Start    Weiter

   Teil 1     Die Traummacher-Tradition 

 

1. Der Durchbruchtraum

 

15

Es war eine Zeit der Krise. Die Leute riefen nach Taten, "Tut was! Tut was!" Aber Tarachiwa, der Irokesen­schamane, tat nichts. Er saß allein in einem Unterschlupf aus Zweigen, den er sich tief im Wald gebaut hatte. Im Dorf rannten die Männer umher, schmiedeten Pläne, änderten Pläne und stritten miteinander.

Tarachiwa hörte nichts von diesen Auseinandersetzungen. Er schlief. Welch eine seltsame Art, einer Krise zu begegnen! Tarachiwa war schon anderen Krisen auf diese Art und Weise entgegengetreten, er vertraute auf seine Träume. Vier Winter zuvor hatte er geträumt, wie und wo man eine Elchjagd veranstalten sollte, und der Stamm hatte den langen, strengen Winter aufgrund des Erfolgs von Tarachiwas Jagd überlebt. Gerade im letzten Sommer hatte er von einer neuen Art Fallen zu bauen geträumt, und jetzt benutzten fast alle Jäger des Stammes die Methode, die er im Traum gelernt hatte.

Aber diese Krise war anders. Fremde Männer waren gekommen. Sie trugen lange, schwarze Gewänder und sprachen von einem neuen Gott namens Jesus. Sie forderten die Leute auf, ihre alten Wege zu verlassen. Es kamen weiße Soldaten mit Gewehren, um die Männer mit den schwarzen Gewändern zu schützen.

Einige Leute des Stammes wollten all die "Schwarzgewandeten" töten; andere fühlten sich zu dem neuen Gott Jesus hingezogen. Tarachiwa selbst sagte wenig bei den Versammlungen. Er wartete darauf, daß die Worte aus seinem tiefen Inneren emporstiegen.

In jener Nacht träumte Tarachiwa. In seinem Traum erschien der Traummacher in Gestalt einer schwarzen Krähe und sagte: "Mach dir keine Sorgen. Die Weißen können dein Volk nicht überzeugen. Ihre Worte haben keine Kraft. Aber tut ihnen nichts, sonst werden die Gewehre ihrer Soldaten viele von euch töten."

Am nächsten Tag sprach Tarachiwa in der Versammlung und erzählte allen Häuptlingen und seinem Volk seinen Traum. Nach langem Reden entschieden sie sich, Tarachiwas Traum zu befolgen. Von da an ließen die Indianerstämme die Missionare zufrieden, aber sie wurden keine Christen. Sie befolgten weiterhin ihre alten Lehren und hörten auf ihre eigenen Schamanen.

 # 

Historische Dokumente belegen, daß selbst nach 125 Jahren die Jesuiten die Irokesen noch nicht bekehrt hatten und sie nicht dazu bringen konnten, ihre Traumpraktiken aufzugeben. Der Geist der Traummacher-Tradition wird in diesem indianischen Lied deutlich:

Schlaf! Schlaf!  
Im Land der Träume  
Finde dein erwachsenes Selbst  
Deine zukünftige Familie  
Schlaf! Schlaf!  

Diese Traummacher-Tradition ist in der heutigen Zeit nicht mehr fortgesetzt worden, denn die meisten Leute heuzutage würden es sehr merkwürdig finden, wenn man ihnen sagte, sie könnten ihr "erwachsenes Selbst" im "Land der Träume" finden. In unserer modernen Gesellschaft gibt es keine allgemein verbreiteten Richtlinien für Träume oder die Nutzung von Träumen. Wenn Gruppen Entscheidungen treffen müssen, so werden sie sicherlich nicht ihre Träume befragen.

Anstatt den Lehrern in ihrem Inneren, ihren eigenen Lehrern, zu folgen, wenden sich die Leute zunehmend fremden Lehrern zu und übernehmen Glaubensvorstellungen von außen. Oftmals, wenn diese Vorstellungen sie nicht mehr überzeugen, denken sie nach und fragen sich, warum sie enttäuscht sind. Die meisten Leute sind letztlich von neuen Methoden und neuen Führern enttäuscht, weil diese sie nicht zu tiefen, innerlich empfundenen Veränderungen fuhren. Wenn jemand Durchbruchträume hat und sein Traummacher-Bewußtsein erlangt, dann muß er sich von innen heraus ändern.

