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Mysteriöse Auswirkung der Zivilisation       Demoll-1957

 

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Wir leben heute sicher anders als vor 200 Jahren. Die Ernährung hat gewechselt, der Fleischkonsum hat sich seit 100 Jahren vervierfacht. Die Kleidung ist zum Teil zweckmäßiger geworden, die Hygiene hat zugenommen. Wir treiben mehr Sport. - Manche Änderungen der Menschenrassen lassen sich bereits erkennen. 

Die Holländer wurden in der Zeit von 1820 bis 1850 um mehrere Zentimeter kleiner. Dann aber erfolgte wieder eine Zunahme. Dabei stieg jedoch vor allem das Minimum auf und ab und änderte so den Durchschnitt. Alle Europäer sind in den letzten 50 Jahren um 4 bis 6 cm und mehr gewachsen; die Schweden innerhalb 100 Jahren (1840 bis 1935) um 8,2 cm, die Holländer von 1863 bis 1925 um 6,7 cm. Auch die Schweizer Rekruten haben in den letzten 50 Jahren (1884 bis 1932) um 6 cm zugenommen. 

Die Kinder wachsen schneller als früher. Kinder aller Volksschichten sind heute denen vom Jahre 1913 um 1½ Jahre im Wachstum voraus. Im Durchschnitt hat sich der Mitteleuropäer von 1800 bis 1940 um 11 cm gestreckt; d.h. die Kleinen verschwinden immer mehr, ohne daß die Großen noch wesentlich größer werden. Und das hört noch nicht auf. 

Soll man diese Entwicklung begrüßen? Man weiß es nicht, man weiß nicht, ob Gesundheit, ob körperliche und geistige Leistungsfähigkeit dadurch günstig oder ungünstig beeinflußt werden. Man weiß nur, daß die Stadt Anteil hat an dieser Längenzunahme. Man hat vermutet, daß der zunehmende Eiweiß- und Fettreichtum der Kost die wachstumsfördernden endokrinen Drüsen anregt. Die Japaner traten vor 100 Jahren in Verbindung mit der Welt. In den letzten 60 Jahren sollen sie um rund 7 cm an Größe zugelegt haben. Mit Vielessen hat dies nichts zu tun: Mittelalterliche Bilder, auf denen Schmausereien dargestellt sind, lassen erkennen, daß die früher üblichen Völlereien die Grenzen der menschlichen Aufnahmefähigkeit bereits erreicht haben. Die Europäer haben sich nicht großgegessen, ebensowenig wie die Japaner damit zur Zeit beschäftigt sind. 

Die Stadt ist es, die größer macht; die Zivilisation macht größer. Welche Faktoren aber hierbei treibend sind, das wissen wir nicht. Dabei ist der schlankwüchsige Stadttyp reizempfindlicher, geweckter — vielleicht aber weniger gesund als der nicht verstädterte Typ.

Weder die Quantität der Nahrung noch die Erleichterung der Arbeitsbedingungen durch das Aufkommen der Maschinen, die einen großen Teil der Schwerst­arbeiten übernehmen, kann ausschlaggebend sein.1) Es ist möglich, daß die stärkere Durchmischung der Menschen mitwirkt; doch darf auch dies nicht überschätzt werden. Sind doch die Bewohner der Hafenstädte nicht größer als die des Inlands. Und vor allem, nicht nur die weiße Rasse und die Japaner werden größer, alle anderen auch, Mongolen, Neger, kurz alle Menschen.

Hier stoßen wir auf eine der vielen noch nicht geklärten Auswirkungen intensiver Zivilisation. Nicht alle sind so harmloser Art wie die Größenzunahme.

Freilich findet man in der Natur bei sehr vielen Formen die Neigung, im Verlauf der Zeit größer zu werden. Dabei handelt es sich aber um gewaltige Zeitspannen, in denen sich diese Tendenz erkennbar auswirkt, nicht wie hier um eine Änderung innerhalb einiger Dezennien.

Man ist versucht zu glauben, daß die Größenzunahme durch eine eingehende Untersuchung auf ihre Ursache leicht zurückgeführt werden kann. Dies ist durchaus nicht der Fall. Es muß doch wohl eine ganze Reihe verschiedener treibender Momente vorhanden sein. Wie sollte es sonst auch kommen, daß die Großstadtkinder größer werden als die Landkinder und langschädeliger, also mehr nordischer Typ, daß sie dabei aber dunkler werden in Haut-, Haar- und Augenfarbe, also südlicher Typ; daß ferner die Kinder der untersten Schichten am wenigsten den Größenwuchs und die Langschädeligkeit mitmachen, daß diese jedoch in Dunkelfärbung wiederum an der Spitze stehen. 

1)  Versuche der Japaner lassen eine Auswirkung der Art der Ernährung erkennen. 


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Es wird viel Arbeit und Scharfsinn erfordern, nachzuspüren, wo die entscheidenden Einwirkungen stecken. Ist es doch möglich, daß die Steigerung des Längenwachstums mit dem Gehen auf Pflaster und Asphalt zusammenhängt — und daß die Kinder der Unbemittelten durch häufiges Barfußgehen weniger betroffen werden als die übrigen. Wenn dem so wäre, so dürfte man sicher sein, daß das Dunklerwerden wieder auf ganz andere Stadtfaktoren zurück­zuführen ist. Aber auch schon die Kinder, bevor sie gehen lernen, sind größer als auf dem Land. Bei den Neugeborenen macht es mehrere (bis zu 5) Zentimeter aus.

Man hat auch versucht, die Schlankheit des Skeletts des Städters mit dem Tragen von Unterkleidern zu erklären, die den Leib eng umwickeln. Die breite Statur des Bauern wiederum soll entstanden sein durch das ständige Tragen von Lasten, wodurch die Zwischenwirbelscheiben zusammengedrückt werden. Beide Momente aber versagen bei der Erklärung der Kopfform. Gerade diese aber ist für den Großstädter typisch. Übertreibungen durch Sport können auch zur Verschmälerung des Beckens beitragen. Doch dürfte eine solche Begründung erst für die letzten Jahrzehnte in Anspruch genommen werden. Das Schlankwerden des ganzen Skeletts hat aber schon lange eingesetzt.

Durch Mischung von Rassen und Schlägen wird der Schädel ebenfalls länger. Da aber die Großstadtbevölkerung immer gemischter ist als die des Landes, so wird wohl auch dieser Faktor unter anderen mitbestimmend sein. Und doch muß man auch hier wieder ein Fragezeichen setzen. Denn auch in den Tropen werden die Kinder der Europäer langschädeliger. Andrerseits haben die Europäer seit der Völkerwanderung an Rundschädeln zugenommen.

Allenthalben hat der Sport einen Hunger nach Luft und Licht geweckt. Der Sport wiederum wurde als Ausgleich gegenüber den fort und fort extremer sich gestaltenden Lebensbedingungen in der Stadt immer beliebter und hat schließlich auch auf die Landbevölkerung übergegriffen. Dadurch wurde die Kleidung vernünftiger, und es verschwanden manche nachteiligen Folgen des Stadtlebens. Die ehedem geradezu obligatorische Bleichsucht des Mädchens ist recht selten geworden. Nach Einbeziehung des Sports in den Unterricht sank die Zahl derer, die an Dysmenorrhöe* litten, ganz erheblich (z.T. von 75% auf 17%). Die Jugend ist heute abgehärteter. Aber viel ist auch durch Übertreibung besonders bei den Mädchen geschadet worden. 

