Mike Davis

 Planet der Slums

 

Planet of slums

 

 

2006 first edition

2007 Verlag Assoziation-A, Hamburg

2006      248 Seiten

 

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Ökobuch 

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 dlf  voraussetzungen-und-folgen-von-elendsquartieren  2007 

 

Inhalt

 

1.  Die urbane Wende 7

2.  Die Ausbreitung der Slums 25

3.  Der Verrat des Staates 55

4.  Illusionen der Selbshilfe 77

5.  Haussmann in den Tropen 103

6.  Slum-Ökologie 129

7.  Die Ausspressung der Dritten Welt 159

8.  Eine überschüssige Menschheit? 183

9.  Epilog. Auf der Straße nach Vietnam 209

10. Danksagungen 216

11. Anmerkungen 217

12. Glossar 246

 

 

Ein Lesebericht für H-Soz-Kult

 

Mike Davis, Professor für Geschichte an der University of California, Irvine, hat ein Buch vorgelegt, in dem er mehrere Themen seiner bisherigen Veröffentlichungen zusammenführt. "Planet der Slums“ handelt von Städten und ihren BewohnerInnen, von Unterentwicklung und Ausbeutung sowie von katastrophalen Zuständen aller Art.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist insofern gut gewählt, als der weltweite Verstädterungsgrad gerade um die 50 Prozent oszilliert – was es Davis erlaubt, eine „urbane Wende“ zu konstatieren, die in ihrer historischen Bedeutung vergleichbar sei mit der neolithischen Wende oder der industriellen Revolution.

Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, die sich allerdings einer klaren Inhaltsbeschreibung entziehen, weil Davis nicht um eine systematische Aufarbeitung bestimmter Themenblöcke bemüht ist. Vielmehr hat er, inspiriert durch den UN-Report „The Challenge of Slums – Global Report on Human Settlements 2003“, eine politisch engagierte Streitschrift vorgelegt, in der er dagegen anschreibt, dass die Welt zunehmend „verslumt“.

Damit meint Davis zwei ineinandergreifende Prozesse: dass erstens das gesamte zukünftige Wachstum der Menschheit in Städten des globalen Südens stattfinden wird, und dass zweitens diese Städte „weitgehend ohne Industrialisierung, schlimmer noch, ohne jegliche Entwicklung“ wachsen werden (Klappentext). Der Slum, das ist für Davis die Endstation, für eine Milliarde oder mehr Menschen ein realer Ort des Lebens und Sterbens und zugleich Sinnbild für die durch Kolonialismus, Kapitalismus und jüngst Strukturanpassungsprogramme ausgelöste Verarmung weiter Teile der Welt. Der Slum, das ist „eine Zone der Verbannung, ein neues Babylon“ (S. 210).

 

Davis wird von seinen LeserInnen geschätzt, weil er gerade kein distanzierter und allzu differenzierender Beobachter ist, sondern ein wortgewaltiger, parteiischer Ankläger von Unrecht. Mit „Planet der Slums“ bestätigt er diesen Ruf. Auf Basis einer beachtlichen Menge an wissenschaftlicher Literatur, die für das Buch verarbeitet wurde, dokumentiert Davis den „Verrat des Staates“ an den Armen. Nirgendwo (außer vielleicht in China) kümmerten sich die untersuchten Staaten um sozialen Wohnbau oder städtische Infrastrukturen.

Schuld am staatlichen Rückzug tragen, und auch hier kann sich Davis auf eine breite Literaturbasis berufen, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank, die mit Strukturanpassungsprogrammen dafür sorgten, dass „Slums zur unausweichlichen Zukunft nicht nur für arme Migranten vom Land wurden, sondern auch für Millionen alteingesessener Stadtbewohner“ (S. 160).

Kenntnisreich entlarvt er die bei linken Architekten, NGOs und Weltbank gleichermaßen beliebte Vorstellung, Slums seien Orte der Selbsthilfe und der Beginn einer sozialen Aufwärtsmobilität. Zu verlangen, dass sich die Armen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, sei nicht nur zynisch.