16


Die Wiederentdeckung der Traummacher-Methode 

 

Bevor wir die Geschichte unserer eigenen Durchbruchträume erzählen, werden wir einige der Grundideen, die schließlich aus unseren Entdeckungen hervorwuchsen, zusammenfassen. Das bedeutet natürlich, das Pferd von hinten aufzuzäumen; erst wurden die Entdeckungen gemacht, die Etiketten und Ideen kamen später. Aber diesmal ist es besser, hinten anzufangen, denn es wird Ihnen helfen, unsere Geschichte besser zu verstehen, weil Sie dann zumindest eine grobe Vorstellung davon haben, wie anders und revolutionär Durchbruchträume wirklich sind.

Wir haben uns nicht eines Tages hingesetzt und uns die Traummacher-Methode ausgedacht, sondern es kam so: 1971 gründeten ein paar von uns (acht Psychotherapeuten, eine Frau und sieben Männer) ein neues Psychotherapie-Institut, wo wir zusammen arbeiten und eine neue Therapieform ausprobieren konnten. Als wir anfingen, hatten wir keine klaren Vorstellungen, was wir tun wollten und warum wir manches anders machten. Wir experimentierten miteinander und gaben dann allmählich die Erfahrungen und Einsichten an unsere Patienten weiter.

Zurückblickend können wir sagen, daß wir uns in erster Linie dadurch von anderen Psychotherapeuten unterschieden, daß wir weiterhin Patienten blieben. Das war ungewöhnlich: Alle unsere Therapeuten nahmen weiterhin an wöchentlichen Therapiesitzungen teil, wo wir uns gegenseitig unterstützten und die traditionellen Rollen von Patient und Therapeut ablegten. Außerdem hatten wir alle zusammen regelmäßige, wöchentliche Gruppensitzungen.

Als wir all die Theorien und den psychologischen Hokus-Pokus über Bord warfen, entdeckten wir, daß es in Wirklichkeit nicht darauf ankam, was jemand zu tun versuchte, sondern darauf, wer er oder sie war. Es war eine radikale Neuheit, daß wir weiterhin Hilfe bekamen und uns weiter veränderten. Wir gingen über die reine Reparatur hinaus — wir hörten auf, an Krankheit zu glauben und fingen an, unseren Patienten zu zeigen, wie sie ihr Leben umgestalten konnten.

17


Der Durchbruchtraum 

 

Hin und wieder, als wir uns weiterhin gegenseitig unterstützten, hatten wir Träume, die anders waren als alle, die wir je erlebt oder über die wir je gelesen hatten. Diese Träume bedurften keiner Interpretation. Sie waren keine symbolischen, verschlüsselten Botschaften aus dem Unterbewußtsein, die entschlüsselt werden mußten.

Ohne es zu wissen, hatten wir eine andere Art des Träumens entdeckt — diejenige, die etwas bewirkt; normale Träume bewirken nichts. Die zwei Traumarten sind: (1.) Normale Träume, die einer Interpretation bedürfen. Sie sind gewöhnlich passiv und voller Beklemmung. Sie bewirken nichts. Und (2.) Durchbruchträume, die keiner Deutung bedürfen. Der Traum berührt den Träumer und lehrt ihn direkt etwas über sein Leben.

Allmählich begann diese neue Art von Träumen uns etwas über Träume im allgemeinen und über unser Leben zu lehren. Langsam lernten wir, daß das, was jeder für das Unbewußte hielt, lediglich ein Topf voller nicht ausgedrückter Gefühle aus der Gegenwart und Vergangenheit war. Wir stellten fest, daß wir nachts andere Träume haben konnten, wenn wir tagsüber in der Lage waren, bewußt genug zu bleiben, um alle unsere Gefühle auszudrücken.

Schließlich nannten wir diese neue Art von Träumen Durchbruchträume, denn sie waren ein direkter Durch­bruch zwischen dem Unbewußten und dem Bewußten. In einem Durchbruchtraum ist der Träumer bewußt und in der Lage, alle Gefühle klar auszudrücken. Klingt einfach — ist es aber nicht. Es ist etwas Grundlegendes, aber nichts Simples.

Traumpsychologen haben zehntausende von "normalen" Träumen gesammelt und klassifiziert. Aus diesen Sammlungen schließen sie, daß der normale Traum in der Regel passiv, angstbesetzt und etwas unangenehm ist. Gewöhnlich ist sich der normale Träumer nicht bewußt, daß er gerade träumt. Er ist in seinen Träumen nicht aktiv und drückt Gefühle nicht aus; oft ist er lediglich Beobachter. Die Gefühls­intensität ist in normalen Träumen gewöhnlich gering und oft gibt es eine "Grauzone" zwischen Wirklichkeit und Phantasie.

