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Demarkationslinie

Ortung 4712

 

50-71

Die letzten Seiten handeln verdächtig oft von Repression. Was will die Autorin damit sagen? Wo bleibt das Positive? Ach jemine! (Jesu domine). Hab ich mich doch andernorts, nach seitenlanger Beispielsammlung, zu der Beobachtung verstiegen: «Mit Blick auf die von mir erlebte poststalinistische DDR und die finanzstalinistische BRD scheint mir: Die Summe der Repressionen ist immer gleich.» 

Kreuzigt sie, hieß es von Anfang an auf beiden Seiten. Im Westen: Wie kann sie es wagen, wo doch klar ist, daß ... Im Osten: Wie kann sie es wagen, wo doch klar ist, daß die Repressionen heute viel schlimmer sind.

Dabei wurde deutlich, daß der Begriff im Osten viel weiter gefaßt wird. Nicht begrenzt auf das Klischee von Gummiknüppel, Knast, Folter. Obwohl sich auch in diesem engen Sinne, wie zu sehen war, manches vergleichen ließe. Wenn die DDR-Polizei losschlug, konnte man sich darauf verlassen, daß ein ZDF-Korrespondent vor Ort dafür sorgte, daß die Bilder um die Welt gehen. Heute gibt es keinen Sender mehr, der daran interessiert wäre, einen Kameramann nach Saalfeld zu schicken.

Repression heißt im Osten aber auch nicht nur Bespitzelung, Bevormundung, Zensur. Man hat nicht vergessen, daß die DDR hier traurige Rekorde feierte. Der Begriff wird sehr wörtlich genommen: Pression, Druck, Gegendruck, Anpassungsdruck. «Poststalinistisch» beschreibt für mich eine Atmosphäre der Einschüchterung, der Verunsicherung, des Duckmäusertums, der Angst vor öffentlichem Reden, die schließlich zum Schweigen führt. Haargenau diese Konsequenz besorgt im Westen der Druck des Geldes.

Ich veranschaulichte dies mit einem Zitat von Clintons Arbeitsminister Robert Reich, der im September 1995, anläßlich der Entlassung von 12.000 Angestellten der fusionierten Großbanken Chemical und Chase Manhattan, sagte: 

«Die amerikanischen Arbeitnehmer wurden durch diese und tausend andere solcher Demonstrationen ihrer leichten Ersetzbarkeit zum Schweigen gebracht. Sie werden sich nicht beschweren, wenn sie keine Lohnerhöhung bekommen, selbst wenn ihr Unternehmen jede Menge Geld verdient. Viele werden sogar eine Kürzung ihrer Bezahlung oder der Sozialleistungen hinnehmen. Wenn man seine Entscheidung auf <entweder das oder gar nichts> reduziert sieht, kann man nicht viel sagen.»26)

Dieser Zwang zum Schweigen produziert nach Überzeugung von Ekkehart Stein «verkümmerte Menschen», die am Arbeitsplatz daran gehindert werden, Eigenverantwortlichkeit und kritisches Urteilsvermögen zu entwickeln. «Die Rechtsstellung des Arbeitgebers ... ähnelt der Machtposition eines Diktators im Staat. Damit soll nicht unterstellt werden, daß sich Unternehmer wie Diktatoren benehmen. Es wird nur klargestellt, daß die Beschäftigten den Direktiven der Unternehmer ebenso ausgeliefert sind wie die Untertanen eines Diktators seinen Befehlen.»27

Viviane Forrester spricht von dem « Gefühl der Unwürdigkeit, das zu äußerster Unterwerfung führt». Es ist der «Terror der Ökonomie», der dem Terror des Poststalinismus in nichts nachsteht.

 

26)  Robert Reich: Die amerikanische Erwerbsbevölkerung, in: Amerika Dienst 27/95, S. 2
27)  Ekkehart Stein, ebenda, S. 64

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Es ist Repression, wenn der Installationsbetrieb nur Leute anstellt, die nicht in der Gewerkschaft sind; es ist Repression, wenn der jungen Ärztin bedeutet wird, Kinder könne sie sich erst mit fünfzig anschaffen, falls sie in der chirurgischen Station bleiben wolle; es ist Repression, wenn jeder dritte Prenzlauer Berger Angst vor Wohnungsmodernisierung hat, während früher jeder Angst hatte, daß nicht instandgesetzt wird; es ist Repression, wenn der 35jährigen Rundfunkredakteurin ins Gesicht gesagt wird, daß sie für Kindersendungen nun zu alt sei und die von ihr erfolgreich entwickelte Reihe von Jüngeren übernommen wird; es ist Repression, wenn die Verkäuferinnen bei Peek & Cloppenburg vor den Kunden auf jeden Kassenzettel ihre persönliche Kennzahl kleben müssen, damit die Unternehmensleitung ihre Effektivität überprüfen kann; 

es ist Repression, wenn Taxifahrer kriminalisiert werden, falls sie Ausländer befördern; es ist Repression, wenn ein Dichter nicht mehr wie früher öffentlich darüber zu sprechen wagt, welche politisch begründete Streichung sein Verleger in seinen Stücken verlangt; es ist Repression, wenn eine Textilfirma in Darmstadt portugiesische Frauen für einen Stundenlohn von vier Mark 16 Stunden am Tag arbeiten läßt; es ist Repression, wenn einer Briefträgerin ohne Begründung ihr heimischer Zustellbezirk weggenommen wird, sie nun bei Wind und Wetter die schwere Post mit dem klapprigen gelben Fahrrad 15 Kilometer transportieren soll und bei Nachfrage zu hören kriegt, sie könne ja gehen, wenn sie was Besseres habe; 

es ist Repression, wenn Richtern, die (z.B. in Frankfurt/Oder) abweichend Recht sprechen, bedeutet wird, daß sie ihre Hoffnung auf Beförderung begraben könnten; es ist Repression, wenn ein Journalist eines öffentlich-rechtlichen Senders in Norddeutschland zu verstehen gibt, daß er es sich nicht leisten kann, auf dem Sender gegen die Nato-Bomben im Kosovo zu argumentieren;

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es ist Repression, wenn Erwerbslose im Berliner Abgeordnetenhaus mit Spruchbändern auf die überteuerten Tarife der öffentlichen Verkehrsmittel aufmerksam machen und deswegen die Kripo wegen «Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorganes» gegen sie ermittelt; es ist Repression, wenn auf einer Großbaustelle in Teltow die Polen nur ein Drittel dessen bekommen, was die Deutschen kriegen, und manchmal auch gar nichts und statt dessen Prügel; es ist Repression, wenn vor dem Berliner «Haus der Demokratie» zehn Polizeiwagen vorfahren, weil Arbeitslose einen «Aktionsspaziergang zum Sozialamt» planen ...