*detopia-2011:  wikipedia  Menstruationsbeschwerden 


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Und zu solchen Übertreibungen neigt vor allem der Großstädter, der den Samstagnachmittag und den Sonntag möglichst intensiv ausnützen möchte. Der Sport mindert an sich schon die Gebärfähigkeit und auch die Gebärfreudigkeit. Übertreibungen im Sport aber — besonders beim Schilaufen und Schwimmen — bedrohen beim weiblichen Geschlecht geradezu die Fortpflanzungsmöglichkeit. Die Gebärmutter bleibt im Wachstum zurück und erschwert dadurch eine Empfängnis. Der trainierten Sportlerin drohen außerdem oft schwere Geburten; denn ihre Muskeln sind hart und sehnig, die Bänder sind zäh. So wird durch die erste Geburt die Gebärfreudigkeit sehr herabgemindert, sofern sie bei der ehrgeizigen Sportlerin nicht an sich schon stark reduziert ist. Geschmeidigkeits­übungen nützen der Frau, Kraftanstrengungen mit Belastung schaden.

Radio im Verein mit den illustrierten Zeitschriften fördert die Rekordsucht. Um von Zeitungsreportern interviewt zu werden oder gar vor dem Radio einige unmaßgebliche Sätze sprechen zu dürfen, dafür kann man wohl die Gesundheit seines Herzens riskieren.

Wir können aber dieses Kapitel, in dem sich Segen und Schaden der Zivilisation ungefähr die Waage zu halten scheinen, nicht verlassen, ohne darauf hinzuweisen, daß dem Körper des Stadtmenschen auch die natürlichsten Funktionen bereits so unnatürlich vorkommen, daß er sich ohne Arzt nicht mehr zurechtfindet. Auch seinen Haustieren hat er z.T. solche Unfähigkeiten schon beigebracht. Erblickt ein zivilisiertes Wesen zum erstenmal die Welt, so stehen an der Pforte die Hebamme und der Arzt. Bei zwei Drittel der »zivilisierten« Frauen führt die Geburt zu Dammriß verschiedenster Abstufung, sofern kein Kaiserschnitt durchgeführt werden muß. Striae sind bei den Naturvölkern so gut wie unbekannt, da bei ihnen die Elastizität der Haut und der Gewebe durch wechselnde Bewegung erhalten bleibt.

Aber schon bevor die Tür zur Welt dem Embryo sich öffnet, hat er häufig Bekanntschaft gemacht mit Giften, die die Mutter zu sich nimmt, und mit solchen, die ihr während der Geburt einverleibt werden. Auch Ei und Samenzelle erfahren oft schon, was ihrer in der Welt der Zivilisation wartet. In keiner Lebensstufe bleibt der Organismus frei von intensiven Eingriffen.

Aber - wir stellen fest - der Mensch hält es aus. Dies darf uns jedoch keineswegs beruhigen. Ja, selbst wenn wir zum Resultat kommen sollten, daß dem Körper die Zivilisation nicht allzuviel anhaben kann, dann bliebe immer noch die wichtigere Frage nach der Entwicklung des Geistes. Ist das Herz oder die Lunge krank, so läßt sich dies objektiv feststellen. Wird der Geist aber auch objektiv und unbestechlich bleiben, wenn er zum Richter über sich selbst aufgerufen wird?


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        Den Affen entgegen?     ^^^^  

 

Die Geschlechtsreife wird durch die Zivilisation und besonders durch die Stadt um Jahre vorgerückt. Damit wird die Spiel- und Lernzeit, also die Jugend, entsprechend verkürzt. Mehr als drei Jahre kann es bereits ausmachen.

Im Jahre 1900 fand man das Durchschnittsalter der erstmalig Menstruierenden auf dem Land bei 16,4 Jahren, in Kleinstädten bei 14,1 und in der Oberschicht der Großstädte bei 12,9 Jahren. Vor 1890 fand Dietze den Menarchetermin im Durchschnitt bei 15,2 Jahren, nach 1921 dagegen in dem gleichen Gebiet bei 13,7 Jahren. Eine Beschleunigung der Entwicklung um 1½ Jahre in weniger als einem halben Jahrhundert. In New Orleans war 1905 das Durchschnittsalter 14 Jahre 1 Monat 14 Tage; im Jahre 1930 war demgegenüber eine Verfrühung um 7 Monate eingetreten.

Die Großstadt steigert somit ihren Einfluß von Generation zu Generation. Und das Land folgt bereits nach. In der Stadt Hannover trat innerhalb einer Generation, also bei Töchtern gegenüber den Müttern, eine Beschleunigung der Reife von 14,6 auf 13,2 Jahre, somit um 1,4 Jahre ein; auf dem umgebenden Lande in der gleichen Zeit von 15,1 auf 13,5, also um 1,6 Jahre. Das Land holt nach; es wird städtisch. In Holland — ganz Holland kann als eine maximal aufgelockerte Stadt gelten — hat sich die Reife in den letzten 50 Jahren um 1½ Jahre beschleunigt.

Wenn nach dem Krieg teilweise wieder eine Verzögerung der ersten Menstruation und der Samenreifung beobachtet wurde, so hängt dies mit der Unter­ernährung, z.T. auch mit Kropfbildung zusammen.

Es ist aber nicht so, daß sich bei allen die Reife früher einstellt. Diese Zahlen geben einen Durchschnitt, der sich aus normal Gebliebenen und Akzelerierten zusammensetzt. Die Variationsbreite hat sich also gewaltig gesteigert.1) Dies zeigt schon, daß hier etwas die Tradition gesprengt hat und daß das Gefüge außer Rand und Band geraten ist. Für die Schulen erwächst die schwere Aufgabe, dieses Zusammensein von Frühreifen und Normalen nicht zur Quelle von Schädigungen werden zu lassen. Bei Koedukation wird feinste Einfühlung und großer Takt von Seiten des Lehrers nötig sein.

Die Frühsexualisierung der Kinder ist eine schwere Anklage gegen die Großstadt.

Liegt nun darin wirklich etwas so schicksalhaft Schädliches? Sollte man vergessen haben, daß die Wissenschaft mit leichter Wehmut feststellen mußte, daß unsere Sexualhormone gegenüber denen unserer Ahnen erheblich an Aktivität eingebüßt haben? 

1)  Die Leptosomen reagieren stärker als die Pykniker.


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Wie aber! Dort wird eine Steigerung,  hier wird eine Minderung der Sexualität bedauert. Sind wir wirklich auf einer so idealen Stufe der Entwicklung angekommen, daß jede Änderung nach unten oder nach oben von Übel wäre? Der Organismus des Städters funktioniert intensiver, schneller, hochtouriger, reizempfänglicher, sowohl in der Arbeit als auch beim Sport und beim Vergnügen. Warum nicht auch in der Liebe! Ist es wirklich so bedenklich, wenn uns Großstädtern nach angestrengter Arbeit die Welt in etwas leuchtenderem Rot erscheint als dem Landbewohner und wenn das Stadtkind früher seine ersten und zweiten Zähne bekommt?

Hierbei wird aber über ein Wesentliches hinweggesehen. Zunächst handelt es sich um eine Verkürzung der Jugend, also nicht um eine Steigerung der Sexualität, sondern um eine Beschleunigung der Geschlechtsreife. Das ist schon schlimm. Das Übel wird aber noch vergrößert durch etwas anderes. Beim Mädchen gehören zur Geschlechtsreife zwei Dinge: ein Körper, der imstande ist, die Anstrengungen einer Schwangerschaft und einer Geburt ohne Nachteile zu ertragen, und ferner eine hormonale Steuerung, die das Sexualleben in den Geschlechtsorganen und im Gehirn lebendig werden läßt. 

Nun hat sich früher bei der weißen Rasse, verglichen mit den anderen und mit den Menschenaffen, sowohl die anatomische als auch die hormonale Geschlechts­reife immer mehr hinausgeschoben. So kam der Mensch zu seiner langen Jugendzeit, die ihm ein stärkeres Nützen seines hochentwickelten Gehirns gestattete. Aber hier schon taucht eine Diskrepanz auf. Die anatomische Entwicklung hat nämlich eine stärkere Verlangsamung erfahren als die hormonale — wie wenn ein Fehler beim Synchronisieren unterlaufen wäre. 

