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2  Die sozialistische Untergrundbewegung 

Deutscher-1949

Wegbereiter der kommenden Revolution — Marxisten gegen Narodniki (Agrarsozialisten) — Plechanow und Lenin. Ihr Einfluß im Kaukasus — Stalin wird Büroangestellter im Observatorium in Tiflis, 1899 — Seine revolutionäre Tätigkeit bringt ihn in die Untergrundbewegung, 1901 — Er gibt die Zeitschrift »Brdzola« (Der Kampf) heraus — Seine erste politische Arbeit in Prosa — Seine Haltung gegenüber der Bourgeoisie — »Die Neugier des Volkes«, ein Schutz gegen die Tyrannis — Stalin geht von Tiflis nach Batum, 1901 — Er führt das Pseudonym Koba (der Unbeugsame) — Schafft sich eine Geheimdruckerei — Zusammenstoß zwischen Arbeitern und Militär — Stalin wird verhaftet, 1902

 

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Dshugaschwili war der <Messame Dassy> im August 1898 beigetreten. Zu Beginn dieses Jahres, im März, waren in Minsk einige Sozialisten, der Zahl nach nicht einmal ein Dutzend, zusammengekommen, um in einer Geheim­konferenz die Gründung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu beschließen. Diese Übereinstimmung der Daten zeigt, daß Dshugaschwili der sozialistischen Bewegung in einem wichtigen Augenblick beitrat. 

Man näherte sich damals einem entscheidenden Wendepunkt. Bis dahin gab es noch keine sich über das ganze russische Reich erstreckende sozialistische Partei. Es gab nur kleine Gruppen von Propagandisten, meistens Intellektuelle. Die Erörterungen und Diskussionen, die dort geführt wurden, waren Außen­stehenden kaum bemerkbar, und selbst damals noch mochten oberflächliche Beobachter in ihnen nicht mehr sehen als doktrinäre Belang­losigkeiten. Und dennoch waren diese Sektierer und Propagandisten die Männer, die wirklich Geschichte machten, sie waren die Wissenschaftler und Inspiratoren der kommenden Revolution.

Das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch hatten die kühneren Geister unter der russischen Intelligenz gegen die Unter­drück­ungs­methoden der zaristischen Autokratie opponiert. Aber erst gegen Ende des Jahr­hunderts wurde der marxistische Sozialismus die führende Richtung unter der revolutionären Opposition.

Bis spät in die achtziger Jahre hinein herrschte eine agrarsozialistische Richtung vor, die von den Narodniki oder Volksparteilern vertreten wurde. Die Narodniki waren der Meinung, das agrarische und feudale Rußland könne die Übel des modernen profitgierigen Industrialismus vermeiden und einen aus rein russischen Wurzeln gewachsenen Sozialismus verwirklichen, der auf dem Mir oder der Obschtschina, der uralten bäuerlichen Boden­gemeinschaft, beruhen könnte, die sich in den Landbezirken Rußlands erhalten hatte. 

Für die Schaffung einer sozialen und geistigen Freiheit war nach ihrer Meinung nicht mehr nötig als die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Autokratie. War man einmal so weit, so wäre Rußlands Rettung durch eine sozialistische Ordnung kein Problem mehr. Die Bauern, nicht das städtische Industrie­proletariat, würden dann die führende Klasse und damit die schöpferische Kraft der Nation werden. Die meisten Narodniki waren revolutionäre Slawophile, die sich gegen die Verbreitung europäischer Einflüsse in Rußland zur Wehr setzten.

Aber aus ihren Reihen heraus entwickelte sich eine andere Richtung, die sich dem Einfluß westeuropäischer sozialistischer Ideen erschloß. Im Geburtsjahr Dshugaschwilis fand in Woronesch eine Geheimkonferenz statt, in deren Verlauf sich die Narodniki in zwei Gruppen spalteten: Die eine hielt an den herkömmlichen agrarischen Vorstellungen fest, die andere, die von Georg Plechanow geführt wurde, fing an, die Ideen des westlichen Industrie­sozialismus auf die revolutionäre Bewegung in Rußland zu übertragen. 

Plechanow trat immer mehr in den Vordergrund als der begabteste Deuter marxistischer Philosophie und Soziologie, den Rußland damals besaß. Er wurde der Lehrer Lenins und einer ganzen Generation russischer Revolutionäre. Plechanow machte die zuversichtliche Vorhersage, daß der kapitalistische Industrialismus im Begriff stehe, sich in Rußland auszubreiten. Er würde nach Plechanows Meinung die patriarchalisch-feudale Struktur des Landes und damit auch die primitiven Bauern­gemein­schaften zerstören, auf denen die Narodniki ihren Sozialismus aufbauen wollten. Er sah das Entstehen einer städtischen Industrie­arbeiterschaft in Rußland voraus und wollte ganz nach westlichem Beispiel den Kampf für den industriellen Sozialismus eröffnen.

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Die Vorstellung eines besonderen slawischen Agrarsozialismus, der sich direkt aus dem Feudalismus entwickeln würde, erschien ihm als reine Utopie, die sich bald ins Nichts verflüchtigen müßte. Plechanow schloß daraus, daß die Revolutionäre jetzt anfangen müßten, die industrielle Arbeiterschaft zu organisieren.

Er war seiner Zeit ein ganzes Stück voraus. Die moderne Industrie fing damals eben erst an, in Rußland vorsichtig Wurzel zu schlagen. Nur ein sehr kühner Denker konnte in diesen bescheidenen Anfängen ein Beginnen von großer Bedeutung erkennen und seine ganze soziale und politische Hoffnung auf ein einstweilen kaum bestehendes industrielles Proletariat setzen. Nicht die Narodniki, sondern die Marxisten schienen utopischen Zielen nachzuhängen.1

Diese grundsätzliche Meinungsverschiedenheit wurde durch eine Kontroverse über die zu verfolgende Taktik vertieft. Die Narodniki wollten zunächst die Bauern zum Kampf gegen die Autokratie aufhetzen, ein Unternehmen, bei dem sie keinen Erfolg hatten. Sie gedachten dann, das System durch Attentate auf das Leben des Zaren, seiner Minister und der Generalgouverneure zu stürzen. Da sie glaubten, ihr Agrarsozialismus sei in Wirklichkeit unter der harten Kruste der feudalen Autokratie bereits vorhanden, war es von ihrem Standpunkt aus nur logisch, daß man den Versuch wagen müsse, diese Kruste zu zerschlagen. 

Im Jahr 1881 erzielten sie einen scheinbaren Triumph, als es ihnen gelang, Zar Alexander II. zu ermorden. Die Terroristen waren Männer und Frauen mit den höchsten moralischen und geistigen Fähigkeiten, »eine Phalanx von Helden, die wie Romulus und Remus mit der Milch der Wölfe großgezogen worden war«. Die meisten unter ihnen waren Söhne und Töchter der Aristokratie oder wenigstens des kleinen Adels, die ihr Leben für die Sache des Volkes aufs Spiel setzten. Eine der führenden Persön­lichkeiten in diesen Kreisen war Sophia Perowskaja, die Tochter des General­gouverneurs von St. Petersburg. Aber gerade dieser größte Erfolg der Narodniki, die Ermordung des Zaren, wurde für sie der Anlaß zur Ernüchterung und zum Niedergang der Bewegung.

 wikipedia  Sofja_Lwowna_Perowskaja   1853-1881 
2013: Liliana Kern: Die Zarenmörderin. Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Osburg Verlag, Hamburg 2013
https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=Liliana+Kern+Zarenmoerderin 
https://literaturkritik.de/id/18174 
1968: Spielfilm:    wikipedia.org/wiki/Leo_Oskarowitsch_Arnstam

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Sie hatten gehofft, das verhaßte System werde unter diesem Schlag zusammenbrechen. In Wirklichkeit hatten sie nur einen Autokraten, aber nicht die Autokratie getötet. Auf Alexander II. folgte Alexander III., dessen Tyrannei noch viel grausamer war.

Die Marxisten wollten mit diesen terroristischen Methoden nichts zu tun haben. Die Ermordung bestimmter Persönlichkeiten, der individuelle Terror, wie sie sich ausdrückten, war ihrer Meinung nach nutzlos. Sie brauchten nach ihrer Beweisführung den Umsturz des Systems, und das System hing nicht von einer Handvoll Individuen ab. Sie setzten ihre Hoffnungen auf das Industrie­proletariat, das gegen die Autokratie in Massen antreten würde. Da aber das Proletariat für eine solche Aktion zahlenmäßig noch zu schwach war, blieb ihnen keine andere Wahl, als zu warten, bis sich mit dem Wachstum der Industrie auch die Arbeiterbataillone von selber bilden würden. Bis dahin konnten sie nur Propaganda machen, dem Sozialismus immer neue Anhänger zuführen und lose Gruppen ähnlich denkender Menschen organisieren.

