und Verhaltensweisen durcheinanderbringen, sind solche Erfolge begrenzt. Das Problem bei dieser Art der Aktion gegen verwirrende Impulse ist, daß sie von Überzeugungen abhängt, nicht von spezifischen Gefühlen. Die rational-emotive Form der Gegenaktion ist eine logische und rationalistische Gegenaktion, keine Gegenaktion aus dem Gefühlskontext heraus. Eine solche logische Gegenaktion führt weder zu Transformation noch Integration; sie bleibt zwangsläufig partiell, weil sie nicht aus dem spezifischen Ausdruck von Gefühlen in der Vergangenheit oder Gegenwart hervorgeht. Der Patient muß sich erinnern, um sich zu analysieren.  

Etwas ganz anderes ist es dagegen, wenn Gegenimpulse aus den direkten Gefühlserfahrungen des Patienten erwachsen. Der Patient, der sich entscheidet, bewußt seine Verrücktheit zu fühlen, weiß innerlich, welche Schmerzen ihm sein Abwehren zufügt; indem er sein Gefühlsniveau verändert, kann er sofort jede Tendenz zur Rückkehr in sein Abwehrverhalten erkennen, weil er fühlt, wie schmerzhaft es ist, seine Gefühle zurück­zuhalten. Er braucht sich an keine Abwehr zu erinnern — sein Körper sagt es ihm.

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Die gleiche Kritik trifft auch auf Glasers Realitätstherapie zu.2) Er charakterisiert die Therapie wie folgt:

"Der Therapeut gibt dem Individuum die Möglichkeit, sich selbst genau zu erkennen, sich der Realität zu stellen und seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne sich selbst oder anderen zu schaden, wobei sein Hauptaugenmerk der Gegenwart und dem Verhalten gilt. Die Crux der Therapie ist die persönliche Verantwortung für das eigene Verhalten, was seelischer Gesundheit gleichkommt ... Wir glauben, daß sich die meisten psychischen Störungsformen am besten als Verantwortungslosigkeit. ("irresponsibility") bezeichnen lassen, und ungeachtet der Verhaltenssymptome besteht die eigentliche Lösung darin, dem Patienten die Unwirklichkeit und den selbstschädigenden Charakter seines Verhaltens zu zeigen."  

Das entscheidende Wort hier ist "zeigen" — der Therapeut zeigt dem Patienten, was dieser tut, indem er ihn überzeugt und ihm Vorschriften macht. Dieses Aufzeigen verworrenen Ausdrucks und nicht stimmiger Bedeutungen kommt auch in der Feeling-Therapie vor, insbesondere in Realitätsgruppen, in denen die Patienten und Therapeuten sich ausschließlich mit aktuellen Ereignissen und Gefühlen befassen. Allerdings gilt in der Feeling Therapie das Aufzeigen nur als erster Schritt. 

Im zweiten Schritt, der in der Realitätstherapie oder Rational-Emotiven Therapie niemals vollzogen wird, muß der Patient fühlen, was er sich selbst zufügt; im dritten Schritt muß er diejenigen Gefühle direkt zum Ausdruck bringen, dieser nicht zeigt. Kurz gesagt, das Entgegenarbeiten muß mit integriertem Ausdruck realer gegenwärtiger Gefühle verknüpft sein, wenn eine Einsicht und Entladung erfolgen soll. Ohne eine solche direkte Entladung hat der Patient keine persönliche und körperliche Bestätigung für seine eigene Gefühlsrealität, die sich unter seiner Verworrenheit verbirgt. Er wird in von außen kommenden Meinungen verharren über das, was er tun sollte, statt innerlich zu fühlen, was er tun möchte.

Ohne Zweifel sind diese neuen, vom Realitätstherapeuten vermittelten Meinungen in aller Regel besser als die früheren, mit denen der Patient in die Therapie kam. Und das ist auch, die Grundlage für "Erfolge" im Rahmen solcher gegenaktiven Therapien. Doch in ihrer Richtigkeit besteht zugleich ihre Beschränkung. Die Patienten versuchen am Ende, auf eine neue Weise gut zu sein. Kurz, sie akzeptieren ein neues und besseres System von Meinungen, mit denen sie ihre früheren Systeme ersetzen.

Die Realitätstherapie und die Rational-Emotive Therapie ähneln zahlreichen Verhaltenstherapien, gehen aber insofern etwas weiter, als im Mittelpunkt ihres Interesses mehr die Gedanken stehen, die das Verhalten vermitteln, als, Verhaltenssymptome allein. Tatsächlich können sie gegenüber den meisten Verhaltens­therapien dadurch ein größeres Verhaltensspektrum verändern. 

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Diese gegenaktiven Therapien zeichnen sich wesentlich durch ihre Hervorhebung der Besonderheiten des individuellen Lebens und der Betonung der individuellen Eigenverantwortlichkeit für Veränderungen aus. Diese beiden Punkte müssen auch von einer transformativen Therapie betont werden, und einiges von dem, was Realitätstherapeuten, rational-emotive Therapeuten und Verhaltenstherapeuten tun, findet in der Feeling-Therapie seine Entsprechung. 

Beispielsweise machen wir extensiven Gebrauch von Selbstberichten zum täglichen Verhalten, und der Feeling-Therapeut wird alles versuchen, um das Besondere an dem, was ein Patient in bestimmten Situationen gesagt, getan oder gedacht hat oder nicht gesagt, nicht getan oder nicht gedacht hat, herauszufinden. Auch gibt der Feeling Therapeut den Patienten, spezifische Anweisungen, etwas Neues auszuprobieren. 

Ebenso wird der Feelingtherapeut die Patienten immer wieder darauf aufmerksam machen, daß sie für ihre Gefühle selbst verantwortlich sind und daß ihre Gefühle Konsequenzen haben; er kann die verworrenen Gefühle ausleben oder sich die notwendige Mühe machen, seine geordneten, vollständigen Gefühle zu empfinden und aus ihnen heraus zu leben. Die Entscheidung liegt bei ihm. 

 

Die Bedeutung von Verantwortung. Der Transformationszyklus ist eine Wachstumsspirale. Wie sie sich ausweitet, ist ungewiß; jede Erfahrung bedeutet eine größere Offenheit gegenüber Gefühlen und einem Leben aus Gefühlen. Wie sehr und wie schnell sie sich ausweitet, hängt von jedem selbst ab. Manche Patienten brauchen Monate, um einen Gefühlszyklus zu vollenden — ihr Rezeptions- und Ausdrucksniveau entfaltet sich sehr langsam. Andere vollenden mehrere Zyklen innerhalb einer einzigen Sitzung und halten die Offenheit in ihrem Leben aufrecht. Wieder andere sind viele Sitzungen hindurch aufgeschlossen und retrogredieren dann, wenn sie an einer alltäglichen Lebenskrise scheitern. 

