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Irritationsspur *      

Beleg XIV

  * Verachte mir niemand die strukturierende Kraft des verbürokratisierten Nonsens.

 

9-33

Also nochmal: Es gibt verfassungspatriotische Gründe, gegen den Kapitalismus zu sein. 

Kapitalistisch ist für mich eine Wirtschaftsordnung, in der die privaten Eigentümer an Produktionsmitteln rechtlich privilegiert werden. Diese Bevorzugung widerspricht dem Gleichheitsgebot von Art. 3 des Grundgesetzes. 

Sozialistisch ist für mich eine Wirtschaftsordnung, in der die gesellschaftlichen und kollektiven Eigentümer an Produktions­mitteln rechtlich privilegiert werden, ebenfalls im Widerspruch zum Gleichheitsgebot.

Eine demokratische Marktwirtschaft wäre in Ordnung, in der alle Schöpfer gesellschaftlichen Reichtums, also Eigentümer und Nichteigentümer, Arbeitende und Arbeitslose, die gleichen Rechte haben. So etwas hat es noch nicht gegeben. Es ist vielmehr nach wie vor so, wie es Kurt Tucholsky schon 1919 auf den Punkt gebracht hat: «Politik kann man in diesem Land definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung.»

So neu ist der Neoliberalismus nämlich nicht. Man kann sogar sagen, er war eine der Gründungsideen der modernen westlichen Demokratien. In einem damals aufsehenerregenden, inzwischen klassisch gewordenen Buch hat der amerikanische Historiker Charles A. Beard 1913 die amerikanische Verfassung analysiert. Er kam zu dem Schluß, daß die Verfassung der USA die persönlichen ökonomischen Interessen ihrer Schöpfer widerspiegelt. Nur eine irregeleitete Interpretation könne behaupten, «daß die Verfassung in irgendeiner Weise demokratischen Ursprungs sei», und übersehen, daß sie etwas anderes darstelle, «als ein einfaches Geschäft».3)

Von dieser Erkenntnis sagten damals viele amerikanische Intellektuelle, sie habe sie stärker beeinflußt als die Lehren Sigmund Freuds. Und das will was heißen in den USA. Oder auch nicht. Denn Freuds Entdeckungen hatten Konsequenzen, Beards letztlich nicht.

War bürgerliche Politik nicht von Anfang an die Kapitulation vor dem «Terror der Ökonomie?» Der ja nichts anderes ist als der Terror der Eigentümer? Der einsetzte mit dem Tag, den Rousseau mit den berühmt gewordenen Worten beschreibt: «Derjenige, der als erster ein Stücke Erde mit einem Zaun umgab, und es als sein Eigentum bezeichnete, und Leute fand, die ihm dies glaubten, war der Begründer der bürgerlichen Ordnung. Er hat unzählige Kriege und den Tod von Millionen Menschen auf dem Gewissen. Er hat gegen elementares Menschenrecht verstoßen: Der Boden gehört niemandem, die Früchte allen.»

3)  Charles A. Beard: An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, 1913

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Später hat Rousseau keinen Zweifel daran gelassen, wie dem abzuhelfen sei: «Die Menschenrechte müssen ergänzt werden durch einschränkende Bestimmungen über das Eigentum; sonst sind sie nur für die Reichen da, für die Schieber und Börsenwucherer.»

Nun gibt es zwar Eingriffe ins Eigentum — jede Steuer ist eine Art von Enteignung durch den Staat, jede Zins- und Subventions­politik nimmt eine Umverteilung vor. Aber es erübrigt sich zu fragen, zu wessen Vorteil dies hierzulande geschieht.

Es ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, daß demjenigen, der eine Sache herstellt, diese auch gehört.4 Anders im Unter­nehmens­bereich. Dem Kapitaleigner allein wird das Eigentum an den hergestellten Gütern zugebilligt. Begründet wird dies mit dem Risiko, das er dadurch eingeht, einen Teil seines Besitzes zu investieren. Aber der «Arbeitnehmer» investiert alles, was er hat, seine Arbeitskraft, und wenn es schiefgeht, riskiert er seine Existenz. Das Risiko ist vergesellschaftet, der Gewinn privatisiert.

Auch dies ist keineswegs neu. Einer der Urväter der Demokratie, Abraham Lincoln, sagte 1847 während einer Tarifdiskussion: «Die meisten schönen Dinge sind durch Arbeit entstanden, woraus von Rechts wegen folgen sollte, daß diese Dinge jenen gehören, die sie hergestellt haben. Aber es hat sich zu allen Zeiten so ergeben, daß die einen gearbeitet haben, und die anderen, ohne zu arbeiten, genossen den größten Teil der Früchte. Das ist falsch und sollte nicht fortgesetzt werden.»5

4)  BGB § 959 Abs. 1: «Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache ...»
5)  «Most good things are produced by labor, it follows that such things of right belongs to those whose labor has produced them. But it has happened in all ages of the world, that some have labored, and others have, without labor, enjoyed a large proportion of the fruits. This is wrong, and should not continue.»
The Collected Works of Abraham Lincoln, ed. Roy P. Basler, Bd.2., S.498, 1953 

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Nun soll hier nicht das Klischee bestärkt werden, wonach Unternehmer nicht arbeiten. Gerade im Mittelstand, wo der kleine Selbständige sein eigener Manager ist, gibt es oft rund um die Uhr nichts anderes als Arbeit. Genauso klischiert aber ist die Behauptung, die Kapitalisten seien heute überhaupt nicht mehr zu personifizieren, weil das Kapital aus breitgefächerten, anonymen Aktiengesellschaften bestünde. Und die eigentliche Macht hätten die Manager. Diese haben tatsächlich weitgehende Entscheidungsbefugnisse und verdienen meist besser als der durchschnittliche Aktionär. Das ändert aber nichts daran, daß sie vollkommen abhängig sind vom Willen der Eigentümer. Und der verlangt nur eins: Gewinnmaximierung. Wenn sie diesen Willen nicht zur Zufriedenheit erfüllen — dann genügt eine Mehrheitsentscheidung, um sie zu entmachten. Mit einem Eigentümer kann man so nicht umspringen.

Und wie steht es um das Volk von Aktionären? Gerade mal sieben Prozent der Haushalte besitzen Aktien. Die gute Hälfte dieser Aktionäre sind Hobby-Börsianer, die auf die Wirtschaft keinen größeren Einfluß haben als Gelegenheitsbesucher auf die Bilanz einer Spielbank. Nein, die eigentlichen Kapitalisten werden nicht zahlreicher, sondern reicher. Weil alle steuerrechtlichen und wirtschaftspolitischen Privilegien immer wieder nur die bevorzugen, die schon etwas haben, und die benachteiligen, die von Einkommen aus eigener Arbeit leben. Je reicher einer ist, desto mehr wird er begünstigt. Dieser Anspruch ist im Kapitalismus verrechtlicht. Doch ist, was verrechtlicht ist, auch gerecht?