Wenn ein Mädchen mit 14 Jahren empfängt, so liegt insofern ein Funktionsfehler vor, als der Körper der Belastung durch eine Schwangerschaft noch gar nicht gewachsen ist. Nun aber wird diese Diskrepanz durch die Einmischung der Zivilisation noch bedeutend verstärkt. Wird dann noch, wie dies in den letzten Dezennien festgestellt wurde, in beiden Geschlechtern die seelische Reife verändert, so kann dies zu Entgleisungen des Innenlebens der Jugendlichen führen. Man spricht dann von einer Verwahrlosung der Jugend, wo es sich zumeist um Disharmonien der Entwicklungsvorgänge handelt. Dies führt zu unkontrollierten Eruptionen. Die Halbstarken könnte man im Hinblick auf die geistige Entwicklung ebensogut als die Halbschwachen bezeichnen. Auf Grund dieser erst in den letzten Dezennien so stark aufgetretenen Diskrepanzen möchte man den jugendlichen Kriminellen immer der Gnade des Richters empfehlen.


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Zu welchen biologischen Unmöglichkeiten eine abnorm verschobene hormonale Steuerung führen kann, zeigen Fälle, wo schon die erste Regel auftritt, bevor irgendwelche sekundäre Geschlechtsmerkmale (Brüste, Behaarung, Rundung der Körperformen) auch nur begonnen haben, sich zu entwickeln, Fälle, wo schon fünfjährige Kinder zu menstruieren begannen. Nicht nur, daß hier der Körper gefährdet ist, auch dem Denken eines solchen Kindes droht das Chaos.

Eilt schon bei normaler Entwicklung die hormonale Funktion so weit voraus, daß sie Störungen seelischer Art hervorzurufen vermag, so gilt das in erhöhtem Maße, wenn durch die Stadt diese Fehlsteuerung von seiten der Hypophyse noch viel schärfer akzentuiert wird, zumal das Milieu der Stadt an diese erotisierten Kinder — und etwas anderes sind menstruierende Mädchen von 12 Jahren nicht — an sich schon höchste Anforderungen stellt. Darin eben liegt das Verderben: Die Stadt beschleunigt erheblich die an sich schon verfrühte hormonale Geschlechtsreife. Viel zu früh sind die Mädchen physiologisch, sexuell und z.T. auch psychologisch entwickelt, während sich ihre anatomische Jugendzeit kaum verkürzt.

Wohl ist es richtig, daß Kinder zwischen 14 und 16 Jahren leichter gebären als ältere Personen. Sie werden aber auch vom Embryo, der sich dem schwachen, noch schonungsbedürftigen Organismus gegenüber wie ein Parasit benimmt, stärker ausgezehrt. Die üblen Folgen kommen hinterher.

Es macht also die Zivilisation den Menschwerdungsprozeß, der in der Schaffung einer langen Jugendzeit gipfelt, mit einem Schlag wieder rückläufig. Und der Prozeß läuft weiter. Die Menschenaffen werden mit 6 bis 7 Jahren geschlechtsreif. Der ständig fortschreitende Prozeß der Jugendverkürzung setzt die Menschen in Marsch den Affen entgegen. Was wird das Ende sein? Das geschlechtsreife Kind, dem der Segen einer langen Jugendzeit verlorenging?

Es bleibt nur ein Trost. Die Änderung der Entwicklungsgeschwindigkeit innerhalb von 50 und 80 Jahren läßt annehmen, daß nicht eine Änderung der Erbmasse vorliegt; dies besagt, daß dieser Prozeß durch entgegengesetzte Milieueinwirkung wieder rückläufig gemacht werden kann. Dies aber schiebt uns auch die Verantwortung zu, alles zu tun, damit er auch wieder rückläufig wird.

Noch nicht alle Völker haben sich im Verlauf der Jahrtausende eine ebensolange Jugendzeit erworben wie die europäischen, besonders wie die nordischen Rassen.

Hierbei wirkt sich das Klima stark aus. Am spätesten geschlechtsreif werden die Lappenmädchen: erst mit 18 Jahren; am frühesten die Neger, hier findet man schon bei 10jährigen Mädchen Geschlechtsreife. Die Nordchinesin bekommt ihre Regel mit 14 bis 16 Jahren, die Mittelchinesin mit 12 bis 14 Jahren und die Südchinesin mit 11 bis 13 Jahren. 


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Andererseits aber sind auch starke Unterschiede bei gleichem Klima vorhanden. Die Indianermädchen menstruieren schon mit 12 ½ Jahren. Bei den Samojeden und Ostjaken aber, die dem Kältepol sehr nahe sind, heiraten die Mädchen mit etwa 10 Jahren und haben mit 11 Jahren bereits ihr Baby.

Der Vorsprung, den die weiße Rasse sich erworben hat, wird heute von ihrer Zivilisation ernstlich bedroht. Nirgends kann die Zivilisation so viel Jugend stehlen wie bei den nordeuropäischen Völkern.

Auch die Schulen machen hier Fehler. Sie bevorzugen und fördern den geistig Frühreifen, dessen Reaktionsvermögen sich schneller entwickelt hat, jedoch auf Kosten seiner zurückgebliebenen Gefühlswelt, und sie hemmen den, der sich langsam, aber normal und ausgeglichen entwickelt. So belegen sie die Erhaltung einer langen Jugendzeit mit Strafe.

Man hat darauf hingewiesen, daß es gar nicht so schlimm wäre, wenn Mädchen schon mit 13 Jahren menstruierten. Solange die Schwangerschaft auf dem Papier stehe, solange könne sie nicht schaden. Der Organismus des Kindes bleibe aber durch das Gesetz geschützt. Darum geht es aber hier nicht, wenigstens nicht in der Hauptsache. Die Verkürzung der Jugendzeit und die Disharmonie zwischen Körperform und Körperfunktion ist das Entscheidende und Beängstigende.

Sollte es gelingen, festzustellen, welche Faktoren die Frühreife in der Stadt bedingen, so würde man hoffen dürfen, den bedenklich fortschreitenden Prozeß abstoppen zu können. Das Problem ist aber außerordentlich komplexer Natur.

Woran liegt es, daß innerhalb einer Stadt die Mädchen aus den untersten Schichten um durchschnittlich 1 Jahr später reif sind als die aus den bemittelten Klassen — in England soll allerdings der Unterschied nicht groß sein —, daß in Paris das Pubertätsalter in den unteren Schichten mit 14 Jahren und 10 Monaten, in den oberen mit 13 Jahren und 8 Monaten anzusetzen ist? Hier läßt sich vielleicht entschleiern, was nun eigentlich die Menschen schneller reifen und vielleicht auch, was sie früher heiraten läßt.

Die Parias in Indien zeigen eine Verzögerung der Geschlechtsreife. Schlechte Ernährung und körperliche Anstrengung scheinen somit wohl einwirken zu können, sind aber sicher nicht der einzige und auch nicht der ausschlaggebende Faktor.

Man weiß also nicht, inwiefern die Stadt und allgemein die Zivilisation die Pubertät beschleunigen, es läßt sich nicht entscheiden, ob es die erotisierte Atmosphäre ist, ob also auch hier der Geist es ist, der sich sein Haus baut, oder welche anderen Faktoren mitspielen. Missenard sagt: »Alles in allem, je künstlicher das Leben ist, um so frühzeitiger tritt die Geschlechtsreife ein.« Worin aber besteht das Künstliche?


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Weil die Entwicklung des Kindes in der Erreichung des sexuell entwickelten Menschen ihr Ziel erreicht, neigt man zu der Annahme, daß es auch erotische Einflüsse sein müßten, die den Marsch dorthin beschleunigen. Doch könnte das antreibende Etwas nicht einfach durch größere Lebhaftigkeit des Milieus, durch seine ständige Reizgebung, kurz, durch den schnellen Puls der Großstadt gegeben sein?