Die Entwicklung hat den Marxisten recht gegeben. Im Lauf der Jahre wuchs die Industrie und mit ihr die Arbeiterklasse an Zahl und Stärke, die Arbeiterunruhen wurden immer zahlreicher. In den neunziger Jahren waren die Lehren der Narodniki in den Augen der jungen Revolutionäre nur noch verstaubte Theorie. Im Jahr 1894, als der junge Dshugaschwili in das Seminar eintrat, veröffentlichte der junge Lenin seine Flugschrift »Wer sind die Freunde des Volkes?«, in der er die Narodniki angriff. Dies war ein Nagel zu ihrem Sarg. Daran änderte auch die Tatsache nichts mehr, daß einige Jahre später eine modernere Form des Agrarsozialismus in Erscheinung treten sollte.

Es gab ein merkwürdiges Paradoxon im Denken der russischen Marxisten. In ihren Auseinandersetzungen mit den Narodniki behaupteten sie, der Sozialismus könne in Rußland nur verwirklicht werden, wenn sich zuvor der Kapitalismus voll entwickelt habe. Für sie war Sozialismus ohne moderne Industrie ein Widerspruch in sich. In Westeuropa mochten die Sozialisten immerhin am Sturz des Kapitalismus arbeiten, in Rußland aber beruhte jede Hoffnung darauf, daß hier der Kapitalismus erst einmal wachse und sich entwickle.

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Sie sahen im Kapitalismus eine unvermeidliche und notwendige Zwischenstufe der Entwicklung vom Feudalismus zum Sozialismus und unterstrichen deshalb die Vorzüge dieses Zwischenstadiums, seine fortschrittlichen Züge, seinen zivilisatorischen Einfluß, seine einladende Atmosphäre und so weiter. 

Viele der frühen Schriften der russischen Marxisten, selbst die von Plechanow und Lenin, weniger die von Stalin, lesen sich beinahe wie eine Apologie des westeuropäischen Kapitalismus. Dieses Paradoxon mußte notwendiger­weise zu Unklarheiten und Widersprüchen führen. Einige Propagandisten legten mehr Nachdruck auf diese Seite der marxistischen Argumentation, die andern unterstrichen andere Aspekte. Manchen stand als Ziel der Sozialismus vor Augen. Andere wieder konzentrierten ihr Interesse auf das Nahziel und das Zwischenstadium, das heißt auf den Kapitalismus. Mit andern Worten, die einen waren Sozialisten, die andern bürgerliche Liberale, die in marxistischer Sprache einem fortschrittlichen Kapitalismus das Wort redeten. Während in Westeuropa der Sozialismus als das illegitime Kind des Liberalismus erschien, war in Rußland der Liberalismus bis zu einem gewissen Grad der Ableger des Sozialismus. Je mehr aber diese beiden Richtungen, die zunächst Hand in Hand gingen, sich dem Zwischenstadium. näherten, desto deutlicher und schärfer traten die Gegensätze ins Licht.

 

Um die Jahrhundertwende war die Kluft zwischen Marxisten und den sogenannten legalen Marxisten unüberbrückbar geworden. Die legalen Marxisten (so genannt, weil sie die sozialistische Lehre nur in der abstrakt-theoretischen Form verbreiteten, die der zaristischen Zensur eben noch unbedenklich erscheinen mochte) gruppierten sich um einige bedeutende Volkswirtschaftler und Soziologen, wie Struwe, Tugan-Baranowski, Bulgakow und andere. Diese benützten die marxistische Methode bei ihren soziologischen und wirtschaftlichen Analysen, übersahen aber oder verwarfen ausdrücklich die revolutionäre Seite des Marxismus.2 

Diese Spaltung trug Verwirrung in die Reihen der Anhänger des Marxismus, um so mehr, als während langer Zeit der Marxismus unzweifelhaft gemäßigte Elemente anlockte.3 Die Kritik am »individuellen Terror«, die Ablehnung der Männer, die Attentate und Attentatsversuche organisierten, ließen zunächst den Marxismus als die gemäßigte Form der revolutionären Doktrin erscheinen.

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Für Plechanow und Lenin (sowie ihre weniger bedeutenden Freunde Axelrod, Sasulitsch und Martow) war es keine leichte Aufgabe, diese Verwirrung in Ordnung zu bringen, die revolutionären Folgerungen in ihren Lehrsätzen herauszuheben und die Liberalen von den Sozialisten abzusondern.

Dieser Streit tobte in Büchern, Flugschriften und periodisch erscheinenden Zeitschriften. Er ergriff jedes Zentrum politischer Opposition in Rußland. Auch Tiflis wurde in diese Diskussion hineingezogen. Messame Dassy war eine lose zusammenhängende Gruppe, deren Mitglieder alle auf den Marxismus schworen. Aber die Ansichten der gemäßigten Mitglieder waren stark vom legalen Marxismus her beeinflußt. Diese Kontroverse hatte sich bereits ziemlich weit entwickelt, als Dshugaschwili der Messame Dassy beitrat. Der rechte Flügel, von Noah Jordania geführt, war der stärkere. Dshugaschwili schloß sich dem linken Flügel und damit der Minderheit an.4

Kaum war dieser Streit ausgetragen, brach ein neuer aus. Im Zusammenhang mit den ersten Streiks und Arbeiterunruhen entwickelte sich eine neue Richtung, der »Ökonomismus«. Diese besondere Bezeichnung verwandten die Russen für das, was die Franzosen Syndikalismus nannten, das heißt für die politisch indifferente Gewerkschaftsbewegung. Die »Ökonomisten« wollten sich auf die Unterstützung der Ansprüche der Arbeiter auf höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen beschränken, ohne sich viel um Politik zu kümmern. Sie fürchteten, durch das »wilde« politische Geschwätz gegen den Zaren und die Propaganda für den Sozialismus in einen Gegensatz zur Arbeiterklasse zu geraten, die ihrer Ansicht nach außer der Sorge um das tägliche Brot nicht viel interessierte. Die politisch denkenden Sozialisten hielten den Ökonomisten vor, sie dächten gering und verächtlich über die Arbeiterklasse. Die Ereignisse würden zeigen, so versicherten sie, daß die Arbeiter zur wirklich politisch denkenden Klasse werden könnten, vorausgesetzt, daß durch die sozialistische Propaganda das politische Interesse in diesen Kreisen geweckt und wach erhalten werde. Sie würden sich aber sicher nie über dieses Brot- und Butterniveau erheben können, wenn sogar ihre Führer sich fürchteten, von Politik zu reden.

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Bis zum Jahr 1901 waren die Ökonomisten bei den sozialistischen Konferenzen im Ausland immer in der Mehrheit. Aber die Politiker ließen sich nicht entmutigen. Sie machten sich ans Werk, die Schwankenden von der Seite der Mehrheit zu sich herüberzuziehen. Besonders im Kaukasus hatten die Ökonomisten für eine kurze Zeit das Übergewicht vor den Politikern. Plechanow und Lenin sandten jedoch einige Agenten nach Tiflis, die hier Pionierarbeit leisteten, und damit begann der Einfluß der Ökonomisten zu schwinden. Die Männer, mit denen der junge Dshugaschwili sich zusammentat, Zulukidse, Kezchoweli und andere standen — genauso wie er selbst — auf der Seite der Politiker.

Schließlich wurde aber die Aufmerksamkeit der jungen Sozialisten auf zwei andere Fragen gelenkt. Ihre Zahl war stark im Wachsen. Um 1900 gab es allein in Tiflis mehrere Hundert. Wichtiger war noch die Tatsache, daß sich in den Gruppen der Untergrund­bewegung mehr Arbeiter als Intellektuelle zusammenfanden. Sie hatten damit feste Verbindungen zu den Fabriken und die Möglichkeit, sich an große Arbeitermassen zu wenden.

