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1  Kindheit und Jugend  

 

Stalins Eltern: Wissarion Dshugaschwili und Jekaterina Geladse — Geburt (1879), Kindheit und Schulzeit von Joseph Dshugaschwili (später Stalin) in Gori in Georgien (Kaukasus) — Einfluß georgischen Volkstums — Russen und Georgier — Stalin im theologischen Seminar in Tiflis, 1894 bis 1899 — Der Kampf der Georgier gegen die Russifizierung — Unter dem Pseudonym »Soselo« (Seppel) veröffentlicht Stalin im Jahre 1895 Gedichte — Heimliche Lektüre — Er tritt im Jahre 1898 der »Messame Dassy« (Dritte Gruppe) bei — Arbeiterunruhen im Kaukasus — Stalins Lehrzeit als sozialistischer Versammlungs­redner — Seine Ausstoßung aus dem Seminar — Der Makel der Leibeigenschaft 

 

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Vielleicht im Jahr 1875, vielleicht auch ein oder zwei Jahre früher, verließ ein junger Kaukasier, Wissarion Iwanowitsch (Sohn des Iwan) Dshugaschwili, das in der Nähe von Tiflis (der Hauptstadt Georgiens) gelegene Dorf Dido-Lilo, um sich in der kleinen georgischen Landstadt Gori niederzulassen. In Gori betrieb er eine kleine Flickschusterei. 

Wissarion Dshugaschwili war der Sohn georgischer Bauern, die zehn Jahre zuvor noch Leibeigene gewesen waren. Er selbst war als Ackersklave irgendeines georgischen Grundherrn geboren. Wäre er sein ganzes Leben lang in dieser Stellung geblieben, so hätte er nie die Möglichkeit gehabt, sein Heimatdorf zu verlassen und selbständiger Handwerker zu werden. Sicherlich hätte keiner seiner Vorfahren dergleichen tun können. Sie waren an die Scholle gebunden und konnten höchstens aus der Hand des einen Grundherrn in die eines andern übergehen. 

Noch in Wissarions Kindheit konnte man in den georgischen Zeitungen Anzeigen lesen, in denen georgische Grundherrn »500 oder 1000 Morgen Land mit 50 oder 150 Seelen« zum Verkauf anboten oder zu kaufen suchten. Dieser Handel mit Leibeigenen wurde zuweilen mit betrügerischen Methoden geführt. In den Archiven der georgischen Gerichte finden sich Prozeßakten, aus denen sich ergibt, daß eine leibeigene Familie gleichzeitig an mehrere Käufer verschachert wurde. (1)

Man kann sich denken, daß Wissarion gehobenen Mutes war, als er sein Dorf verließ. Die Hoffnung führte ihn auf seinen neuen Weg. Er war ein freier Mann geworden. Als unabhängiger Handwerker gedachte er, sich ein kleines Vermögen zu erarbeiten. In Gori heiratete er ein Mädchen bescheidener Herkunft mit Namen Jekaterina. Sie war die Tochter eines Leibeigenen, Georg Geladse, aus dem Dorfe Gambareuli.

Sie mochte wie so viele Töchter armer Bauern in die Stadt gekommen sein, um als Dienstmädchen in der Familie einer armenischen oder russischen Familie der bürgerlichen Mittelschicht zu arbeiten (Die Mittelklasse im Kaukasus bestand aus Russen, Armeniern oder Juden. Es gab damals noch keine eigentliche georgische Bourgeoisie. Die Georgier waren entweder adlige Grundbesitzer oder Leibeigene).

Als Jekaterina Wissarion Dshugaschwili heiratete, war sie erst fünfzehn Jahre alt. Solch frühe Ehen sind in einem Lande nicht selten, in dem die Menschen unter der beinahe tropischen Sonne ebenso schnell reifen wie die Trauben. Das junge Paar zog in eine ärmliche Wohnung am Stadtrand von Gori, wofür sie monatlich eineinhalb Rubel Miete bezahlten. Das war im Geldwert jener Zeit der Betrag von etwa drei Mark.

