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15  Freiheit, zu fühlen 

 

 

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Wir hätten nur allzugern eine neuartige und exotische Therapie gefunden, die uns und unseren Patienten ein paradiesisches Leben bescheren könnte. Leider ist dies nicht der Fall. Was wir gefunden haben, ist etwas jenseits von Therapie und Exotik. Wir entdeckten, als wir die Therapie an ihre Grenzen trieben, daß diese Grenzen nachgeben, und was wir für eine Therapie hielten, war eine Öffnung zum Leben. Wir entdeckten, daß sich uns und unseren Patienten gänzlich neue Lebensmöglichkeiten auftaten.

Die Therapie erschließt jedem ein Leben, das infolge des Durcheinanderseins verlorengegangen war. Es hat Zeiten gegeben, wo die Therapeuten aufgeben, fliehen und wieder sicheren Boden unter den Füßen haben wollten — einen sicheren Boden, auf dem Verrücktheit überwintern kann, ein Boden, der weder zu gut noch zu schlecht ist, gerade so gut, um zurechtkommen zu können. Doch dadurch, daß wir durch die Verrückt­heit hindurchdrangen und Kontakt erlangten, stießen wir auf unser eigenes, sich fortwährend veränderndes und ausweitendes Leben, ein Leben, an dem wir mit Haut und Haaren teilhaben.

Die Gefühle, die der Einzelne fühlen soll, und das, was er tun muß, erscheinen ihm manchmal über­wältigend zu sein. Immer wieder treiben wir die Patienten an, bis sie dem Öffnungsprozeß nichts mehr in den Weg stellen oder aber in die Sicherheit bestimmter Überzeugungen oder kompromißhafter, nicht-transformativer Lebensformen flüchten. Wir treiben die Patienten an, damit sie ein Leben wählen, das die Grenzen dessen, was sie für möglich halten, sprengt. Unsere Aufgabe als Therapeuten ist es, zu heilen und zu öffnen. Wir rütteln kräftig an den Patienten, um sie für ihre eigenen Gefühle offen zu machen.

Wenn wir die Patienten in Offenheit hineindrängen, laufen sie zuweilen vor dem fort und schließen sich von dem aus, was sie vor langer Zeit als wahr erkannt hatten — ihre Gefühle. Wir sind nicht bereit, weniger zu tun, denn das hieße das Mögliche zu leugnen. Diejenigen Patienten, die Fortschritte machen, werden zunehmend tatkräftiger, und ihnen tut sich eine immer reicher werdende Gefühlswelt auf, aus der heraus sie mit wachsender Begierde leben wollen. Diejenigen, die auf der Stelle treten, geben die Therapie in dem Sinne auf, daß es keine "allmächtigen" Therapeuten und "ohnmächtige" Patienten gibt. Es gibt nur Menschen.


Der Übergang vom In-der-Therapie-Sein zu einem Leben in einer "Feeling"-Gemeinschaft kann als das Aufdecken der drei Geheimnisse verstanden werden, die wir im Leben hüten.1) 

Das erste Geheimnis ist, was wir den anderen verheimlichen. Das zweite Geheimnis ist, was wir uns selbst verheimlichen. Und das dritte Geheimnis ist die Wahrheit! 

In den meisten Therapien bleibt das letzte Geheimnis unangetastet. Eine solche Einschränkung ist verrückt, weil das Wahrheitsempfinden jedes einzelnen, bereits vollkommen beeinträchtigt ist. Die Menschen sind so lange emotional depressiv gewesen, daß sie mit Mehr-Fühlen, mit Mehr-Schmerzen und mit Mehr-Leben nichts anzufangen wissen. Sobald sich Gefühle entfalten und an Intensität zunehmen, stoßen sie die Menschen immer tiefer ins Unbekannte.