Wir sind sicher, daß jeder, der auch nur einen einzigen Gefühlszyklus vollendet hat, sich selbst in- und auswendig kennt; er hat immer einen Bezugspunkt, um in der Gegenwart und Vergangenheit fühlen und Vergangenes und Gegenwärtiges auseinanderhalten zu können. Jemand, der in Retrogressions­perioden sich wieder zu verschließen und aus seiner Abwehr heraus zu leben beginnt, verleugnet all das, was er in seinem Innersten weiß — doch dieses Gefühlszentrum kann nie vollkommen ausgelöscht werden. Wochen, Monate oder selbst Jahre später wird er sich wieder dem Gefühlsleben zuwenden, das er verleugnet.

Natürlich könnte es dann zu spät sein. Wir können keinen glücklichen Ausgang garantieren. Jemand, der seine Gefühle und die Konsequenzen, die diese für sein Leben haben, leugnet, tut sich selbst das an, was ihm früher von den älteren Menschen seiner Umgebung angetan wurde. Es wird zunehmend schwieriger, sich erneut zu öffnen, wenn sich jemand bereits zum wiederholten Male verschlossen und abgekapselt hat.

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Ein Patient beklagte sich zu Beginn der Therapie bei seinem Therapeuten über die Art, wie ihm ein Co-Therapeut half:

P: Mir hat die Art, wie Lisa mir gestern abend geholfen hat, nicht gefallen. 
T: Ron, du redest nicht; du stöhnst und brummst.  
P: Aber sie hat mir nicht wirklich geholfen — ich möchte, daß du mit mir arbeitest.  
T: Wer sich nicht wirklich hilft, bist du, und wer zu arbeiten anfangen muß, bist du. Weißt du denn immer noch nicht, daß alles bei dir seinen Anfang hat?

Genau das stimmt — man kann zwar Hilfe geben und einen Weg zur Transformation zeigen, doch nur das Individuum kann den Prozeß des Sich-Selbst-Öffnens und Sich-Selbst-Zeigens starten. In gewisser Weise ist die Feeling Therapie nichts anderes, als einen Patienten anzuleiten, "die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen und zu leben". Allerdings kennt nur der Patient die Wahrheit, und nur er kann anfangen, das Risiko einzugehen, "beurteilt, verurteilt und bestraft" zu werden. Dieses Beurteilen, Verurteilen und Bestrafen hat in Wirklichkeit seinen Ursprung in der früheren Gestörtheit des Patienten, und dieser beurteilt, verurteilt und bestraft sich in der Gegenwart selbst. 

Er ist sein eigener Richter, Geschworener, Gefängniswärter und häufig auch Henker, darum muß er es riskieren, aus dem Gefängnis, in dem er lebt, auszubrechen. Der Therapeut kann ihm, bis er dieses Wagnis einzugehen bereit ist, lediglich Geschenkpäckchen und Zettel überreichen, die sagen: "Versuch es. Es ist nichts dabei. Du kannst überleben. Dir fehlt nichts. Komm heraus. Versuch es selbst ..."

Es wäre in mancher Hinsicht leichter, jemanden mit einem System von Meinungen zu überzeugen, aber eine Wiederherstellung dieser Art hat nur kurzfristig Bestand, weil ein innerer Bezugspunkt für spätere Entscheidungen fehlt.

 

Proaktive Therapien

 

Wir wollen an dieser Stelle kurz auf Dr. Fritz Perls Gestalttherapie3) als einem Beispiel einer bedeutenden proaktiven Therapie eingehen. In dieser Therapie kommen auch andere Komponenten des therapeutischen Geschehens zum Tragen, etwa Gegenaktion und Abreaktion. Jedoch stehen diese Komponenten nicht im Mittelpunkt des therapeutischen Interesses; sie sind Nebenprodukte einer vornehmlichen Konzentration auf Proaktion.

Das Hauptanliegen der Gestalttherapie ist, den Patienten ihre sich selbst zugefügten Verwirrungen und das, was sich dahinter verbirgt, bewußt zu machen:

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Die Gestalttherapie ist ein psychotherapeutisches Modell, welches gestörte und störende Verhaltens­weisen als Zeichen einer schmerzhaften Polarisation zwischen zwei miteinander konkurrierenden psychologischen Elementen ansieht. Die Behandlung besteht darin, widerstreitende Elemente in eine gegenseitige selbstenthüllende Konfrontation zu bringen: die Methoden des "heißen Sitzes"* oder die Methoden des Traumdialogs sind Möglichkeiten, diese Konfrontation herbeizuführen, damit der Patient die Schmerzhaftigkeit seiner inneren Konflikte fühlt und zu einer Gefühlslösung kommt, indem er sich selbst in einer Weise zum Ausdruck bringt, die durch eine den Konflikten innewohnende Kraft unterdrückt wurde.  

Jeder, der schon einmal an einem Gestalt-Workshop teilgenommen oder Tonbandaufzeichnungen einer Gestaltsitzung gehört oder einen Film gesehen hat, der Fritz Perls bei der Arbeit zeigt, ist beeindruckt, wie durchschlagend mit diesen Methoden Widerstände gebrochen und innere Konflikte sichtbar gemacht werden können. 

Unser Haupteinwand richtet sich nicht gegen die Effektivität dieser Therapieform, sondern dagegen, daß sie nicht so gut gelebt werden kann, wie sie in Sitzungen funktioniert. Der Gestalttherapeut lehrt statt eines einfachen Reagierens auf und aus Gefühlen eine besondere Form von Psychodrama, was bei der Beschäftigung mit Widerständen und Abwehr hervorragend funktioniert, aber nur wenig dazu beiträgt, daß die Menschen lernen, wie sie auf ihre Gefühle und aus ihnen heraus antworten können.

Eine der irreführendsten Äußerungen Perls findet sich in dem Gestaltgebet:

Ich tu, was ich tu  — und du tust, was du tust.  
Ich bin nicht auf der Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben.  
Und du bist nicht auf der Welt, um nach den meinen zu leben.  
Du bist du, und ich bin ich.  
Und wenn wir uns zufällig finden — wunderbar.  
Wenn nicht, kann man auch nichts machen.  

