Start    Weiter

6  Weitere Traummacher

  07  

 

78-100

Die Traummacher-Tradition machte Fortschritte am Institut. Was hier geschah, war bereits theoretisch von Dr. James Hillman, einem Analytiker Jungscher Richtung, beschrieben worden: "Der Mythos der Analyse wird einem neuen Mythos weichen. Vom Apollinischen zum Dionysischen, vom Rationalen zum Emotionalen, vom Individuum zur Gruppe." Es war fast, als hätte er vorhergesehen, was hier mit uns geschah. Unsere Theorien über Gefühle und unsere Praktiken im Wachen galten auch für den Schlaf und für die Träume.

Für die meisten des Teams war es nicht mehr nur Theorie; sie veränderten sich, gaben ihre alte Rolle als Arzt auf, entdeckten die Traummacher-Tradition wieder und wuchsen immer mehr zu einer Gemeinschaft zusammen.

Jerry hatte sich zu unserem Erstaunen verändert. Er nahm seine Gedanken nicht mehr so wichtig. Wie der lachende Buddha hatte er eines der schönsten Geheimnisse des Lebens gefunden. "Gedanken sind, wie auch Träume, Bilder vom Leben; nimm deine Gedanken niemals so ernst wie deine Gefühle", brachte er uns bei. Er war ein Traummacher; er wußte echte Weisheiten und gab sie weiter.

 

Steve — Die Angst vor der Freiheit  

Ganz in der Nahe von Los Angeles ist der Pazifische Ozean. Steve machte manchmal lange Spaziergänge am Strand und dachte nach. Er war einer der Therapeuten, die das Institut gegründet hatten, und doch hatte er nicht das Gefühl, sein Zuhause gefunden zu haben; er glaubte eher, es zu verlieren, hatte Angst vor der Kraft und Lebendigkeit, die er um sich herum sah, und blieb irgendwie draußen.

Wenn es eine Grundangst gibt, die jeder hat, so ist es die Angst vor der Freiheit. Steve war da keine Ausnahme. Er war in einer traditionellen jüdischen Familie aufgewachsen. Jetzt war er ein erwachsener Mann, aber irgend etwas war ihm genommen worden. Er war Psychologe und ein guter Therapeut, aber sein Leben mußte jetzt lebendiger und dynamischer werden.

Irgend etwas fehlte, als hätte man ihm etwas gestohlen. Seine Eltern gehörten nicht zu denen, die Kinder schlagen, aber wir dachten oft, er wäre vielleicht besser davongekommen, wenn sie es getan hätten. In den Jahren, in denen er heranwuchs, hatten sie ihn mit Worten geschlagen. Seine Eltern hatten einen Jungen verloren, und er hatte etwas von sich selbst verloren.

Ein schöner und lebendiger Junge war zu einer Miniaturausgabe eines Erwachsenen umgeformt worden; er hatte schon in jungen Jahren etwas von einem schwachen Vater und einer gehässigen Mutter. Stephen David — er zweifelte an sich selbst und an dem, was er erlebte. "Es ist alles zuviel für mich. Ich weiß nicht, was los ist, es geht mir alles zu schnell. Ich will gar nicht alles wissen." Und dann stotterte er. Wenn er stotterte, dann war es, als stolperte sein Leben. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken.

Joe arbeitete immer wieder mit Steve und brachte ihn aus seiner Vergangenheit bis an den Rand der Freiheit, aber er schien den entscheidenden Schritt nicht machen zu können. Die Freiheit, er selbst zu sein, war in seiner Reichweite, aber er konnte sie nicht akzeptieren. Er bewegte sich vor und zurück; mal kam er hervor und zog sich dann wieder zurück in ein Niemandsland, wo er in emotionaler Benommenheit verloren war. Er war dann nicht nur verrückt, er war verloren.

Wie so viele, die von der Freiheit in sich selbst oder bei anderen kosten, ließ auch Steve sie sich entgleiten. Das war Steves Verrücktheit.

Es war Anfang April, und wir Therapeuten waren alle zusammen zu einer vierzehntägigen Campingtour in die Wüste gefahren. Diese Zeit nahmen wir uns für uns selbst, einfach, um zusammenzusein. Nichts Besonderes — einfach nur ungestört sein.

79


Die Wüste erwärmte sich langsam nach einem kalten Winter ..... ein Ort zwischen Hitze und Kälte. Es war Nacht, und Steve lag neben Carole. Es schien, als hätte er etwas Neues in seinem Leben gefunden, er und Carole paßten zusammen. Sie unterhielten sich, ihre Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit war etwas Neues für ihn.

Als wir am nächsten Morgen zusammensaßen, Kaffee tranken und unsere Träume erzählten, kam Steve mehr als sonst aus sich heraus. Er redete selbstbewußter. Wir unterhielten uns und erzählten unsere Träume bis kurz vor Mittag. Wir wußten alle, Steve war nahe daran zu begreifen, was es heißt, ein Traummacher zu sein.

Wie ein kokettes Revuegirl machte der Traummacher Steve Hoffnungen und zog sich dann wieder zurück, ließ ihn plötzlich wieder stehen, allein mit der Entscheidung, ob er einen weiteren Schritt tun sollte oder nicht. Es war noch lange hin bis zum Sonnenuntergang. Wir packten unsere Sachen zusammen und schwangen uns auf unsere schmutzigen Motorräder. Erst gegen Sonnenuntergang hielten wir an.

Die nächtliche Wüste ist ein guter Ort für den Traummacher. Die Wüste war lebendig und konnte Angst einjagen. Wir machten ein großes Feuer und redeten. Mit unseren Motorrädern waren wir die Sanddünen hinuntergefahren und hatten viel Spaß gehabt, d.h. wir alle außer Steve. Er war verschlossen. Am Morgen war er aus sich herausgekommen und hatte sich dann wieder zurückgezogen. Er hatte diese Tour gewollt, und jetzt wünschte er, daß sie bald zu Ende ging.

