The Next Demoll-1957 (ähnlich: Postman-1985: "Und jetzt...")
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Wir alle leiden unter »the next«, nicht nur die "Manager", und keineswegs nur die Männer. Kommen uns nicht viele Großstädter vor, wie wenn sie dauernd überhitzt wären, wie wenn sie jeden Augenblick explodieren wollten, wie wenn sie allesamt immer um die Wette liefen, ein fanatischer Wettlauf — nach dem Grab.
Und doch haben alle eine panische Angst vor der »Zeit«. Man will dieser nicht zubilligen, daß sie nur vom Werden leben kann, und damit ebenso das Sterben fordert wie das ewige Zeugen. Nie finden wir sonst im Leben solch ein Pathos, als wenn es sich ums Sterben handelt. Nur unsere Bauern sind noch gesund genug, um all das als etwas Natürliches hinzunehmen.
Der Lebensrhythmus des Geschäftsmannes wird immer besorgniserregender. Überall zeigen sich gleiche Symptome. Er lebt nicht, er vibriert. Er ist süchtig nach Erregendem. Er ist stolz auf die tötende Wachheit seines Geistes. Er lebt in einem nervenzehrenden Jagen und Hetzen. Die Fähigkeit, sich zu entspannen und zu sich zu kommen, hat er verloren. Seine innere Unruhe wächst, seine Gereiztheit nimmt zu, er fühlt sich immer in Abwehr. Er ist schnell bereit, in Zorn zu geraten. Seine Stimmung schlägt unvermittelt um. Schlaflosigkeit und Hautjucken führen weiter zur Steigerung seiner Nervosität. Durch die durchgehende Arbeitszeit werden all diese Schädigungen noch in die Potenz erhoben. Und immer ist der moderne Mensch in Zeitnot. Der Terminkalender hat die Bibel verdrängt.
Aber auch solche, die Zeit im Überfluß haben, sind beständig in Hast. Sie wollen sich durchaus nicht eingestehen, daß sie in Muße und in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen könnten. Sie wollen überzeugt sein, daß auch sie keine Zeit haben. »Die Hast ist eine Erfindung des Teufels.« Ein ägyptisches Sprichwort. Bei uns ist man zu sehr verliebt in das Hetzen, als daß man darin etwas Teuflisches erkennt.
In Amerika kam diese Infektionskrankheit von höchster Virulenz auf und verbreitete sich von dort aus schnell über die zivilisierte Welt. Von den amerikanischen Psychiatern wurde sie sehr treffend »the next« getauft. Der Patient - und wir alle sind mehr oder weniger Patienten - ist ruh- und rastlos und hetzt immer dem nach, was nachher kommt und was nachher zu tun ist; es ist die Jagd nach der Zukunft, einer Zukunft, die illusionslos wird, sobald sie zur Gegenwart geworden.
Und nicht nur der Mann ist von the next infiziert. Auch viele Frauen leben ruhe- und genußlos in dem Gieren nach dem Nächsten.1) Auch die Berufslosen sind davon oft ergriffen.
1) In Frankreich hat man festgestellt, daß man heute schneller spricht als vor dem Krieg, vor allem die Frauen. Von 160 Worten in der Minute haben sie es auf 175 gebracht. Man erwartet aber noch weitere Steigerung auf 180 bis 185. Bedauernswerte Männer!
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Ihr Denken und ihr Wünschen gilt immer dem nächsten Abendkleid, dem nächsten Tee, dem nächsten Auto, der nächsten Wohnung und dem nächsten Mann. In manchen Städten Amerikas werden 40% der Mietwohnungen alljährlich gewechselt; und 45% aller Ehen eines kleinen Städtchens wurden während einer Wirtschaftskrise in weniger als einem Jahr geschieden. The next — bis ins Ehebett.
Man sagt, diese Menschen haben die Gegenwart verloren. Vielleicht wäre es richtiger zu sagen: Sie können nicht in der letzten Vergangenheit leben, nicht ruhen in dem soeben Erlebten. Damit haben sie das Erleben schlechtweg verloren.
Das Leben — eine Schachtel voll Pralinen. Während uns ein Stück im Munde zergeht, interessiert uns vor allem, wie das nächste schmecken wird. Darüber vergessen wir, den Augenblick zu genießen. Dies setzt sich fort, bis die Schachtel leer ist. Goethe schreibt: »Ich sehe eine schreckliche Zeit voraus, in der die Zeitungen dreimal erscheinen.« Ist es wirklich so schrecklich, daß wir in dieser Zeit bereits leben? Insofern schon, als der Mensch immer nach neuer Zeitung verlangt. Er ist bereits gierig danach. In Vorortzügen Londons steigt man ständig über weggeworfene Zeitungen hinweg. Niemand interessiert sich dafür. Sind sie doch bereits vor zwei Stunden gekauft und daher nicht mehr aktuell. Was interessiert heute noch eine Katastrophe, die acht Tage zurückliegt, oder der Rekord einer Schönheitskönigin von gestern? Längst überholt.
Kommen die Menschen müde von der Arbeit, so finden sie nicht den Entschluß, zu ruhen. Es leidet sie nicht in der Enge der Wohnung, es treibt sie um, sie müssen hinaus. Verzweiflung befällt sie, wenn sie alle Kinos besucht haben, schon einen Tag bevor das Programm wechselt. Wie soll man nun den Abend herumbringen?
Nun, das Fernsehen enthebt sie der Verlegenheit, auch nur eine Stunde im Tage die Unterhaltung durch nützliche Gespräche bestreiten zu müssen. Und auch diese neue Erfindung tut alles, um den Beschauer ständig in Unruhe zu halten und ihn an den Leuchtschirm zu bannen. Wie verzweifelt sind doch schon die Anstrengungen des Radios, zu verhindern, daß der Zuhörer »abdreht«.