Die Zeit war vorbei, wo man vor ein paar Dutzend Arbeitern Vorträge über sozialistische Themen halten konnte. Jetzt war es so weit, daß man bei den Massen selber zu systematischer Gewerkschaftsarbeit und politischer Schulung übergehen konnte. In der russischen Ausdrucksweise nannte man dies den Übergang von der Propaganda zur Agitation. Die Bedeutung des Wortes Propaganda war damals eine andere als die uns heute geläufige. Man verstand damals darunter keineswegs eine geschickte und raffinierte politische Werbetechnik, durch die man eine politische Idee unter das aufnahmebereite Volk brachte oder mit mehr oder weniger künstlichen Mitteln Führer­persönlichkeiten herausstellte. Propaganda bedeutete genau das Gegenteil, nämlich die bescheidene und sachliche Diskussion von Grundsatzfragen in kleinen Studiengruppen, eine Arbeit, bei der die Ideen sehr viel wichtiger waren als die Schlagworte.

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Um die Jahrhundertwende hatten nun die meisten russischen Sozialisten den Eindruck, daß diese Art der Propaganda nicht mehr ausreiche. Wenn man aber unter den Massen systematische politische Arbeit leisten sollte und wollte, dann brauchte man eine organisierte Partei mit einer anerkannten nationalen Führung, die über genügend moralische und materielle Hilfsmittel verfügen mußte, um die Tätigkeiten der verschiedenen lokalen Gruppen zu lenken, zu instruieren und zu koordinieren. Mit andern Worten, man brauchte jetzt eine zusammenhängende und schlagkräftige Partei auf nationaler Grundlage.

Zwanzig Jahre waren verflossen, seit Plechanow in Woronesch die Partei der Narodniki gespalten hatte, und immer noch fehlte eine solche Partei. Es gab nur lokale Gruppen, die von lokalen Führern geleitet wurden. So war die Lage noch, als Dshugaschwili Sozialist wurde. Die Konferenz, die im Jahre 1898 in Minsk stattfand, war der erste Versuch zur Schaffung einer Partei. Aber beinahe alle Teilnehmer wurden von der Polizei gefaßt, und ihre Beschlüsse blieben noch einige Zeit Papier. Dei Hauptexponent des Marxismus, Plechanow, lebte in Westeuropa in der Emigration und lief Gefahr, die Verbindung mit Rußland zu verlieren. Die jüngeren Sozialisten fühlten sehr genau, wie notwendig es war, diese zerstreuten Gruppen zusammenzufassen. 

Weit in der Ferne, in Nordostsibirien, in einem verlorenen Dorf irgendwo in der Jenisseiprovinz, 300 Kilometer von der nächsten Eisenbahnstation entfernt, wartete Lenin, damals dreißig Jahre alt, voll Ungeduld auf das Ende seiner dreijährigen Verbannungszeit. In Sibirien hatte er mehrere Essays geschrieben sowie ein dickes und schweres Buch über die »Entwicklung des Kapitalismus in Rußland«, das ihm sofort den Ruf eines führenden marxistischen Schriftstellers eintrug. Aber der Verbannte war mit solchen literarischen Erfolgen nicht zufrieden. Er war von Ungeduld verzehrt. Er wollte etwas tun, um eine wirklich sozialistische Partei aufzubauen.

Als Lenin aus der Verbannung zurückkehrte, nahm er sofort Verbindung mit seinen Freunden in St. Petersburg und Moskau auf. Sie waren der Meinung, man müsse »den großen alten Mann« Plechanow und dessen Genossen befragen und mit diesen zusammenarbeiten. Es gab nichts, was Lenin lieber getan hätte.

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Wenige Monate später reiste er ins Ausland und stellte so die Verbindung zwischen den alten Marxisten in der Emigration und den jungen Marxisten in Rußland her. Das Ergebnis war noch nicht eine Partei, aber eine Unternehmung, die, obwohl sie mehr als bescheiden zu sein schien, ihren Platz in der russischen Geschichte, ja, in der Geschichte der Menschheit verdient hat.  

In den letzten Tagen des Jahres 1900 erschien in Stuttgart die erste Nummer einer periodischen Zeitschrift, die den Titel »Iskra« (Der Funke) führte. Der Name der Zeitschrift sollte den Gedanken symbolisieren, daß mit diesem Funken das Feuer der russischen Revolution zum Ausbruch gebracht werden solle. Die Herausgeber wollten sich nicht nur auf die journalistische Kommentierung laufender Ereignisse beschränken. Sie waren darauf bedacht, daß die Zeitung regelmäßig nach Rußland gelangte. Mitglieder der Untergrundbewegung schmuggelten die Nummern über die Grenze. Daran war nichts Neues oder Außergewöhnliches. All die vielen russischen Zeitschriften, die seit Jahrzehnten von russischen Emigranten im Ausland gedruckt wurden, fanden auf diese Weise ihren Weg über die Grenze, allerdings vielleicht weniger regelmäßig. 

Was an der »Iskra« neu war und dem Blatt eine besondere Stellung in der Geschichte des Zeitungswesens zuweist, ist, daß diese Zeitschrift zugleich das Organisationszentrum für die Untergrundbewegung in Rußland selber war. Das Redaktionskomitee ernannte eine Reihe von Werbeleuten und Agenten, die insgeheim das ganze Land bereisten, sich mit den örtlichen Organisationen in Verbindung setzen oder neue Gruppen dort gründeten, wo solche bislang nicht bestanden, die vor allem dafür sorgten, daß die lokalen Gruppen einen ständigen Briefverkehr mit dem Redaktionskomitee der »Iskra« im Ausland unterhielten und sich nach den Ratschlägen richteten, die ihnen von daher erteilt wurden. So liefen bald alle die vielen, bisher ganz ungeordneten Fäden der Untergrundbewegung bei der »Iskra« zusammen. Die Redaktion zog von München nach Genf und später nach London, außer Reichweite der zaristischen Polizei. Die Herausgeber der Zeitschrift gewannen rasch einen umfassenden Überblick über die Stärke und das innere Leben der über das ganze russische Reich zerstreuten Gruppen. Aus einer Anzahl von Journalisten und Berichterstattern wurde ein Generalstab der Untergrundbewegung.

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So kamen diese Männer auch in die Lage, die fluktuierende und bisher recht formlose Bewegung zu einer nationalen politischen Partei umzuformen. Die russischen Sozialisten, die der »Iskra« und der von ihr vertretenen Meinung anhingen, nannten sich Iskrowzy, das heißt »Iskramänner«. So wurde diese bescheidene Zeitschrift zum Motor der Revolution.

Die Werber der »Iskra« ließen den Kaukasus nicht links liegen. In Tiflis gab es bald eine Anzahl junger Männer, die sich als Iskraleute bezeichneten, und Dshugaschwili war einer von ihnen. Auch er wartete jetzt ungeduldig auf jede neue Nummer des erfolgreichen Blattes, das ihn auf geheimen Wegen in ziemlich unregelmäßigen Abständen erreichte. Das Eintreffen neuer Exemplare war immer ein festliches Ereignis. In ihnen fanden Stalin und seine Freunde die geistige Autorität, an die sie sich anlehnen, der sie ihr Vertrauen schenken konnten. Jede Nummer der »Iskra« brachte ihnen Stoff zum Nachdenken und eine Menge scharfgeschliffener Argumente, deren sie sich bei ihren Diskussionen mit ihren politischen Gegnern bedienen konnten. Das Blatt stärkte auch das Selbstvertrauen des jungen Mannes. Jetzt konnte er seinen Gegnern mit Einwänden und Gesichtspunkten gegenübertreten, die von führenden Theoretikern der Partei im Ausland formuliert waren, und seine Zuhörer übertrugen auf ihn das Ansehen, das sie eigentlich denen geschuldet hätten, die weit in der Ferne diese Gedankenfäden spannen. 

Obwohl er, an lokalen Maßstäben gemessen, immerhin ein Mann von Wissen war, war er wohl zu jung und zu wenig gebildet, um selber der »Iskra« Beiträge liefern zu können. Aber sein Geist war genügend geschärft, um, wenn schon nicht alle die kleinen Feinheiten, so doch die in der »Iskra« entwickelten großen Linien in sich aufnehmen und verarbeiten zu können. Den Arbeitern, die er in politischer Hinsicht betreuen sollte, konnte er jetzt mehr bieten als allgemeine sozialistische Ideen und die Darlegung der Gründe, aus denen man sich dem Zaren und der Ausbeutung widersetzen müsse. Er vermochte jetzt auch mit konkreten Argumenten gegen den Agrarsozialismus, den legalen Marxismus und gegen die Ökonomisten aufzutreten. 

Seine ganze geistige Tätigkeit beruhte von nun an auf den Richtlinien, die ihm die »Iskra« bot; sie gaben ihm auch den ersten Antrieb zu eigener schriftstellerischer Tätigkeit in georgischer Sprache.