Riggs und Werner sprachen darüber, wie es gewesen war, die Sanddünen hinunterzujagen. Steve war am Trübsal blasen. Wir redeten und langsam brach die Nacht herein. Steve zog sich zurück — weg vom Feuer, weg vom Reden, näher an die Nacht. Wir bemerkten es nicht.

Es war spät; Steve hatte sich hingelegt. Ein paar von uns waren noch wach und redeten, aber jetzt nicht mehr über Motorräder. Wir sprachen über die Veränderungen, die wir durchmachten und wie unsicher das Leben auf diesem rotierenden Erdball war. Wir spürten diese furchtsame Erregung, die vom Reden spät in der Nacht herrührt. Wir sprachen darüber, was es heißt, ein Traummacher zu sein.

80


Jerry kam in Fahrt. Er sprach zu Riggs, Lee und Dom. "Wenn jemand etwas Neues macht, eine neue Richtung in seinem Leben einschlägt, dann werden sich die Träume ändern. Ein Traum zeigt dir die Richtung, die dein Leben einschlagen sollte, er zeigt dir deine Widerstände dagegen und auch die Vorstellungen, mit denen du dich selber täuschst." Dom platzte heraus: "Jeder hat die Kraft, seine Träume zu machen. Wir haben nicht mehr einfach nur Träume, wir lernen, unsere Träume selber zu machen."

Wir waren sehr aufgekratzt. Es muß gegen halb drei oder drei Uhr gewesen sein, als wir ein Geräusch hörten. Wenn Sie jemals in der Wüste gecampt haben, können Sie sich sicher vorstellen, was für einen Schrecken wir kriegten. Es war ein gurgelndes Geräusch.

Riggs sprang aus seinem Stuhl auf, "Mein Gott, was war das?" Jerry stand auf. Wir lauschten und hörten wieder das Gurgeln, es war ein krächzender, würgender Ton. Wir waren erstarrt, es lief uns kalt den Rücken hinunter.

Jerry bat Lee, etwas Feuerholz nachzulegen. Es wurde heller, und wir konnten die Umrisse von Steves Körper, der in ca. 15 Meter Entfernung schlief, erkennen. Das urige Geräusch kam von ihm. Jerry eilte hinüber.

Steve sah aus wie sechs, mit seinem straffen Körper, dem schmutzigen, lockigen Haar und einer kleinen Träne, die ihm über die Wange lief. Jerry weckte Steve, damit er die Gefühle, die der Traummacher geschaffen hatte, rauslassen konnte.

"Ich träumte, daß meine Mutter mit mir redete. Sie schrie mich an und machte mich fertig. Ich ging hinüber ans Fenster und starrte hinaus. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber ich konnte nicht. Ich fühlte mich wie betäubt und gelähmt. Es war, als wäre ich von innen verriegelt."  

81


Jerry half ihm, das Traumbewußtsein in den Wachzustand hinüberzuretten. Das Wesentliche war das Gefühl, das er spürte und das aus seiner Kindheit stammte. Es war schon beängstigend — dort mitten in der Wüste zu sein, während einer unserer Freunde mit einer Vergangenheit kämpfte, die seine Gegenwart einengte.

Steve würgte. Tränen liefen über Jerrys Gesicht, während er ihm half, diesen Alptraum durchzustehen. Steve stellte sich dem Alptraum, fühlte ihn, lief nicht davor weg. Und jetzt, mit Jerrys Hilfe, gelangte er wieder einmal an den Rand seiner Freiheit. Jerry half ihm zwei Stunden, lang. Die Dunkelheit war erfüllt von den Tönen eines würgenden Jungen, der mehr wollte, aber nur seine auf eine krankmachende Weise normalen Eltern als Vorbild hatte. Steve machte das erschreckendste Erlebnis seines Lebens durch. Schließlich half Jerry ihm wieder in den ruhigen Schlaf eines Menschen, der sich von anderen umgeben weiß, die ihn lieben und beschützen.

Die übrigen von uns saßen zusammen und redeten. Wir hatten einen weiteren Schritt getan; wir wußten, wir würden nicht wieder zurückrutschen. Wir würden diese kleinen Schritte gemeinsam machen und uns gegenseitig helfen.

Jerry war wirklich bewegt von dem, was geschehen war. Später setzten sich Dominic und Lee neben ihn und redeten über eine Stunde lang mit ihm. Er weinte und schluchzte von ganzem Herzen.

Niemand rührte sich bis halb elf am nächsten Morgen. Die Sonne hatte schon längst die Kälte der Nacht vertrieben. Steve war aufgestanden, machte Kaffee und weckte jeden von uns. Er redete hastig und erzählte uns seinen Traum.

"Ich campte in den Bergen mit einer ganzen Gruppe von Freunden. Die meisten lagen nur rum und taten nichts. Andere saßen um ein ausgebranntes Lagerfeuer, das vielleicht noch von der Nacht zuvor stammte. Ich erinnere mich, daß ich mich langweilte. Ich war genervt und wollte, daß alle aufstanden und irgendetwas losmachten. Niemand schien Notiz davon zu nehmen,

82


geschweige denn, das Bedürfnis zu haben, etwas zu tun. Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich fing an, das Camp buchstäblich auf den Kopf zu stellen — ich drehte alles um, Schlafsäcke mit Leuten darin, Campingstühle und Zelte. Ich zeigte allen, wie ich mich fühlte, und kam mir sehr stark dabei vor. Ich erinnere mich an Lee in meinem Traum. Er beobachtete mich. Es tat mir gut, ihn zu sehen. Nachdem ich das Camp auf den Kopf gestellt hatte, ging ich hinauf zu Carole. Sie und ich — wir wußten, daß wir uns liebten, ich entfernte mich noch etwas und beobachtete meine Freunde. Ihnen gefiel, 'was ich getan hatte."