Eine verrückte Gesellschaft wird errichtet, um das Leben einzuebnen. Transformation bedeutet Öffnung für eine Realität, die man kaum wahrnehmen kann. Nicht einmal in der Fantasie kann man sich diese Realität auch nur annähernd ausmalen. Es gibt nur das freie Hineingleiten in das Unbekannte. Das Leben, von dem wir sprechen, ist für normale Menschen so anders, wie ein normales Leben für Gefangene. Aber immerhin wissen viele Gefangene, daß sie fliehen, aus ihren Zellen ausbrechen wollen. Die in der Verrücktheit der Normalität gefangenen Normalen fühlen nicht ihre Gefangenheit und tödliche Isolation. Die Menschen sehen nicht der Realität ins Auge, daß sie ihr Leben langsam in die Hände nicht existierender Gefängniswärter legen.

 

Hier und Da  

Was in der Feeling Therapie geschieht, ist sehr einfach — wir verhelfen den Menschen zu einem lebendigen, gefühlteren Leben. Wir nennen dies eine transformative Therapie, nicht weil es so etwas Großartiges ist, sondern weil es so grundlegend ist. 

Fühlen ist nichts Besonderes oder Außergewöhnliches; es ist alltäglich und gewöhnlich. Menschen, die ohne Durcheinander­bringen aufwachsen, brauchen überhaupt keine Therapie. Wir geben dem Einzelnen nichts. Wir bringen ihn lediglich zu dem zurück, was er einmal hatte — vollständige Gefühle. Therapeuten sind keine besonderen Menschen, genauso wenig wie Patienten, die die Feeling Therapie erleben. Sie sind sie selbst in der ganz gewöhnlichen Alltagswelt.

Was also bringt die Therapie den Menschen im Endeffekt? Was heißt es, ein fühlender Mensch zu sein? Ein fühlender Mensch, ist frei und in sich ruhend, ein menschliches Wesen, das verletzt und geliebt werden kann. Viele Menschen kommen mit anderen Erwartungen in die Therapie. Sie wollen ihren Körper verlassen und sich von der Herrschaft ihrer Gefühle befreien. Sie wollen ihre Wunschträume und Ideale ausleben. Sie wollen bestimmte Gefühle, die unangenehmen, loswerden und die restlichen, die angenehmen, behalten.

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Gefühle sind nicht woanders; sie sind hier, in der Alltagswelt von Menschen, von Freud und Leid, von Leben und Tod. Eigenartig ist nur, daß sehr wenige Menschen in dieser Welt leben. Vielmehr leben sie aus dem Kopf heraus. Das Durcheinander ihrer Gefühle treibt sie zu verzweifelten Bemühungen, von der Welt unabhängig zu werden. Die meisten Menschen fürchten ihre eigenen Gefühle. Sie sind aus sich, neben sich, über sich oder unter sich — überall, nur nicht in sich. 

"Integration" bedeutet in sich ein Ganzes bilden. Ein emotional durcheinandergeratener Mensch ist weder in sich noch bildet er ein Ganzes. Er hat Löcher und Risse, aus denen er heraus kann, weg von seinen Gefühlen, hinein in Wunschdenken und Symbolhaftigkeit.2) 

Viele metaphysische und theoretische Probleme haben wir in diesem Buch nicht besprochen. Man stellt uns in Seminaren oftmals Fragen, deren Antworten wir schuldig bleiben: "Was halten Sie von übersinnlichen Erlebnissen?" — "Gibt es ein Leben nach dem Tode?" — "Was ist mit Gott und Transzendenz?" — Die Menschen glauben, mit Gegenwartsproblemen besser fertig werden zu können, wenn sie Antworten auf letzte Fragen hätten. Es ist genau umgekehrt — die Antworten auf letzte Fragen liegen in der persönlichen Gegenwärtigkeit. Wenn jemand einfach, klar und direkt bleibt, braucht er zu vielen Fragen nichts zu sagen. Die lebenden Antworten, die ihm seine Gefühle geben, werden ihm den Weg weisen.