Und es ist Repression, wenn Autoren ihren ungläubigen Lesern solche Sätze zumuten.

*

Viele Ostdeutsche beschreiben, was sie jetzt erleben, als ein sich selbst regulierendes System der Repression. Konnte man sich früher noch als Märtyrer empfinden, bleibt heute nur, sich als selbstverschuldeter Versager zu fühlen. In der DDR mußte man sich anpassen. In der BRD muß man sich anpassen wollen. (Selbst Reichtum läßt sich nur bewahren und vermehren, wenn man die Spielregeln einhält.) Während sich heute dem existentiellen Anpassungsdruck niemand entziehen kann, lastete der ideologische Druck früher hauptsächlich auf den politisch engagierten, kritisch loyalen bis oppositionellen Bürgern.

Zwar ist der Spielraum für Widerspruch und Nonkonformismus nach dem Ende der DDR erheblich größer geworden. Wissenschaftler, Publizisten, Theologen, Künstler — alle, die früher unter besonderer Beobachtung standen, wissen das zu schätzen. Die Grenzen des Zumutbaren an Kritik sind allerdings auch heute nie genau vorherzusagen. Vorsichtige Gemüter neigen daher dazu, diese Grenzen, genau wie früher, gar nicht erst zu erkunden. Denn auf Grenzüberschreitung steht eine schlimme Strafe: Wer allzu oft abweicht, setzt sich der Gefahr aus, «geschlachtet» zu werden.

Es gibt manche Tabus in dieser Gesellschaft, aber die öffentliche Demontage von Personen gehört nicht dazu. Spätestens seit der «Verlorenen Ehre der Katharina Blum» weiß man, wie so etwas funktioniert. Geändert hat sich nichts. Der Ton hat sich eher noch verschärft.

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Der Rufmord- oder auch Hinrichtungs-Journalismus, der, wenn es sich um Frauen handelt, gern Formen von Hexenjagd annimmt, bringt nicht nur Quote. Er bedient auch die Sucht nach Feindbildern und Sündenböcken.

Die Medien, längst zur vierten Gewalt im Staate geworden, werden von allen gefürchtet — von Politikern und Unternehmern, von Intellektuellen und Künstlern. Und — als Erfahrung von Konkurrenz — auch von den Journalisten selbst. Das bringt einen Einschüchterungsdruck und Disziplinierungszwang mit sich, der der Demokratie nicht zuträglich ist. Noch nicht ahnend, was auf ihn zukommen würde, klagte Martin Waiser schon vor fünf Jahren, daß er vor lauter Denkverboten seine Meinung nicht mehr ungestraft sagen könne.28 Wo endet berechtigte Zurechtweisung, wo beginnt Zensur und Selbstzensur?

Journalisten sind, so Bourdieu, Manipulierte und Manipulierer zugleich. Der Kampf um Marktanteile ist auch als strukturelle Korruptheit zu beschreiben. Fundierte, kulturelle Aufklärung wird der Quote zum Opfer gebracht und durch dümmliche Unterhaltung ersetzt. Wird die Gier nach Sex, Crime und Sensation bedient, ist in den Werbepausen mit viel Käufern vor den Geräten zu rechnen. Da freuen sich die Wirtschaft und der Eigentümer.

Geht es um Personen, genügen schlechtrecherchierte, oberflächliche Geschichten. Die Unsitte, Äußerungen aus dem Zusammenhang zu reißen und einen ganzen Menschen auf einen halben Satz zu reduzieren, hat nicht nur Stalin gut beherrscht. Gerücht ist Macht. An seriösen westlichen Journalistenschulen wird zwar noch die Zwei-Quellen-Regel gelehrt: Bevor man einen Informanten zitiert, der nicht genannt werden will, muß die Information von mindestens einer weiteren, unabhängigen Quelle bestätigt werden, die über Wissen aus erster Hand verfügt. Doch in der Praxis ist man längst zur Null-Quellen-Regel übergegangen. Die Würde des Menschen, die der erste und wichtigste Grundgesetzartikel zu schützen vorschreibt, ist antastbar.

 

28  Martin Walser, Über freie und unfreie Rede, Der Spiegel 45 / 1994, S. 130 ff 

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Die Netze des Persönlichkeitsschutzes sind längst nicht engmaschig genug, um vor groben Verletzungen zu bewahren. Wird man falsch zitiert oder durch Verdrehungen und Halbwahrheiten verleumdet, ja, selbst bei eindeutig falschen Tatsachenbehauptungen, rät einem jeder, Zeit, Nerven und Geld für eine langwierige juristische Auseinandersetzung zu sparen. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall eines Sieges und damit verbundener öffentlicher Berichtigung würde am Ende sowieso niemand mehr wissen, worum es sich gehandelt hat, und es bliebe nur Lächerlichkeit.

Dabei wäre die Sorgfaltspflicht der Journalisten leicht zu bestärken durch ein Gesetz über die Verbindlichkeit des (bisher unverbindlich) geltenden Pressekodex: Kann ein Journalist seine Behauptung nicht belegen, wird er von einer schnell reagierenden, ehrenamtlichen Schiedskommission (gestellt möglicherweise von der IG-Medien, Anwälten, Journalistik-Dozenten) zu Berichtigung und sofortiger Zahlung von Schadensersatz aufgefordert. (In leichten Fällen beispielsweise 1000 DM, in mittleren 5000 DM, in schweren 20.000 DM.)