Wenn man sich empfindlich gemacht hat für alles Krampfhafte, Gesuchte, das nur der Hetze entspringt und dem Kampf gegen das Geruhsame, so fühlt man es wie eine Peinigung, wenn in einem ernsten Radiovortrag — nicht etwa mit Frage und Antwort oder mit Diskussion — jeder dritte Satz völlig grundlos von einem anderen gesprochen wird, wenn ständig eine Männerstimme mit einer Frauenstimme abwechselt. Das Sinnlose, Unmotivierte wirkt geradezu quälend.
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Warum aber geschieht dies? Es ist symbolisch. Man hat Angst, der Hörer könnte sonst Langeweile empfinden. So führt man ihm solcherart immer neue Impulse zu, selbst um den Preis, daß er sich über dieses ständige Zerreißen des Vortrages wundert. Mag er sich wundern. Beim Sichwundern schläft man nicht ein. Mögen sich auch manche gequält fühlen. Qual weckt die Lebensgeister. Das Ziel ist allemal erreicht.
Das Radio mußte erfunden werden, weil dem Menschen die Reichweite seiner Ohren nicht mehr genügte; das Fernsehen mußte erfunden werden, weil auch die Reichweite der Augen sehr beschränkt ist. Der Mensch wollte alles sehen und hören. Auf die Quantität kam es ihm jetzt an.
All die modernen Erfindungen haben den Menschen wieder zum Nomaden werden lassen auf geistigem Gebiet. Unstetes Umherschweifen ohne eigenen geistigen Grund, ohne Gründlichkeit. Sich beschränken, Grenzen anerkennen, das war die Weisheit der Qualitätssucher; diese Zeit ist vorbei.
Der Verschleiß des Nervensystems ist besonders stark da, wo ständig vielerlei überwacht und geleitet werden muß, wo immerwährende Bereitschaft gefordert wird, mit seinen Gedanken von einem Gebiet auf ein anderes überzuspringen, wo es nur noch ein gehetztes Überfliegen gibt. Hier entsteht the next, wenn nicht alles getan wird für die tägliche und für die länger dauernde Erholung des Gehirns, für Entspannung des Körpers und des Geistes. Unsere Hypophyse (unterer Gehirnanhang), der Musikdirektor im Konzert der Hormondrüsen, wird ständig überfordert und treibt dadurch auch die Nebennierenrinde zu übermäßiger Tätigkeit an.
»Er ist restlos in seinem Beruf aufgegangen« — so lautet die ehrende Grabrede; ein Lobgesang auf die hohe Ausnutzbarkeit der nun ins Grab sinkenden Maschine Mensch. Der Tadel, der darin liegt, für den Toten ebenso wie für den Redner, wird gar nicht gefühlt. Beruf ist meist ein so kleiner Ausschnitt dessen, was Leben heißt, daß nur schmalspurige Geister darin ihre volle Befriedigung finden können. Wer Gutes in seinem Beruf leisten will, muß sich auch außerhalb desselben umschauen. Wer in seinem Beruf völlig aufgeht, kann nicht harmonisch ausgeglichen sein. Er hat nur die eine Schale der Waage belastet; das Gegengewicht, das Menschsein, fehlt. Seine Seele wird dadurch deformiert und verkrampft.
Der Romane läuft hier viel weniger Gefahr. Ihm ist es selbstverständlich, daß der Beruf nicht das Wesen des Menschen völlig verschlucken darf. Daher ist er auch nicht Lehrer, Pfarrer oder Arzt, so wie wir es sind, sondern er macht den Lehrer, er macht den Arzt — fa il medico, fa il maestro di scuola, fa il prete.
Es gibt nur einen Beruf, der den Menschen ganz ausfüllen darf, ohne Schaden anzurichten: der Beruf, seine Persönlichkeit zu steigern. Und das heißt: Mensch zu sein. Denn nur dann wird er auch ein guter Arzt, ein guter Lehrer, Priester und Richter sein. Aber gerade dieses »Ringsherum-Mensch-Sein« wird von the next bedroht. So ist der religiös vertiefte Mensch des Mittelalters schließlich dem Betriebsamen gewichen, dem Zivilisationskranken.
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Allzu leicht ist man bereit, sich zu trösten und abzufinden mit dem, was uns die Natur gegeben. Der Mensch hat Bahn, Auto und Flugzeug erfunden und damit Zeit und Raum zusammengedrängt. Er hat Telefon, Radio und Fernsehen erfunden und damit Zeit und Raum abgeschafft. Aber was er hätte dazu erfinden sollen — ein Nervensystem, dessen Zeitrhythmus hundert- bis tausendmal schneller ist als das, womit ihn die Natur ausgestattet hat. Ein Nervensystem derart, wie es die Insekten besitzen, das diese Tiere befähigt, in der Sekunde 200, ja bis zu 400 Flügelschläge auszuführen. Was sind demgegenüber doch die Fingerbewegungen des größten Klaviervirtuosen für eine mühsame und langweilige Angelegenheit. Wenn eine Fliege eine Vorführung im Kino betrachtet, so würde sie nie — auch wenn sie das Gehirn dazu hätte — auf den Gedanken kommen können, daß der Mensch das bewegte Bild erfunden hat. Denn 20 Bilder in der Sekunde werden von ihr noch lange nicht zusammenhängend erfaßt, sondern als einzelne Bilder, so wie wenn man uns ein bis zwei Bilder in der Sekunde vorführt.
Mit einem solchen Nervensystem ausgestattet, würde der Mensch sich im Flugzeug, am Telefon, zwischen dem Geklapper von Schreibmaschinen und dem Lärm der Straßen immer in behaglichster Biedermeierstimmung befinden und würde ebensowenig nervös werden wie die Stubenfliege, wenn sie in der Sekunde 200mal die Flügel auf und nieder schlägt und ihre blitzschnellen Wendungen ausführt, während sie sich über die lächerlich langsamen Abwehrbewegungen des schwerfälligen und doch so nervösen Menschen wundert; wenn es ein Sichwundern für diese Kreaturen gäbe.