In den USA besitzen 0,5 Prozent der Bevölkerung 50 Prozent des Produktionskapitals, während 83 Prozent der Menschen über ganze 9 Prozent dieses Mehrwert heckenden Gutes verfügen. Aber auch in Deutschland erhalten die Kapitaleigner, trotz ihrer geringen Zahl, beinahe ein Drittel «des Bruttosozialproduktes, ohne dafür arbeiten zu müssen. Nur den Rest erhalten die mehr als 90 % der Bevölkerung, die nicht von Kapitalerträgen leben können, sondern darauf angewiesen sind, sich ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen.»6 Und sich dabei zu Recht glücklich schätzen, gegenüber denen, die stempeln gehen. 

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Flußbetterkundung.  

Gutachten 5. 

 

Arbeit (Humankapital) ist ebenso eine Investition wie Geld. Dennoch ist hinlänglich bekannt: Während der «Arbeitnehmer» seinen ganzen «Gewinn», nämlich seinen Lohn, versteuert und darüber hinaus äußerst geringe Möglichkeiten der Steuer­abschreibung hat, sind für den Unternehmer alle Gewinne steuerfrei, die er reinvestiert, um seine Produktionsmittel und Immobilien oder Mietshäuser zu erhalten und zu erneuern. 

Bei Neuinvestitionen belastet er nur etwa zur Hälfte sein eigenes Vermögen, den Rest läßt er sich vom Steuerzahler dazugeben. Bei 50 Prozent Eigenanteil hat er 100 Prozent Verfügungsrecht, 100 Prozent Stimmrecht, 100 Prozent Anspruch auf (mehr oder weniger versteuerten) Unternehmensgewinn. Man gewährt ihm darüber hinaus lukrative Abschreibungsmöglichkeiten, vom Dienstwagen bis zur Dienstreise. Der Steuerzahler bezahlt also weitgehend die Kosten, die zum Erhalt und zur Erneuerung der Besitztümer des Unternehmers anfallen. Während jeder Häuslebauer, der nicht über Produktionsmittel verfügt, die Reparatur seines Daches gefälligst selber zu finanzieren hat.

Meist wird der Anschein erweckt, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums beruhe auf dem Leistungs­prinzip. Aber die steuerlichen Vorteile und erst recht die Vermehrung von Vermögen durch Zinsen und Dividenden haben mit Leistung rein gar nichts zu tun. Der Eigentumsbegriff in der kapitalistischen Marktwirtschaft geht weit über den des klassischen Rechts hinaus, das unter Eigentum nur die rechtliche Herrschaft über Sachen versteht, nicht aber über Finanzvermögen.

6)  Ekkehart Stein, Demokratisierung der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1995, S. 50

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Der Anspruch auf Selbstvermehrung von Geld-Vermögen hat keinerlei ethische Grundlage. Dem ist seit dem biblischen Zinsverbot nicht zu widersprechen. Das sakrosankte Eigentumsrecht müßte auf das Recht auf erarbeitetes Eigentum reduziert werden. Andernfalls macht sich der Staat zum Erfüllungsgehilfen der strukturellen Gewalt, die sich gegen die Armen richtet.

An diesem Punkt hört man meist die Legende, der Reichtum der Reichen sei nötig, um die Wirtschaft anzukurbeln. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Das Überfluß-Geld geht in den spekulierenden, noch mehr Gewinne versprechenden Finanzmarkt und wird somit der Wirtschaft entzogen, die Schere zwischen wachsenden Vermögen und sinkenden Einkommen führt zu schweren Störungen der Marktsteuerung, die die Güterproduktion am Bedarf der Minderbetuchten vorbeilenkt. (Das offensichtliche Beispiel: Der Bau preiswerter Wohnungen verspricht weniger Profit als der von Luxuswohnungen, selbst wenn davon Zigtausende leerstehen und die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum das Angebot um das Zehnfache übersteigt.) Wirtschaftswissenschaftler sind sich auch zunehmend einig, daß die ungleiche Verteilung der Kaufkraft mitverantwortlich ist für die weltweite Massenarbeitslosigkeit. «Eine Beseitigung dieser Privilegierung des Kapitals ist daher nicht nur aus verfassungs­rechtlichen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen dringend geboten.»7

Eine neue, demokratische Wirtschaftsordnung wäre für die Mehrheit wünschenswert. Es kann als sicher vorausgesetzt den, daß die Kapitalisten nicht davon ablassen, sich gegen die Entziehung ihrer Privilegien zu wehren. Denn mit Eigentum ist demokratisch nicht legitimierte Macht verbunden. Und diese ist auch noch rechtlich abgesichert, so daß jedem Versuch, hieran etwas zu verändern, nicht nur die wirtschaftliche Macht des Kapitals entgegensteht, sondern die gesamte Staatsmacht. In diesem Teufelskreis ist die Unfreiheit der Eigentumslosen begründet. 

7)  ebenda S. 95  

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Verwerfung

Zusatzprotokoll 2 + 6

 

Auf die Unfreiheit wird noch zurückzukommen sein. Zuvor aber will ich andere Schlagworte aufnehmen, die mir jüngst als Verdikt über Verfassungstreue um die Ohren gehauen wurden. Dieses spontane Aufgreifen taugt nicht zu systematischer Analyse, sondern bekennt sich zu ungefiltertem Gedankenstrom. Das Unverständnis in manch aufgezwungener Debatte weckt dabei eine Lust zur Parodie, die ich ersatzweise auf die Überschriften beschränke. All das bleibt innerhalb der Spielregeln:

Gelegentlich dürfen sich kritische Paradiesvögel äußern, möglichst sogar extrem überzogen. George Soros: «Der heftige Marktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Bedrohung für die offene Gesellschaft als jede totalitäre Ideologie.»8 Doch der Mainstream achtet streng darauf, solchen Leuten letztlich ein Narrenimage zu verpassen.

Der Mainstream ist die Summe der öffentlichen Äußerungen, die aufmüpfig genug sind, um den Anschein von Meinungsfreiheit zu erwecken, und brav genug, um die sich daraus ergebenden, erforderlichen Veränderungen verläßlich zu verhindern. Diese Summe pendelt sich auf wundersame Weise immer wieder wie von selbst ein. Doch manche Wunder haben eine profane Erklärung: Journalisten sind am Mainstream persönlich materiell interessiert. Bei einer alternativen Zeitschrift verdient man ein Fünftel dessen, was eine etablierte dank ihrer Anzeigenkunden abwirft. Es gehört einiger Idealismus dazu, als jemand, der schreiben kann, sein Fell nicht der Gewinnmaximierung zu opfern.