Man fragt uns auch immer wieder, ob in der Feeling Therapie bestimmte Vorschriften oder Wie-lebt-man-gefühlvoll-Programme einzuhalten seien. Wir können auf solche Fragen keine Antworten geben. Abgesehen von kurzfristigen Übungen, um mehr zu fühlen, gibt es in der Feeling Therapie keinerlei Rituale. Rituelle Übungen sind am gefährlichsten, wenn sie am wirksamsten sind. Zweimal täglich Meditation, Gebete, heilige Arbeit, Diätvorschriften — all dies lenkt von den einfachen Lebensimpulsen und Lebensbedeutungen ab; es sind Zwänge. Rituelle Übungen sind selbst auferlegter Zwang, damit man nichts mehr selbst tun muß. Dadurch, daß sich die Menschen hinter Vorschriften verschanzen, riskieren sie nicht, das zu tun, was sie innerlich wirklich wissen; stattdessen warten sie wie emotional durcheinander­gebrachte Kinder darauf, erwachsen zu werden.

Fühlen hängt mit Weisheit zusammen. Die Suche nach Weisheit und innerem Wissen, ist in Wirklichkeit eine Suche nach Gefühlen. Gefühle indes können nicht gefunden werden, sie können nur gelebt werden. Ganz gleich, ob man auf der Suche nach dem Weisen Alten Mann oder dem Großen Geist ist, die Suche ist dann zu Ende, wenn man entdeckt, daß er nur das weiß, was man selbst weiß, nicht mehr und nicht weniger.

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Verkörperung ist Beweis  

In Psychotherapien geht es letztlich darum, jemanden mit irgendeiner Quelle von Wahrheit in Berührung zu bringen, die ihm ermöglicht, ein "weises und gesundes"3) Leben zu führen. Aus diesem Grunde muß sich eine transformative Psychotherapie in erster Linie mit Gefühlen befassen. Im Oxford Universal Dictionary4) wird "Fühlen" definiert als die "allgemeine Wahrnehmung des Körpers, unterscheidbar von spezifischen Sinnesempfindungen; der Zustand emotionalen Beteiligtseins; Empfänglichkeit für höhere Emotionen; und lustvolle oder schmerzhafte Bewußtheit". 

Unsere Konzeption von Fühlen schließt sämtliche dieser Bedeutungen mit ein. Darüber hinaus ziehen wir eine wesentliche Schlußfolgerung aus der Tatsache, daß sich das Wort "fühlen" vom Lateinischen "palma" herleitet, was soviel heißt wie "Handfläche" oder "Hand". Dies verdeutlicht den direkten Zusammenhang zwischen der eigentlichen Bedeutung des Wortes und der Konnotationen "Kontakt", "Berührung" und "Verbindung suchen".

Jemand, der fühlt, ist in Berührung; er nimmt Kontakt auf und kann aus dem In-sich-Sein Verbindungen knüpfen. Dies geschieht aber nur dann glaubwürdig und echt, wenn er die Wahrheit, die er kennt, verkörpert. Ein Feeling Therapeut muß mehr haben als Theorie und richtige Antworten — er muß sein, was er sagt. Ist er es nicht, kann er anderen nicht helfen, aus dem In-sich-Sein heraus zu leben. Darin liegt der grundlegende Unterschied zwischen wissenschaftlicher Psychologie und transformativer Psychotherapie — ein Sozialpsychologe braucht nicht sozial zu sein, um soziale Interaktionen wissenschaftlich zu untersuchen, ebenso wenig muß ein Lernpsychologe selbst gut lernen; aber es ist entscheidend, daß ein Therapeut in der Feeling Therapie all das lebt, was er sagt. 

Das ist der Unterschied zwischen theoretischem Wissen und verkörpertem Wissen. Es ist auch der Unter­schied zwischen hervorlockender Wahrheit und experimenteller Wahrheit. Die experimentelle Psychologie betrachtet als wahr, was mehrere Untersucher übereinstimmend bestätigen können. Die transformative Psychotherapie betrachtet als wahr, was jemand aus seinen Gefühlen heraus lebt. 