Wie aber würde der Mensch ein Gehirn nützen, das um vieles schneller arbeitet? Eine Welt würde er um sich schaffen, die noch turbulenter, noch spektakulöser, noch gehetzter und schneller wäre; denn der Mensch liebt den Wirbel und freut sich seiner eigenen Beunruhigung.
Wird in einer Gegend das Lebenstempo plötzlich durch Industrialisierung erheblich beschleunigt, so steigt die Zahl der Nervösen, der Psychopathen und Geisteskranken deutlich an, um aber in der nächsten Generation bereits wieder abzusinken. Unser Gehirn kann also, wenn wir ihm nicht den Weg verlegen, sich sehr wohl dem Jahrmarktbetriebe, den wir konzentrierte Zivilisation nennen, anpassen — vielleicht auf Grund der bisher ungenutzten Zwischenfelder, über die unser Gehirn noch reichlich verfügt. Freilich, diese Anpassungsfähigkeit schützt vor der psychiatrischen Klinik. Sie schützt aber nicht vor der Verflachung und vor Blutleere des seelischen Erlebens.
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Aus dem Sichvergnügen und aus dem Sicherfreuen hat die Zivilisation ein Sichamüsieren gemacht. Gemessen wird es nicht an Frohsinn und Heiterkeit, sondern an dem verausgabten Geld. Selbst das alte Großmütterchen ist von dem Taumel erfaßt. Es will sich amüsieren. Im Beiwagen rast es durch die Gegend und behauptet, es sei köstlich. Dabei fühlt es sich andauernd gerettet, ist aber stolz darauf, daß es diese Nervenpeitsche auszuhalten vermag.
Falsche Geschwindigkeit, falscher Lebensrhythmus.
Ein tückisches und mächtiges, bezwingendes Etwas — diese Zivilisation. Sie erst ließ den Menschen fühlen, daß er Nerven hat. Ein Zeichen, daß er kranke Nerven hat.Alle neueren Erfindungen machen die Welt immer noch aufreizender. Schon die Glühbirne hat sich als Nervensäge erwiesen. Leichte Ionen erregen, schwere beruhigen. Die offene Flamme des Nachtlichts beruhigt, die Glühbirne regt auf. Aber sie regt nicht genügend auf. So erfand man die Leuchtstoffröhren. Das feine Flimmern derselben wird als höchst unbehaglich empfunden, obwohl uns bewiesen wird, daß kein Grund hierzu vorliegt. Das sogenannte Neonlicht (richtiges Neonlicht ist rötlich) verlangt nach einer in England bereits patentierten Brille, um bestimmte schädliche kurzwellige Strahlen herauszufiltern.
The next fördert den Mißbrauch von Alkohol, von Kaffee, Nikotin und anderen Genußmitteln. Der Städter neigt in gesteigertem Maße dazu. Dies ist keine Anklage gegen den Menschen, wohl aber gegen die Stadt. Überreizung, Schlaflosigkeit, Angstneurosen, Blutdrucksteigerungen, dauernder Muskeltonus sind die Folgen der ständigen Stimulationen. Ärger, Aufregung und Schreck führen zur Ausschüttung von Adrenalin (Nebennierenprodukt) und dies wiederum zu Gefäßverengung und -schädigung.
In der Stadt ist der Tod durch Angina pectoris etwa doppelt so häufig wie auf dem Land. Seit der Währungsreform haben sich im Bundesgebiet die Erkrankungen der Herzkranzarterie verdreifacht. Die Kurve von Angina pectoris steigt aber in der ganzen Welt an. Und als Ursache wird vor allem genannt: Die Stadt mit zuwenig Schlaf und mit Schlaflosigkeit und weiter: Mangel an geruhsamer, vernünftiger Bewegung, wie sie das Landleben mit sich bringt. Hellpach schätzt, daß unter den Stadtmenschen und geistig Schaffenden mindestens ein Drittel den unnormalen Schlaf aufweist, der flach und unruhig bleibt und erst gegen Morgen hin eine Vertiefung erfährt.
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Selbst bei Kindern findet man eine derartige Tagesumkehr. »Derartige Kinder sind schwer zu wecken, bleiben vormittags abgespannt und verdrießlich, dagegen möchten sie abends nicht zu Bett, sondern erwachen da erst zu unstillbarer Spiellust, sie liegen, zur Ruhe gebracht, oft lange wach und zeigen in den ersten Nachtstunden einen unruhigen, von Auffahren, Aufschrecken oder Schlafsprechen begleiteten Schlummer.«
The next bedroht den Menschen in all seinen Funktionen, seinen körperlichen, seinen psychischen und seinen propagatorischen. Der motorisch und seelisch verkrampfte, gefäßkranke, unleidige, mit sich selbst zerfallene, impotente Mensch — so sieht das Werk von the next aus.1)
Die Zivilisation hält die Infektionskrankheiten in Schach. Dafür fördert sie die Herz-, Kreislauf-, Leber- und Nierenkrankheiten.
Letzten Endes ist es das Dichtzusammengedrängtsein mit all seinen Begleiterscheinungen, das die Menschen zu Neurotikern macht. Die einfachste Therapie wäre, dieser Massierung soweit wie möglich auszuweichen. Gerade dazu aber kann sich der Patient durchaus nicht mehr entschließen. Er ist bereits süchtig geworden, süchtig nach dem Menschengewimmel. An ihm klebt er wie das Pferd, das sich nicht loslösen kann aus dem Rudel, wenn es nicht die Sporen fühlt.