Obendrein blieben die Selbsthilfeprogramme Illusion, denn: „Immobilienmärkte haben […] die Slums zurückerobert, und obwohl sich der Mythos von heroischen Besetzern und kostenlosem Land hartnäckig hält, werden die städtischen Armen immer mehr zu Vasallen der Landbesitzer und Immobilienmakler.“ (S. 69)

Davis geißelt die Politik der Slumräumungen als Klassenkampf von oben und zeigt an zahlreichen Beispielen die dahinter stehende Ansicht der Regierenden, Slumbewohner[2] seien „Schmutz“ und „menschlicher Ballast“ (S. 111). Und schließlich räumt Davis, gestützt auf zahlreiche Studien, auf mit den „Mythen der Informalität“. In der Empfehlung des peruanischen Geschäftsmannes Hernando de Soto, Informalität zur Norm des Arbeitslebens zu machen[3], sieht Davis „schlicht das Schmiermittel auf der Fahrt in die Hobbes’sche Hölle“ (S. 193).

Das Eigenartige an Davis’ Buch ist, dass es trotz seines Engagements und der Detailliertheit nicht überzeugt. Das liegt nicht daran, dass das Buch außer der sehr dichten Kompilation von Daten und Fallbeispielen kaum Neues bietet – wissenschaftliche Studien gekonnt für ein Massenpublikum aufzubereiten ist ein durchaus ehrenwertes Vorhaben.[4]

Das Problem an Davis’ Buch ist erstens die geringe analytische Schärfe, der allzu grobe Kamm, über den seine Geschichten geschoren werden. Die Fallbeispiele sind anekdotisch aneinandergereiht, ein Potpourri von Missständen und Grausamkeiten aus aller Welt, deren Zweck es nicht ist, ein abwägendes und gerade deshalb überzeugendes Argument zu entwickeln.

Davis’ Empirie dient der bloßen Untermalung seiner apokalyptischen Darstellung der Städte des Südens. Nur selten findet man einen relativierenden Einwurf – etwa dahingehend, dass Mexico City und Lima, Johannesburg und Lagos, Manila und Shanghai nicht so einfach in eine Aufzählung gepresst werden können. Häufig wird hingegen die Differenziertheit dem Bedürfnis nach plakativen Superlativen geopfert. So lässt Davis in seiner Übersichtstabelle zu den größten „Megaslums“ (!) der Welt in Mexico City einen solchen „Megaslum“ mit vier Millionen EinwohnerInnen entstehen, den er aus 18 (!) Bezirken formt. Manche davon, wie Nezahualcóyotl, sind in den 1950er-Jahren als informelle Siedlung entstanden und gelten heute zu Recht als konsolidiert (beispielsweise haben 95 Prozent der 1,4 Millionen BewohnerInnen Nezas sowohl Kanalanschluss als auch Fließwasser in der Wohnung oder am Grundstück), während andere erst ab den 1980er-Jahren errichtet wurden. Aber selbst hier passt Davis’ von der UN übernommene Definition von Slum nicht – immerhin haben beispielsweise in Chalco über 80 Prozent der BewohnerInnen unmittelbaren Zugang zu Kanalisation und Fließwasser.

Der zweite Grund, warum das Buch einen äußert schalen Eindruck hinterlässt, ist Davis’ Sprache.

War er immer schon ein Grenzgänger zum Journalismus, so bedient sich Davis in „Planet der Slums“ gern der negativen und gewalttätigen Superlative. Vom vorangestellten Motto („Slum, Semi-Slum und Superslum […] dazu haben sich die Städte entwickelt“) bis zum letzten Absatz („Nacht für Nacht rattern Kampfhubschrauber […] über den engen Gassen der Slumviertel. […] Jeden Morgen antworten die Slums mit Selbstmordattentaten.“) zieht sich das Skandalisieren der Slums, und gleich manchen JournalistInnen, die nicht an Aufklärung oder Analyse interessiert sind, sondern an der Sensationslüsternheit, bezeichnet Davis Bombay oder Nairobi als „stinkende Kotberge“ (S. 145).

Er lässt Bevölkerung und Städte ebenso häufig „explodieren“ wie die Bomben in Bagdad, spricht vom „Urknall der städtischen Armut“ und malt die „Invasion der armen Leute“ oder die „Anstürme der Armut“ an die Wand (S. 161, S. 106, S. 159). Schlimmer noch, Davis setzt häufig biologistische Metaphern ein, beispielsweise wenn er von der „riesige[n] Amöbe Mexiko-Stadt“ schreibt, „die sich schon Toluca einverleibt hat“ (S. 11). Als Naturgewalt scheinen ihm auch die vom Land kommenden MigrantInnen zu gelten – sie werden als „Bauernflut“ und „Sintflut“ bezeichnet (S. 16, S. 60).