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So wurden die beiden ersten Jahre nach seiner Verweisung aus dem Seminar die Zeit, in der seine geistige und politische Entwicklung die stärksten Antriebe erhielt. Als er das Seminar verließ, waren seine sozialistischen Anschauungen mehr oder weniger vage. Der Marxismus zog ihn an. Aber er hatte sich mit dieser Lehre kaum vertraut machen können, geschweige, daß er sie verarbeitet hätte. Sein georgischer Patriotismus machte jetzt einer breiteren Zielsetzung Platz; er glaubte, daß der internationale Sozialismus der nationalen und rassischen Unterdrückung ein Ende setzen werde. Aber der patriotische Unterton muß doch noch lange in ihm mitgeschwungen haben. Zwei Jahre später war unter dem fortwirkenden Einfluß von Plechanow, Lenin und den andern Theoretikern der Emigration sein Weltbild fester geformt, wenn man nach seinen ersten politischen Abhandlungen urteilen darf, die er im Jahr 1901 veröffentlichte. Sein georgischer Patriotismus war jetzt überwunden. Seine ganze Aufmerksamkeit galt von nun an dem sozialen Problem, hinter dem das nationale weit zurück­zutreten hatte. Jetzt sprach er bereits die Sprache des überzeugten und »kompromißlosen« Marxisten.

 

Auch mehrere Monate nach seiner Verweisung von dem Priesterseminar, das heißt, bis Ende des Jahres 1899, konnte Dshugaschwili keine Beschäftigung finden. Er hatte zudem keine feste Wohnung. Er verbrachte diese Zeit zum Teil bei seiner Mutter in Gori, kehrte aber dann nach Tiflis zurück, wo er wahrscheinlich bei einigen klassenbewußten Arbeitern Unterschlupf fand, die seine Vorlesungen hörten. Mit Hilfe dieser Freunde verdiente er sich etwas Geld, indem er in bürgerlichen Familien Stunden gab. Ende des Jahres bekam er eine Anstellung als Schreiber beim Observatorium in Tiflis. Sein Gehalt war kaum mehr als ein Taschengeld, aber die Stelle hatte für ihn wichtige Vorzüge. Seine Arbeit nahm nicht allzuviel Zeit in Anspruch, er hatte einen Arbeitsraum im Observatorium und konnte so zum erstenmal in seinem Leben etwas wie Freiheit empfinden. In diesem Arbeitszimmer konnte er gelegentliche Zusammenkünfte veranstalten und durfte dabei hoffen, daß der Ruf des Observatoriums als einer wissenschaftlichen Forschungsstätte ihn wenigstens für einige Zeit vor den Augen der Polizei schützen werde.

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Das war nicht unwichtig, denn gerade in diesen Monaten verhaftete die Polizei einige Mitglieder der Messame Dassy. Er war nicht unter ihnen. Er wußte, wie man sich unscheinbar machen konnte. Vorsichtig, schweigsam, scharf seine Umwelt beobachtend, immer geistesgegenwärtig, war er bereits damals in vieler Hinsicht ein vollkommener Aktivist der Untergrundbewegung.

Während der ersten Monate seiner Tätigkeit im Observatorium widmete er sich zusammen mit einigen Genossen der Vorbereitung der ersten Maifeier, die im Kaukasus gehalten werden sollte. Sie sollte nicht nur eine Herausforderung der staatlichen Autorität, sondern auch ein Akt der Solidarität mit den Arbeitern Europas sein. Die Herausforderung war ziemlich zaghaft. An dem vereinbarten Tag schlichen sich vier- oder fünfhundert Arbeiter zur Stadt hinaus und versammelten sich an einem versteckt liegenden Salzsee in der Umgebung von Tiflis, an einer Stelle also, von der man annehmen durfte, daß sie von der Polizei nicht bewacht wurde. Hier schlossen sich die Demonstranten zusammen und entfalteten rote Fahnen. Selbstgemalte Porträts von Marx und Engels erschienen über den Häuptern. Die bescheidene Versammlung glich eher einer kirchlichen Prozession, bei der anstelle der Ikonen die Bilder von Marx und Engels mitgetragen wurden. Dshugaschwili hielt eine Ansprache. Es war die erste öffentliche Rede in seinem Leben. Man hörte zwei oder drei weitere Reden, sang sozialistische Lieder, und dann zerstreute sich die kleine Gemeinde eilig wieder. Rückschauend betrachtet, mag dieser Vorgang heute ganz unwichtig erscheinen. Man wird sagen, daß die Demonstranten mehr Angst als Mut an den Tag legten. Aber in der Atmosphäre jener Tage sah das alles ganz anders aus. Der Sozialismus fing an, seine Stärke zu messen. Am 1. Mai des nächsten Jahres würden die Demon­stranten mitten im Herzen der Stadt Tiflis der Ochrana trotzen.5

In diesem vergleichsweise ruhigen Jahr gab es nur noch zwei Ereignisse von einiger Bedeutung: einen Streik in den Eisenbahn­werk­stätten und die Ankunft eines Freundes Lenins, Victor Kurnatowski, in Tiflis. Dshugaschwili war bis zu einem gewissen Grad an dem Streik beteiligt. Man darf als sicher annehmen, daß er die Taktik des Streiks der Eisenbahnarbeiter mit seiner

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Kameraden durchsprach und daß er bei der Herstellung von Flugblättern mithalf. Die Streikleitung selber bestand aus erfahrenen Eisenbahnern, Kalinin, Allilujew und anderen, die sämtlich aus Rußland in den Kaukasus verbannt waren.6

 

Die Ankunft von Kurnatowski gab dem Sozialismus im Kaukasus einen neuen Auftrieb. Der Freund und Bewunderer Lenins wird den Männern in Tiflis von dem Meister, von seinen Ideen und seinen Plänen erzählt haben. Lenins Sendbote war eine besonders anziehende Persönlichkeit. Er wurde später eine der legendären Heldengestalten der Revolution von 1905. Dshugaschwili war von ihm tief beeindruckt. Kurnatowski wird in ihm ein Mitglied des Kreises der lokalen Führer gesehen haben, auf die er sich verlassen konnte. Engere Beziehungen zwischen den beiden Männern entwickelten sich jedoch nicht.7

Das Jahr 1901 war ereignisreicher. Die Maifeier war das große Wagnis der Sozialisten. Diesmal war es sehr viel ernsthafter als im Jahr zuvor. Die Staatsgewalt sollte direkter und kühner herausgefordert werden. Ein Flugblatt, das an diesem Tag in Tiflis verbreitet wurde, sagte: »In ganz Rußland haben die Arbeiter beschlossen, in diesem Jahr den Ersten Mai in aller Öffentlichkeit auf den größten Plätzen unserer Städte zu feiern. Sie tun den Behörden mit Stolz kund, daß weder die Knuten und Säbel der Kosaken noch die Foltern der Polizei und der Gendarmerie sie erschrecken werden.«8  

 

Die Ochrana von Tiflis beschloß, dem Schlag zuvorzukommen. Einen Monat vor der Maifeier, am 21. März, wurden Kurnatowski und die meisten der aktiv tätigen Mitglieder der sozialistischen Partei gefangengesetzt. Dshugaschwilis Arbeits­zimmer im Observatorium wurde durchsucht. Die Polizei war also endlich hinter die Tätigkeit dieses unscheinbaren Büro­angestellten gekommen. Der Gesuchte war nicht zu Hause und entging dadurch der Verhaftung. Aber er konnte nicht mehr in das Observatorium zurückkehren. So mußte er diese schöne, ruhige Stellung aufgeben. Er konnte auch nicht anderswo unter seinem wirklichen Namen leben, da ihn die Polizei ohne weiteres ergriffen hätte. Sein legales Leben war damit zu Ende. Er mußte seine Identität abschütteln. Schon vor diesen Ereignissen hatten nur wenige Genossen seinen wirklichen Namen gekannt. Er führte verschiedene Decknamen. Von nun an mußte er seine Existenz hinter falschen Pässen und falschen Namen verbergen.