8  George Soros: Die Krise des globalen Kapitalismus. Offene Gesellschaft in Gefahr. Berlin  1998 

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So erklärt sich, daß die letztlich konformen Zeitungen nicht nur mehr Hochglanzpapier und mehr Korrespondentenbüros haben, mehr Marketing und mehr Designer, sondern auch mehr gute Schreiber und Fotografen. Und damit mehr Leser. Allein die Mengenverhältnisse der konsumierten Meinung versprechen den Sieg konservativer Selbstgerechtigkeit. Ein Umdenken könnte allenfalls bei stetig wiederholter Aufdeckung der verhängnisvollen Mechanismen einsetzen. Aber davon kann keine Rede sein. Keine der etablierten Parteien, keines der etablierten Medien stellen ernsthaft und anhaltend Machtfragen. Auf die zu erwartenden Konflikte im Verteilungskampf wird nicht vorbereitet.

Die Journalisten sind auf vielfältigste Weise den anderen Privilegierten der politischen Klasse verbunden. Mein Presseausweis z.B. ermöglicht mir lohnenden Rabatt beim Kauf von Autos, Computern und Handys und öffnet oft kostenlos die Türen von Theatern und Museen. Die meisten Journalisten sind schlau genug, die Freiheit der Meinung als Freiheit zur Bewahrung ihrer Vorrechte zu nutzen. Pressefreiheit kann zwar einzelnen Machthabern, nicht aber den privilegierenden Machtstrukturen des kapitalistischen Systems gefährlich werden. Was nutzt ein Pluralismus, der nie zu einer einschneidenden Richtungsänderung führt?

Habe ich etwa etwas gegen Meinungsfreiheit? O nein, ich bin gerade dabei, sie zu praktizieren. Ich habe allerdings etwas gegen die Behauptung, die Medien und ihre Macher seien frei. Natürlich gibt es keine plumpe Gleichschaltung nach DDR-Manie. Abweichung wird durch permanenten Widerspruch in sich viel besser paralysiert. Aber die Versuche der Kanzler Brandt und Schmidt, ein Presserahmengesetz zu erlassen, das den Mißbrauch verlegerischer Macht einschränkt, sind seinerzeit gescheitert. Das Versprechen von innerredaktioneller Pressefreiheit blieb uneingelöst. Warum müssen Medien eigentlich in privater Hand sein? Die Forderung: «Enteignet Springer» ist über dreißig Jahre alt.

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Derartige Fragen sind anrüchig und verdächtig. Systemkritik führt unverändert geradewegs zu dem Vorwurf der mangelnden Verfassungstreue. Die politische Klasse tabuisiert, daß die Verfassung aber längst nicht das ganze System legitimiert. Das heutige westliche System setzt sich zusammen aus der Gesellschafts­ordnung, also Demokratie und Rechtsstaat, und der Wirtschaftsordnung, also Privatkapital privilegierende Marktwirtschaft — auch Kapitalismus genannt. Ich kenne keinen ernstzunehmenden Menschen, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abschaffen will. Dagegen kenne ich nicht wenige ernstzunehmende Leute, die sich Demokratie und Rechtsstaat durchaus ohne Kapitalismus vorstellen können. Und mit dieser Vorstellung sind sie wiederum durchaus in Übereinstimmung mit den Schöpfern des Grundgesetzes, die sich in weiser Voraussicht zur Wirtschaftsordnung gar nicht geäußert haben. Daß die Bundesrepublik ein «demokratischer und sozialer Bundesstaat» sei, ist laut Art. 20 schon die weitestgehende Formulierung.

Dagegen werden die von Rousseau geforderten «einschränkenden Bestimmungen über das Eigentum» zum gefälligen Gebrauch angeboten. Art. 14 ermöglicht, daß Schranken bei der Gewährleistung von Eigentum und Erbrecht durch Gesetz bestimmt werden können. Die Eigentümer werden verpflichtet, ihr Eigentum nicht nur für sich, sondern zugleich zum Wohle der Allgemeinheit zu verwenden. Enteignungen sind zulässig. Die Entschädigungshöhe darf den Interessen der Allgemeinheit nicht widersprechen.

1985 forderte die IG-Metall vergeblich die Verstaatlichung der Stahlindustrie. Wann wäre von Art. 15, der den Titel «Sozialisierung» trägt, schon Gebrauch gemacht worden? Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung in Gemeineigentum überführt werden.

Diese beiden Artikel sind im wahrsten Wortsinn Gold wert.

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Bei einer (vorerst wohl nicht zu erwartenden) neuen Verfassungsdiskussion müssen sie, neben vielen anderen, wie ein Augapfel gehütet werden. Denn das Grundgesetz ist für eine demokratische Marktwirtschaft, die von manchen Sozialdemokraten und Sozialisten immer noch Demokratischer Sozialismus genannt wird, bestens geeignet.

Welche Art von gemischtem Eigentum dann die sinnvollste sein wird, kann ich nicht beurteilen. Theoretiker, Ökonomen streiten darüber. Könnte eine breite Streuung von Miteigentum an den Produktions­mitteln die Lösung sein? Ein Volk von Kleinaktionären? Ein wesentlicher Teil der Gewerkschaften bestreitet dies. Jeder Aktionär, ob klein oder groß, hat Motive, die volkswirtschaftlich nicht vernünftig sind. Solange die Wirtschaftssteuerung ausschließlich auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, richten sich auch die Interessen der Kleinaktionäre gegen die öffentlichen Bedürfnisse, wie Umweltschutz, Ausbildung, Gesundheit und Kultur. Eine Proletarisierung der Aktionäre ist keine Gewähr dafür, daß die Gesamtheit der Interessen des Volkes berücksichtigt wird. Sozialdemokraten sahen die Lösung lange in der stärkeren Verfügungsgewalt des Staates über das Privateigentum, bei Sozialisten höre ich neuerdings Konzeptionen für stärkere private Verfügungsgewalt über Gemeineigentum (Nutzungsverträge). Was immer sich als richtig erweisen wird — man muß anfangen, öffentlich darüber zu streiten. Doch wer wird es unter den beschriebenen Bedingungen wagen? Unser Kanzler und Tony Blair wohl kaum.

Es gibt bekanntlich vage Hoffnung aus zwei Richtungen. Der massenhafte Leidensdruck von unten entlädt sich in einer neuen, außerparlamentarischen Opposition. «Der Anstoß hierzu kann nur von denjenigen erwartet werden, die unter den gegenwärtigen Mißständen am stärksten zu leiden haben. Das sind in den Industriestaaten mit ihrer <Zwei-Drittel-Gesellschaft> all diejenigen, die zum vergessenen Drittel der Gesellschaft gehören. Viele von ihnen sind allerdings psychisch so gebrochen, daß zu zweifeln ist, ob sie sich noch aufraffen können, ihre Resignation zu überwinden und sich mit Nachdruck für die erforderlichen Reformen einzusetzen.»9

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Ich hoffe, hier sieht Ekkehart Stein zu schwarz. Angesichts der Wucht der Probleme, die auf uns zukommen, vermute ich eher: Wenn das 20. Jahrhundert auch das Jahrhundert der Arbeiterbewegung war, so wird das 21. Jahrhundert auch das Jahrhundert der Arbeitslosenbewegung werden.