Der Mensch, vor 100.000 Jahren noch ein Distanzorganismus, der sich sein Jagdgebiet freihielt von jedem Konkurrenten, ist infolge seiner Vermehrung zu einer Herdenkreatur geworden. Schulen und Militär tun noch gezwungenermaßen alles, um den letzten Rest von Distanz-Streben zu beseitigen. (Tafelbild 18.) Statt Nestwärme ein Großstallmilieu.
Aber es gibt graduelle Unterschiede in der Auswirkung. — Hat nicht Wien einen ganz anderen, ruhigeren Puls als Hamburg und Berlin — nicht nur jetzt, auch schon vor 1914. Und ist München nicht eine Stadt, die auf alle Menschen ihren Reiz ausübt, schon deshalb, weil der Münchner schon auf dem Bahnhof dem ankommenden Fremdling mit aller Eindringlichkeit klarmacht, daß in dieser Großstadt nicht gehetzt wird.
Gibt es Lebensmaximen, die sich schroffer gegenüberstehen als die des Berliners: »Mir kann keener« und die des Münchners: »Mich können's alle«? Der Münchner — der Inder Europas. Es mag dahingestellt bleiben, in welchem der beiden Leitsätze sich eine höhere Sittlichkeit offenbart. Gesünder ist der Münchener Standpunkt aber auf alle Fälle.
Wo die Sprache der Stadt nicht hastiger ist als auf dem umgebenden Land, da vermag auch mitten in der Großstadt die vielgerühmte Gemütlichkeit zu sprießen und zu blühen. Die übergroße Wachheit, das Jagen und Hasten und selbst das Unpersönliche, Gleichgültige, Wesenlose der Mitmenschen ist nicht unabänderlich mit der Stadt verbunden.
1) Die Kreislauferkrankungen sind in USA in der Zeit von 1907 bis 1947 von 18 % aller Erkrankungen auf 60 % gestiegen. Der Herztod hat sich von 1930 bis 1946 verzehnfacht.
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Die »behagliche Großstadt«, das ist durchaus kein Paradoxon; aber es bleibt eine Ausnahme. Die meisten Großstädte sind eben »bösartiger« als München. Ja, man hat deshalb bei München immer das Empfinden, daß etwas Wesentliches fehlt, um es als Groß- oder gar als Weltstadt gelten zu lassen. Möge ihm dieser sympathische Mangel immer anhaften. Dasselbe gilt für die Städte des Südens, obwohl dort die »Betriebsamkeit«, immer in fröhlicher, beinahe ausgelassener Form, kaum übertroffen werden kann.
Schon in den Schulen werden die Neurotiker präpariert ^^^^
Ein kurzes, aber ein recht ernstes Kapitel. Den Kindern wird häufig in den Schulen zuviel zugemutet. Das Interesse vermag nicht mehr zu folgen, und alles wird zur Qual. Immer mehr zielt man auf den Gedächtnisakrobaten ab. Das Vielzuviele und das Vielartige lassen eine geistige Verdauung nicht mehr zu. Die Neurose infolge »Reizüberflutung« ist eine häufige Kinderkrankheit. In den USA wurden unter 300 Jugendlichen im Durchschnittsalter von 22,1 Jahren bei 77,3 Prozent Verkalkung der Herzkranzarterie festgestellt. Bei gleichaltrigen zivilisierten Nordkoreanern wurde kein einziger krank befunden.
So wird die Schule für eine große Zahl der Kinder nicht zur Stätte der Persönlichkeitsentwicklung, sondern der Gedächtnisdressur, und dies nicht nur für solche mit geringerer Begabung, die von unvernünftigen Eltern in die höheren Schulen geschickt werden, wo sie nicht hingehören. Die übersteigerte Quantität der Hausaufgaben verlangt oft genug selbst an Samstagen und Sonntagen ihr Recht. Sie verlangt ihr Unrecht. Sie macht das geängstigte, unruhige, schlaflos gewordene Kind zum seelisch verkrampften, zum Neurotiker, und seine Eltern und Geschwister mit dazu.
Qualvoll der Gang zur Schule, zur Richtstätte, qualvoll der Gang nach Hause, in der Angst vor den Hausaufgaben. So lernt das Kind etwas kennen, was man ihm gerne ersparen würde: die Zeitangst. Wird es mit den Aufgaben fertig werden? Ständig bangt es dem nächsten Tag entgegen. Und die Gewissenhaften sind die sicherste Beute dieser Zeitangst. Wer von dieser erfaßt wird, den läßt sie nicht mehr los. Der Lebensrhythmus wird für immer verändert und verfälscht. Die Anwärter für the next sitzen schon auf den Schulbänken. Glücklich die, die mit etwas Lazzaroneblut gesegnet sind.
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Der Lazzarone ist kein nachahmenswertes Beispiel. Und doch erscheint er neben solchen, von Zeitangst gequälten Kindern wie ein von der Natur beglückter Halbgott, der diese Angst ebensowenig lernt, wie Siegfried das Fürchten gelernt hat. Staunend bewundern die Patienten von the next, wenn sie nach dem Süden kommen, seine Kunst, die Gegenwart zu genießen.
Wann wird man endlich lernen, daß die Menschen nicht geboren werden, um die ohne ärztliche Beratung aufgestellten Klassenziele zu erreichen? Wann wird man beherzigen, daß nicht nur Tuberkulose die Jugend bedroht, sondern in viel höherem Maße die Neurose? Wann wird man regelmäßige Pflichtuntersuchungen veranlassen, die den Nervenzustand der Kinder zu überprüfen haben? Wann werden die Klassenziele frei sein von jeder Rekordsucht, die auf Quantität abzielt?
Wenn man schon den Arzt nicht fragt, wo liegt dann der Maßstab für das, was gefordert werden darf? Nicht danach darf man fragen, ob der größere Teil der Schüler die Forderungen zu erfüllen vermag, sondern danach, in welchem Gesundheitszustand er es erreicht, und ob die Nerven dabei Schaden nehmen1.