Damit hätte diese «Konfliktkommission» mehr Kompetenz als der weitgehend wirkungslose Presserat. Sie wäre aber nicht gegen die Pressefreiheit gerichtet, sondern schützte sie im Gegenteil vor der Zensur des Marktes. Der Journalist seinerseits müßte das Recht haben, in sensiblen Fällen von diesem Ehrengericht Quellenschutz, also Vertraulichkeit zu verlangen. Wenn diese Art Anti-Regenbogen-Kommission seriös arbeitet, wird sich unter den zur Verantwortung Gezogenen herumsprechen, daß auch der Rechtsweg, der natürlich offen bleiben muß, nichts anderes bringt als eine Bestätigung des Bußgeldes.

Da etwas Derartiges nie versucht wurde, drängt sich beinahe der Verdacht auf, es bestünde ein Interesse an einem unvollkommenen Persönlichkeitsschutz. Damit die Abweichler einerseits nicht zu übermütig werden und sie andererseits — im Namen der Pressefreiheit, aber im Auftrag der Quotenjäger — hingerichtet werden können.

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So wird eine Art Antiintellektualismus zu einer logischen strukturellen Konstante der Gesellschaft. Letztlich siegt nicht der Geist, der der Zeit den wenig schmeichelhaften Spiegel vorhält, sondern der Zeitgeist.

Je mächtiger die Medien werden, je mehr sie die demokratischen Abläufe dominieren, desto mehr drängt sich die Frage auf, ob nicht über neue Spielregeln dieser «Mediendemokratie» nachgedacht werden muß. Brauchen wir einen hippokratischen Eid für Journalisten? Auch das würde das Gefühl, in einer repressiven Gesellschaft zu leben, mindern.

Natürlich ist der von mir beschriebene Eindruck, die Summe der heutigen Repressalien entspreche in etwa der Summe der Repressalien in der späten DDR, subjektiv. Die Formel läßt sich mathematisch nicht belegen. Ist sie doch offensichtlich auch provokante Abwehr allzu selbstgerechter Eigenschau. Alles in allem aber sehe ich, gerade nach der neuen Erfahrung als ungefragte Bürgerin einer kriegführenden Nation, keinen Anlaß, diesen Satz zurückzunehmen.

 

 

Glimmentladung

Verwirkung 4

 

Gottlob, wenigstens Heiner Geißler versteht mich. In der Super-Illu erklärte er unlängst: «Wir müssen den Ostdeutschen sagen: Der Kapitalismus ist genauso schlimm wie der Kommunismus, und wir stehen für einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus — eben die soziale Marktwirtschaft.»

Eben die also. Von der man allenthalben hört, sie sei nicht mehr finanzierbar. Wo sind sie geblieben, die Gelder, die früher eine starke soziale Prägung in den westeuropäischen Kapitalismus brachten? Eine gerade unter Sozialdemokraten verbreitete These besagt: Die einzigen Nutznießer des Realsozialismus waren die Westeuropäer. Der Klassenkampf hatte sich in den Konkurrenzkampf der Systeme verlagert.

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Was es den westlichen Gewerkschaften relativ leichtmachte, ihre Forderungen bei den Unternehmern durchzusetzen. Die CIA subventionierte lieber das westeuropäische Sozialsystem als das eigene, um der Strahlkraft der Arbeiter-und-Bauern-Gesellschaft den «Glanz» zu nehmen. Bis nach Nordamerika oder Japan hat jene Strahlkraft sowieso nie gereicht. Aber in Skandinavien wurde immerhin ein eigenes Modell der sozialen Marktwirtschaft errichtet.

Dann verabschiedete sich das realsozialistische Leichtgewicht aus dem Box-Ring. Auffälligerweise war wenig später auch das schwedische Modell k. o. Und die Schwergewichte specken seither mit sichtlichen Folgen ab. Der neoliberale Gürtel wird selbst bei den Mittelgewichten enger und enger geschnallt.

Bis heute ist nicht bewiesen, ob eine wirklich soziale Marktwirtschaft ohne ein realsozialistisches Korrektiv überhaupt durchsetzbar ist.

Mindestens so gravierend wie die innenpolitische ist die außenpolitische Frage: Welche verfassungsrechtlichen und praktischen Folgen hat die Implosion des «sozialistischen Lagers» auf die explosive Materie von Krieg und Frieden?

Das einstige Gleichgewicht des Schreckens ist nun vollends zu einem schrecklichen Ungleichgewicht geworden. Die Nato hat zu ihrem 50. Geburtstag versucht, sich handstreichartig an die Stelle der UNO zu setzen. Nachdem ein Blitz-Triumph mißlang, waren die Militärs zum Siegen verdonnert. «Bewiesen wurde bisher nur eines: daß man mit dem größten Holzhammer der Welt zuletzt auch eine Nuß knacken kann.»29 Heute die Nato-Staaten, morgen die ganze Welt ein nordamerikanisches Protektorat?

Die schwer durchschaubaren Vorgänge auf dem Balkan verbieten eine Position des Bescheid-wissen-Wollens. Aber die wichtigsten Legenden der Kriegsführer sind durchsichtig:

 

29)  Timothy Garton Ash, der Galtieri-Effekt, FAZ, 10.6.99

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Eine für massenhafte Akzeptanz unverzichtbare Legende lautet, es habe keine Alternative gegeben. Man hätte angesichts der Greuel nicht länger zusehen können. Als ob es zwischen dem 11wöchigen, dichtesten Dauerbombardement, mit dem je ein Land bedacht worden ist, und Zusehen nichts gäbe. Unmittelbar am Prozeß Beteiligte haben immer wieder betont, wie viele gewaltfreie Lösungsansätze ausgeschlagen wurden: Der Friedensplan des USA-Botschafters im Brüsseler Hauptquartier, Alexander Vershbow, sich für das Kosovo um ein UNO-Mandat für eine Schutztruppe zu bemühen, die zu gleichen Teilen von Rußland und der Nato gestellt würde, löste bereits im August 1998 in Washington wenig Begeisterung aus.