 

Die Gefühlsbrücke  

Fühlen ist ein integrativer Prozeß zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Individuum und Individuum, zwischen dieser Zeit und jener Zeit, zwischen Symbol und Sinn, zwischen Wahrnehmung und Ausdruck. Neurophysiologisch ausgedrückt ist Fühlen ein integrativer Prozeß zwischen höheren und niedrigeren Gehirnzentren, zwischen Mittelhirn und Kortex, zwischen zentralem und autonomem Nervensystem.

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In unserer Kultur blicken die in die Bildung Eingeweihten herablassend auf das Gefühl und ziehen das Denken vor. Sie bemühen sich, zu wissen, rational zu sein, recht zu haben, genau zu sein. Sie definieren emotionale Reife in Begriffen von Kontrolle und Unterdrückung statt als Bewußtheit und Ausdruck. Dieses sind falsche Konzepte. Wir sind nicht deshalb höher entwickelte Lebewesen, weil wir denken können, sondern weil wir nicht-mechanistisch denken — mit anderen Worten, weil wir intuitiv, fühlend und ausdrucks­voll zu denken vermögen.

Es ist schwierig, über Gefühle so zu reden, daß es nicht wie eine Predigt klingt. Wenn aber Wissen­schaft­ler und selbsternannte Wissensverwalter5) dogmatische Ansichten in die Welt setzen, wie etwa "Der freie Wille bedeutet einfach die Kontrolle des Verhaltens durch Denken", dann ist es verlockend, von der Rednerbühne der Gegenseite Gegendogmen zu verkünden wie "Der freie Wille bedeutet unmittelbares Leben aus vollständigen Gefühlen". Solche Gegendogmen sind selbstverständlich ebenso unsinnig wie die Dogmen der anderen Seite. Das Leben wird nicht durch äußeres Wissen geordnet; einzig und allein der gefühlte und verfolgte Impuls ist eine zuverlässige und dauerhafte Richtschnur. 

 

   Der Prozeß des Fühlens   

 

Glauben heißt hoffen, daß das, was man nicht fühlt, wahr ist. Anteilnahme heißt, mit einer anderen Person jeden Augenblick aus meinen Gefühlen heraus zusammensein. Da wir Lebewesen sind, die die Unwahrheit denken können, sind wir in der Lage, Lügen zu leben. Menschen können ihr ganzes Leben lang an die bizarresten Verrücktheiten glauben, beispielsweise: "Ich bin ein sexuelles Wesen, auch wenn ich von meiner Sexualität keinen Gebrauch mache". Überzeugungen sind akzeptierbare Lügen, die gelebt werden. Jedem ist bei negativen Projektionen und Wahnvorstellungen unbehaglich zumute, positive Projektionen und Wahnvorstellungen dagegen werden tatsächlich gefördert. 

Die schwierigsten Patienten in unserer Therapie sind diejenigen, die "gute Ansichten" und "gute Selbst­konzepte" haben, jemand, der sich in positiven Projektionen und Wahnvorstellungen einhüllt, wird jede Veränderung auf die Wirklichkeit hin als einen Verlust empfinden — er muß etwas Gutes aufgeben:

"Was tust du mir an?"
"Warum willst du mir das nehmen?"
"Warum willst du, daß ich mich schlecht fühle?"
"Warum nimmst du mir, woran ich glaube?"
"Warum nimmst du mir den einzigen Menschen, den ich liebe?"

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Dies ist ein Grund, warum die Feelingtherapie in der Praxis so ganz und gar unbegreiflich ist. Wenn sie jemand begreifen kann, wird er für den Therapeuten das Richtige tun und dann sich selbst bestätigen, daß er "es" versucht habe, aber "es klappt nicht".