Darin kann kein Vorwurf gesehen werden gegen die Schulleitung, wohl aber gegen den Neurologen, der sich noch nicht Gehör verschafft hat. Er wird sich rechtfertigen mit dem Hinweis auf taube Ohren. Aber taube Ohren gibt es nicht, wenn nur die Pauke konsequent, beharrlich und laut genug geschlagen wird.
Die Zukunft unserer Kinder lohnt schon diese Mühe.
Schulanfang im Frühjahr oder im Herbst? Entscheidender ist die Frage nach dem Ende. Über die Auswirkung des Endes des Schuljahres an Ostern auf die Gesundheit der Jugend hat man bisher nur wenig gehört, und das war häufig falsch. Man hielt es für wünschenswert, wenn die anstrengenden Vorbereitungen zum Examen in den Winter und in den Vorfrühling fallen und nicht mehr wie bisher in Bayern in die heißen Sommermonate. Natürlich, bei Hitze ist man faul. Die Einrichtung Norddeutschlands scheint also zweckmäßiger zu sein. Bei näherem Hinsehen stellt sich aber das Schulende im Frühjahr als eine ganz verhängnisvolle Bedrohung der Gesundheit des jugendlichen Organismus heraus. Gewiß, Hitze macht faul und bequem. Man braucht Energie, um dagegen anzugehen. Geschädigt wird aber der Organismus durch diesen erhöhten Energieverbrauch keineswegs.
1) Unter den Pionieren auf dem Gebiete der psychohygienischen Betreuung der Schulkinder verdient Oberschulrat Ederer in München genannt zu werden. Dr. Hellbrügge (München) hat bei mehreren Tausend Oberschülern nachgewiesen, daß bei den Elfjährigen Unterricht und Hausaufgaben täglich 7 Stunden und 47 Minuten, bei den Sechzehnjährigen 8 Stunden und 55 Minuten beanspruchen.
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Im Winter und Vorfrühling aber leidet der Organismus an Vitamin- und Lichtmangel. Besonders die Jugendlichen leiden darunter — eine längst bekannte Tatsache. Wird der Organismus in dieser Zeit zu einer besonders intensiven, lang dauernden geistigen Anstrengung aufgerufen, so verlangt man vom Gehirn eine Leistung, zu dem ihm die Voraussetzungen nicht gegeben sind. Krankhafte Nervosität auf Lebenszeit ist die Folge. Vitamintabletten sind gut, aber keineswegs ein vollwertiger Ersatz.
Intensivste geistige Arbeit bei Hitze ist zwar unbequem; Kampf gegen Faulheit ist jedoch recht bekömmlich. Intensivste geistige Arbeit bei Vitaminmangel aber schädigt die Gesundheit, und meist für immer. Sollen unsere Kinder noch nervöser werden?
Neigung zur Vermassung schon beim Kind ^^^^
Die Welt findet uns Europäer von Jahr zu Jahr weniger imposant, aber auch weniger dekadent, weil die ganze Welt die Marschrichtung zur Dekadenz eingeschlagen hat. Die Zivilisation nivelliert die Völker in jeder Hinsicht, in ihrem Können, in ihrem Denken, in ihren Trieben und auch in ihren Krankheiten. Es beginnt schon beim Kind.
Dem Kind der Stadt fehlt die Bewegungsfreiheit und damit das Spiel. Es fehlt dem Kind seine Welt, es fehlt ihm die Jugend. Hagenbeck hat gezeigt, daß für die Gesundheit der gefangengehaltenen Tiere anderer Länder der Klimaschutz bei weitem nicht so wichtig ist, wie großer Auslauf und Spielgenossen. Das psychische Behagen kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Dies gilt sogar schon für die Fische.
Auslauf und Spiel, das ist die Welt des Kindes. Und beides versagt ihm die Stadt. Alles, was das Kind tun möchte, ist in der Stadt tabu. Mit den Mysterien der lebendigen Natur kommt es nicht in Berührung, dafür um so eher mit den Geheimnissen großstädtischen Verbrechertums und mit der verderbten Mystik einer ungesunden und verirrten Sexualität. Das ist häufig genug die Nahrung für die empfängliche kindliche Phantasie.
Schundromane, Detektivgeschichten und Tageschronik der Stadt, die eine gepfefferte aktuelle Schundnovelle darzustellen pflegt, ersetzen der Jugend die Anregungen, die ihr sonst das Leben in der Natur in Fülle bietet. An die Stelle der Tiere, der Pflanzen und der Wälder treten für sie das Auto und das Motorrad, und an die Stelle lebensgefüllter Dinge, die der Jugend Spiel und Freude, Kraftprobe, Gefahr und Abenteuer bedeuten, treten die Schöpfungen des Menschen und seines Herrscherwillens, die Maschine, die mit ihrer Brutalität kein Kämpfen und kein Wagen zuläßt, sondern nur vorsichtiges Ausweichen, schnelles Reagieren, hastiges Schalten.
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Wird schon dadurch die Persönlichkeit gehemmt, so wird andererseits die Vermassung noch gefördert durch das Zusammenhalten einer großen Zahl von Kindern in Schulklassen, die so groß sind, daß der einzelne sich scheut, seine Individualität sichtbar werden zu lassen, und sich nur als Teil der Masse geborgen fühlt. Schon früh treten Pferchungsschäden auf.