 

* "hot seat" = "heißer Sitz" - in der Gestalttherapie sitzt darauf der Klient, der gerade "arbeitet" (A.d.Ü.)

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Das Gestaltgebet ist wie alle Gebete symbolisch — übersetzt man es in die Sprache der Gestalttherapie, endet es mit dem Satz: "Ich werde nichts dagegen unternehmen, daß wir uns nicht begegnen". Da die Feeling-Therapie eine Therapie ist, die gelebt und nicht vollzogen wird, akzeptieren die Menschen in der Gefühlsgemeinschaft kein "man-kann-nichts-machen". Sie müssen alle verworrenen Gefühle durcharbeiten, die echten Begegnungen im Wege stehen.

Das Besondere und Einzigartige an der Gestalttherapie ist ihre Einfachheit und Vollständigkeit — das eine bedingt das andere. Eine Therapie kann nicht einfach und effektiv sein, wenn sie nicht vollständig ist, andernfalls wird aus der Einfachheit Vereinfachung. Eine Therapie kann aber auch nicht vollständig sein, wenn sie nicht einfach ist; das Bemühen um Vervollständigung wird dadurch von den Augenblick-für-Augenblick-Ereignissen losgelöst und zu einem eklektischen Unterfangen. 

Es genügt, mit Gefühlen auf die Gefühlsverwirrungen eines Patienten zu antworten, wenn dies (a) im Rahmen einer Therapie geschieht, die allen Grundprozessen der Transformation (Abreaktion, Gegenaktion, Proaktion und Integration) Rechnung trägt, und wenn dies (b) innerhalb einer Struktur geschieht, die eine unterstützende therapeutische Gemeinschaft gewährleistet. Unter diesen Bedingungen reicht die einfachste Technik, nämlich aus Gefühlen und auf Gefühle zu antworten, aus, um eine beliebige andere Technik hervorzubringen, und der Therapeut wird nicht mehr irgendeine fremde Technik anwenden, um auf jemanden zu reagieren.

Die gestalttherapeutischen Vorstellungen von Einheit und "gestalten" kommen dem sehr nahe, was wir mit "integralen Gefühlen" meinen. Wir ziehen allerdings unsere eigene Formulierung vor, weil sie nicht auf Analogien aus der visuellen Wahrnehmung, namentlich Figur-Hintergrund-Phänomenen, beruht. Die Begriffe "Gefühlsverwirrung" und "Gefühlsvervollständigung" besitzen für uns mehr analytische Kraft als die in der Gestalttherapie zur Analyse von Gefühlen verwendeten visuellen Analogien, überdies spezifiziert die Theorie der Gefühlsverwirrung Nicht-Übereinstimmung sowohl zeitlich wie in bezug auf die Intensität. Des weiteren haben wir die Erfahrung gemacht, daß Vorstellungen von Verworrensein und Unvollkommen­sein dem subjektiven Erleben der Menschen näherkommen als Konzepte von Einheit und Formganzheit.

 

Abreaktive Therapien  

 

In diesem Abschnitt wollen wir kurz zwei verwandte Abreaktionstherapien erörtern: die Bioenergetische Therapie und die Primärtherapie. Beide Therapien unterstreichen die Bedeutung des Einflusses schmerz­hafter Erfahrungen aus der Vergangenheit, insbesondere der frühen Kindheit, auf das Erleben und Verhalten in der Gegenwart. Sie stimmen auch in der Betonung der Notwendigkeit überein, frühere Schmerzen erneut zu erleben und zu fühlen, ehe gegenwärtige Gefühle freigelassen werden können. Beide gehen direkt aus der Therapie Reichs und — über Reich — indirekt aus der Psychoanalyse Freuds hervor.

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Die Entwicklung der Bioenergetischen Therapie ist eng mit dem Namen Alexander Lowen5) verbunden. Die bekanntesten zeitgenössischen Praktiker der Bioenergetik sind Lowen, Stanley Kelemann und John Pierakos. Diese Therapie stellt wesentlich die Identität von Form und Funktion in den Vordergrund: "Du bist dein Körper". Daraus ergibt sich für die Therapie, daß der Therapeut entweder bei dem Erscheinungs­bild oder den Erlebnisweisen des Patienten ansetzen kann, aber dann schließlich mit beiden Komponenten weiterarbeitet. Eine Veränderung der einen Komponente bleibt ohne Veränderung der anderen unvollständig:

Jede bioenergetische Veränderung wirkt sich gleichzeitig auf zwei Ebenen aus. Auf der somatischen Ebene kommt es zu einer Erhöhung der Motilität, Koordination und Kontrolle; auf der psychischen Ebene kommt es zu einer Reorganisation des Denkens und der Einstellungen ... In dem Maße, wie die pathologische Struktur bezwungen wird, nimmt die Funktion zu, indem Maße, wie sich die Funktion verbessert, nimmt die pathologische Struktur ab. Die Struktur ist eine erstarrte Funktion.  

Lowen ersann eine Reihe von "Stressor"- und "Releasor"-Übungen, um den Patienten ihre strukturellen Rigiditäten (Körperabwehr) bewußt zu machen und ihnen zu helfen, Gefühle freizusetzen, die durch starre Körperhaltungen unterdrückt werden. Im Verlaufe dieser bisweilen intensiven Gefühlsentladungen erlebt der Patient lebhaft Zeiten wieder, wo er gezwungenermaßen rigide oder steif wurde oder sich völlig aufgab, um den Ausdruck von Gefühlen zu unterdrücken, den seine Eltern und seine Umgebung nicht zuließen. 

In der Bioenergetischen Therapie wird sehr viel Wert auf unwillkürliche Bewegungen und Ausdruck gelegt. Die Bedeutung des Unwillkürlichen liegt darin, daß sie den Patienten von kopfzentrierter Kontrolle seines Lebens wegführt zu körperzentrierter Bewegung aus Gefühlen heraus: "Wir sind auch zu Entladungen im Zentralnervensystem fähig, indem wir unsere Reaktionen auf periphere Erregungen beschränken ... Wir sind aber auch auf vegetativer Ebene (autonomes Nervensystem) zu Entladungen fähig, und das ist etwas ganz anderes.'' 6) *

 

* Das vegetative Nervensystem ist im Gegensatz zum Zentralnervensystem in geringerem Maße dem "Willen" unterworfen und datier auch im Zustand der Bewußtlosigkeit normal funktionsfähig ("autonom"); es regelt das Zusammenspiel vitaler Funktionen wie Atmung, Verdauung und Stoffwechsel (A.d.Ü.)