Die zweite vage Hoffnung bezieht sich auf den Selbsterhaltungswillen der politischen Klasse. Wenn die sozialen und ökologischen Belastungen für die Mehrheit der Bevölkerung die Grenze des Zumutbaren überschreiten, so daß ein Zusammenbrechen der Wirtschaft und damit der eigenen Privilegien droht, wird es zu einem Einlenken kommen.

Gebraucht wird Druck von unten und Einsicht von oben. Einer, der für beides steht, ist Ministerpräsident Reinhard Höppner, dem trotz seiner Position die Perspektive der Macht immer noch fremd ist, der sich seinen Blick von unten bewahrt hat und entsprechend gescholten wird. Auf einer Tagung in Tutzing im März dieses Jahres sagte er: «Wenn zwei Unternehmen Konkurrenten im Wettbewerb sind und einer in Konkurs geht, hat der andere damit noch lange keine Überlebensgarantie. Es könnte ja sein, daß die ganze Branche zusammenbricht. Was besser ist, muß noch lange nicht gut sein. Offenbar aber fällt es einem Sieger schwer, die Grundlagen seines Sieges in Frage zu stellen. Der Besiegte dagegen hat es inzwischen gelernt, sich in Frage zu stellen. Das darf er, das wird ihm erlaubt. Aber darf er auch die Methoden des Siegers hinterfragen? Wer es tut, hört schnell den Vorwurf, nicht auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen.»10

 9   Ekkehart Stein, ebenda S. 174  
10  Reinhard Höppner: 50 Jahre deutsch-deutsche Geschichte  — Versuch einer Bilanz, Vortrag in der Evangelischen Akademie Tutzing am 12.3.99 

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Geheime Beschußsache. Vorgang IA. 

 

Politiker müssen auf die Einhaltung der Verfassung einen Eid schwören, weil ihnen die Macht übertragen wird, die Verfassung unter Umständen zu brechen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Was aber müßte ein einfacher Bürger anstellen, um «nicht auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen»? Selbst ein Krimineller wird nicht Verfassungsfeind genannt, wenn der Schuldige für seine Verurteilung nur die in Art. 92 definierte rechtssprechende Gewalt anerkennt. Wenn Verstöße wegen Volksverhetzung verurteilt werden, wird das Strafgesetz bemüht, nicht die Verfassung. Welche Art Feind also muß man sein, um Feind der Verfassung genannt werden zu dürfen?

Ist Verfassungsuntreue etwa ein Straftatbestand? Schließlich muß alles erlaubt sein, was gesetzlich nicht verboten ist. Oder gibt es Grauzonen, die vom Recht nicht abgedeckt sind und daher geschützt werden müssen durch Gelöbnisse und Bekenntnisse zur Verfassung, wie sie Beamten und demnächst Asylsuchenden abgefordert werden? Ein Gelöbnis ist kein Eid, im Ernstfall kann sich kein Richter darauf berufen. Also, was soll der Unfug? Ist das Beamtenrecht eine staatliche Garantie für Privilegien, um den Preis des Verzichtes auf Opposition?

Der Vorzug des Rechtsstaates besteht gerade darin, daß man ihn schonungslos kritisieren darf. Kritik an Gesetzen, an Rechtsprechung und am Zustand der Demokratie sind von der Verfassung nicht nur gedeckt, sondern geschützt, ja erwünscht. Es genügt auch nicht, in entschiedener Opposition zum System zu stehen, um sich Verfassungsfeind schimpfen lassen zu müssen. Denn Opposition ist die Seele der Demokratie. Ein Journalist wollte wissen, ich stünde in Fundamentalopposition zum System. Das hat mich sehr belustigt. Habe ich an den Fundamenten gerüttelt? Schade, daß ich davon gar nichts gemerkt habe. Wüßte ich doch nur zu gern, wie das geht!

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Artikel 18  besagt, daß derjenige den Anspruch auf Grundrechte verwirkt, der die freie Meinungsäußerung «zum Kampfe gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung mißbraucht». Ist irgendwo definiert, an welchem Punkt Kritik in Kampf übergeht? Für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei ist laut Grundgesetz allein das Bundesverfassungsgericht zuständig. Weder der Begriff verfassungsfeindlich noch die Idee, diese Eigenschaft könnte einzelnen Personen zugeschrieben werden, kommt im Grundgesetz vor. In der Praxis aber betreibt der Verfassungsschutz, geschützt durch seinen edlen Namen und assistiert von einzelnen Politikern und Journalisten, Denkprüfung, Zitatklauberei, Gesinnungskontrolle. Empfindlich reagiert wird auf beinahe jede Kritik an der Macht, insbesondere aber auf alles, was den Parlamentarismus betrifft.

Der Grundgedanke der Demokratie besteht darin, daß Mehrheiten bestimmen, wo es langgeht. Das ist ein Ideal, von dem die meisten Demokratien vorerst weit entfernt sind, fast überall bestimmen Minderheiten. Was aber, wenn Mehrheiten aus Frust darüber ein undemokratisches Programm wählen, also die Demokratie abschaffen wollen, wie am Ende der Weimarer Republik? Den Willen der Mehrheit nicht zu respektieren widerspricht der Demokratie, ihn zu respektieren in diesem Falle aber auch. Die Frage ist zum Glück hypothetisch, nichtsdestotrotz — soweit ich sehe — unbeantwortet. Der einzige Schutz: die Demokratie so attraktiv wie möglich zu machen.

Um dies zu erreichen, ist darüber nachzudenken, wie die ursprüngliche Idee wenigstens ansatzweise verwirklicht werden kann: Parlamentarier haben die Meinung ihrer Wählergruppe im Parlament zu vertreten und nicht ihre Karriere. (Minister kommt aus dem Lateinischen und heißt Diener.) Als in den Vereinigten Staaten in der Zeit um 1790 die ersten Repräsentativverfassungen eingesetzt wurden, kamen auf einen Kongreß­abgeordneten schätzungsweise 5000 Konstituenten. Unter diesen Bedingungen konnten die Autoren der amerikanischen Verfassung davon ausgehen, daß das garantierte Petitionsrecht, kombiniert mit Versammlungs- und Meinungsfreiheit ausreicht, um lebendige Demokratie zu gewährleisten. Das erwartete Bevölkerungs-

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Wachstum glaubte man durch entsprechend mehr Abgeordnete ausgleichen zu können. Als die Sitzzahl von 435 erreicht war, beschloß man, nicht darüber hinauszugehen, weil eine größere Versammlung nicht mehr arbeitsfähig wäre. Heute soll ein Kongreßabgeordneter 450.000 Wähler vertreten.

