Isaac Deutscher

 

Stalin

Eine politische Biographie 

 

Einige Ausgaben:

1949 - Stalin — A Political Biography  

1966 - Oxford University Press, Second edition

1979 - Stalin. Band 1, 1879-1933. Verlag Olle und Wolter, Berlin

1989 - deutsche Ausgabe: Argon Verlag Berlin  

1990 - DDR-Ausgabe im Dietz Verlag Berlin, 850 Seiten 

1992 - rororo

1997 - Bechtermünz-Verlag, Augsburg, 859 Seiten

 

DNB Buch (15)  Bing.Buch      Goog Buch

  

Wikipedia Autor *1907 in Galizien bis 1967 (60)

DNB person

DNB nummer (37)

 

detopia:

Stalinbuch   Kommbuch

D.htm   Sterbejahr 

 

W.Laqueur   M.Rubel  

Wolkogonow   Trotzki 

 

Inhalt

Ergänzende Einleitung 1967 zur 2. Auflage (7)

Vorwort zur 2. Auflage 1961  (9)  

Vorwort zur 1. Auflage 1948  (14) 

 

Bibliographie (791)   

Anmerkungen (803)  

Register (839)

Printed in the German Democratic Republic  

Druck: Karl-Marx-Werk Pößneck, V 15/30

Aus dem Englischen von Just, Strohm, Maor, Visscher.

 

1.  Kindheit und Jugend  (19) 

2.  Die sozialistische Untergrundbewegung  (51) 

3.  Die Generalprobe  (78) 

4.  Aus Koba wird Stalin  (133) 

5.  1917: Das Jahr der Entscheidung  (178) 

6.  Stalin im Bürgerkrieg  (231) 

7.  Der Generalsekretär  (300) 

8.  Die große Wende  (382) 

9.  Die Götter dürsten  (443) 

10. Außenpolitik und Komintern I  (1923-1933)  (495) 

11. Außenpolitik und Komintern II  (1934-1941)  (530) 

12. Der Generalissimus  (588) 

13. Teheran — Jalta — Potsdam  (633) 

14. Die Dialektik des Sieges  (695) 

15. Stalins letzte Jahre  (721) 

 


detopia-2007:

Das Buch beeindruckt auch heute. Bei der Kritik an diesem Buch möge man den Zeitgeist 1948 bedenken.


Autor:

Deutscher, in Krakau geboren, trat mit 19 Jahren der Kommun­istischen Partei Polens bei und machte sich einen Namen als Verfasser politischer Beiträge für sozialistische Zeitungen und Zeitschriften. 

1931 stellte er sich an die Spitze der ersten antistalin­istischen Opposition in der polnischen KP.

Er warf Stalin vor, die Gefahr des National­sozialismus nicht erkannt zu haben. Er forderte die Einheits­front von Kommunisten und Sozialisten gegen Hitler und Pilsudski. 

1932 wurde er aus der Partei ausgestoßen. 1939 ging er nach London. 

 

  

Ergänzende Einleitung  

zur 2. Auflage 1967 des Autors

7

Diese Ausgabe von »Stalin — Eine politische Biographie« erscheint fast zwanzig Jahre, nachdem ich das Buch geschrieben habe. Als ich es damals, im Sommer 1948, vollendet hatte, war Stalin noch auf dem Gipfel seiner Macht, auf der ganzen Welt bewundert oder gefürchtet und im eigenen Land umgeben von einem aufgeblähten Personenkult.

Zu der Zeit hatte die Welt ein anderes Gesicht: Noch war die Sowjetunion keine Nuklearmacht und der Sieg der chinesischen Revolution stand unmittelbar bevor; gerade erst geriet Stalins Konflikt mit Tito in die Schlagzeilen der Medien. Meine Einschätzung Stalins begann ich damals auf den letzten Seiten dieses Buches mit folgenden Worten: 

»Hier wollen wir die Schilderung von Stalins Leben und Wirken abbrechen. Wir wollen uns gewiß nicht einbilden, daß es möglich sei, aus diesem Bericht abschließende Folgerungen zu ziehen, oder auf Grund dieses Materials ein sicheres Urteil über den Mann, seine Leistungen und seine Mißerfolge zu fällen. Nach so vielen Höhen und Tiefen scheint sein Drama jetzt seinem eigentlichen Höhepunkt zuzutreiben. Und niemand weiß, in welch neue Perspektiven das Vergangene gedrängt wird, wenn erst einmal der Vorhang nach dem letzten Akt gefallen sein wird.«  

Nun, es ist dieser letzte Akt, von dem ich in einem neuen Kapitel dieses Buches berichten werde, der Nachtrag zu Stalins letzten Lebensjahren. Das Drama meiner Hauptfigur gipfelte nach 1948 tatsächlich noch in einem letzten Höhepunkt, der aber dann unmittelbar zum nachfolgenden Zerfall des Stalinkults führte.