Ein Patient, der in eine Feeling-Gruppe kam, ohne etwas zu haben, über das er gern geredet hätte, wurde aufgefordert, draußen im Regen einen Spaziergang zu machen. Als er zurückkam, sagte er:

P:  Ich verstehe nie, was du tust — ich kann es mir nicht erklären.
T:  Ja, das stimmt — du wirst es auch nie können, Kevin. Es gibt nichts zu erklären. Ich bin einfach da. Du bist nicht da, weil du versuchst, mich zu begreifen, anstatt selbst zu reden.
P:  Ich weiß nicht, was du von mir willst.
T:  Ich will gar nichts von dir; du mußt selbst wollen.

Niemand kann vorhersagen, was ein Therapeut in der Feelingtherapie tun wird — jede Sitzung ist in ihrem Ablauf herrlich unvorhersagbar.

 

Während einer abendlichen Feeling-Gruppe wurde ein Patient aufgefordert, dem Geräusch der Klimaanlage zuzuhören; ein anderer lief mit den Worten durch die Räume: "Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und habe nichts Gutes verdient"; wieder ein anderer Patient wurde von den Therapeuten links liegengelassen; ein nächster Patient wurde fest umarmt, und ihm wurde beigebracht, seinen Freund zu umarmen; ein weiterer wurde aufgefordert, nach Hause zu gehen; einem anderen wurde geholfen, die Schwäche in seinen Beinen zu spüren: "Ich kann nicht für mich selber einstehen"; einer Patientin wurde geholfen, zu fühlen, wie es sie durcheinandergebracht hat, nie eine Mutter gehabt zu haben, die sie ein Mädchen sein ließ: "Ich möchte doch nur ein Mädchen sein. Ich möchte all das, was Mädchen haben."; ein Patient spürte, wie schmerzhaft es ist, niemals zu spielen; eine andere Patientin fühlte, wie weh es tut, kein Gefühl aus ihrem Innern äußern zu können, in Rollen gefangen zu sein, die nicht mehr befriedigend sind. 

Sechzehn Patienten und fünfzehn Therapeuten befanden sich in dieser Gruppe — einunddreißig verschiedene Leben in Bewegung. Ein solcher Abend wird sich in dieser Form nie wiederholen. Die Gefühle, die der Einzelne fühlte oder nicht fühlte, werden kein zweites Mal auftreten. Was die Therapeuten taten und die Patienten fühlten, wird nie wieder getan oder gefühlt werden. Die Therapie ist unvorhersagbar, weil das Leben unvorhersagbar ist. Nur Abwehrmechanismen und Verrücktheit folgen starren Schablonen. 

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Zum Glück sind die Menschen nie grundsätzlich verrückt — sie tragen in sich unvorher­sagbare unbekannte Wege zum Gesundwerden. Man kann nicht verrückt sein, ohne vorher einmal gesund gewesen zu sein, da Verrücktheit eine Form der Umbiegung dessen ist, was man ist. Vernünftig verrückt zu bleiben heißt, sich aus der Unvorhersagbarkeit des eigenen Gefühlslebens in die vorhersagbare Verrücktheit von Überzeugungen zu begeben.

 

  Lieben  

 

Die Therapie gibt jedem von uns das, was wir verloren haben. Wir gewinnen die Kraft, ein Leben des Nicht-Fühlens in eines des Fühlens zu transformieren. Das bedeutet, daß wir die Liebe am Leben, die in uns ist, wiedergewinnen. Die Fähigkeit, intensiv zu fühlen, gibt uns die Möglichkeit, liebevoll zu werden. Die Erde könnte zu einem Ort werden, an dem liebende Menschen leben und ihr Leben miteinander teilen. Lieben ist nicht irgendeine elektrische Science-Fiction-Verschmelzung, sondern etwas in und zwischen Menschen, die sich selbst fühlen und das, was sie fühlen, teilen. Die Tiefe ihres eigenen Fühlens steigert das Lieben, das als Bestandteil der sozialen Gruppe erfahren werden kann.

Lieben ist einfach das Erleben des Sich-Selbst-Fühlens. Da dieses Sich-Selbst-Fühlen ein solch seltenes Erlebnis ist, wird Liebe in unserer Kultur als ein schicksalhaftes Geschehen romantisiert, das es nur einmal im Leben oder nur im Film gibt.