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Die Bioenergetik hat zwei wesentliche Grenzen. Erstens, sie verläßt nicht den strukturellen Rahmen der herkömmlichen Therapiepraxis, um eine therapeutische Gemeinschaft zu gründen, die eine Kontinuität des Gefühlserlebens gewährleistet. Das bedeutet, daß die Patienten ihre Körperabwehr durchbrechen, zu ihren Gefühlen vordringen und eine neue Offenheit kennenlernen, nur, um sich wieder zu verschließen, weil in der Therapie nicht dafür Sorge getragen wird, daß sie dauerhaft aus dieser Offenheit heraus leben können. Die integrative Seite der Therapie wird also vernachlässigt. Gefühle aus der Vergangenheit freilassen führt nicht automatisch zu einer Integration dieser Offenheit und Antwortfähigkeit in der Gegenwart. Nur eine therapeutische Gemeinschaft kann die Patienten darin unterstützen, ihren körperlichen Gefühlen zu vertrauen und ganz aus ihnen heraus außerhalb des Therapeutenzimmers zu leben.

Die zweite Begrenzung besteht darin, daß die Bioenergetische Therapie zu extremer Stilisierung neigt. Die Patienten streben nach "orgasmischen Entladungen" oder "unwillkürlichen Bewegungen", statt jeden Augenblick direkt aus ihren einfachen Gefühlen heraus zu reagieren. Dies ist wieder ein Beispiel dafür, wie eine Therapietechnik Verhaltensweisen fördern kann, die die Patienten in Wirklichkeit von ihren Gefühlen entfernen. Wie in der Gestalttherapie, so lernen die Patienten auch in der Bioenergetik, etwas zu tun, das vollendeter ist als der einfache, direkte Ausdruck ihrer eigenen Gefühle. Sie lernen, nach einer bestimmten Form der Gefühlsentladung zu streben. Ein solches Bemühen geht an einer wirklichen Vervollständigung der Gefühle vorbei, die sie tatsächlich haben; die Patienten erleben eine neue Form des Abwehrens.

 

Primärtherapie. Das gleiche geschieht in der Primärtherapie, sogar mit noch schlimmeren Neben­wirkungen. Dr. Arthur Janov7) definiert ein Urerlebnis ("primal") als "Ein totales Erleben des Fühlens und Denkens aus der Vergangenheit". Er führt aus, daß ein Urerlebnis gekennzeichnet ist durch....

  1. ein Reden in der Kindersprache,

  2. ein bewußtes Koma,

  3. Verlust des Zeitgefühls und

  4. eine dem Urerlebnis folgende tiefere und vollere Stimme. 

Er sagt: "Der echte Urschrei ist unverkennbar. Er ist ganz eigenartig tief, rasselnd und unwillkürlich." Die Patienten kommen wegen der überzeugend einfachen Fallbeispiele, die in dem Buch Der Urschrei geliefert werden, mit der Erwartung in die Therapie intensiv zu regredieren und den Urschrei auszustoßen. Tatsächlich sieht es dann bei den meisten so aus, daß sie nachahmen, was sie gelesen haben.

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Da den Patienten gesagt wird, sie seien "realer" und der "Heilung" näher, je mehr sie ihre Kindheits­schmerzen erleben, erlernen sie in der Primärtherapie dadurch, daß sie versuchen, Schmerzen zu spüren und außer Kontrolle zu sein, in Wahrheit ein neues sekundäres Abwehrsystem. 

"Der völlige Verlust der Selbstbeherrschung ermöglicht die Herstellung der Verbindung, denn Selbstbeherrschen bedeutet fast immer Unterdrückung des Selbst" (kursiv von uns). Diese Behauptung ist Unsinn, destruktiver Unsinn. Patienten, die das glauben, werden niemals imstande sein, alte regressive Impulse unschädlich zu machen, denn dies bedarf positiver Kontrolle. Ebensowenig werden sie imstande sein, neue Erwachsenenäußerungen auszubilden, die ihnen einen freien Fluß von Gefühlen ermöglichen. Stattdessen werden sie sich mit neuen regressiven Abwehrmechanismen ausrüsten — kindlicher Abwehr nachgehen und sich von der Äußerung gegenwärtiger Gefühle entfernen.

Theorie und Techniken der Primärtherapie sind in extremem Maße simplizistisch. Ein groß geschriebener SCHMERZ ist der Ursprung aller Verwirrung, und ein groß geschriebener SCHREI ist ihre Heilung. Die Technik der Primärtherapie wird in Der Urschrei nie vollständig beschrieben, wohl aber vage Andeutungen gemacht, daß mit den Patienten irgendetwas Besonderes unternommen wird. Tatsächlich benutzt die Primärtherapie keine spezielle Technik, sondern vertraut stark auf Suggestion, sowohl, um emotionalen Ausdruck zu induzieren als auch um ihre Lösungen herbeizuführen. 

Janovs Primärtherapie findet ihre engste Entsprechung in der Magnetischen Therapie von Mesmer. Beide Therapien erreichten manchmal erstaunliche emotionale Entladungen und Therapieerfolge, doch bei keiner von beiden überdauerten die Veränderungen, zu denen die Patienten angehalten wurden.

 

Integrative Therapien 

 

Carl Rogers klienten-zentrierte Gesprächstherapie8) ist ein gutes Beispiel für eine Therapie, deren Schwer­punkt auf Integration, auf einem gefühlsbewußteren Leben in der Gegenwart liegt, bei allerdings nur geringer Beachtung von Abwehrmechanismen oder integrationshemmender Ursachen aus der Vergangenheit. Vielmehr versucht die klienten-zentrierte Gesprächstherapie, ein Patient-Therapeut-Verhältnis zu schaffen, das dem Patienten die Chance gibt, sich selbst zu verwirklichen und neue Wege zur Lösung seiner Konflikte einzuschlagen.

Rogers stellt mehrere Eigenschaften des Therapeuten als notwendig und hinreichend für therapeutische Veränderungen heraus:

Die Grundtheorie der klienten-zentrierten Gesprächstherapie läßt sich in Form einer "wenn-dann"-Hypothese einfach darlegen; wenn gewisse Bedingungen in den Einstellungen derjenigen Person gegenwärtig sind, der in einer Beziehung die Aufgabe des "Therapeuten" zufällt, namentlich Kongruenz, positive Wertschätzung und empathisches Verstehen, dann werden weitreichende Veränderungen in der "anderen" Person auftreten, derjenigen, die als "Klient" bezeichnet wird.  