Die Bemerkungen, mit denen ich damals meine Bewertungen einleitete, scheinen jetzt vielleicht fast zu verhalten: Denn statt seinen bekannten Ruf in ein besseres Licht zu rücken, gewannen die Aktivitäten und Reaktionen Stalins nur noch viel schärfere Konturen — auch im Vergleich zu den Schlußfolgerungen, die ich in den abschließenden Passagen meines Buches gezogen hatte, als ich die sogenannte Entstalinisierung schon vorausahnte.

Oft werde ich gefragt, ob ich denn keine Gründe sähe, meine Ansichten nach den Eröffnungen von Chruschtschow, Mikojan und anderen auf dem XX. Parteitag zu revidieren. Aber eigentlich haben doch diese Abrechnungen nichts wirklich Bemerkenswertes zu den Erkenntnissen hinzugefügt, die ich über Stalins Machtaufstieg, über seine Beziehungen zu Lenin und anderen bolschewistischen Führern, über seine Politik in der Zwischenkriegszeit sowie zur Durchführung der Großen Säuberungen und zu seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg und danach gemacht habe. Vor allem hinsichtlich der kritischen Phasen in seiner Karriere enthält meine Biographie reichliche Informationen, weit mehr als das, was bislang für sowjetische Leser zugänglich ist. Und, nebenbei bemerkt, mein »Stalin« bleibt weiterhin ein verbotenes Buch in der UdSSR, in China und den anderen Ländern Osteuropas.1) 

Darüberhinaus nehme ich nicht alle von Chruschtschows Äußerungen für bare Münze: Vor allem bezweifele ich seine Behauptung, Stalins Rolle im Zweiten Weltkrieg sei eigentlich bedeutungslos gewesen. Offensichtlich sollte diese Darstellung Chruschtschows eigene Leistungen auf Kosten Stalins hervorheben; sie steht nämlich weder im Einklang mit den Berichten von Augenzeugen sowie von westlichen Staatsmännern und Militärs, die sicher keinen Grund hatten, Stalins Rolle übertrieben darzustellen, noch mit Aussagen sowjetischer Generäle, die sich erst kürzlich mit diesen Vorwürfen ganz nüchtern und kritisch auseinandergesetzt haben.2

Ein Aspekt der Aktivitäten Stalins jedoch scheint mir nach Chruschtschows Enthüllungen jetzt klarer zu sein — nämlich das Ausmaß, in dem Stalin nach Unterdrückung der Anhänger Trotzkis, Sinowjews und Bucharins seine eigenen Gefolgsleute, die Stalinisten, liquidiert hat. In dem neuen Kapitel dieses Buches untersuche ich die Folgen dieses wichtigen Fakts. Folgen, die sich stärker noch in der letzten Phase von Stalins Herrschaft zeigten und die in gewissem Maß auch für Art und Charakter der Entstalinisierungswelle unter Chruschtschow verantwortlich sind.

Ansonsten sehe ich keinen Grund, meinen Bericht oder die Interpretationen des Werdegangs von Stalin zu verändern. Der ursprüngliche Text dieses Buches ist deshalb hier mit nur wenigen inhaltlichen und stilistischen Korrekturen wiedergegeben.

8

11. Oktober 1966,
Isaac Deutscher  

#


 


   

Vorwort zur 2. Auflage 1961 (1) 

 

 

9

Als ich diese Biographie vor 13 bis 14 Jahren schrieb, wollte ich mehr dem Durchschnittsleser als dem Fachmann ein Buch in die Hand geben, in dem ich nach bestem Wissen und Gewissen alle wesentlichen Tatsachen über Stalin und seine Karriere möglichst vollständig und widerspruchslos festzuhalten bemüht war.