Jeder, der seine eigenen Gefühle fühlt, wird liebevoll. Er denkt nicht, daß er liebevoll ist. Eine besondere Art von Sanftheit, Nähe und Offenheit gibt ihm die Freiheit, direkt und klar erlebt zu werden .und die Menschen in seiner Umgebung zu erleben.

In dem Maße, in dem das Fühlen stärker wird, wächst auch eine ganz natürliche Liebe. Ein liebender Mensch versteht Verrücktheit und Lebensängste, aber er akzeptiert sie nicht. Liebe verlangt Veränderung vom Nichtfühlen zum Fühlen, denn nur dann wächst und überlebt sie. Ohne kontinuierliche Transformation geht die Kraft von Gefühlen unter dem Druck der gefühllosen Gesellschaft verloren. Nur freundlich und warmherzig zu sein, reicht nicht aus. Wir brauchen uns gegenseitig, um uns zu helfen, um uns zu verändern, um uns immer mehr Leben zu geben.

Die Wahl, zum Fühlen vorzudringen, ist ein Prozeß, der nicht ritualisiert werden kann, weil für jeden in jedem Augenblick die Form, die sein Leben annehmen wird, gänzlich unbekannt ist.

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   Kompromisse versus Transformation   

 

In diesem Buch ist von Transformation die Rede gewesen. Die Feeling-Therapie unterscheidet sich von anderen Therapien darin, daß sie kein endgültiges Ende hat, keinen Punkt, an dem man ankommen und sagen kann: "Ich habe es geschafft". Diejenigen, die sich dafür entscheiden, in die unterschiedlichen Ebenen der Therapie eingeführt zu werden, gelangen allmählich vom Nichtfühlen zum Fühlen, von ein paar Gefühlen zu mehr Gefühlen, von Verschlossenheit zu Offenheit in der therapeutischen Gemeinschaft. Es ist ein Öffnungsprozeß, bei dem jeder den Schmerz, die Verrücktheit und Verletzbarkeit in sich und anderen kennenlernt.

Die Entscheidung für ein nicht endendes Erleben bedeutet, sich von allem zu trennen, was bekannt ist oder bekannt war, und sich Gefühlen anzuvertrauen, auch wenn man ein bequemes Leben in der Verrücktheit und Sicherheit von Kompromissen führen könnte. Sie bedeutet, daß das Individuum sich und seinen Mitmenschen verbietet, für lange Zeit hinter dem grauen Vorhang einer unausgesprochenen und ungefühlten, fragmentarischen Realität zu verschwinden. Durch die Wertschätzung der eigenen Gefühle verändert das Individuum seine Umgebung. Transformation heißt verändern und Veränderung fordern.

Das Ausmaß der jeweiligen Transformation wird von der Bereitschaft des Betreffenden zur Veränderung der gesamten therapeutischen Gemeinschaft begrenzt. Die Transformation eines Einzelnen ist nicht zu trennen von der Transformation, die er für seine Mitmenschen erstrebt. Jeder schafft sich ein Leben, in dem er die Phänomene des Lebens in sich vollkommen entfalten kann. 

 

  Das Angenehme der Transformation  

Wir haben von furchterweckenden Erlebnissen gesprochen und von Patienten, die fortlaufen. Furcht besteht nicht nur vor Desintegration, sondern auch vor dem, was danach kommt. Das Angenehme der Transformation ist für einen verschlossenen Organismus bedrohlich.

Transformation heißt, daß der Einzelne zu jemandem wird, der anders ist, als der, der er gewesen zu sein glaubte. Er verändert und dehnt sich kontinuierlich aus. Ständig steht er am Rande des Bekannten und marschiert geradewegs ins eigene Unbekannte. Er lebt in einem Land ohne Träume, ohne Phantasien, ohne Mythen und Helden, einem Land vollkommener und totaler Partizipation an einem Leben, das in ihm selbst und bei seinen Freunden ist.