Außer der Küche gab es nur noch einen Raum, der nicht größer als vier Quadratmeter war und durch ein kleines Fenster schwach erhellt wurde. Die Tür führte unmittelbar auf einen Hof, von dem, wenn es regnete, Schmutz und Wasser in das Zimmer flossen, da die Wohnung auf gleicher Ebene mit dem Hof lag und es keine Schwelle und keine Stufe gab. Das Zimmer war mit rohen Ziegelsteinen ausgelegt. Ein kleiner Tisch, ein Stuhl, ein Sofa, ein Bretterbett mit einem Strohsack bildete das ganze Mobiliar der Familie Dshugaschwili.2 Dieses Heim der Dshugaschwili ist heute ein Museum, das zahlreiche Touristen anlockt, die in die Gegend kommen. So ist auch Wissarion Dshugaschwilis kleine Werkstatt mit dem alten wackeligen Stuhl, mit seinem Hammer und seinen Leisten, der Nachwelt erhalten geblieben.

In diesem halbdunklen Raum brachte Jekaterina in den Jahren zwischen 1875 und 1878 drei Kinder zur Welt. Alle drei starben bald nach der Geburt. Jekaterina war gerade zwanzig geworden, als sie am 21. Dezember 1879 einem vierten Kind das Leben schenkte.

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Die Laune des Schicksals wollte es, daß dieses Kind zu einem gesunden, lebendigen und eigenwilligen Jungen heran­wuchs. Bei der Taufe erhielt das Kind den Namen Joseph, und der griechisch-orthodoxe Priester des Stadtbezirks, der als Standesbeamter wirkte, trug in seinem Kirchenbuch Joseph Wissarionowitsch Dshugaschwilis Eintritt in diese Welt ein, der unter dem Namen Joseph Stalin später berühmt werden sollte.

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Über seine früheste Jugend ist kaum etwas bekannt. Als er sechs oder sieben Jahre alt war, erkrankte er an Pocken, die Narben auf seinem Gesicht hinterließen. Ein zweites Mal erkrankte er an einer Blutvergiftung, die sich aus einem Geschwür an seiner linken Hand entwickelte. Er erinnerte sich später daran, daß er damals auf den Tod krank war. »Ich weiß nicht, was mich damals am Leben erhielt«, sagte er zu seiner Schwägerin A. S. Allilujewa, »entweder war es meine gesunde Natur oder die Mixtur eines Dorfquacksalbers.«(3) Als er gesund war, hatte er Mühe, den linken Arm im Ellbogengelenk zu beugen. Wegen dieses kleinen Körper­schadens wurde der spätere Oberbefehlshaber der Roten Armee im Jahre 1916 für wehrdienst­untauglich erklärt.

Er wuchs in Schmutz und Armut auf, in die er hineingeboren worden war. Wissarion Dshugaschwili wollte sich in die untere Mittelklasse hinaufarbeiten. Es gelang ihm nicht. Sein Handwerk als Schuhmacher trug ihm nicht genügend ein, um seine kleine Familie ernähren zu können. So hatte seine Frau »Tag und Nacht zu schuften, um den Haushalt führen zu können. Sie arbeitete außerhalb des Hauses als Waschfrau.«4 Sogar die anderthalb Rubel Wohnungsmiete mußte die Frau verdienen. Aus dieser Tatsache wollen einige der Biographen Stalins die Folgerung ziehen, daß Wissarion das bißchen Geld, das er selbst verdiente, in Wodka umsetzte. In den Erinnerungen der Schulgefährten Stalins findet diese Annahme eine gewisse Bestätigung.5 

Der Suff war so etwas wie eine Berufskrankheit der Schuhmacher, und der Ausdruck »blau wie ein Schuhmacher« findet sich in den meisten osteuropäischen Sprachen. Weiter wird erzählt, Wissarion habe seine Frau und sein Kind mißhandelt. »Unverdiente und grausame Schläge machten den Knaben so hart und herzlos, wie es sein Vater war«, berichtet ein Jugendfreund Stalins, Iremaschwili.

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Seine Abwehrhaltung gegen die Lieblosigkeit des Vaters waren Mißtrauen, scharfsinnige Vorsicht, Wendigkeit, Unauf­richtigkeit und Ausdauer. So lehrte ihn das Leben schon früh Eigenschaften — und einige ruses de guerre — die ihm später von großem Nutzen werden sollten.