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Anfangs wurde das klienten-zentrierte Vorgehen mit einer spezifischen Technik identifiziert, dem "Reflektieren von Gefühlen", bei dem die Äußerungen des Klienten in einer den emotionalen Erlebnisinhalt widerspiegelnden Weise reverbalisiert werden. Später wurde diese Form des Antwortens dahingehend erweitert, daß jede Gefühlsäußerung von Seiten des Therapeuten gegenüber dem Klienten in das klienten-zentrierte Vorgehen eingeschlossen wurde.

Die Schwäche der klienten-zentrierten Theorie ist, daß sie sich nicht ausdrücklich mit Abwehrmechanismen und Widerständen befaßt. Vielmehr wird folgendes behauptet:

Zentral für die klienten-zentrierte Sichtweise war zunächst der Glaube an die selbst-direktiven Fähigkeiten des Individuums. Jahrelange Erfahrungen mit Klienten und unzählige Forschungs­arbeiten haben diese Ansicht bestätigt, so daß heute jedes Eingreifen von Seiten des Therapeuten in die Auseinandersetzung des Klienten mit seinen unmittelbar gefühlten und wahrgenommenen Erlebnisvorgängen ("experiencing process") als gegen-produktiv betrachtet wird. 

Kurz, der klienten-zentrierte Gesprächstherapeut vermeidet jegliche äußere Gegenaktion oder gesteuerte Proaktion. Wir haben die Beobachtung gemacht, daß bestimmte Gefühls- und Verhaltensstörungen bestehen bleiben, wenn der Therapeut nicht aktiv eingreift, um die inneren Erlebnisweisen eines Patienten aufzubrechen, wenn es diese Erlebnisweisen sind, die ihn immer wieder zu seiner Abwehr zurückführen.

Zum Beispiel können viele Patienten fortwährend aus Projektionen heraus weinen ("Ich weiß nicht, warum er mir das angetan hat"). Das Weinen gibt ihnen eine partielle Spannungsverminderung, aber es kommt zu keiner harmonischen Integration. Kein noch so guter Wille und kein noch so warmes Gefühl des Therapeuten wird eine solche Abwehr sprengen, weil der Patient nicht spürt, wie-schmerzhaft das ist, was er sich selbst zufügt. Höhere Integration folgt auf Gegenaktion und echten Gefühlsfreisetzungen; dies kann dem Patienten nicht durch den Therapeuten vorgemacht werden.  

 

Therapien, die wir nicht besprochen haben. Eine Reihe von Therapien lassen sich nicht eindeutig in die in diesem Kapitel verwendete Prozeßkategorisierung einordnen. Einige enthalten Komponenten aller vier transformativen Prozesse, beispielsweise die Psychoanalyse. 

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Andere Therapien stehen am anderen Ende des Kontinuums; sie entwickeln keinen der Grundprozesse — sie sind im wesentlichen nichts anderes als erweiterte Gefühlsübungen. Die Gefühlsbedeutung von Assertivem Training zum Beispiel ist Selbstbehauptung, etwas, was eine generelle Bedeutung für jedermann hat, und durch das Training werden allgemeine Formen von Selbstbehauptung erlernt. Ein solches Training kann nützlich sein, ist aber eindeutig in seinem Vermögen begrenzt, jemanden in Berührung mit seinen vielfältigen Empfindungen, Bedeutungen und Äußerungen zu bringen.

 

Verrücktheit

 

Jenseits von Theorie und Technik. Der philosophische Unterschied zwischen der Feeling-Therapie und anderen Therapien ist in vieler Beziehung größer als der technische, strukturelle oder theoretische Unterschied.  

Jede von einem kompetenten Therapeuten durchgeführte Therapie bringt den Therapeuten kurzzeitig mit seiner eigenen Verrücktheit in Berührung. Aber was ein erster Anknüpfungspunkt sein könnte, wird aufgrund der Ängste des Therapeuten und Patienten eilig übergangen. Sie befürchten, daß die Verrücktheit, ließe man sie zum Vorschein kommen, nichts zurücklassen werde. Verrücktheit ist wie eine innere Flutwelle — sie reißt irreale Persönlichkeitsstrukturen ein und macht Platz für den Aufbau eines neuen Lebens. Wie eine Flutwelle reißt sie nur ein; den Neuaufbau muß jeder selbst in die Hand nehmen. Die Furcht vor Verrücktsein im Zimmer des Therapeuten resultiert aus einem falschen Verständnis vom Wesen der Verrücktheit und aus der ungenügenden Selbstwahrnehmung der eigenen Verrücktheit auf der Seite des Therapeuten. Viele Therapeuten sind sich auch genau darüber im klaren, daß ihre therapeutische Struktur nicht geeignet ist, sich mit den Konsequenzen von Gefühlsergüssen verrückter Gefühle zu befassen.

 

Was Verrücktheit nicht ist. Was man in psychiatrischen Anstalten sieht, sind bizarre Demonstrationen von Verrücktsein, nicht bloß nicht-funktionelle soziale Verhaltensweisen. Sie sind nicht mehr und nicht weniger psychotisch wie Verhaltensweisen eines Topmanagers, der fünfundsiebzig Stunden pro Woche arbeitet und mit fünfundvierzig einem Herzanfall erliegt. Psychotiker tun so als ob. Nichtsdestoweniger sind sie Gefangene ihrer Vorstellungen ebenso wie der Jungmanager oder die Durchschnittshausfrau. Sehr wenige Menschen wollen sein, wer und was sie sind. Sie verstellen sich eine Zeitlang in der Hoffnung, eines Tages mit dem Verstellen Schluß machen zu können. Was aber geschieht, ist, daß sie das, was sie vorspiegeln, vergessen und gefangen werden, ohne es zu merken.

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Was Verrücktheit ist. Gängige Filmklischees zeigen verrücktes Verhalten als etwas, was sich auf geschlossenen Abteilungen der Krankenhäuser abspielt, wo muskelstrotzende Pfleger nicht gefügigen Patienten die Zwangsjacke anlegen. Das hat natürlich nichts mit Verrücktheit zu tun. Verrücktheit ist keine stabile, erkennbare Form bizarren Verhaltens. Sie ist eine Erfahrung. Verrücktheit wird nur dann erfahren, wenn man aus dem bisherigen Scheinleben aufwacht: wenn der Geschäftsmann mit seinem Geschäftemachen aufhört und sagt: "Dies ist kein Leben für mich, ich muß anders werden"; wenn die Hausfrau ihre Spülmaschine abstellt und die Leere ihres Lebens beweint; wenn der Psychotiker sein verrücktes Verhalten als verrückt erkennt. Jeder einzelne von ihnen macht diese Erfahrung, sobald er das Tauziehen zwischen seinen Ansichten über das Leben und seinen Gefühlen spürt. Wenn diese Erfahrung intensiver und gefühlt wird, beginnt die Therapie.