Als ich den Plan zu diesem Werk faßte, waren Publikum und Presse hierzulande noch nicht frei von ihren in der Kriegszeit üblichen Schmeicheleien für Stalin; als ich letzte Hand daran legte, brausten die Flugzeuge der Luftbrücke ohne Unterlaß über Berlin, und Stalin war zum Schurken des Kalten Krieges geworden. Ich glaube aber nicht, daß dieser krasse Wechsel im politischen Klima meine Darstellung Stalins beeinflußt hat: Ich war nie dem Stalinkult verfallen gewesen, und der Kalte Krieg war nicht mein Krieg. Aber schon kurz nach der Veröffentlichung meines Buches konnte ein britischer Kritiker schreiben, daß es »wie sein Gegenstand zum Brennpunkt einer lebhaften und zeitweise hitzigen Kontroverse geworden sei (...). Keine Biographie der letzten Jahre sei so regem Interesse begegnet, keine habe so leidenschaftliche Ressentiments und Feindseligkeit entfesselt«. 

Ich sollte vielleicht hinzufügen, daß die meisten britischen Kritiker das Buch aufgeschlossen und großmütig aufnahmen. Trotzdem zog sich die »wilde Kontroverse« über Jahre hin, besonders im Ausland beiderseits des Atlantiks. Das Buch wurde aus den widersprüchlichsten Gründen gelobt und getadelt. Die einen wollten eine Anklage des Stalinismus darin sehen, die anderen eine Verteidigung, und manche alles beides.


So erklärte mir der kürzlich verstorbene Freund und ehemals enge Mitarbeiter Marschall Titos, Mosche Pijade, einmal, warum die Regierung, der er selbst angehört hatte, sich weigerte, die Erlaubnis für eine jugoslawische Ausgabe »Stalins« zu geben: »Schauen Sie«, sagte er, »die Schwierigkeit mit Ihrem Buch liegt darin, daß es zu prosowjetisch ist, wenn wir mit den Russen streiten, und es ist zu antisowjetisch, wenn wir mit ihnen gut Freund zu sein versuchen.« (»Auf jeden Fall«, fügte er noch mit einem Augenzwinkern hinzu, »können wir keine jugoslawische Ausgabe genehmigen, sonst könnte jedermann sofort sehen, aus welcher Quelle unsere bedeutenden Theoretiker den Großteil ihrer Weisheit geschöpft haben.«)

 

Nach einer alten, goldenen Regel der Porträtmalerei ist ein Porträt gut, wenn es der Vielschichtigkeit des menschlichen Charakters so gerecht wird, daß jeder Betrachter ein verschiedenes Gesicht in ihm sieht. Manches könnte auch heute noch für diese Regel sprechen. Und wenn man sie auf Stalin anwendet, käme das Buch nicht so schlecht weg. Fast jeder Kritiker, ob ablehnend oder zustimmend, hat in diesem Porträt das gefunden oder hineingelesen, was er wünschte. Nur ganz wenige beachteten die ganze Vielfalt des hier geschilderten Charakters und die Schwierigkeiten eines Porträts, das Stalin von vorn als einen Nachkommen Lenins und im Profil als Nachfahren Iwans des Schrecklichen zeichnet.

Ich gebe zu, daß ich mich in diesem Werk um eine geradezu altmodische Objektivität bemüht habe; und ich muß auch gestehen, daß mir diese Objektivität nicht leichtgefallen ist; ich mußte wirklich darum ringen. Es wäre mir nichts einfacher gewesen, als eine anklagende Biographie über Stalin zu verfassen: Ich hatte mich dem Stalinismus bereits seit den frühen dreißiger Jahren widersetzt; ich habe die Grausamkeit der zwangsweisen Kollektivierung angeprangert, während diese noch in vollem Gang war (und nicht zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre danach, wie es viele meiner Kritiker getan haben); ich übte zumindest seit 1931 strenge Kritik an der stalinistischen Politik, die dem Nationalsozialismus den Aufstieg erleichterte; ich verwies auf den Massenterror, auf die Säuberungsaktionen und die Prozesse in Moskau, während diese über die Bühne gingen, und so fort.2

10


Kurzum, ich war ein vorzeitiger »Anti-Stalinist« gewesen; und wenn ich alles das wiederholen wollte, was ich im Verlauf von nahezu zwei Jahrzehnten gegen Stalin und den Stalinismus geschrieben habe, so wäre das Ergebnis ein Buch gewesen, gegen das niemand den Vorwurf hätte erheben können, es sei eine Apologie Stalins.