Das wird nicht verwundern, wenn man weiß, daß im selben Monat das republikanische «Policy Committee» des US-Senats lobte: «Die Planungen für eine US-geführte Nato-Intervention ins Kosovo sind nun im großen und ganzen abgeschlossen. Das einzig Fehlende scheint ein Anlaß zu sein — geeignet für eine wirkungsvolle Medienberichterstattung —, die die Intervention politisch verkäuflich macht... Daß Clinton auf einen <Auslöser> im Kosovo wartet, ist zunehmend offensichtlich.»30

Statt dessen entspannte sich die Lage im Kosovo, wie Nato-Generalsekretär Solana in einer Presseerklärung 14 Tage nach dem Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom 13. Oktober 1998 zugab: «In den letzten Tagen haben die Luftüberwachungssysteme der Nato und die diplomatischen Beobachter­missionen im Kosovo überprüft, ob Slobodan Milosevic den uns gegenüber gemachten Zusagen entsprechende Taten folgen läßt. Erfreulicherweise kann ich nun berichten, daß mehr als 4000 Angehörige der Sonderpolizei aus dem Kosovo abgezogen worden sind. Polizeikräfte und militärische Einheiten, die auch unter normalen Umständen im Kosovo stationiert sind, ziehen sich nun mit ihren schweren Waffen in die Kasernen zurück.

 

30  zitiert nach John Pilger, Revealed: the amazing Nato plan, tabled at Rambouillet, to occupy Yugoslavia. New Statesman, 17.5.99, S.17

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Darüber hinaus haben die meisten Polizeikräfte und militärischen Einheiten, die normalerweise an anderen Standorten in Jugoslawien stationiert sind, das Kosovo verlassen ... Es ist uns gelungen, den Umfang der Gewaltanwendung erheblich zu verringern und einen Waffenstillstand zu erreichen, der trotz sporadischer Zwischenfälle gehalten wird. Ich fordere die bewaffneten Gruppen der Kosovo-Albaner auf, den von ihnen erklärten Waffenstillstand ebenfalls aufrechtzuerhalten ... Tausende von Vertriebenen sind in ihre Dörfer zurückgekehrt ... Trotz dieser bedeutenden Fortschritte ... haben wir heute abend beschlossen, den Aktivierungsbefehl für begrenzte Operationen der Luftstreitkräfte aufrechtzuerhalten.»

Vielleicht wäre in diesem sich bereits entschärft habenden Bürgerkrieg ein uneigennütziger «Aktivierungs­befehl für Wirtschaftshilfe » hilfreicher gewesen. Im Wohlstand läßt sich ethnische und religiöse Toleranz leichter leben. Mit dem Geld, das der Krieg gekostet hat, so haben Fachleute errechnet, hätte man jeder Familie im Kosovo ein neues Haus mit Swimming-Pool bauen können. Statt dessen kam es Ende des Jahres zu Rückfällen, insbesondere, weil die UCK die von den Serben verlassenen Stellungen einnahm und Zwischenfälle provozierte, auf die Armee und Paramilitärs unangemessen, mit brutaler Gewalt und Verbrechen reagierten, die wiederum zu neuen Flüchtlingsströmen führten. Für dieses Elend trägt wiederum allein die serbische Seite die Verantwortung.

Dennoch berichtete der amerikanische Leiter der OSZE-Mission William Walker am 28. Januar 1999 dem Ständigen Rat in Wien, seine Mitarbeiter hätten Vertrauen bei der Bevölkerung gewonnen, die Mission sei zunehmend nützlich und hilfreich und daher sei zu hoffen, daß die Mannschaft wie vorgesehen bald aufgestockt werde. Statt dessen wurde drei Tage später aus den USA gefordert, in Anbetracht drohender Nato-Militärschläge Maßnahmen zum Abzug der Friedenstruppe zu treffen.

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Vertane Friedenschancen — bis zu dem Diktat von Rambouillet, dessen militärischer Teil im wahrsten Wortsinn undiskutabel war. Jemand, der Beratungen scheitern lassen will, muß genau solche Vertrags­entwürfe anbieten. «Die Friedensverhandlungen waren inszeniert, und den Serben wurde gesagt: ergebt euch, und ihr werdet okkupiert, oder ergebt euch nicht, und ihr werdet zerstört.»31

Eine andere Legende besagt, an den hehren, uneigennützigen Motiven der USA sei schon deshalb nicht zu zweifeln, weil man ihr keine anderen Interessen nachweisen könne. Es gibt eine politische Naivität, die den Wald vor lauter Blättern nicht sieht. Nachdem sich die «Bedrohung aus dem Osten» in Wohlgefallen aufgelöst hat, begann man sich in Europa zu fragen, wozu man überhaupt noch eine Vormacht brauche.

Umgekehrt besteht da keinerlei Zweifel, der frühere amerikanische Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: «Tatsache ist schlicht und einfach, daß Westeuropa und zunehmend .auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern.»32

Und daß die Nato nicht etwa ein gemeinsames Sicherheitsbündnis von Europa und den USA ist, sondern gefälligst die «Interessenvertreterin Amerikas in Europa» zu sein hat, darauf, legt auch die amerikanische Außenministerin wert. Ihr Stellvertreter Talbot geht kurz vor dem Krieg noch einen Schritt weiter: «Wir sind der festen Überzeugung, daß wir sorgfältig darauf achten müssen, die Nato nicht in irgendeiner Weise einer anderen internationalen Organisation unterzuordnen, wie verdienstvoll sie auch sein mag.»33

 

31  John Pilger, ebenda.
32  Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Weinheim/Berlin 1997, S. 92
33  Strobe Talbot, Interview in der Zeit vom 11.2.99

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Am Ende der Nachkriegsordnung ist nur ein Sieger übriggeblieben. Im UNO-Sicherheitsrat aber sitzen überholterweise noch mehrere Siegermächte, ausgestattet mit dem. Privileg des Vetorechts. Da wurde es höchste Zeit für eine demonstrative Machtprobe. Die vorgesehene Verabschiedung des neuen Nato-Statuts brachte Zeitdruck. Man brauchte einen Anlaß.