Ein Bundestagsabgeordneter hat die ebenso unlösbare Aufgabe, 120.000 mitspracheberechtigten Bürgern gerecht zu werden. Deshalb wäre dringend über vorparlamentarische Meinungsbildung nachzudenken. In einzelnen Ländern der USA haben sich, zumindest für kommunale Entscheidungen, untergliederte Plenarversammlungen der Bürger bewährt, bei denen kleine Gruppen ihre Ansichten und Beschlüsse an aus Delegierten bestehende Versammlungen weitergeben und so fort bis nach «ganz oben». Das Zeitalter des Internet gebietet auch darüber nachzudenken, wie sich die Bürger in Entscheidungsfindungen einbeziehen lassen, und zwar nicht nur, wenn es um die örtliche Badeanstalt geht. Die Demokratie darf angesichts einer sich revolutionierenden Wirklichkeit nicht statisch bleiben — sonst wird sie lebensfremd.

Nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts verdient das Motiv, die freiheitlich demokratische Grund­ordnung schützen zu wollen, uneingeschränkte Anerkennung. Wohlgemerkt: die freiheitlich demokratische Grundordnung ist Demokratie und Rechtsstaat, nicht Kapital-Oligarchie. Die Demagogie besteht darin, denjenigen, die die Wirtschaftsordnung kritisieren, zu unterstellen, sie würden das ganze System ablehnen, und diejenigen, die die Demokratie in Gefahr sehen, als gefährlich hinzustellen.

Ein alter Streit. Immer noch aktuell ist die Kontroverse, die im Vorfeld des Radikalenerlasses 1972 stattfand. Der damalige Arbeitgeberchef Otto Friedrich vertrat die Ansicht, die freiheitlich demokratische Grundordnung sei das Bestehende, das es zu verteidigen gelte. Eugen Loderer von der IG-Metall hielt ihm entgegen, die freiheitlich demokratische Grundordnung sei ein Auftrag, den es zu erfüllen gelte. Er dachte dabei an mehr Mitbestimmung in Betrieb und Gesellschaft.

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Der Flick-Manager dachte an den Kapitalismus, der bleiben sollte, wie er war. Drei Jahre später veröffentlichte Peter Schneider im Rotbuch Verlag sein Manuskript: «... schon bist du ein Verfassungsfeind. Das unerwartete Anschwellen der Personalakte des Lehrers Kleff».

Als Kämpfer gegen die FdGO würde ich jemanden bezeichnen, der zur Abschaffung freier Wahlen aufruft, zur Abschaffung der freien Meinungsäußerung, der (ja, doch) Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, zur Verletzlichkeit der Wohnung, zur Enteignung von Eigentum über das vom Grundgesetz eingeräumte Maß hinaus, zur Abschaffung des Rechtes auf Leben in Frieden.

Hat es in der Geschichte der Bundesrepublik je einen Bürger gegeben, der auch nur einen solchen Unfug verlangt hätte?

Warum übrigens in Deutschland die Demokratie als gefährdet angesehen wird, wenn Kommunisten zum Staatsdienst zugelassen werden, in Westeuropa dagegen, wenn sie nicht zugelassen werden, konnte auch noch niemand erklären. Oder doch, der Europäische Gerichtshof: indem er ein nach dem Radikalenerlaß ergangenes Berufsverbotsurteil für verfassungswidrig erklärte. Der Beschuldigten war kein Verstoß gegen einen konkreten Verfassungsartikel nachzuweisen. So wie den übrigen Zehntausend, die nach dem Radikalenerlaß verurteilt wurden, auch nicht.

In Rechtsstaaten wie Großbritannien und Neuseeland, die gar keine geschriebene Verfassung haben, gibt es natürlich auch keine Verfassungsfeinde. In den USA ist dieser Begriff ebenfalls unbekannt, weil die dortige Verfassung, trotz ökonomischem Lobbyismus, ein so großer Wurf ist, daß niemand auf die Idee käme, sie nicht zu verehren. Der Streit beginnt bei der Auslegung, bei der Interpretation der Verfassungswirklichkeit.

Und bei uns? Natürlich ist es auch nicht verboten vorzuschlagen, die Verfassung zu ändern. Man muß nur Mehrheiten davon überzeugen können. Ich kann mich zwar nicht erinnern, daß einer Bürgerinitiative so etwas je geglückt wäre (mal von der Wende-DDR abgesehen).

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Eben ist in Berlin ein (auch von mir unterstützter) «Aufruf für mehr Demokratie» gescheitert. Zum 50. Geburtstag des Grundgesetzes haben tausende Bürger, unter ihnen unsere Justizministerin, einen Volksentscheid über die Einführung des bundesweiten Volksentscheides gefordert: «Die demokratische Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger weiter darauf zu beschränken, daß sie alle vier oder gar fünf Jahre ihre Stimme <abgeben> dürfen, heißt, sie in Unmündigkeit zu halten.» 

70 Prozent der Bürger sind dieser Meinung. In einer von Politikverdrossenheit gekennzeichneten Zeit, in der weniger als die Hälfte der Berechtigten zur (Europa-)Wahl gehen, leistet sich das Berliner Verfassungsgericht dennoch die obrigkeitsstaatliche Auffassung, eine von Bürgern initiierte Veränderung der Verfassung sei nicht vorgesehen. Das heißt, der Staat verzichtet dankend auf Bekundungen der Bevölkerung, in welchem Sinne sie regiert werden will. Die Wähler dürfen Abgeordneten zu Macht und Diäten verhelfen, sollen sie dann aber nicht weiter belästigen.

Daß Verfassungsänderungen letztlich nur von Parlamenten beschlossen werden können, ist unbestritten. Das verbietet den Repräsentanten aber nicht, die von ihnen Repräsentierten vorher anzuhören.

Das Grundgesetz braucht mehr Änderungen als die meisten anderen Verfassungen in Demokratien. Nicht weil es schlechter ist, sondern weil es auf deutsche Art so gründlich ist. Während sich die meisten Verfassungen auf Staatsziele und die Garantie der Grundrechte beschränken, gibt es im GG keinen staatstragenden Atemzug, der nicht geregelt wäre. Vieles davon geht über das Fassungsvermögen von Normalbürgern wie mir hinaus: Art. 28 Abs. 2, S. 3: «Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverwaltung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.»

Das wird schon seine Ordnung haben, auch wenn ich nicht sicher bin, ob es in allen östlichen Gemeinden überhaupt noch eine eigene «wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle» gibt.

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Jedenfalls muß man da, wo man konkreter wird, die Details der gesellschaftlichen Entwicklung natürlich öfter anpassen. Auch unter diesem Gesichtspunkt hat der Begriff der Verfassungstreue einen merkwürdigen Beiklang. So haben die Bundestagsabgeordneten in 50 Jahren schon 46mal die Treue gebrochen und das Grundgesetz geändert, während die Verfassung der USA in 200 Jahren nur 20 Anpassungen erfuhr.