Unmöglich ist dies nicht, aber es ist nicht wahrscheinlich. Ja, wenn aus dem Kind der geschlechtsreife Mensch gewissermaßen über Nacht entstehen würde. Dem ist aber nicht so. Es handelt sich hier um einen ganz langsam einschleichenden Prozeß, anatomisch ebenso wie physiologisch und psychisch. Hier mag es sehr wohl so sein, daß Dinge, die Monate und Jahre im Unterbewußtsein einem langsamen Erwachen entgegenschlummern, durch ständige, wenn auch noch so schwache Reize früher geweckt werden. Und an solchen Reizen läßt es das Stadtmilieu mit seinen Reklamebildern, illustrierten Zeitschriften, mit dem Film und dem üblichen Stadttratsch keineswegs fehlen. Nein — die Großstadt ist nicht einfach ein Reaktionsbeschleuniger, so wie etwa höhere Temperatur die chemische Umsetzung schneller ablaufen läßt. Die Verhältnisse liegen sehr viel verwickelter.

Die Stadt — es ist nicht zuviel gesagt — bringt das Geschlechtsleben vollständig aus dem Konzept, geistig, funktionell und anatomisch. Sie schafft bei den Mädchen das inf antilistische Becken und steigert die Zahl der Frühgeburten und den Zwang zu operativen Eingriffen enorm. So werden auch noch die Geburtsfreudigen der Stadt anatomisch und physiologisch an der Fortpflanzung häufig gehindert. Und das Land folgt nach.

Aber hier muß man die Frage stellen: Wäre es nicht möglich, daß die überschlanke Hüfte der Zeitströmung zu verdanken ist, daß der Zeitgeist die Mädchen schmalhüftig formt, ohne daß die Stadt dabei Schuld trägt?

Aber auch dann, wenn die Stadt nicht direkt beteiligt wäre an der Beseitigung des gebärtüchtigen Beckens, sondern wenn es die Zeitideale wären, die den Typus der Frau bestimmen — solche unnatürliche Sexualideale können eben nur in der Großstadt entstehen und gedeihen. Der naturgebundene Bauer ist immer der Praktiker. Und als solcher lehnt er alles Ungesunde und nicht Funktionsfähige ab. Nur an einem normal breiten Becken kann sich seine gesunde Erotik entzünden.

Es bleibt also dabei: Es ist nicht übertrieben, von einem gestörten, aus dem Konzept geratenen Geschlechtsleben der Jugend zu sprechen. Nehmen wir nur alles zusammen, und die Zweifel werden schwinden: die verkürzte Jugend, die frühe Erotisierung der Jugend, der Synchronisierungsfehler und das zu schmale Becken, das noch eine außerordentliche Steigerung erfahren kann bei Mädchen, die im Entwicklungsalter beruflich viel ruhig stehen müssen. Denn dadurch wird es weiter zusammengeschoben und so verengt, daß bei Geburten oft operative Eingriffe nötig werden. 


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Es kommt noch hinzu die hohe Empfindlichkeit der Frau gegen Gewerbegifte, gegen Nikotin, unter dem die Mädchen der Tabakindustrie zu leiden haben, gegen Phosphor, Quecksilber, Arsen und andere Gifte, eine Empfindlichkeit, die sich wieder in Neigung zu Aborten äußert. Man beachte weiter, daß die Städterin eher zum Rauchen neigt als das Bauernmädchen und daß bei manchen das Verlangen nach Nikotin während der Schwangerschaft steigt, in dieser Zeit, in der die Vergiftungsgefahr besonders groß ist, da die Niere an sich schon stark belastet wird, und in der die Gebärmutter übersensibel ist gegenüber Nikotin.

Und all diese Schäden erfahren eine psychische Ergänzung dadurch, daß die Stadt mit der Überfeinerung der Sinne und Übersteigerung der Phantasie die eheliche Enttäuschung bei der Frau begünstigt. Sie erhöht die Zahl des in der Stadt häufigen Typs der frigiden Frau. »Sie hat sich alles anders vorgestellt.« Nun nimmt sie Rache an der Wirklichkeit und lehnt diese rigoros ab.

Zum Schluß aber noch eine entscheidende Frage: Ist es so, daß durch die Frühentwicklung die Persönlichkeits­bildung gestört wird — daß sie stark gefährdet wird, haben wir schon ausgeführt —, und wenn ja, daß sie für immer gestört bleibt? Hier verhalten sich die beiden Geschlechter vielleicht verschieden. Die akzelerierten Mädchen werden häufiger kriminell — in der Jugend. Und es ist wichtig, daß dies hinzugefügt wird. Denn ob sie auch als Erwachsene zu den Unsozialen zählen, darüber weiß man noch zuwenig. Möglich also, daß ihre Persönlichkeitsbildung nur verzögert ist, daß sie sich infolge ihrer Frühreife in Situationen begeben, die sie ethisch noch gar nicht beherrschen können, und daß sie später zu ausgeglichenen, beherrschten und wertvollen Menschen werden. 

Aber wie dem auch sei: Auch bei günstigster Beurteilung muß man beachten, daß solche Mädchen eine auch für das spätere Leben bedrohliche, dieses sicher oft bestimmende Gefahrenzone durchlaufen. Bei den Jungen liegen nur Vergleiche vor zwischen den Frühreifen und den ausgesprochen Spätreifen. Hier findet man mehr Kriminelle unter diesen abnorm Spätreifen. Man kann dies vielleicht aus einem Resignieren und einem zur Explosion treibenden Gefühl der Minderwertigkeit und des Unterdrücktseins heraus erklären. Auch die Ausnützung dieser geistig Unterentwickelten durch andere mag manche mit dem Gesetz in Konflikt bringen. Es scheint, daß auch nur in der Großstadt diese Reaktion der Zurückgebliebenen auftritt.

Die rohe Einteilung der Menschen — so wie hier geschehen — in Kriminelle und Nichtkriminelle ist aber nicht das einzige, was hier interessiert.

Trotz der Testfreudigkeit unserer Zeit ist noch nie eine größere Gruppe Frühreifer etwa vom 14. Lebensjahr an über zehn oder zwanzig Jahre verfolgt und fortlaufend mit einer Gruppe Normalreifer verglichen worden. Hier aber erst liegen entscheidende Fragen. 


     Drei konzessionierte Totschläger    

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Wer wird totgeschlagen? Die Besinnlichkeit. — Wie soll sich der gelangweilte Erdenbürger die viele Zeit vertreiben, bis er endlich am Grabe angelangt ist? Früher boten sich ihm nur wenige Möglichkeiten, um sich selbst zu entgehen: Kartenspiel, Würfelspiel, Trinken und Essen bis zur Völlerei. Die Frauen waren noch übler dran. Das Repertoire der Sinnlosigkeiten, mit denen man die Zeit vernichten konnte, war auf alle Fälle sehr begrenzt. Heute hat sich dies völlig geändert. Wer mit seiner Zeit nichts anzufangen weiß, wird nie in Verlegenheit sein: Zeitschriften, Radio und Kino stehen zur Verfügung. Diesen allen ist gemeinsam, daß sie nicht nur gebraucht, sondern ebenso leicht auch mißbraucht werden können. Karten- und Würfelspiele haben seither an Zahl der Parteigänger erheblich eingebüßt. Vollwertiger Ersatz ist vorhanden. Es lebe der Fortschritt — auch beim Totschlagen der Zeit.

Die genannten drei Delinquenten verdienen aber eine etwas eingehendere Betrachtung. Delinquenten? Was kann das Messer dafür, wenn es zum Mord mißbraucht wird?

Unsere modernen Riesenstädte verdanken ihr schnelles Wachstum und ihre ansaugende Kraft den Schienensträngen und vor allem der Zeitung. Paris trat in das 19. Jahrhundert als die größte Stadt Europas ein mit 600.000 Einwohnern. Wien zählte 230.000, Berlin 150.000 Einwohner. Aber bald wird Paris von London überholt, obwohl es schon auf 700.000 angestiegen ist. London aber wächst noch schneller und zählt bereits 1,4 Millionen.