Der Balkan, auf dem sich westliche und östliche Interessen von jeher kreuzten, wurde von den Großmächten schon immer dafür benutzt, die Veränderung ihrer Machtverhältnisse auszuprobieren. Jugoslawien galt als antiwestlicher Unruheherd, als «Westgrenze Rußlands ». Jelena Santic, eine der Führungsfiguren in der demokratischen Opposition, beschreibt die eigenen Werte so: «Ich bin für eine Mischform der Wirtschaft, für einen starken staatlichen Anteil am Eigentum. Die Menschen im früheren Jugoslawien haben relativ gut gelebt, auch soziale Errungenschaften genossen — sie wollen weiterhin einen sozialen Staat. Das traditionelle Modell des Westens ist auf uns nicht übertragbar.»34

Der Donauraum gilt, spätestens seit Eröffnung des Main-Donau-Kanals 1992, als geostrategischer Korridor. Da war es ärgerlich, daß Serbien die Transitwege der Donau kontrolliert. Vor drei Jahren lancierte die USA die «Southeast European Cooperative Initiative». Die Weltbank machte Kredite locker mit dem Ziel, alle Donau-Anrainer in die Marktwirtschaft zu integrieren, in die neoliberale, versteht sich. Serbien blieb störrisch und wurde von der Initiative ausgeschlossen.

Da war die ungeheuerliche Machtanmaßung in Artikel 8 des militärischen Annex des Vertragsentwurfs von Rambouillet nur folgerichtig: «Nato-Angehörige sollen sich mitsamt ihren Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und Ausrüstungen frei und ungehindert und ohne Zugangsbeschränkung in der Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraumes sowie ihrer Territorialgewässer bewegen können.» Daß sie dabei «Immunität vor jeder Form von Festnahme, Untersuchung oder Verhaftung durch die Behörden der Bundesrepublik Jugoslawien» genießen sollten, war selbstverständlich.

 

34  Die Grande Dame der jugoslawischen demokratischen Opposition, Interview mit Jelena Santic im ND vom 15. /16. 5. 99

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Eine Studie des Institutes für Internationale Politik der Hamburger Bundeswehruniversität verrät Herrschafts­wissen: «Der Einsatz militärischer Kräfte der Nato in Kosovo wiederum ohne Legitimierung durch den UN-Sicherheitsrat... wird als Präzedenzfall für mögliche künftige Einsätze im unmittelbaren Vorfeld Rußlands gewertet, etwa im Kaukasus,... wo in der Auseinandersetzung um die Erdölressourcen in der kaspischen Region und die Nutzung bzw. die Verlegung von Pipelines ein heftiger Konkurrenzkampf zwischen westlichen und russischen Ölkonzernen bzw. Washington und Moskau im Kontext strategischer Interessen entbrannt ist.»

Zur «Strategie der Vorherrschaft» gehört die Gewöhnung an eine Nato, die nicht mehr nur die eigenen Grenzen verteidigt, sondern weltweit für den ungehinderten Zugang zu Rohstoffen, Kapital und Arbeitsmärkten sorgt. Die Industrie Restjugoslawiens ist jedenfalls restlos zerstört. Auch deutsche Firmen beanspruchen Aufbau-Aufträge über mehrere Milliarden Mark. Wie schön, werden wir doch so alle erstmalig in diesem Jahrhundert, kurz vor Toresschluß, zu Kriegsgewinnlern. Die Autofabrik Zastava ist zerbombt — VW, übernehmen Sie!

Mutter Courage: «Wenn man die Großkopfigen reden hört, führens die Krieg nur aus Gottesfurcht und für alles, was gut und schön ist. Aber wenn man genauer hinsieht, sinds nicht so blöd, sondern führn die Krieg für Gewinn.»

Die allerschönste Legende besagt, dieser Krieg war ein Sieg der Menschenrechte. In Gestalt ihrer Menschen­rechts-Charta soll die UNO, ohne zu wissen, wie ihr geschieht, doch noch gesiegt haben. Über das veraltete Völkerrecht und das nicht minder fragwürdige Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Als Menschenrechts-Patriotin wäre mir nichts lieber als das. Aber als selbige frage ich mich, wie die Befürworter des Bombenterrors den Begriff «Menschenrechte» überhaupt noch über die Lippen bringen. Angesichts ungezählter ziviler Opfer, gerade auch unter den Kosovo-Albanern.

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Angesichts lausender uranhaltiger Geschosse in dichtbesiedelten Gebieten. Angesichts der den ganzen Balkan bedrohenden Chemiekatastrophe, die durch die mehrfache Bombardierung der nördlich von Belgrad gelegenen petrochemischen Werke ausgelöst wurde. Erhöhte Dioxin-Werte selbst in Osterreich und Ungarn lassen nur ahnen, welche Mengen von verbranntem Vinylchlorid und ausgetretenem Quecksilber in die Luft, das Grundwasser und die nahe Donau gelangten, auf der ein kilometerlanger Teppich von Öl und toten Fischen in Richtung Schwarzes Meer treibt, die Kühlanlagen von Atomkraftwerken in Bulgarien und Rumänien gefährdend.

Was für eine bizarre Idee, das Elend der zu Beschützenden beenden zu wollen, indem man es vergrößert. Nach der Bomben-Eskalation, gegen die es keine Abwehr gab, wurde der militärisch völlig unterlegene Gegner unter Zugzwang gesetzt, wie die CIA zuvor gewarnt hatte. Er mußte zur «Flüchtlingswaffe» greifen, um die Aufmarschgebiete für eine Panzeroffensive zu verstopfen, um flächendeckende Streubomben zu verhindern und ein Faustpfand für Verhandlungen zu behalten. «Was der unterlegenen Seite an Technik fehlt, muß sie durch traditionelle Barbarei zu kompensieren suchen. Diese Barbarei liefert der High-Tech-Seite die dringend benötigten Massaker-Bilder mit Verstümmelungen, mit denen sie die Akzeptanz für ihre eigenen High-Tech-Massaker herstellt und aufrechterhält.»35

Jürgen Link stellt die naheliegende Frage, ob die Nato diese voraussehbare Eskalation zu großflächiger Massenvertreibung und beiderseitigen Massakern in ihren Szenarien vorher simuliert hat. «Wenn nicht, würde es von mangelnder Intelligenz und Professionalität zeugen.» Zwar wäre es nicht gerade beruhigend, das Waffenarsenal mit der weltweit größten Vernichtungskraft in unintelligenten und unprofessionellen Händen zu wissen. Aber immer noch besser, als die andere Konsequenz zu Ende zu denken. Denn wenn die Nato die voraussehbare Eskalation des Terrors in ihren Planungen billigend in Kauf genommen haben sollte, wäre sie eher eine kriminelle Vereinigung als eine Menschenrechtsverfechterin.