18


Der Durchbruchtraum unterscheidet sich deutlich von normalen Träumen und läßt alle anderen Arten von Träumen verständlich werden. Hier ist ein Durchbruchtraum von einem unserer Mitarbeiter:

"Ich schwebte an einem Fallschirm hinunter auf eine schöne Insel im Südpazifik. Während ich langsam hinabsank, wußte ich, daß ich träumte, und ich wußte, daß die Eingeborenen auf der Insel mich als Gott verehren würden; sie hatten eine Mythologie, die prophezeite, daß jemand vom Himmel kommen und sie führen würde. Darum wußte ich, daß ich fast alles von ihnen bekommen könnte, was ich wollte. Ich wußte auch, daß sie eine fast vollkommene Kultur waren. Sie waren körperlich schön, liebevoll und frei von Gewalt und Kriminalität. 

Ich wußte, sie brauchten nur noch eine Sache, um ihr Leben perfekt zu machen, und ich würde sie ihnen bringen. Dann ging ich vom Strand, wo ich gelandet war, hinauf zu ihrem Dorf. Sie rannten mir alle entgegen, und ich konnte sehen, wie stark und schön sie waren. Ich sah, wie sie mir zuwinkten, und ich winkte zurück. Ich merkte, daß ich mich gut fühlen konnte, weil sie glaubten, ich sei gut und mächtig. Dann versammelten wir uns im Dorf um ein Lagerfeuer. Plötzlich erkannte ich, was ich hatte, das ich ihnen geben konnte. Es war das letzte entscheidende Wissen, auf das sie gewartet hatten, und ich hatte es. Allein schon zu wissen, was ich gleich sagen würde, bewegte mich. Ich konnte deutlich in mir spüren, wie ich das falsche Bild, das sie von mir hatten, aufgab. Als ich es aufgab, spürte ich mehr und mehr Gefühle von Kraft und Traurigkeit in mir. 

"Es gibt keine Führer", das war es, was ich ihnen sagte. Ich fühlte mich ihnen plötzlich viel näher. Ich spürte ein Gefühl der Erleichterung durch meinen Körper gehen. Ich hatte Freunde in meinem Leben, anstatt allein zu sein. Ich begann zu weinen und sagte ihnen, wie glücklich ich war, dort zu sein. Als ich genauer hinsah, sah ich, daß sie in Wirklichkeit meine Freunde waren — Steve, Carole, Riggs, Joe, Dominic, Jerry, Werner — und sie waren alle um mich herum versammelt."  

19


Man beachte, daß dieser Traum eine Anzahl von Eigenarten hat, die ihn von einem gewöhnlichen Traum unterscheiden. Erstens: der Träumer ist sich bewußt, daß er träumt. Zweitens: der Traum ist voller Gefühle. Drittens: der Träumer drückt seine Gefühle voll aus. Und viertens: der Traum bewegt sich von einer symbolischen, nicht realen Form zu einer realen Darstellung vom Leben des Träumers mit seinen Freunden.

Diese Merkmale sind deutliche Kennzeichen eines Durchbruchtraums. Sie sind immer dann vorhanden, wenn der natürliche Prozeß des Fühlens im Traum bis zum Äußersten gebracht wird.

Die vier Merkmale, die wir erkannt haben, sind die Mechanismen des Traummacher-Prozesses. (Im weiteren Verlauf dieses Buches werden wir zeigen, wie man mit Hilfe dieser dynamischen Prozesse seine Träume einschätzen und mit ihnen arbeiten kann.)

Die klassische psychoanalytische Theorie vertritt die Ansicht, daß Träume verdeckte Wunscherfüllungen sind. Freud postulierte die Existenz eines Traumarbeitsmechanismus oder Zensors, um sehr starke, sozial nicht akzeptierbare Wünsche (meist sexueller Natur) in nicht unmittelbar verständliche, symbolische Bilder umzuwandeln.

Aus unseren Versuchen, uns all unsere Gefühle und Träume mitzuteilen, lernten wir, daß der zensierende Prozeß ein sekundärer Prozeß ist. Es ist sicher wahr, daß die Menschen lernen, ihre Wünsche und andere Gefühle zu maskieren und zurückzuhalten. Aber es ist genauso wahr, daß Menschen einen natürlichen Impuls haben, Gefühle vollständig und offen auszudrücken. Kurz gesagt, es gibt eine grundlegende Kraft, im Wachen und im Träumen, die zu voller Bewußtheit drängt. Diese nennen wir den Traummacher-Prozeß.

Wenn der Traummacher-Prozeß die Oberhand gewinnt, dann werden symbolische, verworrene und zensierte Träume in direkte, klare und ausdrucksvolle Träume umgewandelt — in Durchbruchträume. Diese neuen Träume geben einen unmittel spürbaren Hinweis darauf, wie das Wachen, und Träumen sein kann. Durchbruch­träume verknüpfen den Realismus und die Selbstkontrolle des Wachbewußtseins mit der emotionalen Energie des Traumbewußtseins.