Wir alle sahen Steve an. Er hatte das Camp auf den Kopf gestellt. Er hatte sich verändert. Dann erzählte Joe von seinem Traum.

"Ich träumte, daß ich die Antwort zum Erwachsensein gefunden hatte. Ich redete mit jemandem. Die Lösung, die ich erklärte, war, in der Gegenwart zu leben, alles auszusprechen."

Alles schien so einfach — und doch so schwer. Wir wußten, wir hatten uns gefunden. Dann erzählte Steve uns noch einen Traum.

"Ich saß in einem Auto, das wie Butter durch ein Sieb durch alle möglichen Zäune und Mauern rutschte. Ich erinnere mich, daß ich bremsen wollte, aber die Bremsen funktionierten nicht. Das Bremsen verstärkte das Rutschen nur noch. Ich hatte zwar etwas Angst in dem Traum, aber in erster Linie war ich innerlich erregt. Ich hatte eher das Gefühl, das Rutschen des Autos von mir aus zu wollen, als mich dagegen zu wehren. Es machte mir Spaß, die Dinge zu durchbrechen."

83


Als Steve uns seine Träume erzählte, war es, als sagte er etwas über uns. Die Bremsen waren los, wir hatten angefangen, uns noch mehr aufeinander einzulassen. Wir wußten, daß wir mit Hilfe unserer Träume unsere Zäune und Mauern einreißen konnten. Wir waren alle aufgeregt und gespannt. Die Angst vor der Freiheit war auf dem Rückzug. Mit Hilfe unserer Freunde hatten wir die Lösung zum Erwachsensein gefunden. Es war keine einfache Lösung, aber eine lebendige.

 

Carole — Die Blockaden aufspüren

 

Alle freuten sich über Steves Veränderungen — außer Carole; sie machten ihr Angst. Sie wußte nicht, was aus ihrer Beziehung werden sollte. Alle merkten es — seit Steves großem Durchbruch war sie noch ruhiger und zog sich noch mehr zurück. Sie hatte alles, was sie sich gewünscht hatte, und mußte das jetzt verkraften. Als wir unsere Sachen packten und nach Hause wollten, war Carole am Ende. Sie wollte nicht zurück und hatte keine Lust auf Therapie, denn in letzter Zeit waren die Therapeuten durch die Therapie noch offener geworden. Carole aber wollte bleiben, wie sie war, und versuchte, sich gegen ihre Gefühle zu wehren.

Carole — Lita, wie Steve sie nannte — saß in ihrem Kombi mit Allradantrieb. Sie war verärgert und niedergeschlagen; sie wußte nicht, was sie mit so viel Gefühl anfangen sollte. Es ist vielleicht eines der erschreckendsten Dinge im Leben, seinen Weg zu finden, und genau das erlebte Lita jetzt. Sie hatte Steve gefunden, und jetzt wurde das Leben,, das sie sich immer gewünscht hatte, Wirklichkeit.

Die meisten sind überrascht, wenn ein Rockstar auf dem Höhepunkt seiner Karriere Selbstmord begeht, aber so überraschend ist es nicht. Was soll jemand machen, der sein Leben lang darauf gedrillt wurde, "voranzukommen", wenn es nichts mehr zu erreichen gibt? Lita spürte mehr, als sie wahrhaben wollte. Sie fühlte sich anders als die übrigen Mitglieder unseres Teams. Sie hatte Angst, ähnliche Schritte wie die anderen zu tun, und doch wurde sie in den mächtigen Strom, den wir angezapft hatten, hineingezogen.

84


Wenn man in einer Gruppe arbeitet, stellt man fest, daß sich nicht alle gleich schnell verändern. Das ist natürlich leicht zu akzeptieren — nur nicht für den, der sich nicht so schnell verändert, wie er es seiner Vorstellung nach sollte. Lita mochte sich selber nicht, aber das war nichts Ungewöhnliches für sie. Sie war mit drei Brüdern aufgewachsen und hatte gelernt, rauh und ungehobelt zu sein. Sie war das größte Mädchen in ihrer Klasse und stammte aus Polen. Die anderen Kinder nannten sie "blöde PoTackin", und das ging nicht spurlos an ihr vorüber.

Als Jugendliche hatte sie sich oft auf ihr Zimmer zurückgezogen und gelesen. Es ist traurig, wenn man bedenkt, wie Eltern, Brüder und die Schule ein wundervolles Mädchen dazu bringen können, sich als zu groß und häßlich zu empfinden. Lita ist schön und sinnlich, unkompliziert und angenehm, aber wenn sie sich schlecht fühlt und sich verschließt, dann findet sie sich selbst blöd - ist sie eben eine "blöde Polackin"

Sie baute sich eine Scheinwelt auf, in die sie sich bei Bedarf zurückziehen konnte. Viele Leute tun das, aber Lita wollte das nicht wirklich; sie wollte sie selbst sein, sie wollte ihren Körper. Das war nicht einfach, denn sie hatte zu viele üble Sachen über ihren Körper und ihre Gefühle gehört.

Lita begann also, sich von unseren Veränderungen auszuschließen. Sie redete zwar mit uns, sie arbeitete und half mit, aber sie war zurückhaltend und irgendwie mißtrauisch. Bald aber wurde ihre Scheinwelt offengelegt.

Sie verglich sich mit anderen und deren Durchbruchträumen und kam schlecht dabei weg. Zwischen zwölf und vierundzwanzig hatte sie überhaupt keine Träume behalten können. In den letzten Jahren hatte sie angefangen, sich an immer mehr zu erinnern, Aber jetzt, wo <sie sich bemühte, mit uns Schritt zu halten, konnte sie sich an gar nichts erinnern - nicht einmal an Bruchstücke. Je weniger sie sich erinnern konnte, um so mehr machte sie sich herunter und um so mehr zog sie sich zurück.