Ich war aber entschlossen, dieses Buch unter keinen Umständen mit geistiger Trägheit zu schreiben. Ich nahm mir vor, diesen mir aus meinen Studien so vertrauten Stoff noch einmal neu und kritisch zu sichten. Einige Kritiker haben sich über meine »kühle und unpersönliche« Darstellungsweise ausgelassen. Und doch war die Arbeit an diesem Buch für mich ein tiefes, persönliches Erlebnis, eine Gelegenheit für eine stille Gewissenserforschung und eine neuerliche kritische Überprüfung meiner eigenen politischen Vergangenheit.

Ich hatte zu jenen gehört, die Stalin grausam kaltstellte. Und eine der Fragen, die ich mir vorlegen mußte, war, warum ihm das gelungen war. Um darauf eine Antwort zu geben, mußte der Parteipolitiker in mir zum Historiker werden. Er mußte leidenschaftslos die Ursachen und Wirkungen prüfen, die Motive des Gegners mit offenem Blick sehen und die Stärke des Feindes dort anerkennen, wo sie war.

Der Tagespolitiker kann es sich nicht erlauben, sich zu streng durch eine deterministische Sicht der Situation, aus der er handelt, einschränken zu lassen, und wenn es nur darum wäre, weil einige Elemente dieser Situation und einige seiner Chancen noch unbekannt, ja unbestimmt sind. Er kann auch nie ganz sicher sagen, wie die Wirkung seines eigenen Handelns auf irgendeine bestimmte Situation sein wird.

Der Historiker andererseits kann nicht umhin, Determinist zu sein, oder, wenn er es schon nicht ist, sich als solcher zu geben: Er hat seine Aufgabe nicht ganz erfüllt, ehe er nicht die Ursachen und Wirkungen als ein so enges und natürliches Gewebe von Ereignissen aufgezeigt hat, daß keine Lücke bleibt; das hieße also, er muß die Unvermeidbarkeit des historischen Ablaufs, mit dem er sich beschäftigt, bewiesen haben. Der Tagespolitiker hat es mit sich ständig verändernden Umständen zu tun: Nach allen Seiten hin setzen Menschen ihren Willen durch, was zum Konflikt führt, sie entfesseln Kräfte und erreichen Entscheidungen oder machen solche rückgängig. Der Historiker dagegen hat es mit ganz bestimmten, unabänderlichen Tatsachen zu tun: Alles Pulver ist bereits verschossen, jeder Wille hat sich bereits abreagiert, alle Entscheidungen sind getroffen worden; und was nicht mehr abzuändern ist, erscheint unvermeidbar.

11


Daß ich vom Blickwinkel des Historikers aus an die Arbeit ging, ist für den vieldiskutierten Unterton des Unvermeidbaren, der sich durch dieses Buch zieht, verantwortlich zu machen: Als Parteipolitiker hatte ich viele Taten der von mir dargestellten Persönlichkeit verworfen, die ich als Biograph als unvermeidbar aufzeigen muß. Dieser Widerspruch jedoch ist mehr scheinbar als wirklich. In beiden Eigenschaften bin ich von den gleichen philosophisch-politischen Prämissen ausgegangen, aber von verschiedenen und teils unvereinbaren Blickwinkeln.

Die Einwände gegen meine Methode waren einleuchtend genug: Als ich »Stalin« veröffentlichte, hatte man noch nicht von allen darin beschriebenen Situationen so viel Abstand gewonnen, daß diese schon Geschichte und somit unabänderlich geworden wären. Man konnte z.B. noch erwarten, wie es führende westliche Staatsmänner und Berichterstatter damals getan haben, daß die sowjetische Macht aus Osteuropa zurückgedrängt und der industrielle Fortschritt der Sowjetunion durch Fehlschläge in der Planwirtschaft zu einem Stillstand gebracht würde usw. 