In der Stadt kommt hinzu: An Stelle eines sparsamen, aber guten Wissens tritt ein Wust von Halbwissen. Die Kinder werden vollgepfropft mit allen möglichen technischen Dingen und dafür noch von den stolzen Großeltern als Geistesheroen angestaunt. Dies gibt ihnen eine bedenkliche Aufgeblasenheit; auf der anderen Seite aber, auch insbesonders, wenn sie in die Entwicklungsjahre kommen, eine Unlust, noch weitere geistige Energien aufzuwenden, um sich gegenüber den Problemen des Lebens eigene Urteile bilden zu können. Statt daß der Geist der heranwachsenden Jugend nur an einer begrenzten Zahl von Dingen geübt wird, jedoch so, daß hier alle möglichen Seiten der Betrachtung aufgezeigt und durchgeführt werden, überschüttet ihn die Großstadt und oft auch die Schule mit tausenderlei Eindrücken, die kaum noch unter die Haut dringen. Halbwissen wird immer zum Feind des Erkenntnisdranges. Es ist nicht etwa deshalb schlimm, weil der Betreffende nicht alles weiß. In diesem Sinne käme allen Menschen nur ein Halbwissen zu. Die Gefahr besteht vielmehr darin, daß er nirgends bis zu den Grenzen der Erkenntnismöglichkeit vorstößt und somit keinerlei Mahnung zur Bescheidenheit und Demut erleben läßt. Alles wird dem Kind selbstverständlich. Selbstverständlich aber verhindert das Sinnen und denkende Verweilen.
Die Aufgeblasenen und Urteilsfaulen aber boten von jeher das Material, aus der »die Masse« ihre Bataillone rekrutiert. Und die Großstadtluft bereitet schon das Kind darauf vor.
Wie sollen solchen Kindern noch rein die Quellen sprudeln, aus denen ihnen die Ehrfurcht fließt vor der Natur? Und was ist am Menschen ohne diese Ehrfurcht, ohne diese »Substanz der Erziehung«? (Jaspers.)
Kind sein, heißt naiv sein. Die Masse, die Menge und Enge der Stadt verbieten aber dem Kind jede Naivität.
Manche Städte — die süddeutschen sind davon nicht so sehr betroffen — bergen noch eine Gefahr besonderer Art für die Kinder, die meist schon früh auf die Sprache eingestellt, von der Umgebung geradezu darauf dressiert werden. Dies kann bei einem Kind nur auf Kosten gesunden Empfindens und ruhigen Betrachtens und Beobachtens gehen. Die Sprache gilt solchen Kindern zuviel. Die Lust zu reden, den Intellekt in der Sprache
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zu üben, verführt dazu, alles und jedes in das Wort zu übersetzen. Welcher Kontrast gegenüber dem Kind vom Land, das dem Fremden vorerst jede Antwort verweigert, nicht weil es dümmer oder träger ist, sondern weil ihm sein naives, natürliches Mißtrauen gegen den Fremden viel wichtiger ist, daher es sich diesem zunächst auch vollkommen und willig überläßt. Zu viel Sprechen aber kann bedenklich werden, nicht erst beim Erwachsenen, erst recht beim Kind. Es macht dieses frühreif, und, was damit zusammenhängt, »jede sprachliche Mehrleistung führt unter sonst gleichen Umständen — zu einer Verflachung des Gedankenganges«, wie Bumke ausführt. Schlagworte und Phrasen triumphieren.
Das Fernsehen »marschiert«. Man könnte im Hinblick auf die Kinder auch sagen: Feind in Sicht. Gleichgültig, ob die Ärzte von zahlreichen Patienten aufgesucht werden, die infolge ständigen Fernsehens über Nackenschmerzen klagen, gleich, ob die Menschen sich noch weniger bewegen als schon zuvor und dadurch Verdauungsbeschwerden sich häufen — man kann es nicht anders als katastrophal bezeichnen, wenn die Kinder von dem Fernsehen so eingenommen sind, daß sie, von der Schule kommend, vor dem Leuchtschirm sitzen und nun nicht mehr zum Spielen zu bringen sind, wenn ihr Geist sich nicht mehr bewegt, sondern wenn er nur noch passiv bewegt wird.
Auch hier zeigt sich, daß der Mensch heute mehr dem Auge als dem Ohr huldigt. Das Radio dreht er an, um es nicht zu hören. Der Radiohörer verdient die schlechteste Note für Aufmerksamkeit. Wie anders der Fernsehseher. Hier haben wir den Musterschüler. Atemlos und fasziniert kleben sie alle vor dem Schirm: Urahne, Großmutter, Mutter und Kind.
Statt in Sonne, frischer Luft und in der immer belebenden Natur dem Bewegungs- und Erforschungsdrang nachzugehen, entwickeln sich solche Kinder zu »modernen Höhlenmenschen«. Es kommt hier nicht darauf an, was heute beim Fernsehen gezeigt wird, so in Los Angeles in einer Woche 91 Morde, 7 Raubüberfälle, 10 Diebstähle, 4 Einbrüche, dreimal Menschenraub und eine Reihe weniger aufregender Geschehnisse wie Selbstmord usw. Dazu kam seinerzeit jeden Tag der Koreakrieg in seiner erschreckenden, unabgeschwächten Wirklichkeit zu Besuch.
Die ganze Familie »genießt« auf solche Art den Krieg; sie genießt das Zerfetztwerden von Menschenleibern durch Granaten, sie genießt immer wieder das Sterben anderer, und der Genuß wird insofern noch besonders gesteigert, als der Polstersessel das gesicherte Empfinden gibt, selbst nicht mit von der Partie sein zu müssen. Nicht zu übersehen ist auch, daß man nachher ein billiges, wenn auch grausiges Gesprächsthema hat.
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Aber all dies kann geändert werden. Hatte doch der Film genauso skandalös seine Laufbahn begonnen. Aber unabänderlich verbunden bleibt damit, daß die Kinder dem Spiel, der Natur und der Sonne entzogen werden; es sei denn, daß man darauf abzielt, nichts zu bringen, was Kinder interessiert. Dies aber ist unmöglich.