Weil Sprache Wirklichkeiten nicht nur abbildet, sondern auch schafft, steht Davis’ Sprache seinem emanzipatorischen Anliegen diametral gegenüber. Ungeachtet der inhaltlichen Anklage, die Kolonialismus und Kapitalismus, IWF und Weltbank trifft, erzeugt und reproduziert Davis mit seiner Sprache Bilder, die dem rechten Diskurs über „ungesunde Verstädterung“ und städtische Pathologien gleichen. Ja, etwas flüchtigen LeserInnen des Buches mag nicht in Erinnerung bleiben, dass Davis zahlreiche wissenschaftliche Studien und aktuelle Daten zitiert, um zu zeigen, dass die (neue) städtische Armut von den „brutalen Verwerfungen der neoliberalen Globalisierung“ (S. 183) herrührt, sondern bloß das Bild der „wuchernden Städte“ (S. 13).

So besteht die Gefahr, dass der malthusianische Pessimismus, den Davis an anderen kritisiert, durch sein eigenes Buch befördert wird. Dass die SlumbewohnerInnen bei allem Elend und aller Ausbeutung, die Davis zu Recht attackiert, auch handelnde Subjekte sind, die Strategien zum Umgang mit der Not entwickeln, welche sich nicht mit „Kriminalität“, „Prostitution“ oder „religiöse[m] Wahn“ abtun lassen, davon schreibt Davis kaum. Und so ertappt man sich bei der Frage, ob Davis das Fragezeichen in einer der Kapitelüberschriften („Eine überschüssige Menschheit?“) bloß aus rhetorischen Gründen gesetzt hat.

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Christof Parnreiter, Institut für Geographie, Universität Hamburg

Rezensiert für H-Soz-Kult
hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-9371

Anmerkungen: 

[1] <http://www.unhabitat.org/pmss/getElectronicVersion.asp?nr=1156&alt=1lt=1>(25.7.2007). [2] Die deutsche Übersetzung kennt ausschließlich die männliche Form der in den Slums wohnenden Menschen. [3] De Soto, Hernando, The Other Path. The Invisible Revolution in the Third World, London 1989 (und öfter). [4] Aus dem Spektrum der wissenschaftlichen Arbeiten sei hier nur verwiesen auf: Roberts, Bryan, The Making of Citizens. Cities of Peasant Revisited, London 1995; Ribbeck, Eckhart, Die informelle Moderne. Spontanes Bauen in Mexiko-Stadt, Heidelberg 2002; Parnreiter, Christof, Historische Geographien, verräumlichte Geschichte. Mexico City und das mexikanische Städtenetz von der Industrialisierung bis zur Globalisierung, Stuttgart 2007 (erscheint Ende September).

 



https://www.deutschlandfunk.de/voraussetzungen-und-folgen-von-elendsquartieren-100.html   2007 von Gerhard Klas

 

Voraussetzungen und Folgen von
Elendsquartieren
Mike Davis: Planet der Slums
Millionen der Ärmsten auf dieser Erde leben in den Slums der großen
Städte und es werden immer mehr, denen jede Chance auf ein besseres
Leben, auf sauberes Wasser, auf ein Dach über dem Kopf, auf Bildung
und Gesundheitsfürsorge genommen ist. Den Medien im reichen Norden
sind diese Menschen nur selten ein paar Zeilen oder Blicke wert. Der US amerikanische Stadtsoziologe und Historiker Mike Davis hat genau
hingesehen und sich in einer Studie mit den Voraussetzungen und
Folgen von Elendsquartieren befasst.
Von Gerhard Klas
Mike Davis: „Planet der Slums“ (Verlag Assoziation A)

 

 

Das Jahr 2006 war ein historischer Wendepunkt: Erstmals in der Geschichte lebten
mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Ein Drittel der Bevölkerungen in diesen
Städten, also etwas mehr als eine Milliarde Menschen, vegetiert dort in Slums.

 