Ich behandelte die Nachkriegsrevolutionen in Osteuropa, die zur Zeit der Niederschrift dieses Buches noch im Gang waren, als unabänderlich. Ich nahm den fortschreitenden wirtschaftlichen Aufstieg der UdSSR schon knapp nach dem Krieg, also zu einer Zeit, als dieses Land noch zur Hälfte in Ruinen lag, für selbstverständlich. Damit wagte ich mich zugegebenermaßen auf den Boden politischer Beurteilung und Vorhersagen, wovor mancher Historiker zurückgeschreckt wäre. Ich vertraue darauf, daß mir meine Leser nach so vielen Jahren diesen Verstoß vergeben und bei der Beurteilung meiner offenen und verdeckten Vorhersagen in Betracht ziehen werden, ob diese der Probe der Zeit standgehalten haben oder nicht.

Man kann mir allerdings heute noch vorhalten, daß ich Stalin letzten Endes doch rehabilitiert habe, indem ich seine Erfolge als unvermeidbar hingestellt habe. Diese Kritik unterschiebt mir auch die Ansicht, daß vernünftige Menschen sich immer mit dem Unvermeidbaren aussöhnen oder zumindest aussöhnen sollten.

Ich muß diese stillschweigende Folgerung zurückweisen.

12


Die stolzesten Augenblicke in der Geschichte der Menschheit sind die, in denen gegen das Unvermeidbare angekämpft wird. Und auch dieser Kampf ist unvermeidbar. Wenn ein Philosoph die These aufstellt, »was wirklich ist, ist vernünftig«, behauptet er auch, »was vernünftig ist, ist wirklich«. Die Geschichte nimmt aber ihren Lauf auf verschiedenen Ebenen, oberflächlich oder in die Tiefe greifend, wirklich und notwendigerweise. Die Generation russischer Revolutionäre, die im Widerstand gegen Stalins Autokratie umkam, repräsentierte nicht weniger eine historische Notwendigkeit als Stalin selbst, allerdings unterschiedlicher Art.

Und ich darf vielleicht die Kritiker daran erinnern, daß ich meine Untersuchungen über die »Unvermeidbarkeit des Stalinismus« sowie seine positiven und negativen Seiten bereits acht Jahre vor Chruschtschows berühmten Enthüllungen über Stalin mit der folgenden, emphatischen Vorhersage über die »Unvermeidbarkeit« einer »Entstalinisierung« abgeschlossen hatte: »Die Geschichte wird vielleicht das Werk Stalins genauso streng läutern und neu formen müssen, wie sie einst das Werk der Britischen Revolution nach Cromwell und das Werk der Französischen Revolution nach Napoleon gereinigt und neu geformt hatte.«3

»Stalin« erscheint als Neuauflage unverändert. Wenn ich das Buch noch einmal schreiben müßte, würde es wahrscheinlich etwas anders ausfallen. Aber wie verschieden im Detail oder mit welch anders gesetzten Akzenten ich meine Geschichte heute auch erzählen würde, so glaube ich nach Prüfung sämtlicher Argumente doch, daß der Neuabdruck besser unverändert erscheint. Die Tatsache, daß das Buch durch so viele Jahre Gegenstand einer so breiten und angeregten Kontroverse war, hat den Originaltext wahrscheinlich zu einer Art Dokument gemacht, woran sich selbst der Autor nicht vergreifen sollte. Und im großen und ganzen stehe ich auch heute noch zu meiner Auffassung Stalins und des Stalinismus von damals.

Diese Biographie war ursprünglich als Teil einer Trilogie geplant, die auch die Lebensbeschreibungen Lenins und Trotzkis umfassen sollte. Ich arbeite noch immer daran; zwei Bände einer Studie über Trotzki sind aber bereits erschienen: »The Prophet Armed« und »The Prophet Unarmed«. Der dritte soll bald fertiggestellt werden. Es liegt wesentlich im Aufbau eines solchen Werkes, daß gewisse Aspekte der Darstellung und Interpretation in einem Teil nur angedeutet bleiben und dafür in einem anderen Band wieder neu aufgenommen und ausgeweitet werden sollen. 

Trotzdem »Stalin« ein Werk für sich ist, das man unabhängig von den anderen lesen kann, würde aber die Kenntnis der anderen Teile der Trilogie dem Leser eine tiefere Einsicht in den Stoff dieser Untersuchungen gewähren.