Unabänderlich bleibt auch, daß das Fernsehen eine teuflische Schule ist, um den sich entwickelnden Menschen unwillig und schließlich auch unfähig zu machen, in eine Materie mit Ruhe, Ernst und Forschergeist einzudringen. In jedem Kind steckt ein Forscher; an ihm wird sich das Fernsehen am schwersten vergehen; denn der Fernsehschirm fordert zumeist den geistig passiven Menschen; er verstärkt die bereits bestehende Seelentaubheit.
Aber die Verlockung ist zu groß, überall in der ganzen Welt »mit dabeisein« zu können, ohne auch nur das Gesäß zu lüften — wie köstlich! Alles wird »frei Haus« geliefert. Und die Eltern können den Kindern nicht gut verwehren, was sie selbst nicht mehr lassen können. Sie dürfen sich aber dann auch nicht wundern, wenn ihre Kinder neurotisch werden, weil ihr junger Körper »stillgelegt wird», und ihm die Bewegung und Entspannung fehlt, die ebenso lebensnotwendig sind, wie der Sauerstoff zum Atmen.
Die Schule kann das Fernsehen nicht verbieten. Aber man könnte die Jugend hinauslocken durch Spielplätze — wenn solche vorhanden wären.
Veredelte Masse ? ^^^^
Das heißt: Masse mit positivem Vorzeichen. Daß wir uns diesem Ziele nähern, scheint mir durchaus möglich, mag sich auch der Weg noch lange dehnen. Daß die »berüchtigte Vermassung« eine Station auf diesem Entwicklungsweg sein muß, bleibt dann kaum fraglich. Sehen wir uns in Kürze diese zur Zeit erreichte Etappe an.
Die Masse kann überall entstehen, wo Menschen dicht zusammengedrängt sind. Gesteigert wird dieser Prozeß der Entpersönlichung noch dadurch, daß die Dichte des Wohnens ein Maximum an Gesetzen und Verfügungen fordert und damit die Bösartigkeit der Bürokratie steigert. Aber auch das Tier kann plötzlich seine Individualität aufgeben und zum Massenteilchen werden, wenn Massen vorhanden sind. Diese wirken dann unwiderstehlich wie ein gewaltiger Magnet. Milliarden von Distelfaltern machen sich zur selben Stunde in Kalifornien auf und fliegen 6000 km weit nach Norden. Aus Südafrika ziehen gewaltige Distelfalterschwärme, ohne Nahrung aufzunehmen, durch ganz Afrika nach Italien und über die Alpen nach Deutschland.
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Überall, wo sie durchkommen, besteht für alle Distelfalter der Zwang, sich anzuschließen, so daß die Toten und Ermatteten immer wieder ersetzt werden, bis die letzten auf den Gletschern der Alpen oder in Deutschland sterben, meist ohne sich fortgepflanzt zu haben. Bisweilen wachsen die Züge erst durch Adsorption während der Wanderung zu so gewaltiger Größe an. Wenn es auch bei manchen der Schwärme zu einer Fortpflanzung der Überlebenden kommt und die Nachkommen wieder zurückzufliegen vermögen — Hunderttausende und Millionen bereits geschlechtsreifer Individuen gehen auf der uns sinnlos erscheinenden Wanderung zugrunde. Auch da, wo Nachkommen entstehen, sind diese meist steril; ihre Geschlechtsorgane sind verkümmert. Wozu also diese gewaltige Anstrengung der Distelfalter, der Admirale, der Libellen, die ebenfalls solche Wanderschwärme bilden, die bei Distelfaltern Trillionen Exemplare umfassen können.
Diese Neigung zur Zusammenballung ist schon in der allem Lebendigen zukommenden Primitivschicht verankert. Sie ist unausrottbar. Die Tagschmetterlinge fliegen dann ganz entgegen ihrem sonstigen Verhalten auch die Nacht hindurch. So sehr eilt es ihnen, das Ziel zu erreichen. Welches Ziel? Den Tod ohne Fortpflanzung.
Oder liegt hier ein gesunder Trieb der Masse vor, ein gesunder Trieb zum Selbstmord?
Bei Heuschrecken ist es nicht anders. Doch ändern hier die Einzelindividuen Farbe und Gestalt, wenn sie zu Massenteilchen werden. Sie ziehen eine besondere Uniform an. Männchen und Weibchen werden weitgehend »gleichgeschaltet«. Man kann jede Heuschrecke in solcher Weise uniformieren, wenn man sie dicht gedrängt hält und so erreicht, daß sie nie zur Ruhe kommen. Ob die Bewegung allein maßgebend ist und nicht auch das psychische Moment, ist noch nicht festgestellt. Auch der Wandertrieb der Heuschrecken erweist sich als unabhängig vom Nahrungsangebot.
Fische, die in dichten Schwärmen ziehen, weigern sich, einen lockeren, durch einzelne herabhängende Ketten gebildeten Vorhang zu passieren, der für den einzeln schwimmenden Fisch keinerlei Hindernis bedeutet. Es ist, wie wenn die Dimension des ganzen Schwarmes vom einzelnen Mitglied als seine eigene leibliche Begrenzung gefühlt wird.
Lemminge werden bisweilen von einem seltsamen Trieb überfallen. Alle folgen der sehr primitiven Idee — wenn man es so nennen darf —, auf kürzestem Weg das Meer zu erreichen. Zu Millionen setzen sie sich in Bewegung und wandern. Da der Lemming höchst ungesellig und bissig ist, wird streng jede Tuchfühlung vermieden. Daher werden Felsen und Hütten nicht umgangen, sondern überklettert. Schließlich — oft erst nach langen Wanderungen — erreichen sie die Küste oder schon vorher einen Fluß und stürzen sich hier wie ein Riesenwasserfall in die Fluten und damit in den Tod. Ein geordnetes Amoklaufen, ein organisierter Selbstmord aller, eine psychische Erkrankung, die nur die Masse, nie ein Einzelindividuum erfaßt.