Von allen gegenwärtigen Therapien, und davon gibt es mehr als genug, steht die Anti-Psychiatrie von R. D. Laing9) der Feeling-Therapie in Form und Inhalt vielleicht am nächsten. Laing versteht klar, was Verrücktheit heißt; wir stimmen voll und ganz mit ihm überein, wenn er sagt: "Der Zustand der Entfremdung, des Schlafens, des Nicht-bei-Sinnen-Seins ist der Zustand des normalen Menschen". 

Wir stimmen auch Laings Behauptung zu, daß bestimmte Wege des Verrückt-Werdens oftmals Versuche sind, gesund zu werden — mit anderen Worten, die Menschen versuchen, die Fesseln vernünftiger Verrücktheit zu sprengen, indem sie in Unsinnigkeit und Verrücktheit überwechseln. Unsere Hauptkritik an Laings Position richtet sich gegen seine Überbetonung des Verrückt-Werdens, während er das Gesund-Werden vernachlässigt. Die Verrücktheit zu erleben, lohnt sich, wenn der Verrückte wieder eine mit Lebenskraft erfüllte Gesundheit bei einer Gruppe von Menschen erlangt, mit denen er gesund leben kann.

 

Was Therapie ist  

 

Therapie ist keine Arbeit. Niemand, der zwischen vier und acht Stunden in seiner Praxis sitzt und zahl­reiche Patienten hat, macht Therapie; er mag sehr gute Wiederinstandsetzungsarbeit leisten. Doch Therapie, wie wir sie verstehen, befaßt sich mit der seelischen Gesundheit und Verrücktheit jedes einzelnen. In den meisten Psychotherapien ist dies nicht der Fall. Im allgemeinen heißt Psychotherapie Kontrolle der Verrücktheit. Sie zielt darauf ab, Ausbrüche von Verrücktheit im Alltagsleben zu verhindern. Wirkliche Therapie ist die Umwandlung von Nichtfühlen in Fühlen.

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In den meisten Fällen ist schon deshalb keine Therapie möglich, weil der Therapeut wenig oder gar keinen Kontakt mit seiner eigenen Verrücktheit hat. Die meisten Therapeuten besitzen nur akademisches Wissen. Ihnen fehlt Selbst-Erfahrung. Wenn ein Therapeut seine eigene Verrücktheit erfährt, braucht er wieder Therapie. Und seine ganze Therapie wird ständig von der Therapie beeinflußt, die er selbst erhält. Verrücktheit, wie sie in der Therapie gefühlt wird, verändert das Individuum fortwährend. Was gestern real war, weicht mit der nächsten Transformation einer anderen Verrücktheit, und eine tiefere und bedeutungsvollere Realität tritt an die Stelle früherer Überzeugungen.

 

Eklektischer und sonstiger Unsinn  

  

Man fragt uns in Vorlesungen und Seminaren häufig: "Aber worin besteht denn nun der Unterschied zwischen Eurer Arbeit und der jeder anderen Therapie?" oder "Ist dieses Antworten aus Gefühlen heraus nicht das, was ein guter Freund tut?" Unsere Antworten auf solche Fragen lauten: "Nichts, was wir tun, ist anders. Keine Technik und kein Prozeß der Feeling-Therapie ist ganz und gar einmalig. Alles, was wir tun, ist anders". Und: "Ja, ein guter Freund gibt und erhält Gefühle. Wenn Sie einen solchen Freund haben, dann wissen Sie, worüber wir sprechen. Wenn Sie viele solcher Freunde besitzen, haben Sie eine Gemeinschaft und brauchen nicht, was wir anbieten". Aber nur sehr wenige Menschen haben eine Gemeinschaft fühlender Freunde, die ihnen und denen sie helfen können.

Die meisten Menschen leben getrennte Leben. Selbst diejenigen, die Ehefrauen und Ehemänner und Freunde und Kollegen haben, haben sie nicht wirklich. Sie haben den Anschein von Kontakt, keine Kontaktrealitat. Sie sind wie Schimpansen im Zoo, die miteinander in Käfige gesperrt werden, aber unfähig sind, natürlich zueinander zu sein. Nähe ergibt noch keinen Kontakt. Die meisten Morde werden von Menschen begangen, die sich nahe sind; Verwandte töten Verwandte. Menschen zeigen die gleiche und unnatürliche Gewalt wie Schimpansen, die nicht mehr gemeinsam frei umherziehen und echt Zusammensein können, stattdessen in erzwungener Nähe leben müssen. Verworrene Gefühle produzieren verworrene Handlungen.

Uns wird vorgeworfen, daß wir Puristen seien, die allzu strikte Kontrollen in unserer Therapie hätten. Wir sind Puristen in unserem Beharren darauf, daß eine Therapie Gemeinschaftstherapie sein muß und daß die Methoden aus den Therapieerfahrungen der Gemeinschaftsmitglieder erwachsen müssen. Eine aus Büchern, Seminaren oder Vorlesungen erlernte Therapie ist keine Therapie. Wirkliche Therapie muß in die Verrücktheit hinein und durch sie hindurch reichen.

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Viele Therapeuten weisen sich selbst als eklektisch aus — das heißt, daß sie, als sie mit dem, was sie gelernt hatten, unzufrieden wurden, in Büchereien, Growth Center und Vorlesungen neue Techniken fanden. Die Zusammenwürfelung könnte die Überschrift tragen:

  "Gestalt-primäre-bioenergetisch-transzendentale-Encounter-Therapie.   
  Garantierte Heilung von Bewußtseinstrübungen, Impotenz und Langeweile".  

Tausende von Therapeuten und Gruppenleitern verstehen Techniken als Kunstgriffe, doch was ihnen fehlt, ist Kraft. Sie sind keine Psychotherapeuten, sondern Verkäufer angewandter Therapie. 