 

35   Jürgen Link, Der diskrete Krieg der Profis, Frankfurter Rundschau, 18.6.1999, S.12

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Sinnstiftungs-e.V. 

Erwägung o.

 

Kann es denn sein, daß im Fall Kosovo die ältesten Demokratien der Welt, aus deren Rechts- und Politikentwicklung das moderne Völkerrecht hervorgegangen ist, dabei sind, sich in eine Art kriminelle Vereinigung zur Zerstörung desselben zu verwandeln? So fragte schon im Dezember 1998 die Redaktion der renommierten Blätter für deutsche und internationale Politik. Soviel politisch motivierter Bruch positiven Rechts war noch nie in den letzten 50 Jahren. Weil niemand mehr da ist, der etwas dagegen tun kann?

Das Neo-Gewissen behauptet, wir hätten nur die Wahl zwischen zwei Arten von Schuld gehabt. Schuldig werden durch Bomben oder schuldig werden durch Nichtbomben. Wenn es möglich ist, schuldig zu werden, allein indem man sich an die geltenden Gesetze hält, ist mit einem Schlag die gesamte Rechtsordnung in Frage gestellt.

Die Frage, ob wir in guter Verfassung sind, verlangt, so unerquicklich das sein mag, sich die wichtigsten Verstöße noch einmal zu vergegenwärtigen. Zunächst war bereits der Versuch, die Unterzeichnung des Diktates von Rambouillet durch die Drohung mit einem Luftkrieg zu erzwingen, ein Verstoß gegen das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge. Artikel 52: «Ein Vertrag ist nichtig, wenn sein Beschluß durch Androhung von Gewalt... herbeigeführt wurde.»

Nach Fehlschlagen der unlauteren diplomatischen Aktivitäten begann der Krieg. Nach dem völkerrechtlich wirksamen Briand-Kellogg-Pakt besteht nur das Recht auf Selbstverteidigung, Krieg als Mittel zur Lösung internationaler Streitfälle wird verurteilt.

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Dieser Grundsatz prägt alle internationalen Verträge und nationalen Verfassungen. Egon Bahr: «Das Grundgesetz bestimmt die Streitkräfte ausschließlich zur Verteidigung. Dies war auch der Stolz der Nato und der WEU während des kalten Krieges: Beide würden nur im Verteidigungsfall, also bei einem Angriff auf das Territorium der Bündnispartner wirksam ... Die Verfassung ist wichtiger als das Bündnis. Insofern wird sich der um den Staat verdient machen, der den Verfassungsbruch nicht zuläßt.»36

Dieter S. Lutz, der von Egon Bahr das Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik übernommen hat, bleibt in dieser Logik: «Die Luftangriffe der Bundeswehr gegen Jugoslawien sind mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar. Sie verstoßen insbesondere gegen Artikel 26 (<Verbot eines Angriffskrieges>) und Artikel 25 (<Beachtung des Völkerrechts>). Menschenrechte besitzen eine zivile Logik: Menschen und ihre Rechte dürfen nicht im Namen der Menschenrechte mit militärischen Mitteln verletzt oder vernichtet werden.»37

Ted Galen Carpenter, Vizepräsident für verteidigungs- und außenpolitische Studien am konservativen Cato Institute in Washington, erlaubt sich einen viel schärferen Ton: «Präsident Clintons Angriff auf Serbien ist eine abscheuliche, beschämende Aggression ... Der Krieg gegen Serbien ist aus strategischen, rechtlichen und moralischen Gründen verantwortungslos. Serbien ist das vierte Land, das Clinton in den letzten sieben Monaten bombardiert hat. Dies ist der Rekord einer kriegslüsternen Regierung, die Amerika zum Weltpolizisten machen möchte.»38)

 

36)  Egon Bahr, Die Verfassung steht über dem Bündnis, in: Deutsche Soldaten weltweit?, Reinbek 1993, S. 58
37)  Dieter S. Lutz, Das Faustrecht der Nato. In: Krieg im Kosovo, Reinbek 1999, S.236
38)  Ted Galen Carpenter, U.S. doesn't belong in Kosovo, USA today, 16.3.99

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Natürlich ist es nicht nur legitim, sondern angesichts dieser Welt sogar geboten, darüber nachzudenken, ob man nicht zum Schutz der Menschenrechte eine Art Weltpolizei braucht. Diese müßte aber tatsächlich von der gesamten Weltgesellschaft gestellt werden, was eine Weltinnenpolitik voraussetzen würde. Denkbar ungeeignet für diese Aufgabe sind alle Teilbündnisse einzelner Nationen, denn sie müssen eigene Verluste ohne Rücksicht auf die Gegenseite minimieren. Eine den Menschenrechten verpflichtete Weltpolizei aber darf unter den Opfern keine Werthierarchien zulassen. Ein Freund-Feind-Denken muß ihr fremd sein.