Mittlerweile begannen die Zeitungen der Städte auch das Land zu erobern und dort von der Großstadt zu erzählen, wobei sie diese zumeist in einem unberechtigt paradiesischen Zustand erscheinen ließen. 

1727 gebar Preußen seine erste Wochenzeitung mit der bescheidenen Überschrift <Intelligenzblatt>; später ein beliebter Titel. Jeder wünschte zur Intelligenz zu zählen und abonnierte.

Und all diese Intelligenzler glaubten, nur noch in der Großstadt ihre adäquaten Lebensbedingungen finden zu können. So begann der Run in diesen Hexenkessel. Nicht, weil das Land Überschuß hatte, wuchs die Stadt — was fragt dieser Vampyr nach Überschuß.


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Das Land vermochte der magischen Anziehungskraft der Stadt nichts entgegenzusetzen. Und all dies wäre damals ohne Zeitung gar nicht möglich gewesen. Sie hat die Treibhausatmosphäre für das Wachstum der Riesenstädte erst geschaffen. Schließlich kam noch das auf dem Lande rekrutierte, in der Stadt stationierte Militär dazu, von dem ein Teil nicht mehr auf das Land zurückkehrte.

 

Illustrierte Zeitschriften — nicht eine Erfindung, sondern eine dringende Forderung unserer Zeit, ein lebhaftes Bedürfnis. Die »Illustrierte«, der Besinnlich­keits­räuber Nr. 1 — unentbehrlich dem ruhelosen Menschen!

Wie sollte man auch sonst bei Bahnfahrten, im Wartezimmer und in den Ferien bei Regentagen die Zeit verbringen, angewiesen auf den Verkehr mit sich selbst, mit dieser nervösen Kreatur? Hätten wir gleiche Bestattungssitten wie die alten Ägypter, so müßten wir unseren Toten neben einem Kofferradio vor allem einige neue Nummern von Illustrierten mit ins Grab geben.

Am Feierabend schaut der Mensch gerne zum Fenster hinaus, am liebsten aber dem Nachbarn in sein Fenster hinein. Auf der Beliebtheit dieses Blicks »ins« Fenster konnten lukrative illustrierte Zeitschriften aufgebaut werden. Zu dem Run der Reporter nach intimen, leicht frivolen Delikatessen gesellte sich aber bald etwas anderes, etwas, was unsere Kultur stark zu berühren scheint. 

Immer mehr verbreitete sich bei Prominenten jeder Art und Abart die Neigung und das Verlangen, sich dem Publikum in überraschend günstiger Position darzubieten. Der Blick ins Fenster wurde immer weniger nötig, die Insassen kamen heraus und stellten sich freiwillig und beglückt dem Photographen. Damit ist der Exhibitionismus — wohlverstanden der seelische Exhibitionismus — zum integrierenden Bestandteil unserer Kultur geworden. Man durchschnüffelt solche Zeitschriften nach körperlichen Nacktheiten, um sie dann dem Zensor zu übergeben. Der oft zu weitgehende seelische Exhibitionismus aber wird kaum beachtet.

Eine seltsame Jägerei hat sich entwickelt: Die Seelenreportage — eine Jagd mit Blitzlicht und Bleistift. Eine ganz gefährliche Waffe, heimtückischer als die Büchse. Überall gibt es weidwundgeschossene, siechende Geheimnisse. Ein Zurückziehen in die vier Wände ist niemandem mehr möglich. Denn diese sind nicht mehr da. Das »traute Heim« aus Glas ist durchsichtig geworden, so wie der Reporter es sich wünscht.

Selbst am Grab umtänzeln die Photographen den Trauernden. »Bitte recht unglücklich.« Dieses an den Pranger stellen der intimsten Regungen führt zur Verrohung, ist aber heute schon ein massives Dokument widerlicher Gemütsentartung.


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Es gibt genug Abschiedsbriefe von Selbstmördern — insbesondere in südlichen Ländern —, in denen der Betreffende verrät, daß er hoffe, auf diese ungewöhnliche Art auch mal ins Rampenlicht einer Zeitschrift gestellt zu werden. So eminent wichtig kann die exhibitionistische Neigung dem Menschen werden. Was aber ist naheliegender, als daß er statt dieser ungewöhnlichen Art eine recht »gewöhnliche« Art wählt, um nur um so sicherer dasselbe Ziel zu erreichen (z.B. Mord, Vergewaltigung, Einbruch, Betrügereien, Spionage usw.).

Welche Rolle hiervon auch auserwählt werden mag, wenn sie nur mit Format und nicht zu kleinlich durchgeführt wird, so darf der Verbrecher sicher sein, daß er nicht nur in den Zeitschriften einen bevorzugten Platz zugewiesen erhält, sondern daß er hier auch mit einem mehr oder weniger deutlich sichtbaren Glorienschein auftreten wird, der ihn selbst ob seiner Herrlichkeit staunen läßt. Eine Prämie für den tüchtigen Verbrecher.

Wie die Motten in das Licht, so fliegen die Menschen heute ins Rampenlicht. Es blendet und verblendet, es zerstört die Natürlichkeit und Ungezwungenheit und tötet den Charme; es läßt die Menschen die törichtesten Rekorde aufstellen, wobei man oft wünscht, es mögen die Prämiierungen vom Psychiater durchgeführt werden. Und immer melden sich genügend Akteure, wenn sie nur hoffen dürfen, daß sich dadurch irgendeine Zeitschrift ihrer bisherigen Anonymität erbarmt.

Letzten Endes verhält es sich so: Nicht die Zeitschriften haben den Menschen zum Exhibitionisten gemacht, sondern der Exhibitionist war bereits da, und zwar zu allen Zeiten und überall. Immer schon suchte er nach der Bühne und der hellerleuchteten Rampe. Daher war die Erfindung illustrierter Zeitschriften zur dringlichsten Notwendigkeit geworden.

Wo aber soll man die Grenze setzen zwischen erwünschtem und unerwünschtem Exhibitionismus? Verdanken wir doch dem seelischen Exhibitionismus die wertvollsten Selbstbiographien und die zarteste Lyrik. Ja, letzten Endes verlangt alle Kunst, daß sich der Künstler in seinen Werken dekuvriert. Es bleiben also nur graduelle Unterschiede. Letzter Richter wird immer der Takt sein müssen. Dieser allerdings ist Mangelware.

Als 1755 ein Erdbeben zwei Drittel von Lissabon zerstörte, langten im Verlauf von Monaten immer wieder neue Schreckensnachrichten in Deutschland an. Die ganze Zeit über standen die Menschen unter dem Eindruck dieser Katastrophe, und die Erschütterung war so stark, daß von vielen die Frage aufgeworfen wurde, ob man angesichts solcher Vernichtung noch an eine göttliche Fügung glauben könne. Wochen und Monate lang war Lissabon »aktuell«.


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Heute hat der Zeitraffer den Begriff »aktuell« gewandelt. Was vor wenigen Tagen noch höchst aktuell war, ist heute schon vergessen. Selbst der Preisboxer muß sich diesem Gesetz beugen. Das Heute wird von dem Morgen, der jetzige Augenblick von dem nächsten Augenblick überlagert und vernichtet.

Man höre doch nur das aufgeregte, hektische Getue des Sportreporters am Radio, wenn ein Tor fällt, oder ein Boxer dem Partner das Auge »schließt«. Warum überschreit er sich immer in höchsten Fisteltönen? Er kämpft darum, wenigstens für einige Augenblicke, aktuell zu sein. Und doch weiß er, daß ihm niemand seine gekünstelte Aufregung glaubt. Vom Hörer aber fordert er, daß er unsportlich ehrgeizige Gefühle entwickelt und diese genügend ungerecht placiert und dosiert. Nun denn, möge sich übertriebener Nationalismus austoben beim Sport und auf den diversen national zugeteilten Gipfeln des Himalaya.