13

24. April 1961,
Isaac Deutscher  

#



   

Vorwort zur 1. Auflage (1948) des Autors

 

14-17

Dieser Bericht über Stalins Leben endet etwas unvermittelt mit den Jahren 1945/46. Bis zu diesem Zeitpunkt kann ein Biograph augenblicklich die Geschichte dieses Mannes schildern. Es gibt keine quellenmäßigen Unterlagen, an Hand derer die Rolle Stalins in der Geschichte der letzten zwei oder drei Jahre dargestellt werden könnte. Ich hoffe aber, daß die Schlußkapitel dieses Buches auch auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre ein gewisses Licht werfen werden.

Noch vor kurzem wäre es beinahe unmöglich gewesen, diese Darstellung über die Jahre 1938 oder 1939 hinauszuführen. Glücklicherweise wurde meine Aufgabe jedoch durch kürzlich veröffentlichte amtliche Dokumente und durch die Kriegserinnerungen einiger Minister und Generäle der Westmächte erleichtert. Ähnliches wurde in Rußland bisher nicht publiziert.

Der Schriftsteller, der das Für und Wider im Falle Stalin gegeneinander abzuwägen versucht, findet auf der einen Seite die Aussagen von Churchill, Hull, Byrnes, die »White House Papers« von Harry L. Hopkins und andere Memoiren dieser Art. Auf der russischen Seite dagegen findet er so gut wie nichts, mit Ausnahme von einigen gefärbten Fragmenten halboffizieller Herkunft, die, seltsam genug, sich aus den Textbüchern russischer Filme zusammentragen lassen. So zum Beispiel in dem Film »Stalingradskaja Bitwa« (Die Schlacht um Stalingrad) von Wirta.

Dies sind bis jetzt die einzigen Kanäle, auf denen die Leiter des Sowjetstaates ihrem Volk ein winziges Bruchstück der inneren Geschichte dieser ereignisschweren Jahre nähergebracht haben. Klio, die Muse der Geschichte, hat es bis jetzt nicht vermocht, in den Kreml eingelassen zu werden.

Es ist in der Tat ein trauriges Paradoxon, daß das Volk, das die größten und heldenhaftesten Opfer im Zweiten Weltkrieg zu bringen hatte, am wenigsten über die diplomatischen, militärischen und politischen Hintergründe dieser Zeit erfahren darf.

Es ist nur allzu natürlich, daß die Schriftsteller und Memoiren­schreiber des Westens ihre Geschichte von ihrem besonderen nationalen und politischen Standpunkt aus erzählen. Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, da, wo ich solche Zeugnisse benützte, die nötigen Abstriche an der unvermeidlichen Voreingenommenheit dieser Autoren einzukalkulieren.

Allein schon die Verschiedenheit in der Betrachtungsweise und in den Urteilen solcher Schriftsteller gibt einen Maßstab für die relative Glaubwürdigkeit, die ihnen beizumessen ist. Es ist aber ebenso überraschend, daß sie da, wo es sich um die wichtigsten Tatsachen, ja sogar um Einzelheiten handelt, die für einen Bericht über die Rolle Stalins von Bedeutung sind, weitgehend übereinstimmen. Ich habe mich darüber hinaus bemüht, wenigstens einen Teil der Lücken in der dokumentarischen Quellensammlung dadurch auszufüllen, daß ich auf persönliche Eindrücke und Berichte über diese wie auch frühere Epochen in der Karriere Stalins zurückgriff; diese wurden mir von Staatsmännern, Diplomaten und Politikern gegeben, die zu den verschiedensten Zeiten durch ihre Tätigkeit in persönlichen Kontakt mit Stalin gekommen waren und den verschiedensten Nationalitäten, aber auch den entgegengesetztesten politischen Überzeugungen angehörten. Diesen Männern, deren Namen ich nicht nennen kann, bin ich zu besonderem Dank verpflichtet.

Ich möchte dieses Werk eine »politische Biographie« nennen und brauche hierfür wohl kaum eine Entschuldigung. Ich gebe zu, daß mich das Studium der Politik immer mehr gereizt hat als die Privataffären von Männern des öffentlichen Lebens. Ganz abgesehen davon wäre es auch unmöglich, das Privatleben Stalins zu schildern.