85


Joe und Lee hatten mit ihr gearbeitet, aber sie schien nicht voranzukommen. Joe machte intensive Sitzungen mit ihr, in denen er ihr half, ihren Körper zu spüren. Er versuchte, ihr klarzumachen, daß sie mit niemandem mithalten mußte, daß sie nur für sich selber fühlen mußte, wie sie war, daß sie nur sich selber zu sehen brauchte.

Es schien, als hätte sie kein Glück. Aber Joe und Lee wußten, daß ihre Abwehr zerbrechen würde; es war nur eine Frage der Zeit. Es waren über drei Monate vergangen; die Zeit schien stillzustehen für Lita. Je näher die anderen an sie herankamen, um so mehr verkroch sie sich In ihrer einsamen Welt.

Aber mit dem Traummacher war das anders. Lita zog sich aus der Welt des Redens zurück in eine Welt aus Gedanken und Phantasien. Sie wurde eine Zeitbombe, die explodieren mußte.

Jeden Traum, den der Traummacher Lita schickte, vergaß sie. Egal, was für eine Geschichte es war, egal, wie dramatisch sie auch war, sie vergaß sie. Aber der Traummacher "tut schon das Notwendige, um jemandem die Erinnerung wiederzugeben. Joe und Lee übten weiterhin Druck von außen auf sie aus. Und der Traummacher begann, spezielle Träume zu schaffen, die Lita vorher nicht gehabt hatte: körperliche Träume, Träume, die sich in ihren Knochen, ihrer Haut und in ihrem Blut abspielten, Träume, die sie nicht vergessen konnte.

Ihr erster Traum war der Anfang einer ganzen Serie von Körperträumen -Träume, die ihr zeigten, wie sie ihren Körper wiederfinden konnte. In einer ihrer Sitzungen erzählte sie Joe diesen Traum:

'"Ich konnte meinen Körper spüren, überall in ihm waren große, vier Zentimeter tiefe Löcher, besonders in meinen Beinen. Sie waren gefüllt mit einem blätterigen, flockigen Material, ähnlich wie Teigkruste. Ich wußte, es war totes Material; darunter war rosafarbene, empfindsame Haut. Ich konnte nicht verstehen, warum es da war. Ich war verwirrt.

86


Ich wußte, daß ich neues, leichtes Material hineintun wollte, um die" Teigkruste-zu ersetzen - neues Material, das ganz zu mir gehörte."

Während sie den Traum erzählte, zog sie sich zurück. Joe fragte sie, ob sie bereit sei, aus ihrer Scheinwelt herauszukommen. Sie war sich nicht sicher: "Ja und nein."

Er sagte: "Wenn du herauskommen willst, dann mußt du den Traum vervollständigen."

Utas Stimme brach: "Ich glaube, ich-kann nicht, Joe. Ich meine, ich bin nicht in der Lage, ich weiß nicht, wie." "Der erste Schritt ist, daß du fragst."

Diesmal blieb Lita nicht verschlossen. Sie sagte: "Wie soll ich es machen, Joe?"

"Berühre die Löcher. Du mußt sie fühlen, sie kennenlernen. Du mußt sie mir zeigen. Zeig mir, wie du wirklich bist."

Sie fing an, verschiedene Stellen auf ihren Beinen zu berühren. Mit jeder Stelle, die sie berührte, weinte sie mehr. Sie war empfindsam -sie war Lita - nicht stumpf und verschlossen. Je mehr sie sich berührte, um so mehr fiel ihr aus ihrer Vergangenheit ein. Erinnerungen kamen - keine Bilder, sondern körperliche Erinnerungen. Lita fühlte ihre Verletzungen. Es gab keine Scheinwelt mehr für sie, nur Schmerz, den Schmerz vi.eler kleiner und großer Verletzungen, die sie als Kind nur hatte einstecken können. Je mehr sie ihren Körper berührte, um so mehr fühlte sie, was sie sich heute selber antat.

"Joe", flüsterte sie, "ich will mir das nicht mehr antun. Ich will spüren, wie empfindsam und gefühlvoll ich in Wirklichkeit bin."

Lita, die Einsiedlerin, öffnete sich. Joe arbeitete mehr als drei Stunden lang mit ihr. Für Geheimnisse war kein Platz mehr. Sie erzählte von all den verborgenen kleinen Dingen, die ihr halfen, sich abzukapseln.

87


VERSUCHEN SIE FOLGENDES: Denken Sie daran, daß Litas Traum von ihrem Körper handelte. Ihr Traum sagte ihr, wie sie sich fühlte und was ihrem Körper fehlte. In Teil III werden wir Ihnen Fragen stellen, die die Körpergefühle in Ihren Träumen ans Licht bringen. Bis dahin tun Sie folgendes: Erfinden Sie einen Traum, der von Ihrem Körper handelt. Wie würden Sie ausdrücken, wie sich ihr Körper anfühlt? Ist Ihr erdachter Traum schön und befriedigend? Wie zeigen Sie in Ihrem erdachten Traum, was Sie an Ihrem Körper nicht mögen?

Lita machte zwei höllische Wochen durch, um wieder Zugang zu ihrem Körper zu finden. Der Traummacher half ihr, ihre Sexualität, ihren Körper und ihr Frausein wiederzuerlangen. Es ist nicht leicht, seinen Körper wiederzufinden, wenn einem das ganze Leben lang nur beigebracht wurde, seinen "Kopf" zu benutzen. Lita bemühte sich. Ihr sexuelles Erleben wurde intensiv, weil sie sich endlich erlaubte, ihren ganzen Körper und nicht nur ihre Genitalien zu spüren. Sie begnügte sich nicht mehr nur mit empfindsamen Körperstellen — sie wollte Empfindsamkeit. Ihr Begehren hatte Auswirkungen. Sie hatte einen Traum, der für sie zum Wendepunkt wurde, einen Traum, den sie nie wieder vergessen sollte.