20


Der Traummacher 

 

An manchen Stellen in diesem Buch werden wir den Traummacher-Prozeß personifizieren und von "dem Traummacher" reden. Natürlich glauben wir nicht an einen Traummacher, der ähnlich wie ein Sandmann in unseren Köpfen existiert, um uns Träume zu bringen. Ebensowenig glaubte Freud, daß es einen Zensor gibt, der an der Türöffnung zum Bewußtsein steht und bestimmte Inhalte hineinläßt und andere zurückweist oder maskiert. Beide, der Traummacher und der Zensor, sind psychische Prozesse, und wir werden in diesem Buch detailliert erklären, wie der Traummacher-Prozeß funktioniert.

Manchmal ist es jedoch sinnvoll, über den Traummacher zu reden, als sei er eine Person oder eine Kraft. (Der Einfachheit halber werden wir von jetzt an den Traummacher auch einfach "er" nennen.) Der Nutzen dieser mythischen Ausdrucksweise liegt darin, daß sie dem entspricht, wie wir Träume erleben, insbesondere die sehr intensiven.

Jeder weiß, wie fremd und außerhalb unserer Selbstkontrolle Alpträume zu sein scheinen. Oft haben wir das Gefühl, als seien wir von einer äußeren Macht oder einem äußeren Wesen befallen. Was "uns befallen" hat, ist in Wirklichkeit aber etwas, das wir bereits in uns haben — die Schubkraft in Richtung Realität, die mit unserer angelernten Verhaltensweise, wirkliche Gefühle zu vermeiden, in Konflikt gerät. Der Durchbruch­traum bedeutet den Sieg des mächtigen Dranges zu vollem und klarem Ausdruck der Gefühle über die Angewohnheit ihrer Unterdrückung.

Nachdem wir mehrere Jahre lang Durchbruchträume erlebt hatten, waren wir in der Lage zu beschreiben, was in Träumen passiert und konnten anfangen, unseren Patienten beizubringen, ihre Träume auf neue Art und Weise zu nutzen. Auch fingen wir an, den Nutzen dieser Traummacher-Methode über die Grenzen der Psychotherapie hinaus auszudehnen.

Wir erheben den Anspruch in diesem Buch, eine revolutionäre Methode gefunden zu haben, Träume und Gefühle für sich arbeiten zu lassen. Sie werden darüber lesen, wie eine Gruppe von Menschen sich veränderte, wie sie die Menschen um sich herum änderte und wie auch Sie sich ändern können.

In der Traummacher-Tradition gibt es nichts zu glauben — es gibt nur das Wissen, das von neuen Erfahrungen herrührt. Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie mit einem neuen Bewußtsein bekannt gemacht werden — mit dem Traummacher-Bewußtsein. Der erste Schritt in Richtung dieses neuen Bewußtseins ist die Erkenntnis, ob ihre Träume für oder gegen Sie arbeiten.

Bei den meisten Leuten ist es so, daß ihre Träume und Gefühle gegen sie arbeiten. Das heißt, sie gehen mit einem Minus ins Bett und wachen morgens mit einem Minus auf. Wenn jemand einen Traum hat, der für ihr arbeitet, dann wacht er mit einem Plus auf; er fühlt sich gut und hat, bildlich gesprochen, keine Schulden zurückzuzahlen. Und wenn er aus diesem positiven Ausgangspunkt heraus lebt, hat er einen Tag voller Gefühle. Wir starten eine Revolution für die seelische Gesundheit, die Sie begreifen können., wenn Sie den Unterschied zwischen Plus und Minus kennen.

Durchbruchträume sind die natürliche, wirkungsvolle Art des Träumens, aber sie können fremd und bedrohlich erscheinen. Etwas Sonderbares geschieht mit den meisten Menschen, wenn, sie aufwachsen: sie träumen nicht mehr natürlich, sondern lernen, auf normale Art und Weise zu träumen, d.h. unreal und verworren, so wie jedermann. Nach einiger Zeit glauben die Leute dann, daß "Träume nunmal symbolisch und verworren sind." Sie müssen es nicht sein.

Wir wollen Ihnen in diesem Buch zeigen, wie Sie Ihre Träume und Gefühle so verändern können, daß sie anfangen, für Sie zu arbeiten. Dann können Sie das erlangen, was schon unsere frühesten Vorfahren kannten — Traummacher-Bewußtsein.

21-22

 

 ^^^^


www.detopia.de