2006,
im selben Jahr dieser historischen Wende erschien die englische Originalausgabe von
„Planet der Slums“ des US-amerikanischen Stadtsoziologen und Historikers Mike
Davis. Für sein verständlich geschriebenes Buch hat er vor allem wissenschaftliche
Arbeiten ausgewertet. Es ist darin nicht nur viel über die Entstehungsbedingungen,
sondern auch über die Ökonomie und die Lebenswelten der Slumbewohner zu
erfahren. Davis zählt zahlreiche drastische Beispiele auf: Im Durchschnitt 13, 4
Menschen teilen sich ein Zimmer in den Slums von Kalkutta; in der sogenannten „Stadt
der Toten“ in Kairo leben zehntausende in Grabstätten; in Dahka sind die
Slumbewohner die ersten Opfer von Überflutungen; in Manila haben sie sich auf
Müllbergen eingerichtet und leben von dem, was die kleine, wohlhabende Klasse auf
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Dienstag, 03.08.2021 Suchen
3.8.2021 Voraussetzungen und Folgen von Elendsquartieren (Archiv)
https://www.deutschlandfunk.de/voraussetzungen-und-folgen-von-elendsquartieren.730.de.html?dram:article_id=102881 2/4
den Philippinen entsorgt hat. Allen Slums gemeinsam ist, dass es dort kein sauberes
Wasser gibt und die Abwässer nicht in einer Kanalisation entsorgt werden. Riech- und
sichtbare Fäkalien stellen aus diesem Grund für Mike Davis eine Art Demarkationslinie
zwischen den Slums und den besseren Vierteln dar. Weitere Indikatoren sind die hohe
Kindersterblichkeit und die geringe Lebenserwartung.
Mike Davis erzählt darüber hinaus, wie die Slums entstanden sind und greift dabei auf
die bekannten Beschreibungen des Arbeiterelends im britischen Manchester im 19.
Jahrhundert, also zu Beginn der Industrialisierung, zurück. Warum die Menschen
heute wie damals vom Land in die Stadt ziehen, deutet der Stadtsoziologe nur an. Er
bleibt dabei, dass die elenden Verhältnisse auf dem Land sie in die Städte treiben, und
nicht – wie so oft kolportiert – die Stadt mit einem besseren Leben lockt. Anders als vor
zweihundert Jahren fliehen die Menschen heute allerdings in die Städte, so Davis,
ohne dort eine Perspektive zu haben und trotz zunehmender Deindustrialisierung.
Selbst in den Jahren des wirtschaftlichen Kahlschlags zwischen 1980 und Anfang
1990 ging die Urbanisierung der Dritten Welt trotz fallender Reallöhne, steigender
Preise und in die Höhe schießender städtischer Arbeitslosigkeit in einem
halsbrecherischen Tempo weiter. Dieses anormale Städtewachstum überraschte die
meisten Experten und widersprach orthodoxen Wirtschaftsmodellen, laut deren
Vorhersagen die negativen Rückkopplungen einer städtischen Rezession die
Landflucht verlangsamen oder sogar umkehren würden.
Den „Urknall“ der jüngsten Verelendung städtischer Quartiere datiert Davis auf die
ausgehenden 70er und die 80er Jahre, als die Weltbank und der Internationale
Währungsfonds, kurz IWF, den verschuldeten Ländern der südlichen Halbkugel ihre
Sparprogramme aufnötigten. Diese Programme verhinderten staatliche Investitionen in
den öffentlichen Dienstleistungssektor. Sie gingen auf Kosten der
Gesundheitsversorgung, des Bildungssystems und der Strukturhilfe für ländliche
Regionen. Eine immense Landflucht setzte ein. Deregulierung und Privatisierung, die
IWF und Weltbank dann in den 90er Jahren forcierten, raubten den Armen die
Existenzgrundlagen. Als die indische Regierung zum Beispiel Anfang der 90er Jahre
die Preisbindung für Lebensmittel aufhob, stiegen die Preise innerhalb von vier Jahren
um 60 Prozent. Grundnahrungsmittel wurden für viele Inder unerschwinglich. Heute
werden in manchen Regionen Indiens wieder Hungersnöte beobachtet. Überall auf der
Welt gab es in diesen Jahren, also von Ende der 70er bis Anfang der 90er, sogenannte
IWF-Aufstände in den Ghettos und Slums – von den Medien der sogenannten 1. Welt
weitgehend ignoriert. Und der Druck steigt, meint Mike Davis. Jährlich wachse die
Slumbevölkerung um 25 Millionen Menschen. Immer mehr Jugendliche schließen sich
Straßengangs oder paramilitärischen Einheiten an, manche verkaufen aus Not eine
Niere, leben von Prostitution und müssen Wuchermieten an die sogenannten
Slumlords bezahlen, die mit Immobilienspekulation in den Slums vieler Megastädte
reich geworden sind. Die Möglichkeiten der wechselseitigen Hilfe seien erschöpft,
schreibt Mike Davis, es gebe einen Verlust der Solidarität der Slumbewohner
untereinander. Eine solche Situation produziere ethnisch-religiöse und rassistische
Gewalt.