Die Grundgesetz-Änderungen waren übrigens leider «meist zum Schaden der Grundrechte. Die Wehrverfassung und die Notstandsverfassung haben die Freiheitsrechte hart beschnitten. Die Asylneuregelung (Art. 16aGG) und die Ermächtigung zum großen Lauschangriff (Art. 13GG) haben der staatlichen Gewalt Rechte eingeräumt, die nur zu leicht mißbraucht werden können.»11  Wie wäre es denn, in diesem Zusammenhang einmal von Verfassungsfeinden zu sprechen?

Parlamentarier und Juristen sind die einzigen, die die Macht haben, die Verfassung zu brechen und zu beschneiden. Und dies tun sie auch. Und nur ein paar hergelaufene Intellektuelle wagen es, den Vorgang beim Namen zu nennen. Günter Grass: «Zwar haben und bezahlen wir eine Behörde — oder nennen wir es ein Organ —, die sich Bundesverfassungsschutz nennt, doch wie soll dieser Apparat schützend wirksam werden, wenn die Verfassungsfeinde nicht etwa im Verborgenen wühlen, sondern als Parlamentarier im Bundestag sitzen und mit satter Mehrheit ein Abbruchunternehmen betreiben, das mit Fleiß jenes schöne Gebäude ruiniert, auf das viele Bürger, so auch ich, jahrzehntelang als Verfassungspatrioten stolz gewesen sind?»12

Wenn einerseits Parlamentarier Grundrechte einschränken und andererseits das ehrenwerte Motiv, die Demokratie bewahren zu wollen, zum Grundgesetz-Fetischismus verkommt, der die Verfassung als Synonym für den Status quo mißbraucht und Weiterdenkende einschüchtert, dann ist Gegenwehr geboten.

 

11  Grundrechte-Report 1999, Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Reinbek 1999, S. 12. 
12  Fragen zur deutschen Einheit, Reinhard Höppner im Gespräch mit Günter Grass, Halle 1998, S. 196

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Eine Verfassung enthält Grundrechte, die den einzelnen gegenüber dem Staat schützen. Dagegen kann kein einzelner etwas haben. Aber der Staat dreht den Spieß gern um, indem er so tut, als sei die von ihm geschaffene Verfassungswirklichkeit die Verfassung selbst, die wiederum vor den Bürgern zu schützen wäre. Der Begriff des Verfassungsfeindes ist nichts als eine ideologische Disziplinierungskeule. Die Diskussion um Verfassungstreue ist eine Phantomdiskussion, die vergessen machen soll, daß Machtfragen zu stellen nicht verboten ist. 

  

 Seitengalerie.  Plattform X3X.  

 

Nicht nur die Kommunikation zwischen Bürgern und Politikern ist gestört, sondern auch die zwischen Intellektuellen und Politikern. Zwischen Basis und Macht und Macht und Geist. Ist das denn je anders gewesen? In der DDR sowieso nicht und zu Zeiten von Erhards «Pinschern» und Strauß' «Ratten und Schmeißfliegen» wohl auch nicht. Vielleicht ein wenig in Umbruchzeiten wie 1968, dann während der «neuen Ostpolitik», dann 1989. Dann kam wieder die alte Ostpolitik. Und wer sie nicht als neue Errungenschaft pries, bekam es zu spüren.

Nach den hysterischen Reaktionen auf die Paulskirchenrede von Günter Grass sagte die damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende Herta Däubler-Gmelin zu Recht, es habe sich wieder einmal gezeigt, «daß diejenigen, die in Bonn die Musik angeben, im Grunde genommen Intellektuelle und Dichter verachten». Die Mächtigen der Politik wiesen ihrer Meinung nach den Intellektuellen eine rein schmückende Rolle für PR-Empfänge und Gala-Diners zu. Inzwischen haben wir Rot-Grün, aber nicht mehr Anerkennung, sondern weniger Gala-Diners.

Vielleicht muß das so sein. Große Literatur ist immer eine Zumutung. Geist und Macht können nur getrennt existieren.

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Zumindest hat dieses konfrontative Dasein in Deutschland Tradition. Schriftsteller, die eine Gastrolle in der Politik gegeben haben, riskieren, danach an der himmlischen Pforte des Literaturbetriebes zurückgewiesen zu werden. Denn so was schickt sich nicht für Leute, die zu Besserem berufen sind.

In anderen Kulturen hat man zu dichtenden Politikern durchaus ein respektvolles Verhältnis: Der einstige Ministerpräsident Leopold Senghor aus Senegal war ein international anerkannter Lyriker. Neruda und Asturias vertraten ihre Staaten als Botschafter, Mario Vargas Llosa kandidierte für die Präsidentschaft. Der spanische Schriftsteller Salvador de Madariaga war Außenminister, bis Franco kam. Als Franco ging, war Jorge Semprún Kulturminister. In Frankreich verdingten sich nach dem Krieg schon mehrere Schriftsteller als Kulturminister: Edmond Michelet, Andre Malraux, Maurice Druon. Vaclav Havel ist Präsident. Aitmatow erfreut sich seines Botschafterpostens in Brüssel. Die Lyrikerin Blaga Dimitrova schlägt sich tapfer als Vizepräsidentin Bulgariens. Ibrahim Rugova amtiert immer noch als der tragische Präsident des Kosovo.

Ich will ja nicht sagen, Dichter sind bessere Politiker, nur daß sie es überhaupt sind — andernorts. In Deutschland war mit Geist offenbar kein Staat zu machen. Nach dem Geheimen Rat und Staatsminister Goethe war eigentlich Schluß. Ein bißchen Hofrat Mörike noch, ein bißchen Oberamtsrichter Storm, ein bißchen Forster als Abgesandter des Nationalkonvents, ein bißchen Kammergerichtsrat E.T. A. Hoffmann. Die Kaiserzeit schickte nur den apologetischen Dramatiker Ernst von Wildenbruch als Beamten ins Auswärtige Amt. Und selbst in den goldenen Zwanzigern durften die Künstler nur jenseits von Ämtern alles. Das 3. Reich war nicht nur intellektuellenfeindlich, sondern intellektuellentödlich.

Die DDR startet gar nicht so schlecht: J.R. Becher wird Kulturminister, Erich Weinert Vizepräsident der Zentralverwaltung für Volksbildung, F.C. Weiskopf geht als Botschafter nach Peking, Eduard Claudius wird erst als Generalkonsul nach Syrien geschickt, dann als Botschafter nach Vietnam.

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 Daß Otto Gotsche so etwas wie Ulbrichts Sekretär war, spricht für keinen von beiden. Endlich dann eine Frau: Christa Wolf wird Kandidatin des ZK der SED. Sehr kurz. Dann wird kein Autor mehr was.