Auch Ex-Präsident Jimmy Carter, der seit Jahren ein Friedenszentrum leitet, beklagt die Doppelmoral: Man könne Afrika vom Roten Meer im Nordosten bis zum Atlantik im Südwesten durchqueren, ohne jemals friedliches Territorium zu betreten. In dem Bürgerkrieg zwischen Eritrea und Äthiopien seien in jüngster Zeit 50.000 Menschen ums Leben gekommen, ohne daß dies jemanden geschert hätte. Seien aber weiße Europäer betroffen, gäbe man vor, verpflichtet zu sein. «Das vermittelt sehr stark den Eindruck von Rassismus.»39

Teilbündnisse wie die Nato sind als Weltpolizei unglaubwürdig, weil sie immer unter dem Verdacht stehen, ihre Angriffe seien nur moralisch verbrämte Verteidigungen eigener Machtinteressen. Die Moral ist ein Ding, das per Definitionshoheit immer auf der eigenen Seite ist. Deshalb ist ein UN-Mandat eine absolut unverzichtbare Voraussetzung. Ob es statt des Sicherheitsrates nicht auch die Generalversammlung geben könnte, darüber wäre zu verhandeln.

  

39 Jimmy Carter, Have We Forgotten The Path To Peace? New York Times, 27. 5. 99

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Mit der Beteiligung an einem selbstmandatierten Krieg verstößt die Bundesregierung gegen die UN-Charta, gegen die UNO-Völkermordkonvention, gegen das Umweltkriegsverbot der Genfer Konvention, gegen das OSZE-Vertragswerk von Helsinki, gegen den Nato-Vertrag, gegen den 2+4-Vertrag, gegen das Grundgesetz, gegen das Strafgesetzbuch, gegen das deutsche Soldatengesetz, gegen die Wahlprogramme von Rot («Die Mitwirkung der Bundeswehr hängt strikt von einem UN-Mandat ab») und Grün («Militärische Friedenserzwingung und Kampfeinsätze lehnen wir ab») und gegen die Koalitionsvereinbarung («Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren»).

Was war ganz und gar Außerordentliches geschehen, das all das über Nacht außer Kraft setzte? Vasallen hatten einen Geburtstagswunsch zu erfüllen.

Wer soll jemals noch Versprechungen von Politikern glauben? Die Freiheit des Gewissens ist ein hohes Gut, denn sie erlaubt, sich neuen, für verbrecherisch gehaltenen Befehlen zu entziehen. Dazu gehört das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Aber man kann das Gewissen nicht bemühen, rückwirkend demokratisch verabschiedete Gesetze und Verträge abzulehnen, die sich seit Jahrzehnten in der Völkergemeinschaft bewährt haben. Auch das Gewissen unterliegt dem Rückwirkungsverbot. Sonst ist politischer Willkür Tür und Tor geöffnet. Wer das Völkerrecht für überholt hält, muß dafür sorgen, daß es auf legitime Weise verändert wird. Das ist mühsam, aber alles andere ist Faustrecht.

Die Eigenermächtigung zu Gewalt zerstört das Wesen jedes Rechtsverhältnisses selbst. Die Vernachlässigung des Rechtes im Namen der Moral ist totalitär. Wer den Stalinismus erlebt hat, weiß das. «Wer schützt uns vor der normativen Inkompetenz unserer Regierungen, wenn es das Recht nicht mehr kann?»40 Die angemaßte Kompetenz zum Rechtsbruch ist das untrügliche Stigma eines Unrechtsstaates. Geopfert wird das Vertrauen in die Demokratie.

 

40  Reinhard Merkel, Das Elend der Beschützten, Die Zeit Nr. 20, i2. $.99 S. 10

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Die beinahe stoische Ergebenheit, mit der die Gegner dieses Krieges dem Treiben wie gelähmt zugesehen haben, war für mich ein Indiz dafür, daß sich der vielbeschworene Verfassungspatriotismus enttäusch­end­erweise doch sehr in Grenzen hält. Ermutigend war immerhin das auch international zunehmende öffentliche Unbehagen über die Unangemessenheit und Erfolglosigkeit der «Luftschläge». Die augenfällige Sinnlosigkeit dieser Strategie hat schließlich die UNO (in Gestalt von Russen) wieder ins Boot holen müssen.

Man stelle sich vor, was passiert wäre, wenn die Serben nach den ersten Bomben tatsächlich bedingungs­los kapituliert hätten. Welch ein Jubel, welch eine Legitimierung, welch ein Nato-Statut für die nächsten 50 Jahre!

«Die Gemeinschaft demokratischer Staaten», in deren Namen die Nato ständig glaubt sprechen zu müssen, hat einen fatalen Rückfall ins archaische Naturrecht praktiziert. Was, wenn sich der Rest der Welt (neun Zehntel aller Staaten sind keine Nato-Mitglieder) dieser verantwortungslosen Praxis anschließt? Dieser Krieg hat die mühsam errungene Zivilisation am Ende des Jahrhunderts beschädigt. Der Preis für die «Erziehung eines Irren» ist zu hoch. Es zahlen ihn die Völker, deren Menschenrechte angeblich verteidigt werden.

 

Mäander. Zusatzprotokoll VI.

 

Ich weiß, mit solchen und ähnlichen Äußerungen übertreffe ich die schlimmsten Befürchtungen all derer, die mir schon immer mißtrauten. Freiwillig liefere ich Dutzende Belege dafür, wie begründet ihre Vorbehalte sind. Das ist entgegenkommend von mir, meine Art von Friedenspfeife. Eine allerdings belanglose Geste, die niemanden von der drängenden Frage entbindet: Wieviel Kritik braucht die Demokratie?

Mehr als jetzt. Zweifellos. Ein Trugschluß wäre aber wohl die Formel: Je mehr Kritik, desto mehr Demokratie. Denn hier geht es nicht um Quantität, sondern um Qualität.

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Eine Atmosphäre, in der systemkritische Überlegungen geächtet werden, kennen wir Ostdeutschen bis zum Überdruß. (Dafür sind wir nicht auf die Straße gegangen, sagt Tante Elsbeth, Hühnerbrüste, die sie für belgische hält, zum Wegwerfen in eine Super-Illu wickelnd.) Heute hätte Kapitalismuskritik allen Grund, gesellschaftsfähig zu werden. Das Diskreditieren von begründeter Kritik als Beschmutzung, gar als Haß, ist reine Apologetik und verkennt, daß sich den Mühen und Risiken der Auseinandersetzung nur aussetzt, wer sich der Gesellschaft verbunden genug fühlt, sie verbessern helfen zu wollen.