Dieses Bild eines Trunkenbolds und Rohlings wird vielleicht Wissarion Dshugaschwili doch nicht ganz gerecht. Er muß auch bessere Eigenschaften besessen haben, vor allem eine gewisse Unternehmungslust und Interesse für die größere Welt. Sonst hätte er als Sohn eines Leibeigenen kaum das altgewohnte Leben auf dem Dorfe, das in so festen Bahnen verlief, mit der Ungewißheit eines Lebens in der Stadt vertauscht. In Osteuropa ist die Vorstellung des »Schuhmachers und Philosophen« ebenso sprichwörtlich wie die »des betrunkenen Schuhmachers«. In beiden Bildern spiegeln sich Neigungen dieses Berufes, die oft ineinander übergehen. Von seinem Vater erbte der Sohn wahrscheinlich den Hang zum Grübeln und Sinnieren. Stalin hat uns, vielleicht ohne es zu wollen, den Schlüssel zum Verständnis des inneren Konflikts gegeben, der seinen Vater so verschlossen, bitter und grausam gegenüber der eigenen Familie werden ließ. Als selbständiger Handwerker hatte Wissarion kein Glück.

So verließ er Gori und seine Familie und ging nach Tiflis, um dort als Arbeiter in einer Schuhfabrik eines gewissen Adelchanow sein Brot zu verdienen. Er scheint diese Tätigkeit als eine Erniedrigung empfunden zu haben. Er war ehrgeizig und hätte sein eigener Herr sein wollen. Nun hatte er die Stellung eines Arbeitssklaven auf dem Lande gegen die eines Lohnsklaven in einer Fabrik eingetauscht. Gegen dieses Schicksal kämpfte er an, solange er konnte, auch dann noch, als er den Lebensunterhalt seiner Familie nicht mehr verdienen konnte. Aus diesen inneren Enttäuschungen kamen wahrscheinlich seine Reizbarkeit und seine gewalttätigen Ausbrüche. In einer seiner frühen Schriften erläutert Stalin einen Punkt der marxistischen Theorie an Hand der Erfahrungen, wie sie sein eigener Vater hatte erleben müssen. 

»Man stelle sich einen Schuhmacher vor, der eine winzige Werkstätte besessen hat, aber nicht mit den großen Unternehmern konkurrieren konnte, seine Werkstätte zugemacht und sich, sagen wir, in der Schuhfabrik von Adelchanow in Tiflis verdingt hat.

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Er ist in Adelchanows Fabrik eingetreten, aber nicht, um zu einem ständigen Lohnarbeiter zu werden, sondern um zu Geld zu kommen, sich ein kleines Kapital zusammenzusparen und dann seine Werkstätte wieder aufzumachen. Wie man sieht, sind die Verhältnisse dieses Schuhmachers bereits proletarisch, sein Bewußtsein ist vorläufig aber noch kein proletarisches, sondern ein durch und durch kleinbürgerliches.«6

Es kann keinen Zweifel darüber geben, an welchen Schuhmacher Stalin dachte, als er dieses Beispiel wählte. Die kleine Werk­statt, das Geschäft, das nicht geht, selbst der Name des Arbeitgebers sind Wirklichkeiten aus dem Leben Wissarions.

Was Wissarion innerlich bedrängte und verbog, das war eben der Konflikt zwischen seiner sozialen Stellung und seinen »klein­bürgerlichen« Ambitionen. Es gelang Wissarion nicht, »ein kleines Kapital zur Seite zu legen« und sein eigenes Geschäft wieder zu eröffnen. Er starb in Tiflis im Jahre 1890, als sein Sohn elf Jahre alt war. Wahrscheinlich wurde durch seinen Tod in den äußeren Verhältnissen seiner Familie nicht mehr viel geändert, denn die Witwe hatte schon lange zuvor als Wäscherin den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn selbst verdienen müssen. Das Bild des Toten verwischte sich in Josephs Erinnerungen. Er hat später seinen Vater kaum jemals erwähnt. Die Erinnerung an die »herzlosen Schläge« mag der Grund für die äußerste Zurückhaltung gewesen sein, die Stalin selbst und seine offiziellen Biographen gegenüber Wissarion übten.7

Über Jekaterina Dshugaschwili ist viel mehr bekannt. Es gibt in ihrem Leben wenig, was sie von der Masse der russischen Frauen ihrer Zeit hätte unterscheiden können, von denen ein russischer Dichter sagt:

Das Schicksal hat drei Plagen uns ersonnen,
Die erste macht uns zu der Frau des Sklaven,
Die zweite läßt uns Sklavenmutter werden,
Die dritte ist, daß wir dem Sklaven bis zum Tod gehorchen,
Ja, alle diese fürchterlichen Plagen
Bedrücken jede Frau auf Rußlands Erde.