Ist es Reaktionsmattigkeit, die uns so schnell vergessen läßt und die täglich eine kräftige Überduschung mit aufregenden Nachrichten herausfordert? Oder ist hier Ursache mit Wirkung vertauscht? Was auch in der ganzen Welt Bemerkenswertes vorfällt, alles erfahren wir täglich dicht und bunt zusammengedrängt. Eine erdrückende Fülle von Ereignissen wird uns zum Frühstück serviert. Die kitzligsten Situationen finden wir dann in den Zeitschriften illustriert. 

Für unser Gefühlsleben ist dies einfach zuviel. Es muß sich vor Überbelastung schützen. Wir können nicht während des Frühstücks — und gleich darauf okkupiert uns der Beruf vollständig — in schnellem Wechsel Mitleid und Bedauern für Verelendete und Verunglückte, Abscheu gegenüber Raub- und Lustmördern und lebhaftes Interesse für Liebeshändel, Toto und leichte Skandalaffären aufbringen, wenn außerdem zunächst schon die Politik, die meist mit Emotion gelesen wird, einen namhaften Teil unserer Gemütsvitalität verbraucht hat. Daher wohl auch die Neigung so vieler, die Zeitung von hinten nach vorn zu lesen, um den Todesanzeigen, Sportnachrichten und Mordangelegenheiten noch in voller Empfindungsfrische entgegentreten zu können, während dann der Politik nur noch der Rest des Aufregungsvermögens verbleibt.

Der Zeitungsleser ist nicht mehr imstande, das Vielerlei seelisch zu verdauen, nicht weil er sich geändert hat, sondern weil die Quantität des Dargebotenen ein wirkliches Miterleben unmöglich macht. Die Seele muß sich schützen; sie zieht die Jalousien herab und hört nicht mehr hin.

Die Illustrierte aber will diese Seelentaubheit nicht gelten lassen. Sie bietet alle Superlative auf, alles Raffinement, jeden erdenklichen Nerven- bzw. Seelenkitzel, um die Neugier wieder aus ihrem Versteck hervorzulocken.


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Sicher macht diese Superreklame und dieses ständige Überrieseln mit aufregenden Dingen oberflächlich; aber vielleicht doch nur oberflächlich gegenüber dem zu großen Angebot.

Das Radio kann viel Gutes wirken. Es gefährdet Gesundheit und Gefühlsleben nur bei denen, die nicht hören — trotzdem aber es den ganzen Tag anstellen.

Wenn auch mit der Zeit eine Gewöhnung an diesen geschwätzigen Mitbewohner eintritt und, um ihn zu übertönen, die Unterhaltung ständig mit erhobener Stimme geführt wird — wie bei den Kanarienvögeln, die die Menschen zu überschreien suchen —, letzten Endes erhöht dies die Nervosität und Gespanntheit und untergräbt nicht nur die Gesundheit, sondern raubt noch den Rest der Besinnlichkeit.

Früher war ein Liebespaar immer darauf erpicht, allein zu sein. Heute gehört noch ein Dritter zu dem Paar und geht auch mit spazieren, ein kleines Handradio. Weiß man nichts mehr zu reden — und dies scheint heute viel häufiger der Fall zu sein als früher —, so hat der Dritte die Unterhaltung zu bestreiten. Wie bequem! Zeigt der abrollende Liebesfilm unerwünschte Längen, so greift das Radio ein. Ist dies aber als eine Schädigung zu buchen? Nein! Nur als ein übles Symptom.

Dem Bauern vermittelt das Radio Belehrung und wertvolle Ratschläge. Es bringt ihm außerdem einen Ersatz für die Stadt. Aber statt daß er dadurch zufriedener wird auf seiner Scholle, lockt ihn dieser Ersatz nur, das Originalgebilde, die Stadt, selbst zu erleben.

Zumal der Dritte im Bunde, der Film, mit magischer Gewalt die Sehnsucht nach der Stadt zu steigern versteht, indem er dem Bauern immer wieder mit allem zu Gebote stehenden Realismus vor Augen führt, wie die vornehme Welt der Großstadt »nicht« lebt. Und der unverbildete Bauer glaubt, was ihm das Kino zeigt. Denn er neigt dazu, das, wofür er sein gutes Geld gegeben hat, auch für wahr zu halten.

Beginnen wir bei dem Entwurf für einen Film, der von einem Dichter an die Filmgesellschaft abgeliefert wird.

Nehmen wir an, der Autor schafft ein Kunstwerk. Er erhält dafür sein Honorar. Damit hat er aber sein Geisteskind nicht nur verkauft, er hat es auch den beliebigsten sadistischen Mißhandlungen ausgeliefert, ohne im geringsten noch etwas zu seiner Rettung unternehmen zu können. Denn vom Entwurf zum fertigen Film führt ein seltsamer Weg. Erst nimmt sich der Dramaturg des unfertigen Wesens an. Ist er vernünftig und tüchtig, so ist er nicht zu fürchten, er vermag sogar segensreich zu wirken. Dann aber beginnen die verschiedenen Leidensstationen, bis das Drehbuch fertig ist. 


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Nun erst folgen die Aufnahmen. Auch hierbei wird immer wieder geändert. Ein tüchtiger Regisseur wird Tüchtiges und Künstlerisches leisten, wenn auch zumeist etwas anderes dabei herauskommt als das, was der Dichter meinte; ein Routinierter zeigt die Routine; und dies ist der weitaus häufigere Fall. Als letzte, aber als recht bedeutsame Passion muß nun noch das Laboratorium des Schnittmeisters durchlaufen werden. Mit respekteinflößender Souveränität jongliert dieser die einzelnen Aufnahmen durcheinander und zeigt damit, wie sehr es im Film auch auf ihn ankommt.

So folgt auf den Dichter der Konstrukteur, auf das künstlerische Schaffen die Routine, und aus dem naturhaften Wesen, das der Dichter arglos übergeben hat, wird schließlich ein wohlzivilisiertes, kastriertes, oft verkitschtes Gebilde, an dem der Dichter, wenn er seinem Sprößling bei der Premiere wieder begegnet, verzweifeln mag.

Ein Produktionschef würde diesen Ausführungen hinzufügen: so wie Goethe vielleicht verzweifeln würde, wenn er sähe, mit welchen Änderungen, Umstellungen und Kürzungen sein Faust über die Bühne geht. Nein — dem Film wirft man vor, was bei der Bühne als Selbstverständlichkeit, als wohlberechtigter und unbedingt nötiger Eingriff hingenommen, ja selbst erwartet wird. Was nicht bühnenfertig ist, muß durch die Maschine.

Und diesem Produktionschef wiederum könnte man antworten: Auf der Bühne wird gestrichen, beim Film wird Grundlegendes geändert. Wie kann es aber auch anders sein. Unter einer Oberleitung wird das Drehbuch von einem halben Dutzend flinker Autoren am Fließband montiert. Der eine sieht zu, daß dieses Kunstwerk dem vorgesteckten Ziel sich stetig nähert, jedoch weder zu schnell noch zu langsam. Ein zweiter drechselt die Dialoge; ein dritter legt die Witze ein; ein vierter ist Spezialist für Hochstapeleien, Betrügereien und ähnlich Unerfreuliches. Einem fünften fällt die Montage der Liebesszenen zu, und wieder ein anderer ist Spezialist für Seelenblähungen allgemeiner Art und hat auch sonst für genügenden Druck auf die Tränendrüse besorgt zu sein. Ein siebenter und ein achter schließlich sind grundsätzlich bereit, an den vorgelegten Manuskripten alles zu ändern. 