 

Wir halten diejenigen, die mit Fritz Perls gelebt und bei ihm studiert haben, für Gestalttherapeuten. Die nächste Generation von Gestalttherapeuten hat bereits nichts mehr mit der ursprünglichen Therapie, so wie sie Perls entwickelt hat, zu tun. Die echten Reichianer sind diejenigen, die bei Reich gelebt und ausgebildet wurden. Die wirklichen klienten-zentrierten Gesprächstherapeuten sind diejenigen, die bei Carl Rogers gelebt und gearbeitet haben. Die einzigen echten Psychoanalytiker sind diejenigen, die bei Freud gelebt und studiert haben.

Jeder der genannten Therapien mangelt es daran, daß es kein Zusammenleben, keine ständige Beziehung mit dem Begründer gab. Es gab kein Zentrum, wo jeder gleich war. Nur im Rahmen einer Gemeinschaft kann ein Erfahrungserbe von Generation zu Generation weitergegeben werden, lange nach dem Tod des Begründers. Andernfalls wird die dritte Generation eklektisch und professionell, da sie einen weiten Abstand zu den Erfahrungen hat, die die Therapie formten.

 

Erleben versus Ereignis. Patienten und Therapeuten haben nur das Endergebnis einer Therapie vor Augen, ohne den entscheidenden Heilprozeß zu begreifen — das Erleben von dem, was gerade geschieht. Kein Ereignis ist transformativ. Erleben ist es. Ein Therapeut der ersten oder zweiten Generation kann sich selbst direkt davon überzeugen, wie vollständig die Theorien des Begründers in die Praxis umgesetzt werden. Spätere Therapeutengenerationen glauben das nur.

Allerorten gibt es bereits viel zu viele Therapieprediger, die Therapie machen wollen, ohne das zu tun, was die Begründer der Therapie getan haben — auf ihre eigene Verrücktheit und ihre eigenen Gefühle zu stoßen. In eklektischen Theorien gibt es keinen inneren Kampf mit der Verrücktheit. Uns ist ein erfahrener, gut ausgebildeter und eine klare Therapielinie vertretender Therapeut lieber als ein eklektischer. Der Purist ist zumindest in seiner Arbeit konsistent.

Therapien firmieren unter den verschiedensten Namen; ein Patient kann sich informieren, auf was er sich einläßt.

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Die Rechte der Patienten  

 

Jeder Patient hat ein Recht darauf, zu wissen, was eine Therapie zu bieten hat. Alles sollte geklärt werden. Implizites Wissen sollte nicht ausreichen. Die meisten Patienten gehen mit blindem Vertrauen in eine Therapie und erhoffen sich alles mögliche, ohne überhaupt eine Ahnung davon zu haben, was geboten wird. Die meisten Menschen verwenden mehr Zeit und Energie auf die Wahl eines neuen Autos als auf die Wahl einer Therapie. 

Ein Patient hat das Recht zu fragen: Was will ich von dieser Therapie? Was bietet diese Therapie? Bietet sie Körperbewußtheit, intellektuelle Bewußtheit, Einsicht, besseres logisches Denkvermögen oder früheren Schmerz? Der Patient hat das Recht zu wissen, wer der Therapeut ist. Erhält der Therapeut selbst genügend Therapie? Lebt er das, was er sagt? Wer hat diesen Therapeuten ausgebildet? Wer ist dieser Mensch, dem ich mich anvertraue? Was ist das Ziel dieser Therapie?

Wir sagen nicht, daß es irgendeinen Idealtherapeuten gibt. Was wir sagen, ist, daß alle diese Punkte geklärt werden sollten, damit der Patient ohne falsche Erwartungen die Therapie beginnen kann und das erhält, was die jeweilige Therapie zu bieten hat.

Es ist das Recht des Patienten, nicht aufgefordert zu werden, etwas zu tun oder zu leben, was der Therapeut nicht selbst getan oder gelebt hat. Es ist im wesentlichen das Recht des Patienten, den Therapeuten als jemanden zu sehen, dessen Begrenztheit den Endpunkt der Therapie darstellt. Nur dann kann er ohne überspannte Erwartungen die Therapie beginnen und an ihr teilhaben, indem er das erhält, was die jeweilige Therapie zu bieten hat.  

 

Die Rechte des Therapeuten  

 

Ein Therapeut hat das Recht, jemanden zu sich kommen zu lassen, der ernsthaft daran interessiert ist, was er zu bieten hat. Will er Gestalttherapie oder Bioenergetik? Will er Meditation? Er hat dieses Recht gegenüber dem Patienten, der nicht auf ein kaltes Büffet wartet. Er hat das Recht gegenüber einem Patienten, der bereit ist, die Therapie auszuleben, indem er sie praktiziert, gegenüber einem Patienten, der für sich die Verantwortung übernehmen will. Es ist ein Unterschied, ob jemand sagt: "Ich werde Selbstmord begehen — unternehmen Sie etwas dagegen" oder "Ich wollte mich umbringen — mir geht es schlecht. Ich möchte Hilfe."  

Diese Rechte können in Anspruch genommen werden, wenn die Unklarheiten über die Therapie ausgeräumt sind. Was dann übrig bleibt, sind zwei Menschen im Raum, die ein Abkommen treffen können, Haß jeder dem anderen in einer bestimmten Weise hilft.

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Über Erfolgsbestätigungen. Wir könnten diesem Kapitel Erfolgsbestätigungen von Patienten beifügen, die in anderen Therapien scheiterten, dann zur Feeling-Therapie kamen und ihr Leben transformativ veränderten. Aber ebenso gut könnten sich andere Therapeuten auf Aussagen einiger Aussteiger aus der Feeling-Therapie berufen, die woanders die Hilfe fanden, die sie bei uns nicht bekommen konnten. Erfolgsbestätigungen haben keinen Beweiswert.

Alle in diesem Buch enthaltenen persönlichen Aussagen sollen bestimmte Gefühle und Transformationen illustrieren, nicht den Nutzen der Therapie unter Beweis stellen. Therapien nützen größtenteils den Menschen etwas, die für sie bereit sind. Die meisten Patienten, die wir aussuchen, sind, wenn sie zu uns kommen, für die Feeling Therapie bereit und profitieren von ihr; einige sind es nicht und profitieren nicht. Manche Patienten, die nicht für das bereit sind, was wir zu bieten haben, besitzen die Bereitschaft für andere Therapien.