"Ich träumte, ich lag im Bett und erlebte vier verschiedene Gefühle, die alle außerordentlich intensiv waren. Eins war zu stark für mich. Immer, wenn ich anfing, es zu spüren, wehrte ich mich, denn ich wußte, ich würde sterben. Ich wußte zwar, daß ich es spüren wollte, aber ich wußte nicht, was ich dafür tun mußte oder was dafür notwendig war. Aber dann war dieses Gefühl wieder da und überwältigte mich. Ich hatte solche Angst, daß ich glaubte, ich würde sterben. Im Traum begann ich zu weinen; ich wußte, daß ich starb. Jedesmal, wenn ich starb, hatte ich mich verändert. Ich konnte spüren, wie sich mein Körper veränderte. Ich wußte, ich wollte es so; ich wollte diese Veränderungen. Ich weinte in dem Bewußtsein, dieses intensive Gefühl, wovor ich mich so gefürchtet hatte, gefunden zu haben."

Der Traummacher hilft, ein ganzer Mensch zu werden. Lita fand schließlich, was ihr gefehlt hatte, was ihr Fühlen vollständig machte: sie erlangte Traummacher-Bewußtsein.

88-89

#   


7. "Was ist so anders und was ist so neu?"

 

 

In den drei Jahren seit unserer ersten Begegnung mit dem Traummacher hatten wir uns verändert. Wir hatten auch bewirkt, daß Leute um uns herum sich veränderten. In gewisser Hinsicht hatte sich sogar die Stadt Los Angeles ein wenig verändert. Alle unsere Therapeuten und Patienten leben und arbeiten in dieser Stadt, und wenn sie Menschen begegnen, die nichts mit unserem Institut zu tun haben, merken diese "Außenstehenden" manchmal, daß sie irgendwie anders sind. Der Unterschied ist, daß die Leute von unserem Institut Träume und Gefühle so gut verstehen wie sonst kaum jemand.

Dieses "gewisse Etwas" unserer Leute drängte uns die Frage auf: Wie können wir anderen etwas von unserer Lebensweise zeigen, und wie können sie von der Traummacher-Methode profitieren? Wie gewöhnlich fanden wir die Antwort in den Träumen eines Mitglieds unseres Therapeutenteams.

 

Riggs — Eine intellektuelle Lösung

 

Riggs versuchte zunächst, das Problem, wie man Leuten außerhalb unserer Therapie etwas von unseren Traum­entdeckungen vermitteln könnte, zu lösen, indem er darüber nachdachte. Er las einiges über andere Therapiegemeinschaften, andere Therapien und andere Traumpraktiken und vergleich diese Ansätze mit dem Traummacheransatz. Schließlich faßte er seine Ergebnisse kurz schriftlich zusammen und legte sie den anderen Therapeuten vor. In den folgenden drei Absätzen können Sie nachlesen, was er herausgefunden hatte und was nicht.

"Psychoanalytiker stoßen gelegentlich auf solche Träume, von denen wir sprechen. Gute Gestalttherapeuten arbeiten manchmal auf ganz ähnliche Weise mit Träumen, wie wir es tun. Mit Sicherheit sind Therapeuten Jungscher Richtung schon häufig in die Welt des Traummachers vorgedrungen. Und es gibt weitere Therapien und Therapeuten, die mit Traummacher-Bewußtsein

90


in Berührung gekommen sind, oder die Durchbruchträume, die Traummacher-Tradition oder sogar die Traummacher-Prozesse erkannt haben. Aber etwas von dem, was mit uns passiert, ist vollkommen anders und neu. Drei Komponenten treffen zusammen - Therapie, Gemeinschaft und Träume - das hat es so nie zuvor gegeben, nirgendwo und zu keiner Zeit.

Es gibt viele gute Therapien, einige Therapiegemeinschaften und etliche Leute, die mit Träumen arbeiten. Aber wenn man jeden Bestandteil für sich vorfindet, dann ist es, wie wenn man verschiedene Teile eines Flugzeuges findet - manche Leute finden den Motor und sagen: "Das ist es'r., andere finden den Rumpf und sagen: "Dies ist es", und noch wieder andere finden die Kontroll Instrumente und sagen auch: "Dies ist es." Keins der Teile für sich macht das Flugzeug aus. Außerdem besteht der Zweck einer Entdeckung nicht nur darin, etwas zu finden, sondern auch, es zu nutzen. Man will mit einem Flugzeug ja schließlich nicht ewig am Boden bleiben, sondern auch fliegen. Wir haben einen Weg gefunden, die drei Komponenten - Therapie, Gemeinschaft und Träume - zusammenwirken zu lassen, damit sie uns weiterbringen können.

In einer Gemeinschaft von Therapeuten, die zusammenarbeiten, kann jeder den anderen einen neuen Weg zeigen, und jeder Weg bringt etwas Neues und Aufregendes."

 

Riggs zeigte uns, daß wir die wichtigen Elemente waren. Oft, wenn man etwas Neues entdeckt oder etwas Altes wiederentdeckt, vergißt man die Anstrengungen, die man hineingesteckt hat. Riggs sorgte dafür, daß dies bei uns nicht geschah. Aber manchmal vergaß er dabei seinen eigenen Anteil. Als wir zusammensaßen und uns unterhielten, sagte Riggs: "Dominic zeigte uns mit seinen Träumen, daß es eine neue Wirklichkeit gibt - daß es mehr gibt. Werner lehrte uns, wie wir uns unseren Ängsten stellen und die Gemeinschaft unterstützen können. Lee brachte uns bei, wie man durch die Verrücktheit hindurchgeht und überlebt.

91


Joe lehrte uns, wie man "es leicht nimmt". Jerry zeigte uns, was Gedanken anrichten können. Steve zeigte uns, wie Erlebnisse aus der Vergangenheit uns beeinflussen. Lita brachte uns etwas über unseren Körper bei. Aber was habe ich getan?"