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Ist dies nicht seltsam? Tiere, die insofern ausgesprochene Individualisten sind, als keines den andern respektiert und in seiner Nähe duldet; trotzdem, wenn eine Überproduktion von Lemmingen stattgefunden hat, dann kommt ein Zwang über sie, dem sie folgen müssen, obwohl er ihrem üblichen Gebaren direkt zuwiderläuft. Jetzt müssen sie sich zusammenrotten und müssen gemeinsam in den Tod ziehen.
Aus all dem können wir folgern: Vermassung ist ein natürlicher, bisweilen widernatürlich sich äußernder Vorgang, dem niedere und höhere Tiere verfallen können. Es bedarf dazu nicht mit Verstand begabter Organismen, die ihren Verstand aufgeben müssen, um dadurch die Masse möglich zu machen. Nur insofern kann der Verstand des Menschen eine Rolle spielen, als er der Vermassung ein »Halt« bieten könnte. Vom Gattungswesen zum Einzelwesen und wieder zurück und hinunter zum Massenteilchen — so kann die Kurve der Menschwerdung, des Menschseins und der Umkehr zum Unmenschen verlaufen. Sie kann, aber sie muß nicht.
Dasselbe Zeitdenken fordert die Masse und die massierte Industrie; und es verlangt hysterisch nach ihrem Gegenpol, nach dem »Führer«. Es prägt den Menschen um zu einer Gefolgsmaschine des Tyrannen, zu einem Wesen, das zur Schicksalslosigkeit verdammt ist.
Allerdings, ist die Industrie erst entwickelt, so fördert sie ihrerseits noch die Vermassung durch die Arbeitsteilung, durch das Sinnloswerden des Arbeitsganges des einzelnen, wenn man seine Leistung isoliert betrachtet. Aber man täusche sich nicht, jede Versammlung, gleich von wem besucht, ist infektionsbereit.
Wir haben vorzüglichen Anschauungsunterricht genossen, in dem wir lernten, wie die Masse mobilisiert und wie sie hörig gemacht wird. Hat der Tyrann die Masse gemacht oder die Masse den Tyrannen? Beides wurde von der Mentalität der Menschen gefordert. Das Primäre aber ist das Verlangen nach Vermassung. Die Masse erst hat nach ihrem Führer gerufen, und dieser mußte ein Verantwortungsloser und ein Despot, ein Verbrecher von Format sein. Sie wünschte, vor den Wagen gespannt zu werden, auf dessen Kutschbock Lüge und Frechheit saßen und ihr tüchtig die Peitsche zu fühlen gaben. Sie war begierig nach dem Dresseur. »Führer befiehl, wir folgen!«
Je weniger ein Mensch denkt, um so weniger duldet er, daß andere denken. Daher die Unduldsamkeit der Masse.
In Amerika hat man den Stacheldraht erfunden, um Viehherden einzuzäunen. Für die Herde, für die Masse wurde er geschaffen und hat sich vorzüglich bewährt; und so ist es geblieben bis heute. Nur die Klientel hat gewechselt. Jetzt fordert der Zeitgeist, daß in der ganzen Welt Menschen hinter dem Draht sitzen, wie die Affen hinter dem Gitter. Und davor der Impresario, der von Menschenwürde und Demokratie erzählt. Der Masse dient der Draht nach wie vor. Die Herde braucht den Zaun und den Schäferhund.
Stacheldraht und Geheimpolizei, das sind im 20. Jahrhundert noch vielfach die traurigen Insignien des Banners unserer Welt. Fouche und Metternich waren zu früh geboren.
Nun aber die entscheidende Frage. Was kann man gegen Vermassung tun? Seien wir froh, wenn es gelingen sollte, zu dieser wichtigen Frage auch nur einen Fingerzeig zu geben.
In allen Organismen steckt es wie ein Fluch: der Hang zur Vermassung. Vielleicht aber bedurfte es dieses »Fluches«, damit aus Einzellern mehrzellige Wesen entstehen konnten. Ein Fluch aber scheint dieser Drang für die Menschheit zu bleiben. Darf man hier Fragezeichen setzen? Sicher ist es vergeblich, diese Vermassungstendenz aus dem Menschen herauszureißen. Sie ist seinem Wesen inhärent. Man muß damit rechnen, daß sie immer bereit ist, über den Menschen herzufallen, wenn er achtlos wird gegenüber dem Feind.
Kann nun dieser Feind - und dies ist die Frage der Zukunft - nicht sein negatives Vorzeichen verlieren? Muß er Feind bleiben? Warum sollte er sich nicht auch eine Masse bilden können aus höheren, wertvollen Einheiten? Schon das Mittelalter kannte die Masse. Die Verklammerung war durch die alle umfassende Religiosität gegeben. Gewiß vermochten auch hier Unduldsamkeit und Haßgedanken die Menschen in Bann zu schlagen. Der Scheiterhaufen war ein gewichtiges Argument. Aber auch dieser ist ebensowenig integrierender Bestandteil der Masse wie der Stacheldraht und der Vergasungsofen.
Warum sollte nicht Ehrfurcht vor dem Leben und Güte eine Bindung herbeiführen können, dauerhafter und fester gefügt als alle bisherigen, zugleich beglückend für den einzelnen? Eine solche Masse könnte in jedem die Persönlichkeit geradezu fordern und fördern. Ob man dann noch von Vermassung sprechen will, ist belanglos. Jedenfalls würden so, wenn jeder seine Qualitäten und Valenzen wahrt, Riesenmoleküle entstehen, die große Teile der Menschheit umfassen, Moleküle, die stabiler sind als die aus Gleichartigem, Ausnivelliertem, letzten Endes aus Kontaktverlust hervorgegangenen Verbindungen. Solcher Art könnte der Instinkt der Kreatur zur Vermassung vom fortgeschrittenen Menschen aufgefangen und veredelt werden.
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(1957) Professor Reinhard Demoll