Therapiebewerbern, die sich bei ihrer Bewerbung nicht sicher sind, was sie wollen, legen wir nahe, etwas anderes auszuprobieren, ehe sie sich zu dem verpflichten, was die Feeling-Therapie fordert. Wir erklären ihnen etwa: "Wir können Ihnen nicht sagen, was Sie ausprobieren sollen und was nicht, weil wir nicht die Leute kennen, mit denen Sie es tun werden". Aber generell raten wir ihnen, alles zu versuchen, was sie für hilfreich halten. Wir würden viel lieber einen Patienten aufnehmen, der alles ausprobiert hat, was ihm reizvoll erschien (Meditation, Bergsteigen, Bumsen zur Entspannung, Therapie X, Y und Z etc.), als einen Patienten, der bloß Hoffnungen hat, daß "vielleicht Eure Therapie hilft, und wenn nicht, ich vielleicht die richtige Frau finde oder vielleicht Meditation mich weiterbringt, oder vielleicht, vielleicht, vielleicht ..."

"Vielleichts" können nicht gefühlt werden. Die besten Bewerber für die Feeling-Therapie sind erfolgreich Gescheiterte — Menschen, die wirklich vieles von dem ausprobiert haben, was sie wollten; bekommen haben, was sie bekommen konnten und sich trotzdem noch unvollständig vorkommen.

 

    Jenseits von Verrücktheit: Die Erfahrung von Kontakt    

 

Jane Goodall beschreibt in ihrem Buch <In the Shadow of Man>10 eine Kampfszene zwischen einem Pavian und einem Schimpansen. Dieser Schimpanse wurde von einem anderen Schimpansen begleitet. Immer, wenn der kämpfende Schimpanse Angst bekam, lief er zu seinem Gefährten, um sich kurz physisch rückzuversichern, und kehrte dann wieder an den Kampfschauplatz zurück. Das ist Kontakt. 

Kontakt vermittelt kein Gefühl der Sicherheit im Kampf mit Verrücktheit oder mit Pavianen — aber Kontakt macht diesen Kampf möglich. Ohne Kontakt hätten wir in der Gegenwart keinen Bezugspunkt und keinen Grund, unsere Vergangenheit zu fühlen. 

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Die Vergangenheit ist nur bedeutungsvoll, weil der Patient mit einem Therapeuten Kontakt aufnimmt und sich dann noch einmal in die durcheinanderbringende Verrücktheit seiner Vergangenheit und Gegenwart hineinbegeben kann. Ohne Kontakt nehmen wir häufig nichts wahr. Wir verlieren unsere Sinnesempfindungen und brauchen Hilfe vom Therapeuten, um sie zurückzugewinnen.

Der Anhang enthält ein ausführliches Tonbandprotokoll einer Sitzung, in deren Verlauf der Patient zwischen dem Therapeuten und seiner eigenen Verrücktheit hin- und herpendelt. Anhand dieses ausführlichen Beispiels wird deutlich, daß der Therapeut die Konsequenzen für das tragen kann, was dieser Person lange genug widerfahren ist, um ihr zu helfen, selbst die Konsequenzen zu fühlen. In dieser speziellen Sitzung ist der Patient sehr erfahren darin, seine Gefühle frei kommen zu lassen. Dadurch übernimmt er für sich die Verantwortung. Es wird in dieser Sitzung keine einzige Technik angewandt; der Therapeut vertraut auf nichts, außer auf seine eigenen Gefühlsreaktionen. Er öffnet den Patienten für eine neue Gesundheit und eine neue Gefühlsrealität durch den Kontakt. Der Patient hat die Möglichkeit, sich in der völligen Desintegration seiner Persönlichkeit und seiner verworrenen Bedeutungen ganz einer offeneren und gefühlteren Gegenwart zuzuwenden. Er wird gesund.

Was in dieser Sitzung geschieht, könnte als Kontakt-Übertragung und Kontakt-Gegenübertragung bezeichnet werden. Der Patient spürt den Therapeuten im Raum und der Therapeut den Patienten. Normalerweise werden die positiven und negativen Projektionen der Patienten und Therapeuten als Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet. Kontakt-Übertragung geht über Projektionen hinaus — sie ordnet das Individuum, da es ein vollständiges Menschsein erlebt. Das Individuum weiß, daß ausgedachte Reaktionen nicht stark genug sind, um die vorhandene Gefühlstiefe und das Durcheinander der Verrücktheit zu besiegen.

Der Therapeut würde nicht das Fühlen von Verrücktheit bei dem Patienten so weit wie möglich zu vertiefen versuchen, wenn dieser in der Gegenwart nicht schon selbst viel für sich getan hätte. In der Feeling-Therapie ist ein Therapeut nur bereit, dem Patienten so viel zu helfen, wie der Patient sich selbst geholfen hat. Wir sind keine Reparaturwerkstatt und machen kein Flickwerk. Der einzige Grund, die intensiven Ebenen der Verworrenheit zu erleben, die in unserer Therapie gefühlt werden können, ist der, daß eine neue Gegenwart möglich wird. Die Gegenwart ist mehr als die schmerzhafte Verrücktheit der Vergangenheit und mehr als die Leblosigkeit und Leere vernünftiger Verrücktheit.

Die Transformation des Selbst durch das Erleben bewußter Verrücktheit eröffnet dem Individuum Gefühls­ebenen, die früher allenfalls als vage Gedächtnisspuren existierten. Keine Therapie kann eine solche Gegenwart hervorbringen, wenn sie nicht wie die Feeling-Therapie Gefühle freisetzt, Gefühle aufrecht­erhält, Gefühle auslebt und immer wieder mehr Gefühle aus den erlebten Veränderungen zum Ausdruck bringt.

Dies ist einzig und allein in einer therapeutischen Gemeinschaft möglich. Die Menschen haben gelernt, vor einem Mehrfühlen Angst zu haben. Sie suchen eine kompromißhafte Verdrängungsebene, auf der sie zwar mehr, aber nicht zu viel fühlen — gerade soviel, daß ihre Verrücktheit intakt bleibt. Viele Menschen wollen Therapie, aber nicht zu viel Therapie. Für solche Menschen gibt es zahlreiche Alternativen, die Feeling-Therapie allerdings ist keine davon.

Um psychisch völlig gesund zu werden, muß jemand bereit sein, völlige Verrücktheit zu erleben. Es gibt vernünftige und verrückte Therapien, aber nur wenige "gesund machende" Therapien. Gesund werden heißt, verrückt werden und dann die Freiheit erlangen, jenseits von Verrücktheit zu fühlen und zu leben. Nur wenige Erlebnisse sind furchtbarer als das Erleben von Freiheit.

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