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Nicht weniger als zwanzig verschiedene Decknamen hat er in den nächsten zwanzig Jahren geführt. Bisher hatte er sich an der Grenzlinie zwischen Legalität und Illegalität gehalten. Nun mußte er in den Untergrund gehen, aus dem er erst 1917, kurz bevor er Mitglied der ersten Sowjetregierung wurde, wieder auftauchte. Sein Lebensunterhalt hing von Beihilfen ab, die ihm die Partei geben konnte, und diese war zwar unendlich reich an Ehrgeiz und Enthusiasmus, aber bettelarm an Geld. So mußte er sich auf die private Hilfe seiner Genossen verlassen. Als er den Entschluß zu diesem Leben faßte, leistete er unbewußt ein Gelübde der Armut. Damit kam sein Noviziat in der sozialistischen Sekte zu einem Ende. 

Der frühere Seminarist wurde jetzt ein Mitglied jenes Ordens fahrender Ritter und Pilger der Revolution, die keinen Gott kennen, für die das Leben seine Reize verloren hat, soweit es sich nicht in ihren Bestrebungen erschöpft. Nach den Verhaftungen galt es zunächst, den Schlag der Ochrana zu parieren. Man durfte der Polizei nicht das Gefühl lassen, sie habe die Partie gewonnen. Die Maifeier mußte trotzdem stattfinden. Abgesehen davon war die Verhaftung der anderen führenden Parteimitglieder eine persönliche Chance für Dshugaschwili. Wenn er jetzt zeigte, was er konnte, dann würde er ganz von selbst zu einem höheren Rang in der Untergrundbewegung aufsteigen.

Man hatte der Regierung in dem Maiflugblatt Fehde angesagt. Man mußte ihr trotzen. Am Ersten Mai versammelte sich ein Zug von 2000 Arbeitern — vier- oder fünfmal so viel als im Jahr zuvor — auf dem Soldatski Basar in der Nähe des Alexander-Parks, mitten im Zentrum von Tiflis; Polizei und Kosaken waren bereits zur Stelle. Bei dem Zusammenstoß mit den Demonstranten wurden vierzehn Personen verwundet und fünfzehn verhaftet. Eine Woche später beschrieben die Herausgeber der »Iskra« diese Demonstration als ein Vorzeichen für größere Dinge: »Was sich in Tiflis am Sonntag, dem 22. April, abspielte, ist für den ganzen Kaukasus von historischer Bedeutung. Von diesem Tage an gibt es im Kaukasus eine offene revolutionäre Bewegung.«9

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Dshugaschwili hatte bisher gelegentlich kurze Flugblätter oder Aufrufe verfaßt, alles, was man eben gerade brauchte. Jetzt versuchte er sein Geschick im revolutionären Journalismus. Kezchoweli war nach Baku übergesiedelt, und hier war es ihm endlich gelungen, die Geheimdruckerei in Betrieb zu nehmen, von der schon so lange geträumt hatte.10  Jetzt konnte er an die Veröffentlichung eines illegalen Blattes in georgischer Sprache gehen. Die erste Nummer der Zeitung »Brdzola« (Der Kampf) erschien im September 1901.

Das Programm der Zeitung wurde in einem Artikel »Von den Herausgebern« entwickelt, dessen Autorschaft Stalin 1946 für sich in Anspruch nahm, als er ihn in die erste Ausgabe seiner »Gesammelten Werke« einreihen ließ. Wahrscheinlich war er von mehreren gemeinsam geschrieben. Stilistisch entsprach er nicht der Art, wie Stalin später schrieb. Aber es ist durchaus wahr­scheinlich, daß Dshugaschwili an dem Aufsatz maßgeblich mitarbeitet hatte. Dieser Aufsatz, in einer klaren, einfachen Sprache geschrieben, ohne jeden rhetorischen Bombast, war keine Darlegung allgemeiner sozialistischer Prinzipien. Die Heraus­geber setzten voraus, daß ihre Leser in diesem Punkt keiner Belehrung mehr bedurften. Sie polemisierten von Anfang an gegen gemäßigte Mehrheit der Messame Dassy. Sie erklärten, weshalb sie sich zur Herausgabe einer illegalen Zeitschrift entschlossen hatten:

»Wir würden es für einen großen Fehler halten, wenn irgendein Arbeiter eine legale Zeitung, unter welchen Verhältnissen sie auch erscheinen, welche Richtung sie auch vertreten möge, als Vertreterin seiner Interessen, der Interessen des Arbeiters, betrachten wollte. Die für die Arbeiter sorgende Regierung hat, was die legalen Zeitungen anbelangt, die Sache wunderbar einrichtet. Eine ganze Meute von Bürokraten, Zensoren genannt, sind diesen Zeitungen übergeordnet, und sie verfolgen sie aufmerksam, arbeiten mit Schere und roter Tinte, wenn auch nur durch eine Ritze ein Strahl der Wahrheit durchbricht. In das Zensorenkomitee fliegt ein Rundschreiben nach dem anderen — >nichts über die Arbeiter durchlassen, nichts über dieses oder jenes Ereignis veröffentlichen, die Erörterung der und der Frage nicht gestatten< usw.«11

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»Brdzola« war die erste freie Zeitschrift im Kaukasus, die sich der Zensur zu entziehen wußte. Noch interessanter aber war die Zurückhaltung der Herausgeber in politischer Hinsicht. Sie stellten ausdrücklich fest, daß sie nicht die Absicht haben, eine eigene Politik zu vertreten. Die Arbeiterbewegung Georgiens müsse als ein Teil der gesamten russischen Arbeiterbewegung verstanden und geführt werden. Die Herausgeber würden deshalb ihre politischen Forderungen den Richtlinien der Führer des Sozialismus im Zarenreich anpassen und unterordnen. Dies war mehr als nur ein Nadelstich gegen die Mehrheit des Messame Dassy, die mit einer eigenen georgischen Partei liebäugelte, die zwar der russischen Partei angeschlossen, ihr aber nicht untergeordnet sein sollte.

Die zweite Nummer von »Brdzola« kam im Dezember 1901, also drei Monate später heraus. Sie brachte eine ziemlich lange vom Verfasser nicht gezeichnete Abhandlung über »Die Sozialdemokratische Partei Rußlands und ihre nächsten Aufgaben«. Der Verfasser war Dshugaschwili. Die Abhandlung war eine Zusammenfassung von Ausführungen, die der Autor in der »Iskra« gelesen hatte und besonders eine Wiedergabe von Gedanken Lenins. Aber im Stil kann man unschwer die Feder des späteren Stalin erkennen. Auch die Art der Darstellung, der Sprachschatz und sogar Bilder und Vergleiche sind die gleichen die der Verfasser einige Jahrzehnte später immer wieder in ganz anderen Zusammenhängen gebrauchte, als seine Worte bereits über den ganzen Erdball gingen und Geschichte machten. Die wesentlichen Punkte seiner Darlegung sind stark herausgearbeitet, er wiederholt gewisse Gedanken fast bis zur Ermüdung — ein Zug, der auch Lenin eigen ist —, und er hat eine ausgesprochene Vorliebe für dunkle Anspielungen und Vergleiche, die an eine orthodoxe Sonntagspredigt erinnern:

»Viele Stürme und viele Blutströme gingen über Westeuropa hinweg, damit Schluß gemacht werde mit der Knechtung der Mehrheit durch eine Minderheit, aber das Übel blieb dennoch bestehen, die Wunden blieben ebenso klaffend, und die Schmerzen wurden mit jeden Tage immer unerträglicher.«12  

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Nach diesen etwas schwerfälligen Bildern gab der Verfasser eine klare und volkstümlich geschriebene Zusammenfassung der Geschichte des Sozialismus in Europa und in Rußland, so wie es die meisten sozialistischen Propagandisten jener Zeit auf Grund von Engels »Utopie und wissenschaftlicher Sozialismus« und der Schriften Plechanows und Lenins getan hätten. An Hand konkreter Ereignisse, die sich vor kurzem im Kaukasus abgespielt hatten, kam er zu dem Schluß, daß diese Provinz an politischer Reife hinter dem übrigen Rußland zurück sei. Dann versetzte er den Ökonomisten, die den Arbeiter nur für Brot und Butter, nicht aber für den Sozialismus und gegen die Autokratie kämpfen lassen wollten, einige Schläge. Die Ökonomisten waren in seinen Augen nicht anders als die gemäßigten Sozialisten in Westeuropa. Sie berauschten sich am Kleingeld und vergaßen darüber den großen Ansatz. Das gelte zum Beispiel in Deutschland für die Jünger von Eduard Bernstein, die kleinen Reformen nachhingen und darüber das große Ideal des Sozialismus vergaßen. 