 

 

Bei dem ganzen Tamtam, das um die Losung „den Armen helfen, sich selbst zu
helfen“, gemacht wurde, registrierte die Öffentlichkeit kaum, welch folgenschwere
Beschneidung von Versorgungsansprüchen sich hinter dieser Absegnung der
Slumunterkünfte durch die Weltbank verbarg.

Die Lobpreisungen der Selbsttätigkeit der Armen wurden zum Deckmantel für die Aufkündigung der historischen Verpflichtung des Staates, Armut und Obdachlosigkeit zu beseitigen.

 

 

 

Der Stadtsoziologe Davis widerspricht Lösungsansätzen wie denen des peruanischen
Ökonomen und neoliberalen Vordenkers Hernando de Soto, der ausschließlich den
Staat für das Elend in den Slums verantwortlich macht.

De Soto fordert, den Slumbewohner zum Kleinunternehmer zu machen und hat mit seinen Ideen auch die
Konzepte der Weltbank inspiriert. Er schlägt formelle Besitzrechte, gebührenpflichtige
Toiletten und unregulierten Wettbewerb als Quelle des Reichtums vor. Mike Davis
fordert stattdessen mehr soziale Sicherheit und die Umverteilung gesellschaftlichen
Reichtums. Denn wo die Armut wächst, wächst auch der Reichtum. In nicht allzu
weiter Ferne von den Slums entstehen überall auf der Welt sogenannte „Gated
Communities“, in denen sich die Profiteure dieses ökonomischen Systems mit
stromgeladenen Hochsicherheitszäunen, rasiermesserscharfem Nato-Draht,
Sicherheitspersonal und mobilen Alarmgeräten vor der hausgemachten Armut und
dem Elend abschotten.
Diese „Architektur der Angst“ ist in der Dritten Welt und einigen Teilen der Ersten
verbreitet, aber weltweit am ausgeprägtesten ist sie in großen städtischen
Gesellschaften, in denen das sozio-ökonomische Gefälle am stärksten ist, wie in
Südafrika, Brasilien, Venezuela und den Vereinigten Staaten. [..] Brasiliens
berühmteste befestigte und amerikanisierte Edge City ist Alphaville im nordwestlichen
Quadranten des Großraums von Sao Paulo. Perverserweise benannt nach der
düsteren neuen Welt in Godards schrägem Film von 1965, ist Alphaville eine
vollständig privatisierte Stadt mit einem großen Bürokomplex, einem teuren
Einkaufszentrum und befestigten Wohngebieten, die alle von mehr als 800 privaten
Sicherheitskräften bewacht werden. [..] In der Praxis bedeutet das Selbstjustiz
gegenüber kriminellen und obdachlosen Eindringlingen, während Alphavilles begüterte
Jugend Amok laufen darf.

 

 

Mit der strukturellen Gewalt verhält es sich wie mit einem Bumerang:

Sie richtet sich letztendlich gegen ihre Profiteure. Freiheit und Demokratie, die sie gerne im Munde führen, bleiben dabei auf der Strecke. Sie werden dem Sicherheitsdenken geopfert.

Mike Davis räumt mit der weitverbreiteten Vorstellung auf, eine gesellschaftliche Integration der Slumbewohner unter den Bedingungen des kapitalistischen Weltmarkts sei möglich. Am deutlichsten sei der Versuch dort gescheitert, wo den Slumbewohnern der Segen der kapitalistischen Ökonomie mit militärischer Gewalt gebracht werden sollte, etwa in den Slums von Mogadischu und Bagdad. Diese Megaslums sind nach Ansicht von US-Militärforschern das „schwächste Glied der neuen Weltordnung“.

 

Der „wahre Kampf der Kulturen“, so Mike Davis, wird sich künftig an den Orten abspielen, die US-amerikanische Kriegsplaner als „Schlachtfelder des 21.Jahrunderts“ bezeichnen: die äußeren Slumbezirke der Mega-Cities in der Dritten Welt.

 

 

Diese wahnhafte Dialektik von rechtmäßigem versus dämonischem urbanen Ort mündet in ein düsteres und nicht enden wollendes Duett: Nacht für Nacht rattern Kampfhubschrauber auf der Jagd nach rätselhaften Feinden wie Hornissen über den engen Gassen der Slumviertel und feuern Maschinengewehrsalven in armselige Hütten oder auf fliehende Autos. Jeden Morgen antworten die Slums mit Selbstmordattentaten und Explosionen.

Während das Imperium über ein Orwell'sches Arsenal an Repressionstechnologien verfügt, haben die Geächteten die Götter des Chaos auf ihrer Seite.

 

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Mike Davis (2006) Planet der Slums