Alle sagten ihm, wie wichtig er bei der ganzen Sache gewesen war, aber trotzdem fühlte er sich, als gehörte er nicht dazu. Jeder von den anderen war auf seine spezielle Art ein Traumexperte, aber Riggs war eher ein "Allroundmann" auf dem Gebiet. Er wußte alles, nur die Besonderheiten seines eigenen Traumlebens kannte er nicht. Wir wußten alle, daß es nur eine Frage der Zeit war - und wir taten, was wir gelernt hatten: wir warteten. Der Traummacher hatte uns etwas von unserer Vergangenheit und von unserer Gegenwart gezeigt, und jetzt waren, wir bald bereit, unsere Zukunft zu erleben.

Es war gegen Ende Oktober. Im Institut ging es sehr geschäftig zu . . mit neuen Plänen und Programmen. Riggs versuchte, sie zu entwerfen, aber so sehr er sich auch bemühte, er schien keine klare Linie finden zu können.

Der Oktober in Los Angeles ist herrlich. Oftmals wehen die Santa-Ana-Winde mit einer Geschwindigkeit von dreißig bis vierzig Meilen pro Stunde, und die Stadt ist klar und schön. Die Santa-Ana-Winde wehten seit zwei Tagen. Riggs hatte hart gearbeitet und schlief jetzt. Seine beiden großen Hunde, Trucker und Heidi, schliefen ebenfalls - Trucker neben seinem Bett und Heidi im Wohnzimmer auf der Couch. (Manchmal ist es schwer zu sagen, ob er auf sie aufpaßt oder sie auf ihn.) Sie hörten nicht, wie dieser fremde Mann das Haus betrat. Er war leise und wußte, in welches Zimmer er zu gehen hatte; der Traummacher war dort nicht zum erstenmal. Ohne Riggs und seine Frau Konni zu wecken, brachte er Riggs auf einen Berggipfel und weckte ihn im Schlaf:

92


"In einem Hubschrauber war ich mit Konni auf einen sehr hohen Berggipfel geflogen. Wie ich da saß, konnte ich eine ganze Insel sehen. Ich war erstaunt, daß ich so weit sehen konnte. Ich konnte die Einzelheiten auf der Insel erkennen. Stellen, wo sich Wellen an den Riffen brachen. Ich sah nicht nur eine Insel, sondern eine ganze Inselkette. Ich konnte alles sehen. Ich sah ganze Episoden aus meinem Leben. Ich fühlte, daß etwas im Umbruch begriffen war und daß ich mich auf e.inen neuen Abschnitt meines Lebens zu bewegte. Es war, als sei ich an einem Aussichtspunkt."

Riggs war nicht wirklich wach, und auch die Hunde rührten sich nicht. Am nächsten Morgen war alles wie immer, außer Riggs. Er erwachte mit einem Gefühl der Zufriedenheit und küßte Konnis Beine und Arme. Dank so viel aufmerksamer Zärtlichkeit erwachte auch sie mit einem wohligen Gefühl.

Es war Donnerstag. In einer Stunde sollte für die Therapeuten Traumgruppe sein. Riggs und Konni standen auf und tranken zusammen Kaffee. Sie wußte, daß irgendetwas Gutes mit ihm geschehen war, aber sie hatte keine Ahnung, was es sein könnte. "Was ist los, Liebling?"

"Ich hatte einen großartigen Traum diese Nacht. Ich habe keine Ahnung, was er bedeutet, aber ich fühle mich phantastisch." Sie unterhielten sich und genossen einfach ihr Zusammensein. Die Stunde verging schnell, und Riggs machte sich auf zur Traumgruppe. Alle Therapeuten mochten dieses Treffen sehr. Sie waren eine echte Bereicherung der Therapie. Immer wieder gab es etwas sehr Wichtiges aus den eigenen oder aus den Träumen der anderen zu lernen.

Dominic fragte Riggs, was er geträumt hatte. Als er den Traum erzählte, spürte er wieder diese Freude. Alle redeten darüber.

Normalerweise arbeiteten wir mit den Träumen von jemandem aus der Gruppe, indem wir ihn veranlaßten, mehr auszudrücken, den Traum klarer zu machen, mehr zu fühlen usw. Aber mit Riggs hatte Joe etwas anderes vor.

93


"Riggs, ich möchte, daß du nichts weiter mit dem Traum machst; ich möchte, daß du einfach damit lebst und wartest. Ich.glaube, daß dies der erste Traum von vielen ist, ein vorausschauender Traum; du mußt lernen, diesen erweiterten Ausblick auf dein Leben anzunehmen.

Als das Treffen vorbei war, gingen sie in Gruppen zu zweit oder zu dritt und sprachen noch über ihre Träume. Riggs und Joe gingen zusammen zum Mittagessen."Weißt du, Joe, es kommt mir so vor, als würde ich das gute Gefühl,' das ich beim Aufwachen hatte, verlieren." "Das kommt daher, daß du mehr willst, als wofür du bereit bist." "Aber wenn es ein vorausschauender Traum ist - was will er mir sagen?" "Riggs, du solltest langsam wissen, daß deine Träume dir nie etwas sagen können, bevor'du bereit bist, es zu erfahren. Entspanne dich und genieße das Gefühl aus dem Traum. Ich halte es für wichtig, daß du das versuchst upd einfach eine Zeitlang damit lebst."

Seit zehn Jahren arbeiteten die beiden zusammen und waren Freunde. Ihre Freundschaft hatte schwere Krisen überstanden. Sie kannten sich, wie Freunde, die ihre tiefsten Geheimnisse miteinander teilen, jeder kannte die Verrücktheit des anderen - und seine Stärke. Als sie ihren Wein tranken, sagte Joe: "Riggs, ich möchte, daß du nicht so hart arbeitest. Genieße, was deine Träume dir geben. Ich glaube, du hast noch nicht richtig gelernt, deine bisherigen Veränderungen zu akzeptieren und zu genießen."