Diese Erwähnung der Auseinandersetzungen unter den deutschen Sozialisten beruhte auf Artikeln der »Iskra«, denn der Autor konnte kein Deutsch. Aber man kann daraus erkennen, daß er die Tendenzen und Strömungen im westeuropäischen Sozialismus aufmerksam beobachtete, auch wenn er sein Material zur Beurteilung dieser Fragen aus zweiter Hand beziehen mußte. Er führte weiter aus, daß in Westeuropa die Sozialreformer wenigstens behaupten konnten, sie lebten unter einem zivilisierten Kapitalismus, wo die »Menschenrechte bereits erkämpft sind«. Wie konnte man aber unter dem despotischen Zarentum an einen graduellen Fortschritt glauben? »Nur wenn man ein großes Ziel vor Augen hat, kann man große Energien entwickeln.« Damit wollte er nicht sagen, daß der Kampf der Arbeiter um Brot und Butter die Sozialisten nichts angehe. Im Gegenteil! Die Sozialisten würden in diesem Kampf mithelfen, denn so bescheiden hier die unmittelbaren Ziele seien, so würden sich die Arbeiter auch in diesem Kampf über ihre Kräfte klar werden. Der Fall werde eintreten, in dem sie mit dem Staat, der nichts weiter darstelle als die organisierte Macht der besitzenden Klassen, zusammenprallen müßten.

Der zweite Teil des Aufsatzes begann mit einer bitteren und enttäuschten Schilderung der Unterdrückung in Rußland: 

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»Unter dem Joch des zaristischen Regimes stöhnt nicht nur die Arbeiterklasse. Die schwere Tatze der Selbst­herrschaft würgt auch die anderen Klassen der Gesellschaft. Es stöhnen die durch ständigen Hunger physisch entstellten russischen Bauern. Es stöhnt der kleine Mann in der Stadt, es stöhnen die kleinen Angestellten der Staatsämter und Privat­unternehmen, die kleine Beamtenschaft, überhaupt alle jene zahlreichen kleinen Städter, deren Existenz ebensowenig wie die der Arbeiterklasse gesichert ist und die Grund haben, mit ihrer gesellschaftlichen Stellung unzufrieden zu sein. Es stöhnt ein Teil der kleinen und sogar der mittleren Bourgeoisie, der sich mit der Knute und der Peitsche des Zaren nicht abfinden kann, besonders der gebildete Teil der Bourgeoisie (...). Es stöhnen die unterdrückten Nationen und Glaubensbekenntnisse in Rußland, darunter die in ihren heiligen Gefühlen verletzten Polen, die von ihrem Heimatboden vertrieben werden, die Finnen, deren historisch erworbene Rechte und deren Freiheit die Selbstherrschaft frech zertreten hat. Es stöhnen die ständig verfolgten und geschmähten Juden, die sogar jener kläglichen Rechte beraubt sind, wie sie die übrigen russischen Untertanen genießen — des Rechtes, überall zu wohnen, in den Schulen zu lernen, des Rechtes, als Beamte zu dienen usw. Es stöhnen die Georgier, die Armenier und die anderen Nationen die des Rechtes beraubt sind, ihre eigenen Schulen zu haben, in den Staatsämtern zu arbeiten, die gezwungen sind, sich jener schändlichen und knechtenden Politik der Russifizierung zu fügen, die die Selbst­herrschaft mit solchem Eifer betreibt. Es stöhnen die vielen Millionen der russischen Sektierer, die so glauben und bekennen wollen, wie ihr Gewissen es ihnen eingibt, und nicht so, wie die rechtgläubigen Popen es wünschen.«13

Dieses Bild des »anderen«, des unterdrückten Rußland, das mit einfachen und doch so wirkungsvollen Wiederholungen so eindringlich wie nur möglich gezeichnet wurde, sollte den Leser überzeugen, daß die kommende Revolution große Möglichkeiten habe. Die Arbeiterklasse, die revolutionärste aller Klassen, würde in anderen Gesellschaftsschichten Verbündete finden.

Hier aber ließ der Verfasser eine verhaltene Warnung anklingen: 

»Aber ach! Die russischen Bauern stecken noch in uralter Sklaverei, in Elend und dunkler Unwissenheit. Sie fangen jetzt erst an zu erwachen; sie wissen noch nicht, wo ihre Feinde stehen. Die unterdrückten Nationalitäten Rußlands können nicht daran denken, sich selber im gemeinsamen Einvernehmen zu befreien, solange sie nicht nur die russische Regierung, sondern auch das russische Volk gegen sich haben, das nicht begreifen kann, daß die Autokratie der Feind aller ist.« 

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Aber am nachdrücklichsten klang seine Warnung vor der Doppelgesichtigkeit der bürgerlichen Opposition gegen den Zarismus.

»Aber die Bourgeoisie aller Länder und Nationen versteht es sehr wohl, sich die Früchte anzueignen, die nicht durch ihren Sieg erworben sind, sie versteht es sehr wohl, mit fremden Fingern die Glut aus dem Ofen kratzen zu lassen. Sie ist niemals gewillt, ihre verhältnismäßig privilegierte Stellung aufs Spiel zu setzen im Kampf gegen einen starken Feind, in einem Kampf, den zu gewinnen vorläufig noch nicht so leicht ist. Obgleich sie unzufrieden ist, lebt sie dennoch nicht schlecht, und deshalb räumt sie mit Vergnügen der Arbeiterklasse und überhaupt dem einfachen Volk das Recht ein, den Rücken hinzuhalten, wo die Peitschen der Kosaken sausen oder die Kugeln der Soldaten pfeifen, auf den Barrikaden zu kämpfen usw.«14 

Deshalb müsse die Industriearbeiterschaft die Führung übernehmen. 

»Die Geschichte lehrt, daß die Arbeiter unter solchen Verhältnissen gezwungen sein werden, nur für die Bourgeoisie die Kastanien aus dem Feuer holen. Die Bourgeoisie bedient sich gewöhnlich mit Vergnügen der muskulösen Fäuste der Arbeiter im Kampf gegen die Selbstherrschaft, und wenn der Sieg bereits erkämpft ist, eignet sie sich seine Resultate an und läßt die Arbeiter leer ausgehen.«15 

Wenn aber die Autokratie unter Führung der proletarischen Sozialisten gestürzt wird, dann wird das Ergebnis »eine großzügige demokratische Verfassung sein, die sowohl dem Arbeiter und dem niedergedrückten Bauern als auch dem Kapitalisten gleiche Rechte gewähren wird«.16

Wenn man dies ein halbes Jahrhundert, nachdem es geschrieben wurde, wieder liest, so muß diese gemäßigte demokratische Schlußfolgerung (gleiche Rechte sogar für die Kapitalisten) ganz unvereinbar erscheinen mit den bitteren Bemerkungen, die der Verfasser über die Bourgeoisie macht. Aber diese Konsequenzlosigkeit war damals allen russischen Sozialisten eigen. Sie waren alle der Meinung, Rußland sei noch nicht reif für den Sozialismus. Alles, was die Revolution in absehbarer Zukunft erreichen könne, sei die Ablösung der feudalen Autokratie durch den demokratischen Kapitalismus.17  

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So kamen die Sozialisten zu dem uns nun bereits bekannten Paradoxon: Sie waren Gegner, des Kapitalismus, und trotzdem mußten sie für den Sieg der kapitalistischen Demokratie in ihrem Land kämpfen. Dieses Paradoxon war einige Jahre später die Ursache für eine tiefgreifende Spaltung in den Reihen des Sozialismus. Die gemäßigten Sozialisten — die Menschewisten — vertraten den Standpunkt, daß in einer Revolution, die nur den Feudalismus durch den Kapitalismus ersetzen sollte, logischer­weise die liberale Mittelklasse die erste Geige spielen müsse. Wenn die Sozialisten dem Liberalismus geholfen hatten, die Autokratie zu stürzen und die Macht zu übernehmen, dann müßten sie in einer parlamentarischen und kapitalistischen Republik die Rolle einer gewöhnlichen sozialistischen Opposition spielen. 

Die Bolschewisten dagegen argumentierten, genau wie Dshugaschwili im Jahr 1901, daß man der Bourgeoisie nicht zutrauen könne, die Autokratie zu stürzen. Es sei deshalb Sache der Sozialisten, die Führung in der Revolution gegen den Feudalismus zu übernehmen, auch wenn sie dabei nicht mehr erreichten, als daß sie den Weg für irgendeine demokratische Ordnung ebneten, die in ihrer wirtschaftlichen Struktur kapitalistisch bleiben würde. Diese politische Debatte kam allerdings erst am Vorabend der Revolution von 1905 voll in Gang. Von da an blieb der Kerngedanke des Bolschewismus in seinen wesentlichen Zügen bis zum Jahr 1917 unverändert.