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Wir haben bereits erörtert, was die Menschen durcheinander bringt und wie sie verrückt werden. Jemand wird verrückt, weil sein lustvoller Ausdruck von Gefühl blockiert und in körperliche Verspannungen und verworrene Ansichten umgewandelt werden. Transformation ist der umgekehrte Prozeß. Die Transformation wird zu einem lustvollen Vorgang, weil wir Fühlung mit den ursprünglichen lustvollen Impulsen aufnehmen, die unseren Kontakt zum Leben aufrechterhalten.

 

   Die Konsequenzen der Transformation   

Das Problem der Transformation existiert für diejenigen, die sich für ihre intensivste Gefühlsebene entscheiden. Sie stellen fest, daß sie über Therapie, Einsicht und Überzeugungen hinausgehen — nicht weit weg und jenseits, sondern innerlich jenseits. Sie begegnen einer vollkommen unbekannten Welt. Dieses Unbekannte ist kein bestimmter Bereich, sondern ein Zustand von Wissen, fern von Vorstellungen und Überzeugungen, eine Gefühlsgewißheit, die gelebt wird.

 

   Die Freiheit, zu sein  

Wir haben in diesem Buch über das Verrücktsein von Menschen gesprochen. Damit meinen wir, am Hergebrachten und Bekannten festhalten, überleben und im Kopf glauben, was man über sich und sein Leben erzählt. Die Menschen haben Angst vor mehr — Angst, sich zu verändern, Angst, aufzuhören, sich verrückt zu verhalten, Angst, den Weg zum Fühlen einzuschlagen, Angst, zu sein.

Die Feeling-Therapie befreit niemanden von solchen Ängsten. Sie ist lediglich der Ort, an dem sich Menschen treffen, die bereit sind, sich gegenseitig durchs Leben zu helfen, damit das Leben gelebt und nicht erwartet wird.

Wenn die Menschen die Freiheit, zu sein, wiedergewonnen haben, räumen sie anderen die Freiheit ein, zu sein. Ohne ihre eigene Freiheit behandeln sie andere als weniger oder mehr statt als gleich — sie behandeln Kinder als weniger oder mehr statt als Kinder, Tiere als weniger statt als Lebewesen und Natur als ihre Natur, die sie formen und verändern können. Freiheit, zu sein, bedeutet aus dem Leben heraus auf das Leben antworten. Alle Aspekte des Lebens sind genauso real wie Gefühle.6)

Leben und Tod  

In gewisser Beziehung könnte die Feeling Therapie als Meta-Analyse bezeichnet werden. Freud hat in den späten Jahren seiner Psychoanalyse eine psychoanalytische Meta-Theorie7) über Thanatos und Eros als den beiden Grundimpulsen entwickelt — der "Todestrieb" und der "Lebenstrieb". 

Diese Meta-Theorie hat in der psychoanalytischen Praxis nie Beachtung gefunden; sie blieb eine Kuriosität, etwas, was zwar theoretisch interessant und diskutierbar, ansonsten aber weitgehend unbrauchbar ist. Die Kliniker schenkten Freuds späten Theorien keine Beachtung, weil sie im Rahmen der frühen Struktur- und Entwicklungskonzepte keine Bedeutung hatte.

Todes- und Lebenstrieb gewinnen erst auf der Ebene des gefühlten Augenblicks Bedeutung. Da Freud bei der Formulierung seiner Überlegungen biologische und soziologische Systeme vor Augen hatte, wurde ihm die wahre Bedeutung seiner Annahmen, niemals ganz klar. Der Todestrieb ist kein Trieb, sondern ein Ausbleiben der Wahl, ein Abgleiten aus der Welt des Fühlens in die Welt des Nicht-Fühlens. Der Lebenstrieb ist kein Trieb, sondern ein Impuls, der Grundimpuls, sich zum Fühlen hinzubewegen. Abfinden mit Nicht-Fühlen bedeutet Tod; sich zum Fühlen hinzubewegen, bedeutet Leben.

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Ende

 

 

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