Nach dem Essen gingen sie zum YMCA, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen. Sie spielten leidenschaft­lich gerne Basketball. Andere Therapeuten und Patienten waren ebenfalls da, und sie alle spielten mit Gefühl; sie selber und das Miteinander waren ihnen wichtiger als das Spiel. Viele Leute im "Y" blieben stehen und beobachteten diese Männer, wie sie lachten, schrien und spielten.

94


Müde ging Riggs nach Hause; es war ein ausgefüllter Tag gewesen. Er wußte eine ganze Menge, aber er wußte nicht, was der Traummacher für die folgende Nacht auf Lager hatte.

Trucker bewegte sich und setzte sich auf, aber nichts Beunruhigendes geschah, denn in dieser Nacht sollte der Traummacher Riggs helfen, alle Teile des Traumpuzzles zusammenzufügen. Riggs sollte lernen, daß es in erster Linie um Menschen und nicht um Träume ging. Als er schlief, träumte er.

Der erste Traum kam bald. Er war eine Mischung aus Farbe, Empfindung und Bedeutung. Er war die Fortsetzung und Vollendung des Traums aus der Nacht zuvor.

"Ich sah Konni und mich im Bett sehr dicht beieinander schlafen. Ich merkte, daß ich mich selbst beobachtete. Das gefiel mir nicht. Dann war ich in meinem Körper. Ich -war sehr traurig und glücklich zugleich. Beide Gefühle waren unvorstellbar stark. Je mehr ich fühlen konnte, um so intensiver wurden diese Farben um mich herum. Es war, als gehörten diese Regenbogenfarben zu mir - jede einzelne verband mich mit einem Teil meines Lebens. Eine Farbe führte wie ein Regenbogen zu meiner Vergangenheit, und ich spürte, wie diese mich noch beeinflusste. Eine andere, ein zartes Rosa'; gehörte zu meiner Gegenwart und zeigte mir, wie wundervoll es war, mit Konni und meinen Freunden zusammenzusein. Und eine weitere führte zu meiner Zukunft. Alle Farben waren miteinander verbunden und kamen aus meinem Körper. Ich fühlte mich bis in die kleinste Zelle meines Körpers entspannt. Ich hatte Verbindung mit allem, was in meinem Leben geschehen war, was gerade geschah und was noch geschehen sollte, und diese Verbindung rief dieses wundervolle glücklich-traurige Gefühl in meinem Körper hervor."

95


Dieser Traum ließ Riggs in einen tieferen und entspannteren Zustand sinken. In dieser Nacht hatte er noch weitere Träume, aber nur an diesen erinnerte er sich. Als Riggs aufwachte, fühlte er sich klar; seine Augen waren lebendig.

Nachdem er an diesem Morgen mit seinem Patienten gearbeitet hatte, sprach er wieder mit Joe. "Joe, ich habe die erste Antwort auf die Frage, die mich bewegte, gefunden; ich bin sicher, die übrigen Fragen werden ebenfalls beantwortet werden. Seit letzter Nacht weiß ich, daß ich die Lösungen für mein Leben schon habe; ich brauche nur in mich selbst hineinzuhorchen."

Mehr als vier Monate lang kam der Traummacher nicht mehr mit einem Durchbruchtraum. Riggs brauchte diese Zeit, um die Erkenntnis, wie seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft sind, zu verarbeiten und aus dieser Erkenntnis heraus zu leben — und das tat er. Er war hellwach; nichts konnte ihn in dem, was er wußte, erschüttern.

Joe sprach des öfteren mit anderen vom Team darüber. Riggs hatte seinen Platz in der Gemeinschaft der Träumer gefunden. Es gab keinen Führer — wir alle schufen einen neuen Schamanen, eine neue Art von Führer, nämlich die Gruppe.

Wir arbeiteten zusammen und versuchten, neue Programme zu ersinnen, die immer mehr Menschen Zugang zu unseren Entdeckungen eröffnen sollten. Riggs verwarf viele Ideen, denn er befürchtete, daß sie unsere Arbeit in ein falsches Licht stellen könnten. Er wollte sich sicher sein, daß es eine gute Sache wird. Er arbeitete sehr hart, um die beste Lösung- zu finden. Seine Arbeit wurde unterbrochen, als der Traummacher zurückkehrte, um Riggs einen zusätzlichen Einblick zu geben. Diesmal gab es keinen Berg, sondern viel Sand und die Suche nach etwas.

96


"Joe und ich suchen einen Platz für unser Institut. Von einem Führer werden wir bis an den Rand der Wüste geführt. Sie ist riesengroß. Ich habe Angst. Dort gibt es kein Leben - nur das Leben der Wüste. Uns wird klar, daß wir einen Platz zum Leben finden müssen, der eine eigene Wasserquelle hat. Ich habe Angst.

Als wir die Wüste ohne den Führer betreten, ist es, als gehörten wir zu ihr. Wir leben dort, haben dort gelebt und sind ein Teil von ihr.

Plötzlich steht eine große Kobra aufrecht vor uns. Sie ist ungefähr fünfeinhalb Meter lang. Wir - ich überwältige sie. Mir fällt ein Motto für das Institut ein: "Raus mit der Wahrheit" - es zeigt sich in zwei verschiedenen Bildern: ein Fuß tritt auf eine Kobra und die Wahrheit kommt aus Wirem Maul; das zweite sind einfach die Worte.

Dann stecken Joe und ich in weißen Wüstengewändern. Wie wir so durch die Wüste gehen, taucht eine Bande von Reitern auf und will uns überfallen. Joe will wegrennen. Ich sage: "Grab dich in den Sand ein und tarne dich damit." Die Männer reiten über uns hinweg. Nur ein Mann auf einem stattlichen Pferd hält an und legt seinen Finger auf unsere Atemrohre. Ich springe aus dem Sand auf, und wie ein Wirbelwind halte ich ihn mit meinem Atemrohr in Schach. Ich brauche ihn nicht zu verletzen. Wir sind frei und können weitergehen.