15/16

Nur ein einziger Privatbrief Stalins ist bisher ans Licht der Öffentlichkeit gekommen und zwar in einem beschlagnahmten Buch von A. S. Allilujewa, der Schwägerin Stalins.4 Fast alle Biographen, die bisher den Versuch gemacht haben, in die private Sphäre Stalins einzudringen, haben wenig wirklich Interessantes zu sagen gewußt. Sie mußten sich mit Gerüchten begnügen, die auf ihren Wahrheitsgehalt nicht nachgeprüft werden können. Selbst ein so scharfer Beobachter und bedeutender Schriftsteller wie Trotzki, der mit Stalin fast zehn Jahre lang zusammen im Politbüro saß, macht von dieser Regel keine Ausnahme.

Was die frühe und mittlere Periode in Stalins Laufbahn angeht, so ist hier die Arbeit des Biographen nicht so sehr durch den Mangel an Dokumenten als durch deren Überzahl und die darin enthaltenen Widersprüche erschwert. Stalins Lebensgeschichte gleicht einem großen Palimpsest, in dem viele Handschriften übereinandergeschrieben wurden. Jede dieser Handschriften stammt aus einer anderen Periode, jede ist von der Hand eines anderen Schreibers geschrieben, jede gibt eine andere Darstellung der Ereignisse. Selbst die Teile, die von Stalins eigener Hand geschrieben sind, widersprechen sich in der auffallendsten Weise. Ich hoffe, daß der Leser in diesem Buch auch eine Erklärung für diesen merkwürdigen Zustand der Überlieferung finden wird.

Seit mehr als zwanzig Jahren habe ich sorgfältig die Entwicklung dieses Palimpsests beobachtet. Ich habe ihn jetzt aufs Neue überprüft, Schicht um Schicht abgedeckt und die verschiedenen Versionen miteinander verglichen, geprüft und wieder geprüft. In diesem Buch lege ich die Ergebnisse meiner Untersuchungen vor. Ich war dabei darauf bedacht, den Gang der Erzählung nicht mehr als notwendig mit einer Darstellung der vergleichenden Analyse zu belasten, auf der ich meine Schlußfolgerungen aufgebaut habe. Das hätte den Leser bestimmt über alle Maßen ermüdet. Studenten und Fachleute jedoch werden die notwendigen, Anhaltspunkte in meinen Anmerkungen finden, wo Quellenhinweise auf stalinfreundliche oder -feindliche Schriften oft neben­einander stehen.

Dieses Buch soll der erste Teil einer biographischen Trilogie sein, die ich mit einem »Leben Lenins« und einer Studie über »Trotzki in der Verbannung« weiterführen und vollenden möchte.

Eine gründliche Untersuchung über den Bolschewismus in den Jahren vor 1917 und eine Geschichte der wichtigsten Ideen, wie zum Beispiel der Diktatur des Proletariats, der Sowjets, der »Vorhut des Proletariats« und so weiter, müssen in der Biographie Lenins ihren Platz finden. In dem vorliegenden Band wurden Entwicklung und Evolution dieser Ideen nur insoweit skizziert, als sie für das Verständnis der Persönlichkeit Stalins von Bedeutung sind. Der größere Teil dieser Stalin-Biographie behandelt natürlich die Lage des Bolschewismus seit der Revolution und seit dem Bürgerkrieg.

Ich bin meinen Freunden und Kollegen zu großem Dank verpflichtet. Dieser Dank gilt vor allem Mr. Donald Tyerman und Miss Barbara Ward, die mir immer in so freundschaftlicher Weise zu dieser Arbeit Mut machten und mir ihre Hilfe angedeihen ließen. Professor E.H. Carr stand mir mit kritischen Kommentaren bei. Mr. D.M. Davin und die Mitglieder des Verlags von Oxford University Press haben mit unendlicher Geduld mein Manuskript gelesen und mir unschätzbare stilistische Anregungen gegeben.

Mr. John Kimche war so freundlich, mir mit Büchern und Dokumenten zu helfen. Für die Urteile und Ansichten, die in diesem Buch zum Ausdruck kommen, trage ich allein und ausschließlich die Verantwortung sowie für alle Unzulänglichkeiten.

Mehr als irgend jemand anderem habe ich aber meiner Frau zu danken, deren unermüdliche Hilfe dieses Werk erst möglich machte und deren kritischer Sinn zur endgültigen Fassung jedes einzelnen Abschnitts beigetragen hat.

17

Isaac Deutscher

 

Dietz-Ausgabe, 1990

 

 

 

 

 

 

 

 

 ^^^^ 

 (Ordner)   www.detopia.de