Und in der Bundesrepublik? Wahrscheinlich kenne ich sie zu wenig, so daß mir nur die zwei Legislaturperioden von Dieter Lattmann als SPD-Bundestagsabgeordneter einfallen. Sein Fazit klang auch nicht gerade so, daß es dringend geboten schien, Leute der schreibenden Zunft weiterhin hinter die Kulissen schauen zu lassen. Er beklagte das «Ausmaß der Fremdbestimmung vieler im Bundestag Handelnder durch außerparlamentarische Kräfte in Wirtschaft und Berufsorganisation»13 und kam zu dem Schluß, es könne sich «bei der Bundesrepublik schwerlich um eine Demokratie handeln. Jedenfalls nicht um die, welche das Grundgesetz meint.»

Um mich blickend ist mir, als hätte ich nie anderes gehört. Heiner Müller: «Demokratie gibt es ja gar nicht. Das ist auch eine Fiktion. Es ist nach wie vor eine Oligarchie, und anders hat die Demokratie noch gar nicht funktioniert. Es sind wenige, die auf Kosten von vielen leben ... Ich kann da nicht in Jubel ausbrechen über Freiheit und Demokratie.»14

Irgendwann haben die Schriftsteller aufgehört, für Wahlämter zu kandidieren, sich davor bewahrend, Nichtlesern ausgesetzt zu sein, die sich von der Rolle der Intellektuellen, nämlich in Frage zu stellen, automatisch provoziert fühlen.

Ausnahmen kommen eben bestenfalls in Aufbruchzeiten vor. Die kleine PDS hat in der kurzen Zeit ihres Daseins schon mehr Künstler in Parlamente gebracht als alle großen Parteien zusammen: Stefan Heym, Gerhard Zwerenz und die sorbische Autorin Angela Stachova waren im Bundestag, Helga Königsdorf hatte kandidiert. In den Landtagen sitzen Leute anderer Branchen: Theater, Malerei, Architektur.

 

13  Dieter Lattmann, Deutsch-deutsche Brennpunkte, Ein Schriftsteller in der Politik, Berlin 1990, S. 20 
14  Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht, 1994 Köln, S. 492. 

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Wenn es der PDS gelingen würde, an die frühe DDR-Tradition anknüpfend, auch künftig mehr kritische, unabhängige Geister für öffentliche Ämter zu interessieren und durchzubekommen, wäre vielleicht ein kleiner Durch­bruch geschafft. 

 

Triumvirat.  Abweisung CL12.  

 

Wie sehr solche Geister mit Diffamierungen rechnen müssen, hat nicht nur Stefan Heym erlebt. Bei ihm kamen drei Diskriminierungsgründe zusammen: Ostdeutscher, Intellektueller, von der PDS vorgeschlagen. (Daß es einen vierten Grund gegeben haben könnte, will ich nicht glauben.)

Den meisten Amtsinhabern macht allein der erste Grund schon genügend zu schaffen. Auf allen Ostdeutschen, die einen Posten abbekommen, liegt ein erhöhter Anpassungsdruck. Eine zusätzliche Bürde — die Beweislast, keine Altlast zu sein. Niemand soll mir weismachen, die östlichen Wende- und Nachwendeeliten hätten nicht ihren Anteil am Dilemma. Wer einmal ist im Parlament, gehört schon zum Establishment. Es war die Mehrheit der freigewählten Volkskammer, die den Verfassungsentwurf des Runden Tisches abgelehnt und dem Prinzip «Rückgabe vor Entschädigung» zugestimmt hat. So manche der positiv Evaluierten sind nicht nur Besser-, sondern Bestwessis.

So habe ich mich immer gewundert, daß man sich nicht stärker auf das Grundgesetz beruft, um ostdeutsche Interessen einzuklagen. Damit meine ich nicht einmal das uneingelöste Versprechen aus Art. 146 (und dem Einigungsvertrag), dem deutschen Volk (innerhalb von zwei Jahren) eine Verfassung zur «freien Entscheidung» vorzulegen. Auch darüber hinaus ist die Einheit juristisch nicht vollendet. «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich» (Art. 3 GG) ist vorerst ein schöner Traum in Deutschland.

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Ein Grundgesetzartikel trägt sogar folgende Fußnote: «Für das Gebiet der ehem. DDR gilt Art. 131 gem. Einigungsvertrag vorerst nicht.» Warum das so ist, hat öffentlich noch niemand erklärt. Unbestreitbar aber sind im Osten, wie in einem Versuchsfeld für künftige Sozialkürzungen, zahlreiche arbeits-, tarif- und rentenrechtliche Bestimmungen außer Kraft gesetzt. Dafür gilt das verheerende Vermögensgesetz nur im Osten, so daß Ansprüche Ostdeutscher im Westen nicht anerkannt werden. Vorkaufsrechte von Alteigentümern erschweren den einstigen Bewirtschaftern volkseigener Güter den Kauf von Bodenreformland. Auch dreißigjähriger, postmortaler Persönlichkeitsschutz auf der einen und gläserner Mensch auf der anderen Seite entsprechen kaum dem Gleichheitsgebot.

Am 24.10.1996 hat das Bundesverfassungsgericht einen Beschluß gefaßt, den die Presse als «juristisch sensationell» feierte. Das Gericht hob das absolute Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes für Angeklagte aus der DDR ebenso auf wie die Bestimmung des Einigungsvertrages, wonach die juristische Abrechnung nur nach DDR-Strafrecht zu erfolgen habe. Damit hatte es seine Kompetenz überschritten, aber das störte nicht weiter. Durch die zweimalige Verlängerung von Verjährungsfristen — ein in der Rechtsgeschichte einmaliger Vorgang — wurde das Sonderrecht Ost komplettiert. Nur mit diesem verschleierten Naturrecht konnten die zigtausend Ermittlungsverfahren zum «systembedingten Unrecht» überhaupt öffentlichkeitswirksam begründet werden.

Wenn man bedenkt, daß letztlich nur in 22 Fällen Haftstrafen ohne Bewährung ausgesprochen und selbst diese Verurteilten aus gesundheitlichen Gründen meist bald laufen gelassen wurden, kann man von Siegerjustiz wirklich nicht sprechen. Aber nachdenklich muß es dennoch stimmen, daß ohne Sonderrecht nicht einmal in diesen 0,1 Prozent aller Verfahren Urteile möglich gewesen wären.

Um Rechtsfrieden und Versöhnung zu befördern, brauchen wir weder eine Amnestie noch ein Schlußgesetz. Gäbe es im Osten wirklich Westrecht, wären Verurteilungen bis auf Exzeßfälle nicht mehr möglich. Zehn Jahre nach Mauerfall fehlt nichts anderes als endlich gleiches Recht in Ost und West. 