Dann sehe ich einen wunderschönen kleinen Zitronenbaum, voller schöner und saftiger Früchte. Es sind die schönsten Früchte, die ich je gesehen habe. Ich sehe immer mehr..Ein ganzer Obstgarten wächst hier im Sand. Es ist, als sei es das Leben selbst.

Ich wache auf und fühle, sage und merke, daß ich lebe - selbst im Angesicht des Todes, ich lebe. "Ich kann leben, ich kann es. Ich lebe. Ich bin am Leben."

97


Joe und Riggs unterhielten sich beim Frühstück. Riggs sagte: "Wir brauchen den Leuten nur die Wahrheit zu sagen. Teilen wir ihnen mit, was wir zu bieten haben. Ich bin sicher, die "neuen Programme werden der Wahrheit, die wir zu sagen haben, entspringen."

Rückblickend ist ganz offensichtlich, was damals geschah. Die Therapie und die Gemeinschaft hatten es jedem Einzelnen ermöglicht, Durchbruchträume zu haben, die seine jeweiligen Stärken noch deutlicher zum Vorschein brachten. Die Fragen, wie wir die Therapie und die Rollenverteilung von Therapeuten und Patienten ändern sollten, wurden beantwortet. Aber das war nicht das Wichtigste — das Zusammenwirken von Therapie, Gemeinschaft und Träumen, das war die wichtigste Entdeckung. Wir hatten den Prozeß der Transformation entdeckt. Der Durchbruchtraum wurde ein Teil des ganzen Prozesses.

Ein einzelner Traum war nicht mehr so wichtig. Schließlich, nach den Erfahrungen von drei Jahren, fügten sich alle Teile zusammen, und wir fingen an, sie zu begreifen.

Diese Entdeckung war der Anfang einer neuen Ära und das Ende einer alten. Wir wußten es damals noch nicht, aber wir erlebten das Ende der Ära der Psychotherapie. Wir hatten den nächsten. Schritt getan. Wir machten nicht mehr Therapie — wir lebten sie.

Fast vier Monate lang entwarf Riggs' zusammen mit den anderen, neue Programme. Schließlich war es ihnen gelungen, Programme zu entwickeln, die die. "Wahrheit ans Licht" bringen konnten, aber ohne die jeweilige Person zu überwältigen. Es war viel einfacher, den Leuten beizubringen, ihren Träumen Beachtung zu schenken, als ihren tiefsten Gefühlen. Alle schienen sich für Träume zu interessieren. Aber Riggs war noch nicht ganz zufrieden.

Zu- dieser Zeit kaufte die Stiftung unseres Instituts eine Ranch. Dort sollte von nun an unser Team jeden Sommer verbringen, um sich zu erholen und spezielle Programme zu entwerfen. Wir versorgten die Rinder, arbeiteten im Garten, entwickelten Programme und werteten sie aus.

98


Wir errichteten unter anderem auch einen Ort für Träume, ein Traum-Refugium, wo Leute sich selber bei Sport und Spiel und bei der Arbeit besser kennenlernen konnten und langsam lernten, über ihre Träume zu sprechen. Ohne es zu wissen, hatten Riggs und die anderen Mitarbeiter die Antwort auf viele ihrer Fragen gefunden. Wenn jemand bereit war, von einer Ebene des Fühlens und Träumens auf eine andere hinüberzuwechseln, dann hatte er die Möglichkeit, sich mehr einzulassen. Es gab eine Lösung — eine Lösung, die jetzt darauf wartete, voll und ganz erkennt zu werden.

Er war kurz nachdem die letzten Besucher unsere Ranch verlassen hatten. Die Mitarbeiter waren die einzigen, die dageblieben waren. Es war an der Zeit, das im Sommer gesammelte Feuerholz näher an das Haupthaus heranzubringen. Riggs war müde von der Arbeit, aber es war eine wohlige Müdigkeit, nicht die Müdigkeit, die von Langeweile und Eintönigkeit herrührt.

Die Fenster waren offen, und der süße, reine Duft der Kiefern und Eichen zog ins Zimmer. Riggs und Konni schliefen tief und fest. Der Traummacher näherte sich. Dies sollte einer seiner letzten geheimnisvollen Besuche sein; das Fremde und Mysteriöse war nicht mehr notwendig, denn diese Leute waren zu "Traum-Leuten" geworden, eine neue Generation von Träumern.

Dieser Traum kam nur in Form von Worten. Viele Worte, die mit Therapie und den Traumprogrammen zu tun hatten, kamen Riggs in den Kopf, und jedes einzelne wirkte auf ihn ein. Der Traummacher benutzte die Worte, um Riggs zu sagen: "Ihr seid die Traummacher." Als ihm diese Worte bewußt wurden, kam es ihm vor, als wäre die ganze Welt von seinen Schultern genommen worden. Die Worte und die Suche waren nicht mehr wichtig.

Ungefähr eine Stunde später wachte er auf. Der Mond stand am Himmel und schien hell. Er stand auf und sah aus dem Fenster. Alles war in Ordnung. Zum erstenmal nach langer Zeit erschien die Nacht vertraut und gut. Alles war in Ordnung und sollte es für lange Zeit bleiben.

Konni setzte sich auf. "Ist alles okay, Riggs?" — "Ja, es geht mir gut. Ich fühle mich ganz wach, zum erstenmal in meinem Leben bin ich ganz wach." Sie schlüpfte aus dem Bett und stellte sich neben ihn. Sie waren zwei — in einer Gemeinschaft von vielen.

Alle unsere bisherigen Ansichten über Träume wurden bedeutungslos. Sie waren nicht mehr so etwas Geheimnisvolles und Besonderes. Das Besondere war jetzt unser Leben, das wir führten, unser alltägliches Leben, jeder Tag und jede Nacht.

99-100

#

 

  ^^^^  

www.detopia.de