Spielt die Handlung in der Renaissance, so wird sie aus unerfindlichen Gründen von Nummer sieben in die Biedermeierzeit verlegt. Mit Recht stellt nun Nummer acht fest, daß die vom Dichter scharfgeprägten, von Lebenswillen überquellenden, robusten Renaissancegestalten auf den grazilen Biedermeierstühlen und Sofas nicht sitzen können, ohne das Gefüge dieser Möbelstücke ernstlich zu bedrohen. Dieser Dissonanz muß somit abgeholfen werden. Um ein biedermeierliches Seelenklima herzustellen, müssen nun diese Renaissancetemperamente einer mehr oder weniger tiefgreifenden Kastration unterzogen werden.


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Aber hier geht es gar nicht um die Frage, ob Kunstwerk oder Machwerk; ob hier Förderndes und Erhebendes oder ob eine Falschmünzerwerkstätte der Kunst täglich Millionen von Menschen beeinflußt. Hier ist nur herauszustellen, inwieweit dem Film Eigenschaften anhaften müssen, die ihn für den Menschen bedenklich werden lassen.

Während beim Schauspiel immer das Gehörte dominiert, wendet sich der Film ebenso betont an das Auge. Dieses zufriedenzustellen ist aber weit schwerer, als das Ohr zu befriedigen. Denn das Auge ist viel anspruchsvoller, verlangender, ungeduldiger und auch unersättlicher. Denn es ist dem Geist kein so seriöser Diener wie das Ohr. Immer ist es auf der Jagd nach Unterhaltsamem.

Das Leben wirkt auf der Leinwand doch nicht genügend lebensfrisch und das Wort nicht genug wahr. So entsteht eine Leere, die der Film ständig überspringen muß dadurch, daß er Kurzweil bietet. Daher die Ungeduld, die uns packt und plagt, sobald die Kurzweil aussetzt.

Warum darf der Kuß im Film nur eine ganz bestimmte Zeit dauern? Warum wird darüber hinaus selbst der sentimentalste Backfisch sofort ungeduldig, fühlt die Leinwand und beginnt sich zu mokieren? Der Kuß, reguliert mit der Stoppuhr — zwingende Forderung des Films.

Der Film muß hetzen, muß von einer Szene zur anderen jagen, muß solchermaßen unnatürlich sein, um natürlich zu erscheinen, um vergessen zu machen, daß alles nur Film ist. Daher die Unmöglichkeit, Bühnenstücke ohne Strich und ohne Kontraktion für den Film zu übernehmen.

Auf der Leinwand muß es immer vibrieren. Sonst merkt man, daß sie da ist. Sonst spürt man, daß die Fassade meist entscheidet und nicht das innere Erlebnis. Die Menschen müssen sich allesamt so benehmen, als wenn sie einen kleinen Schuß Schilddrüsenhormone zuviel hätten. Aber was schadet das schon? In dem Augenblick, in dem sich der Zuschauer im Filmtheater auf seinen Sitz niederläßt, ist auch er schon auf Tempo geschaltet, ohne etwas davon zu bemerken. Ist dies bedenklich?

Tempo ist der Feind jeder kultivierten Haltung. Tempo zu entwickeln und darüber das Leben zu vergessen, ist die Gefahr des zivilisierten Menschen. Der Film steigert diese Gefahr außerordentlich. Dieses Getriebe, diese Hetze, diese schillernde, reiche, buntopalisierende Oberfläche macht weniger wahr. Der Film geht alle Probleme an und tut so, als ob er sie löst. So kann er anmaßend und arrogant wirken. Wenn er in zwei Stunden alle Tiefen des Kosmos und der Menschenseele ausschöpfen will, muß er flach bleiben, so flach wie die Leinwand, auf der er spielt. Der Film zeigt immer alles, was er kann.


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Und doch muß man sich fragen, muß das immer so bleiben, daß im Film die Revue, das Erstaunliche, das Halsbrecherische, das Unglaubhafte, Ausgefallene, Überschwengliche, Prunkhafte dominiert? Daß das Kino uns zeigt, wie ein schönes Singhalesenmädchen dem Tiger geopfert wird, zeigt, wie während der Französischen Revolution die Guillotine ununterbrochen arbeitet und die Köpfe fallen, wie widerliche Weiber, das Schauspiel in den ersten Sitzreihen genießend, unterdes Strümpfe stricken? Aber das alles passiert ja nur auf der Leinwand. So roh wie die Römer brauchen wir uns doch nicht zu schelten? Diese ließen die Sklaven einander niedermetzeln und vergnügten sich, wenn wilde Tiere sich auf die wehrlosen Christen stürzten und sie zerfleischten. Wir sind doch erheblich feiner geworden.

Aber immerhin, daß in diesem orgiastischen Sinneswirbel noch jemand tiefer zu fühlen vermag, ist kaum zu erwarten.

Die Kunst hat zu führen. Sie gibt an, was gilt. Der Film aber ist die Kunst des Hinterherlaufens, hinter dem Geschmack der Masse. Der Film sagt nicht: Ich will, sondern er fragt das Publikum: Was willst du?

Und das Theater? Kann dieses etwa mit leeren Kassen arbeiten? Daß es aber heute schon eine Reihe von Filmen gibt, und zwar sehr wirksame, die keinen Gebrauch machen von solchen geschmacklosen Nervenpeitschen, läßt uns hoffen, daß all dies nichts mit dem Wesen des Films, sondern nur mit seiner Entwicklung etwas zu tun hat.

Der Film kann sein ideales, erzieherisches Ziel nur erreichen, wenn er das Publikum anzieht. Er muß also »Kasse« machen, und deshalb muß er das Publikum locken. Und wie muß er vorgehen, um dies zu erreichen? »Besonders laßt genug geschehen«, mahnt bereits der Direktor im Faust den Dichter. »Sucht nur die Menschen zu verwirren, sie zu befriedigen ist schwer.« Soll der Film diesem bedenklichen Rat auch weiterhin folgen? Sicher nicht. Will der Film zu einem lobenswerten Missionar der Kunst und Erziehung werden, so muß er genügend Kasse machen und trotzdem sein eigenes Ziel und nicht das des vulgären Geschmackes verfolgen. Dazu gehört viel Takt und sehr viel Geschick. Sonst kommen nach der dritten Vorstellung »nicht mal mehr die Mäuse zum Vorschein«.

Warum macht man dem Film immer Dinge zum Vorwurf, die auf anderen Gebieten der Kunst als eine Selbstverständlichkeit hingenommen werden? Warum wohl? Ich glaube einfach deshalb, weil der Film stark nach Zivilisation riecht. Theater kann man auch im Freien spielen und kann dabei mit einem Minimum technischer Apparate auskommen; die Filmkamera dagegen ist ein höllisch komplizierter Teufelskasten. So wird der Film zu einem Geschenk der Zivilisation. Was kann von dieser Seite Gutes kommen?


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»Film ist Technik!« Dieser Schlachtruf ist zwar kurz, aber falsch. Er dürfte nur heißen: »Ohne Technik kein Film!« Aber das wäre zu harmlos und langweilig und könnte außerdem daran erinnern, daß ohne Technik auch kein Beethoven wäre, es sei denn, daß man seine Symphonien auf der Hirtenflöte zu blasen versucht.

Wir hoffen, daß der Film trotz der immer noch etwas fatalen Einstellung des Publikums zu einem kulturellen Instrument hohen Wertes sich entwickeln wird, daß er das Leben in seiner Mannigfaltigkeit dem Menschen in künstlerischem, eindrucksvollem Gewand bieten wird. Die Hast und hohe Rotationsgeschwindigkeit der filmischen Drehbühne wird ihm allerdings wohl immer anhaften. Darüber hinaus aber wird man dem Film nur gerecht, wenn man der Frage, wie und was er ist, die zweite Frage hinzufügt: Was kann aus ihm werden und woraus hat er sich entwickelt? Denn ein Plädoyer dieses Angeklagten wäre sehr mangelhaft, wollte man dabei seine Jugend übersehen.