Wenn damals Dshugaschwili die Gleichberechtigung von Arbeitern, Bauern und Kapitalisten anerkannte und sich auf diese Weise in gemäßigten und demokratischen Gedankenbahnen bewegte, so war er damit dem Geist des russischen Sozialismus jener Tage treu geblieben. Andererseits ist es überraschend daß der erst Einundzwanzigjährige bereits in diesem frühen Stadium, mehrere Jahre vor der Spaltung zwischen Bolschewisten und Menschewisten, die Züge eines späteren Bolschewisten trug. Er sprach schon damals die Sprache, in der Lenin im Jahr 1917 redete. Seine politischen Ideen waren so gefestigt, daß sie sich in den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren nur wenig änderten. Lenins Einfluß war schon damals für ihn entscheidend, trotz der Tatsache, daß der Schöpfer des Bolschewismus damals kaum seine ersten Schriften veröffentlicht hatte.

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Dieser Einfluß war im wesentlichen anonym, denn die meisten Abhandlungen und Artikel Lenins erschienen unter verschiedenen Decknamen oder überhaupt ohne Angabe des Verfassers. Damit soll nicht gesagt sein, daß der junge Kaukasier durch alle Seiten der so komplizierten und vielseitigen Persönlichkeit Lenins gleichermaßen beeindruckt gewesen wäre. Einige Vorurteile und Ideen, besonders aber gewisse Unterströmungen im Denken des Meisters waren für den Schüler noch unbegreiflich und blieben es auch. Aber die Elemente des Gedankenganges Lenins, die er übernehmen konnte, riefen in ihm ein lautes und freudiges Echo hervor.

Der junge Schriftsteller war mehr als ein Propagandist. Er gab zu erkennen, daß in ihm auch der Techniker der Revolution steckte, der sich ganz besonders lebhaft für die Mittel und Wege interessierte, die der Partei zu dem erhofften Sieg verhelfen konnten. Er analysierte die verschiedenen Möglichkeiten revolutionärer Aktionen nach ihren Vor- und Nachteilen und lieferte eine vergleichende Studie über die relative Wirksamkeit von Streiks, illegalen Zeitungen und Straßendemonstrationen: Die illegale Presse konnte seiner Meinung nach immer nur einen kleinen Kreis von Lesern erfassen. Sie hatte damit natürliche Grenzen. Streiks seien wirkungsvoller, aber nicht ohne große Risiken. Es bestehe immer die Gefahr, daß sie auf die streikenden Arbeiter selber zurückfallen. Also seien nach den bisherigen Erfahrungen Straßendemonstrationen das wirkungsvollste Mittel. 

Offenbar dachte Dshugaschwili an jene erste Maifeier im Kaukasus, an deren Vorbereitung er selber mitgewirkt hatte. Von diesem Erfolg geblendet, mochte er die Bedeutung solcher Kundgebungen überschätzen. Aber in dieser Analyse steckt dennoch ein Funke richtiger Einsicht in die Psychologie der Massen und die Mechanik der geradezu selbstmörderischen Selbstverteidigung des Zarismus. Demonstrationen, die von einigen wenigen Revolutionären eingeleitet werden können, reizten nach Dshugaschwilis Meinung die Neugierde des gleichgültigen Publikums. Und »in dieser Neugier des Volkes steckt die Hauptgefahr für die Staatsgewalt.« 18)  

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(...) Straßendemonstrationen fesseln den neutralen Zuschauer, der dabei nicht unbeschränkt und für immer neutral bleiben kann. Da die Polizei die Demonstranten mit brutalen Mitteln auseinandertreiben müsse, würden unter den Zuschauern immer einige mit den Opfern der Polizeigewalt sympathisieren. Die Polizei mache in ihrer wilden Wut keinen Unterschied zwischen Demonstranten und Zuschauern. Beide bekämen die Knute zu spüren. Bei der nächsten Demonstration würden bereits einige mitmarschieren, die vorher nur dabei­standen, um zuzuschauen. So wird sogar die Knute unser Verbündeter, kommentierte Dshugaschwili, und am Ende dieses Prozesses stehe die »Morgenröte der Revolution des Volkes«. 

Hieran glaubte er so unerschütterlich, daß er sogar eine sehr genaue Prophezeiung wagte. Es werde, meinte er, nicht länger als zwei oder drei Jahre dauern, bis diese Morgenröte der Revolution am Horizont erscheinen werde.19)  Selten wurde eine politische Prophezeiung so erfüllt wie diese. Genau drei Jahre nach dem Erscheinen dieses Aufsatzes brach die Revolution des Jahres 1905 aus.

 

Was immer man über den politischen Wert dieser Abhandlung sagen mag, in literarischer Hinsicht war sie kein Meisterwerk. Auch ihre wissenschaftliche Bedeutung ist nicht erheblich. Lenin hatte im Alter von zweiundzwanzig Jahren wirtschaftliche und statistische Abhandlungen geschrieben, die manchem Dozenten und Professor der Nationalökonomie Ehre gemacht hätten. Trotzki, der im selben Jahr geboren war wie Dshugaschwili, genoß zu dieser Zeit als einer der wichtigsten Mitarbeiter der »Iskra« hohes Ansehen. Eine Untersuchung wie die des revolutionären Kaukasiers hätte jedoch kaum in den Spalten der »Iskra« Aufnahme gefunden, ganz zu schweigen von der noch anspruchsvolleren Zeitschrift »Sarja« (Morgenröte), die Plechanow und Lenin herausgaben. 

An solchen Maßstäben gemessen, war sein Aufsatz nur allzusehr das Werk eines Schülers und Nachahmers, seine soziologische Ideenführung war primitiv, sein Stil, wenn auch in seiner Art in hohem Maße ausdrucksvoll, im ganzen zu vulgär. Die Herausgeber der »Iskra« und vor allem Lenin hätten leicht sagen können, auf welche ihrer eigenen Artikel dieser junge Schriftsteller in der Provinz sich stützte, sie hätten die Abschnitte anstreichen können, die aus ihren eigenen Arbeiten entlehnt waren, Buchstabe für Buchstabe. 

Aber es wäre unbillig, wenn man die erste Arbeit Dshugaschwilis mit den hochgezüchteten Literaturprodukten der Elite der russischen Emigration vergleichen wollte, besonders nachdem »Brdzola« sich ganz bescheiden als das georgische Sprachrohr eben dieser Elite vorgestellt hatte. 

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Für kaukasische Begriffe war die Abhandlung Dshugaschwilis immerhin eine Leistung. Wer sie heute liest und dabei die späteren Werke des Verfassers im Auge hat, muß sich wundern, wie reif bereits sein Stil war. Der Aufsatz in »Brdzola« gehört zum Besten, was Stalin innerhalb eines halben Jahrhunderts geschrieben hat. Es gibt wenig von ihm, das besser wäre, dafür dafür manches, das sowohl inhaltlich wie stilistisch nicht an diese Erstlingsarbeit heranreicht.

 

Eine genaue Darstellung dessen, was Dshugaschwili in den folgenden Monaten oder Jahren getan hat, wäre eine eintönige Geschichte. Er führte jetzt die gehetzte Existenz, die alle sozialistischen Agitatoren und Organisatoren jener Zeit in Rußland führten. Der Inhalt seines Lebens bestand aus Streiks, Straßendemonstrationen, geheimen Zusammenkünften, Sitzungen und weiter. Was er tat, war für die Männer seiner Art so typisch, daß das meiste davon in Vergessenheit geraten ist. Erst dreißig oder vierzig Jahre später begann man, mit dem Scheinwerfer der Forschung in diese Jahre hineinzuleuchten

Jetzt erst wurde jede Einzelheit aus der frühen Tätigkeit Stalins von Freund und Feind aufgegriffen, von den einen, weil sie zeigen wollten, daß bereits die Jugend des großen Führers den Glanz ungewöhnlicher Bedeutung in sich trug; von den andern, weil sie die Fehler und Schwächen eines bösen Mannes bis zu seiner Wiege zurückzuverfolgen suchten. Die vielen Bände Verherrlichungen und Anklagen, die in diesem Prozeß bereits geschrieben wurden, haben zu einem wirklichen Wissen über Stalin wenig beigetragen. Man kann nur einige unbestreitbare Tatsachen aus diesem Durcheinander belangloser Polemik herausgreifen.