Gebraucht wird ein Disput, der wirkliche Veränderungen ermöglicht, im Sinne ursprünglicher Freiheits­ideale. Dabei läuft die östliche Diskussion oft konträr zum westlichen Diskurs. Auch mir ist nicht entgangen, daß eines der stärksten, zuverlässigsten Motive der Egoismus ist. Schon vor 25 Jahren schrieb ich einen Text mit dem Titel: Lob des Egoismus.41 Den Eigennutz der Menschen sich so entfalten zu lassen, daß er dann am gewinnbringendsten ist, wenn er gleichzeitig für möglichst viele andere nützlich ist, bleibt dennoch in der kapitalistischen Marktwirtschaft ein Ideal, das permanent an sittliche, ökologische und soziale Barrieren stößt.

Insofern kann ich etwa mit der Freiheitsdefinition von Ekkehart Stein, dessen Thesen zur Demokratisierung der Marktwirtschaft mir so einleuchtend waren, rein gar nichts anfangen: «Das Recht, die persönlichen Interessen nach eigenem Gutdünken,, also autonom, zu verfolgen, macht den Inhalt der Freiheit aus. Indem die Marktwirtschaft die autonome Verfolgung eigener Interessen ermöglicht, verwirklicht sie somit Freiheit.»42 Für mich gilt der Umkehrschluß: Die Möglichkeit, die persönlichen Interessen nach eigenem Gutdünken, also autonom, zugunsten allgemeiner Interessen zurückzustellen, unterscheidet uns von Raubtieren und macht den Inhalt von Freiheit aus.

 

41  in Daniela Dahn, «Spitzenzeit», Halle 1980, S. 12 ff 
42  Ekkehart Stein, ebenda S. 21

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In der DDR hatte man die Klassiker verinnerlicht. Engels schrieb bei Hegel ab, und der bei Goethe: «Freiheit ist das Vermögen, unter allen Umständen das Vernünftige zu tun.» Das Vernünftige ist nicht das Gewinnbringendste. Das Gewinnbringendste ist aber im Kapitalismus das persönliche Interesse. Das Vernünftige ist also nicht das persönliche Interesse.

Bei Strafe seines Unterganges muß im Kapitalismus jeder darauf achten, soviel wie möglich für sich herauszuschlagen. Wer seinen Konkurrenten nicht bekämpft, wird selbst bekämpft. (Deshalb wird das 3-Liter-Auto seit Jahren zurückgehalten, Sozialwohnungen werden kaum gebaut, dringende ökologische und bildungspolitische Erfordernisse unterlaufen. Familien werden genötigt, sich ins Auto zu setzen, weil der Zug teurer ist. Jeder muß mehr konsumieren, als er braucht, will er seine möglichen Steuerabschreibungen ausschöpfen.) Das System ermöglicht es nicht, das Vernünftige zu tun. Es verlangt die Einsicht in die Notwendigkeit marktkonformen Verhaltens. Hannah Arendt hat das herrschende Freiheitsideal als das Ideal einer «Freiheit von der Politik», nicht einer «Freiheit für die Politik» charakterisiert. Wer sich, möglichst unpolitisch, für Konsum und Selbstverwirklichung entschieden hat und dabei zu Geld kommt, kann sich wirklich grenzenlos frei fühlen. Doch im Grunde hat er nur die Freiheit, das System zu stabilisieren. (Die hatte man im Sozialismus allerdings auch.)

Das Bedürfnis, vernünftig, also altruistisch handeln zu wollen, ist die zivilisierte Form des Egoismus. Wer gezwungen wird, im rohen Sinn egoistisch zu sein, ist nicht frei. Oder umgekehrt: Das Reich der Freiheit beginnt dort, wo man für die Überwindung seines Egoismus nicht bestraft wird.

Davon sind wir weit entfernt. Wir sind nicht in guter Verfassung, obwohl wir eine gute Verfassung haben. Wie also ließe sich die Verfaßtheit der Gesellschaft auf Grundgesetzniveau bringen?

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In der repräsentativen Demokratie müssen endlich die zu Repräsentierenden gestärkt werden, nicht immer nur die Repräsentanten. Politiker sind konsequenter auf ihre Verfassungstreue zu überprüfen. Das Medium Zuschauer muß vor dem paralysierenden Mainstream bewahrt und deshalb die Medien vom Primat des Kommerzes befreit werden. Die Wirtschaft braucht eine Demokratisierung, die den repressiven Druck von den Menschen nimmt. Dem käme entgegen, wenn sich die Auffassung durchsetzte, nach der auch soziale Menschenrechte im Kern individuelle Grundrechte sind. 

Die theoretischen Anstrengungen zur Beschreibung des 3. (oder x.) Weges sind zu verstärken und dürfen Eingriffe in das Privateigentum nicht von vornherein tabuisieren. Dieser Weg muß mit Dämmen vor Oligarchie, Lobbyismus und Korruption geschützt werden. Die Kommunikation von Geist und Macht wäre zu beleben mit dem Ziel, dem Druck von unten Einsicht von oben folgen zu lassen. Die Justiz braucht Respekt, aber keinen Heiligenschein. Das Strafrecht und die Polizeipraxis sind zu liberalisieren, die gleichmacherischen Klischees von Links- und Rechtsextremismus zu differenzieren. Gewalt und Krieg als Mittel der Politik sind zu ächten. Die Menschenrechte verteidigenden Internationalen Brigaden werden von einer Weltgesellschaft beauftragt. Die Demokratie läßt so viel Kritik zu, daß sie in der Lage ist, Freiheit zu gewährleisten.

Ich beharre darauf, daß derartige Wünsche weder naiv noch romantisch, weder utopisch noch undurchsetzbar sind. Ein aussichtsloses Beharren. Was bleibt, ist die Beckettsche Lebensmaxime:

Immer scheitern.
Weiter scheitern.
Besser scheitern.

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Ende 

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