Vergleichen wir ein Fahrrad von heute mit einem solchen, das vor 20 Jahren gebaut wurde. Man wird keinen Unterschied finden können. Warum? Weil das Fahrrad seine endgültige Form erreicht hat, weil es vollendet ist. Seine Entwicklung ist abgeschlossen. Führt man dagegen einen Film vor, der vor 20 Jahren gedreht wurde, so glaubt man sich bereits in die Anfänge der Filmkunst zurückversetzt. So unvollendet und embryonal erscheint er schon lediglich hinsichtlich der Technik, aber auch so entwicklungsgeladen. So schnell altert der Film. Bis er aber technisch durchkonstruiert ist wie ein Fahrrad — und nur das Technische kann in diesem Vergleich in Frage kommen —, das werden wir nicht mehr erleben.

Wir alle sind uns einig, daß der Film vor 30 Jahren noch recht primitiv und fehlerhaft war und daß er außerdem, was recht schwer wiegt, den Weg einer erschreckend schamlosen Prostituierten in seiner ersten Jugend durchlaufen hat. Wir werden aber sicher in weiteren 30 Jahren von der heutigen Produktion nicht anders als von einem noch recht unzureichenden Suchen, verbunden mit Fortschritten und Irrungen, sprechen. Das ist unsere Hoffnung. Denn im Film steckt der Keim zu etwas Großem, das erst aufbrechen wird, der Keim zu einem alles umfassenden Kunstwerk.

Vielleicht entspringt diese Hoffnung dem Drang zum Gigantischen, Monumentalen, der unsere ganze Zeit beherrscht. Mag sein, daß ein ungesund Überdimensioniertes in diesem Streben steckt. Wir können es nicht entscheiden und müssen es unseren Enkeln überlassen, zu urteilen, ob dieser Weg Segen brachte oder in die Irre führte. Für uns aber ist er historisch bedingt, daher zwingend und notwendig. Das Universalkunstwerk scheint uns nun mal für unsere Zeit das Gegebene zu sein. Oder ist die Anmaßung, die darin liegt, zu groß? 


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Alle menschlichen Sinne von Schönheit umfangen und zugleich das Denken auf Dinge gerichtet, die imstande sind, einem jeden die Lebensangst zu nehmen — das aber wäre das Paradies. Oder sollten wir ausweichen, nur weil wir mißtrauisch sind gegen das Paradies? Auch wenn es nur zwei Stunden lang währt? Aber wir können gar nicht mehr weg von dieser lockenden Hoffnung, wir müssen es wollen, das Universalkunstwerk. Gott hat zur Schöpfung sechs Tage gebraucht. Gönnen wir auch unserem Film Zeit, um Großes zu entwickeln.

 

Eines aber darf hier nicht übergangen werden. Die Einwirkung des Kriminalfilms auf die Jugend. Im Kino kann das gut ausgearbeitete Verbrechen fertig von der Stange bezogen werden. Sind es Unachtsamkeiten und falsche Überlegungen, die zur Entdeckung der Täter führten, so ist der Ehrgeiz bei Jugendlichen geweckt, aus diesen Fehlern zu lernen und nun ein Meisterstück zu liefern.

Die Frage ist: Liegt in solchen Fällen wirklich eine Verführung durch den Film vor, oder wären diese Jugendlichen, die sich zu einer Verbrecherbande zusammenfinden, auch ohne die Einwirkung solcher Kriminalfilme auf die abschüssige Bahn — nur nicht nach vorgezeichnetem Muster — gekommen?

Sieht man von den Sexualverbrechen ab, so kann man kaum bezweifeln, daß das gemeinsame Erleben eines Raubmordes im Film und das ausgiebige Besprechen und Kritisieren desselben nach der Vorstellung bei skrupellosen Gewaltnaturen um so leichter die noch vorhandenen Hemmungen beseitigt, als nun ein jeder vor den anderen den Kaltschnäuzigen, zur Führung der Rotte besonders Geeigneten markieren möchte. Der Gedanke, statt der Stümperei, die die Helden auf der Leinwand schließlich der Polizei überlieferte, und die schon dafür von Millionen von Zuschauern bestaunt wurden, nun etwas Vollwertiges »zu drehen« —ist das nicht für solche labile, geltungsbedürftige, an sich schon gefährdete Jugendliche ein starker Anreiz? Ein Anreiz, der die eine Bande von Lausbubereien zu gewagten Diebstählen drängt, andere aber, die zu Gewaltakten neigen, zum geplanten Mord hinführt.

Der im Schaufenster ausgestellte fertige Anzug von der Stange verleitet häufiger zu einem impulsiv durchgeführten Einkauf als der im Fenster dargebotene Stoff des Maßschneiders. So hat auch das Verbrechen von der Stange seine werbende, propagandistische Wirkung. Gesteigert wird dieser Einfluß noch, wenn nicht ein einzelner, sondern eine Masse davon betroffen wird. Die Masse aber beginnt in der Jugend bereits bei den »Dreiläufern«. Die Verantwortung wird hier schon erheblich leichter getragen. Man teilt sie durch drei. Und die Schneid multipliziert sich mit drei.

Der Staat ist verpflichtet, die, die er selbst als noch nicht voll verantwortungsfähig anspricht, vor Verbrecherfilmen zu schützen. Die Grenze derer, die zugelassen werden, wäre, wollte man konsequent sein, auf 21 Jahre hinaufzusetzen. Wie aber sollte eine Kontrolle durchgeführt werden? Am besten, man faßt das Übel an der Wurzel und verbietet ausgesprochen schlechte und wertlose Filme für jedes Publikum; das heißt, man erteilt nicht die Konzession zur Aufführung. Damit fördert man zugleich die guten Filme.

Oder soll man denen folgen, die vom Staate fordern, daß er sich überhaupt nichts darum kümmert, so wie in Italien, wo jedem Kind schon alle Kinos offenstehen? Ihr Argument ist, daß der gegen solches Gift Anfällige nicht dadurch gerettet werde, daß man ihn bevormundet und ihm dieses Gift fernhält. Wie aber? Wo bleibt dieser Standpunkt den Erwachsenen gegenüber?! Soll bei den Erwachsenen die Bevormundung weiter bestehenbleiben, oder soll man auch diesen ihre Gifte freigeben, das Morphium, das Opium, das Haschisch, das Mescalin usw.? 

Oder soll man weiterhin den Erwachsenen betreuen, den Jugendlichen aber sich selbst überlassen, nur weil hier der Schutz vor dem Gift schwieriger durchzuführen ist? Oder ist das Gift in Flaschen gefährlicher als das, welches die Seele trifft? Die Jugend hat mindestens ebensoviel Anspruch auf Schutz wie der Erwachsene. Man hat versucht, solche schlechte Filme zu verteidigen: sie würden zum Abreagieren führen und so verbrecherische Taten verhindern. Also erst die übelsten Triebe wachrufen in der utopischen Erwartung, sie würden dadurch zugleich abreagiert werden. Warum dann nicht solche Erziehungs­methoden in der Schule einführen? Was könnte da nicht alles hervorgeholt und dann abreagiert werden?

Schließlich weist man darauf hin, daß die Filmbesucher nicht »delinquenter« seien als die übrigen. Darum geht es aber gar nicht. Nicht der Film wird angeklagt, sondern nur der Schundfilm. Warum soll auch der Besucher guter Filme »delinquenter« werden? Und der Kriminalroman? Hier wirkt das Verbrechen nicht so hypnotisierend, weil es von der Bande nicht gemeinsam erlebt wird. Die Verteidiger auch der übelsten Form des Kriminalfilms, die meine Überlegungen ablehnen, mögen sich aber dann doch fragen: Ist ein solcher Film ein Gewinn für den Menschen, ist er erhebend, ist er aufrüttelnd oder ist er wenigstens eine angenehme, eine schöne, irgendwie fördernde Unterhaltung? 

Und wenn er von all dem nichts ist, was verschafft ihm dann Daseinsberechtigung — wenn nicht die Kasse? 

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 (1957) Professor Reinhard Demoll