Im November 1901 wurde er zum ordentlichen Mitglied des sozialdemokratischen Parteikomitees in Tiflis gewählt. Dieser aus neun Personen bestehende Ausschuß führte die sozialistischen Gruppen in der kaukasischen Hauptstadt und war auch längere Zeit, wenn nicht rechtlich, so doch tatsächlich das Exekutivorgan der Partei für den ganzen Kaukasus.

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Dshugaschwili kam so an eine Stelle, von der die Bewegung in der ganzen Provinz beeinflußt wurde. Aber bereits zwei Wochen nach dieser Beförderung übersiedelte er von Tiflis nach Batum, in das neue Zentrum der mächtig aufblühenden Erdölindustrie an der türkischen Grenze, das soeben durch eine Ölleitung mit Baku verbunden worden war. Die führende Persönlichkeit in dem Komitee in Tiflis war Sylvester Dshibladse, derselbe, der einmal einen der Lehrer des Theologischen Seminars tätlich angegriffen hatte Er wurde später der Mentor Dshugaschwilis in allen Fragen de Marxismus. Das Verhältnis der beiden Männer war zunächst nicht harmonisch. Es ist möglich, daß Dshibladse seinen Schützling allzu gönnerhaft behandelte und dadurch dessen Selbstgefühl verletzte. Außerdem stand er auf Seiten des gemäßigten Flügels der Messame Dassy. Dieser politische und persönliche Antagonismus machte die Zusammenarbeit der beiden ziemlich schwierig. Wahrscheinlich war die Versetzung Dshugaschwili nach Batum für Dshibladse, für Dshugaschwili selbst und nicht zuletzt für das ganze Komitee in Tiflis die einfachste Lösung. In Batum brauchte man einen energischen, sozialistischen Organisator, und so fand der jüngere der beiden Rivalen ein Betätigungsfeld für seine Energie und für seinen Ehrgeiz.20

In Batum legte sich Dshugaschwili das Pseudonym »Koba« zu, ein türkisches Dialektwort, das »der Unbeugsame« bedeutet. Koba war auch der Name eines im Volk gefeierten Briganten, der sich für die Rechte des Volkes einsetzte, und dem einer der georgischen Lieblingsdichter Dshugaschwilis, Kasbegi, in einem seiner Gedichte ein Denkmal gesetzt hatte. Unter dem Namen Koba war der Revolutionär Dshugaschwili bei seinen Genossen bekannt bis er den berühmt gewordenen Namen Stalin annahm, und die älteren kaukasischen Bolschewisten nennen ihn auch heute noch Koba.21

Batum war eine kleinere Stadt als Tiflis. Seine Einwohnerzahl betrug nur 25.000, während Tiflis zu jener Zeit bereits 150.000 Einwohner hatte. Aber als industrielles Zentrum gewann der Ort rasch an Bedeutung, vor allem, weil dort die Entwicklung durch die Investition ausländischen Kapitals vorwärtsgetrieben wurde. Die wichtigsten Ölquellen befanden sich im Besitz der Rothschild-Gruppe. Mehr als ein Viertel aller Industriearbeiter des Kaukasus lebte in Batum.

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In dieser Zeit hatte sich dort bereits eine gewisse sozialistische Aktivität entwickelt, aber es gab noch keine festgefügte Untergrundbewegung. Koba sollte hier nachhelfen. Wenige Wochen nach seiner Ankunft berief er eine Konferenz der Sozialisten ein — nach außen hin war es eine lustige und harmlose Neujahrsfeier —, in deren Verlauf das erste sozialdemokratische Komitee von Batum gewählt wurde. Sein nächster Schritt war die Schaffung einer Geheimdruckerei, ähnlich der, die Kezchoweli in Baku eingerichtet hatte. Die Druckerei befand sich in einem kleinen Zimmer, in dem Koba auch wohnte.

Ein Setzer, der natürlich auch Sozialist war, weiß sich zu erinnern, daß »die Typen in Zündholzschachteln, Zigarettenschachteln und auf Papierstreifen herumlagen« und daß Koba an einem Tisch in der Mitte der improvisierten Druckerei saß, an einem Manuskript schrieb und die Blätter, wie sie entstanden, dem Setzer hinüberreichte.22  Von Zeit zu Zeit machte Koba eine Reise nach Tiflis, um sich mit dem dortigen Komitee zu besprechen, an dessen Beratungen teilzunehmen und über seine eigene Tätigkeit in Batum zu berichten. Die Flugblätter, die er schrieb und in seiner Wohnung druckte, fanden ihren Weg zu den Ölraffinerien, und es dauerte gar nicht lange, bis ihre Wirkung sich in einer politischen Gärung und in Arbeiterunruhen bemerkbar machte.

 

In einem vertraulichen Bericht der Polizeistation in Batum steht zu lesen: »Im Herbst 1901 schickte das sozialdemokratische Komitee von Tiflis eines seiner Mitglieder namens Joseph Wissarionowitsch Dshugaschwili, ehemals Schüler der sechsten Klasse des theologischen Seminars in Tiflis, nach Batum, um dort unter der Arbeiterschaft die revolutionäre Propaganda zu organisieren. Infolge der Tätigkeit des Dshugaschwili bildeten sich in allen Fabriken Batums sozialdemokratische Organisationen. Die Folgen dieser Propaganda waren bereits im Jahre 1902 nur zu deutlich zu erkennen, als bei der Firma Rothschild ein lange anhaltender Streik ausbrach, der Straßendemonstrationen zur Folge hatte.«23

Wahrend einer solchen Straßendemonstration schoß das kaukasische Schützenbataillon in die Menge. Fünfzehn Arbeiter wurden getötet und zahlreiche verwundet. Am 5. April 1902 wurde Koba während einer Sitzung des Parteiausschusses von Batum verhaftet. Die Geheimdruckerei wurde nicht entdeckt.

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In Batum hatte Koba nur viereinhalb Monate gelebt, aber die waren Monate intensivster Tätigkeit. Ein Zwischenfall verdient besondere Erwähnung, denn er wirft einen Schatten auf die kommenden Ereignisse: Kobas Tätigkeit in Batum rief bei den gemäßigten Sozialisten scharfe Kritik hervor, deren Führer Nikolai Tschcheidse war. Tschcheidse war wie Koba ein ehemaliger Seminarist, der an der Küste des Schwarzen Meeres vorsichtig die Saat des Sozialismus gesät hatte und der wegen seines Wissens und seiner Beredsamkeit in hohem Ansehen stand.

Dieser Propagandist geriet offenbar in Unruhe über die Auswirkungen einer so schlagkräftigen Geheimorganisation, wie sie Koba aufgebaut hatte. Er glaubte, daß eine solche Organisation an einen so kleinen Platz wie Batum sich nicht vor der Entdeckung durch die Polizei schützen könne. In Batum könne nichts geheimbleiben, und es sei ganz unmöglich, eine geheime, illegale Organisation sozusagen unter den Augen der Ochrana zu betreiben. Er hielt Kobas Pläne für wahnsinnig und beschwor ihn persönlich und durch gemeinsame Freunde, von seinem Vorhaben Abstand zu nehmen und es den Sozialisten von Batum zu überlassen, ihre Tätigkeit so zu führen, wie sie es selber für richtig fanden. 

Aber Koba ließ sich nicht überreden. Obwohl ihm seine Gegner vorwarfen, er zerstöre den Zusammenhalt der Partei und sei verrückt, so führte er dennoch seine Pläne bis zum Ende durch und bezeichnete Tschcheidse als Feigling.

Die beiden Georgier sollten sich noch in größeren Kämpfen gegenüberstehen: Zehn Jahre später, im Jahr 1912, war Tschcheidse der große Redner der Menschewisten in Petersburg und Vorsitzender der parlamentarischen Fraktion der Sozialisten in der Duma (dem vom Zaren genehmigten Scheinparlament), während Koba zur gleichen Zeit einer der Führer der geheimen bolschewistischen Gruppe war, die hinter den bolschewistischen Dumaabgeordneten die Fäden zog. 

Im Jahre 1917 war Tschcheidse Präsident des Petersburger Sowjets (er wurde, als die Wogen des Bolschewismus immer höher gingen, durch Trotzki ersetzt), während Stalin Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees war. In diesem Revolutionsjahr kämpften die beiden ehemaligen Zöglinge des Priesterseminars von Tiflis in der Hauptstadt der Zaren einen Kampf gegeneinander, bei dem sie Ausdrücke benutzten, die sie in ähnlicher Form bereits in Batum einander an den Kopf geworfen hatten.

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