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Ostdeutsche Verantwortungsträger neigen nicht selten zur Verklärung dessen, was sie da mittragen. Von ihnen wird ein besonders hohes Maß an Identifikation erwartet. Sie haben ihre Lektion gelernt, wonach unter innerer Einheit eine Grundsympathie gegenüber der Verfassung (gemeint ist: die Verfassungswirklichkeit), der Marktwirtschaft und der Westintegration sowie eine nationale Identifikation erwartet wird.15 Entsprechend respektvoll möge der Diskurston auf der Bühne ausfallen.

Ironie und Zynismus (zu deutsch: beißender Spott) sind, so es sich um Fragen der Macht handelt, ein schweres Delikt. Das Geständnis, daß einen die ganze Vorstellung langweile, ertragen Regisseure und Darsteller nicht. Die Obrigkeit erwartet Applaus. Als Heym auf Anregung von Brecht einen Essay mit dem Titel: «Die Langeweile von Minsk» schrieb, durfte der in der DDR nicht erscheinen. Und als später Braun sich zu der Behauptung verstieg, die DDR sei «das langweiligste Land der Welt», da war der Staatsfeind (h)ausgemacht.

Bis heute grüßt das Traditionsbewußtsein. Dabei läßt sich doch eine gewisse Kurzweiligkeit des jetzigen way of life nicht leugnen. Allein im Innern nagt die Unlust, die sich durchaus auch als Langeweile beschreiben läßt, auf eine Jahrhundertaufgabe zurückgeworfen zu sein: die Zähmung des Kapitals. In diesem Punkt war man im Osten tatsächlich weiter. Wenn etwas aus dem Realsozialismus noch einmal wertvoll sein könnte, dann ist es die antikapitalistische Erfahrung. Daß dabei die Vorzüge des westlichen Systems gleich mitgezähmt wurden, gehört zu den tragischen Irrtümern, die lehrreich sein könnten, wenn nur jemand danach fragen würde. 

 

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 15)  siehe Hans-Joachim Veen: Innere Einheit — aber wo liegt sie?, in Politik und Zeitgeschichte, B 40-41 / 97, S. 19-28 

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Anfechtung

Erste Akteneinsicht 

 

 

«Dies ist nicht mein Land» — ein solches Eingeständnis verstößt gegen die angemahnte Grundsympathie. Es darf sich nur leisten, wer im Begriff ist, zu gehen, nicht, wer noch dabei ist, anzukommen. 1980 veröffentlichte Lea Fleischmann das vielbeachtete Buch «Dies ist nicht mein Land — Eine Jüdin verläßt die Bundesrepublik». In seinem ausgezeichneten Nachwort schrieb Henryk M. Broder: «Lea Fleischmann ist nicht weggegangen, weil sie als Jüdin angegriffen wurde. Sie ist weggegangen, weil sie sich nicht an einem <Demokratiespiel> beteiligen wollte, unter dessen Oberfläche die alten Regeln von Befehl und Gehorsam, Hochmut und Duckmäusertum weiterhin gelten und befolgt werden ... Wer sich nicht unterwirft, findet sich bald außerhalb der <Gemeinsamkeit aller Demokraten> wieder, wird entweder abgestoßen oder zur Räson gebracht.» 

Welche der beiden Optionen mag der Autor gewählt haben? Was wird für mich in zwanzig Jahren zutreffen?

Damals fuhr Broder fort: «Wer als glaubwürdiger Demokrat gelten will, muß sich ständig von irgendwelchen Radikalen oder Extremisten distanzieren, alle politischen Kräfte, selbst die CSU, behaupten von sich, <in der Mitte> zu stehen. Soviel radikale Mitte wie in der Bundesrepublik gibt es nirgendwo in der Welt.»

Dies wiederlesend, bin ich an eine Episode aus dem vergangenen Herbst erinnert. Gerade in heftige Auseinandersetzungen verwickelt, hatte ich die Illusion, im fernen Indien für ein Weilchen abgeschnitten zu sein vom heimischen Theater und abgelenkt durch die Konfrontation mit wahrlich existentielleren Problemen. Ich hatte nicht bedacht, daß es auch im Land des Nirwana längst Internet gibt. Kaum war ich in Kalkutta gelandet, wurde ich mit der Frage empfangen, ob jetzt an den Ostdeutschen der Extremistenerlaß noch einmal exerziert werde. Dabei wußte ich nicht mal genau, was damals wem erlassen wurde.

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Broder, wir sind noch im selben Nachwort, weiß Episoden zu erzählen: Als der Frankfurter Schuldezernent Bernhard Mihm per Verfügung verbot, daß Mitglieder der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) in Schulen über das Dritte Reich sprechen, besuchten ihn etwa dreißig Schüler, um mit ihm darüber zu diskutieren. Mihm fühlte sich in seinem Amt bedroht, rief die Polizei. Die Schüler wurden festgenommen, im Polizeipräsidium wurden Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen, die Mädchen außerdem durchsucht. Wie findet man Zivilcourage? Oder besser: Wie treibt man sie aus?

Im Zweifelsfalle mit Geldstrafen. Im März 1979 nahmen Landwirte aus Lüchow-Dannenberg mit ihren Traktoren am «Gorleben-Treck» nach Hannover teil. Einen Monat später wurden sie von der Finanzbehörde darüber aufgeklärt, daß die Teilnahme an dieser Demonstration nicht zu den landwirtschaftlichen Aufgaben gehöre und deshalb der dabei verbrauchte, verbilligte Diesel nachversteuert werden müsse.

Bürokratie als krankhafte Disziplinierungssucht auch in Broders letzter Episode: Im Sommer 1977 hatten Demonstranten bei Grohnde aus Protest gegen das dort geplante Kernkraftwerk auf einer Wiese ein «Anti-Atom-Dorf» errichtet, was keine Straftat ist. Dennoch bekam jeder der 200 Dorfbewohner einen «Leistungsbescheid» in Höhe von 1060,- DM zugesandt. Darin wurden den Dorfbewohnern entstandene Unkosten berechnet, darunter die Anfahrtskosten für die Polizisten, die das Dorf geräumt hatten und die den Beamten gezahlten Zulagen für ihren Dienst zu ungünstiger Tageszeit.

«Justiz und Polizei erklären sich selbst für sakrosankt, eine Öffentlichkeit, die auf staatliche Arroganz noch nie sehr sensibel reagiert hat, nimmt das hin wie den verregneten Sommer ... Und so wie die Demokratie in Deutschland auf dem Verordnungswege eingeführt wurde, wird sie peu à peu auf dem Verordnungswege wieder abgeschafft16 

Diese Stimmung aus den siebziger Jahren scheint nun tatsächlich im Zuge der nachholenden Modernisierung dem Osten auferlegt. In allen meinen Büchern habe ich ähnliche (und schlimmere) Episoden beschrieben. Derartige Vorfälle sind so alltäglich, daß sie eigentlich jeder kennen muß. 

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16)  Henryk M. Broder, Nachwort zu «Dies ist nicht mein Land» von Lea Fleischmann, Hamburg 1980, S. 269

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