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Jekaterina besaß die grenzenlose Geduld und Unterwürfigkeit, die die Bauernfrauen Osteuropas kennzeichnen. Sie trug tapfer ihr Los, ohne ihrem Mann zu grollen. All ihre Liebe gehörte dem Knaben, der ihr geblieben war. Sie war eine tief religiöse Natur. In der Kirche fand sie Trost in allen ihren Prüfungen. Sie war des Lesens und Schreibens unkundig. Erst im hohen Alter lernte sie lesen, weil sie sich ihres berühmten Sohnes würdig erweisen wollte. Alle, die sie kannten, sind einig in der Bewunderung für ihre »ruhige, verhaltene Würde, die Menschen eigen wird, die ein langes, hartes Leben gelebt haben, ohne daß die Bitternis dieses Lebens ihnen den Charakter verdorben hat.«

Babuschka Keke (Großmutter Käthe) blieb immer eine einfache Bauersfrau, auch dann, als ihr Sohn zu Ruhm und Ehre emporgestiegen war. Als sie einige Zeit mit ihm im Kreml gewohnt hatte, zog es sie rasch wieder in die ihr vertraute kaukasische Umgebung, und sie kehrte auch zurück. Aber in der ihr eigenen, beinahe komischen, aber doch so rührenden Art, versuchte sie, sich in die Rolle der Mutter eines berühmten Sohnes hineinzuleben. Allilujewa weiß zu erzählen, wie sie einmal in Borshom, dem kaukasischen Badeort, die alte Frau Dshugaschwili traf, trotz der erdrückenden Hitze in feierliches Schwarz gekleidet. Auf die Frage, weshalb sie sich nicht bequemer kleide, antwortete die alte Frau: »Ich muß das tun. Sieh doch, jedermann hier weiß, wer ich bin.«9)

Jekaterina faßte einen schweren und tapferen Entschluß, als sie ihren Sohn, der neun Jahre alt geworden war, in die geistliche Schule in Gori schickte. Es wäre nichts Außergewöhnliches gewesen, wenn der Sohn armer Eltern in diesem Alter zu einer Schuhmacher oder Tischler in die Lehre gekommen wäre. Da war aber nicht die Laufbahn, die Jekaterina für ihren Sohn wünschte, obwohl sie auf diese Weise ihr eigenes Los leichter gestaltet hätte. Sie wollte, daß Soso10 den Erfolg haben möge, der Wissarion versagt geblieben war, und daß er es weiter bringe als seine Eltern. In ihren kühnsten Träumen mochte sie ihn als Dorfpopen gesehen haben, den die Nachbarn respektvoll grüßen. Diese Aussicht war berückend. Es war nur wenige Jahre her, daß die Kirchenschulen den Söhnen bäuerlicher Eltern noch verschlossen waren.

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Fünf Jahre lang, von 1888 bis 1893, ging Soso in Gori in die Schule. In seiner Klasse war er fast immer einer der Besten oder der Beste. Seine Lehrer und seine Klassenkameraden stellten bald fest, daß der arme, pockennarbige Junge ein ganz außer­gewöhnliches Gedächtnis hatte und seine Aufgaben ganz ohne jede Mühe lernte. Sie entdeckten in ihm auch einen Zug zum Selbstbewußtsein, das Bestreben, sich vor den andern hervorzutun, Eigenschaften, die sich um so deutlicher und schärfer entwickelten, als Soso sich darüber klar wurde, daß die meisten seiner Schulkameraden aus sehr viel begüterteren Verhältnissen kamen als er selber und deshalb auf ihn herabsahen

Aber während des Unterrichts war er obenauf. Er konnte seine Aufgaben besser und leichter aufsagen als die verwöhnten Söhne der Wein- und Getreidehändler, und auf dem Schulhof war er so viel beweglicher, kühner und mutiger, daß sie sich von dem Sohne des Schuhmachers leiten und kommandieren ließen. In dieser bescheidenen Kleinstadtschule erfuhr der spätere Stalin zum erstenmal, was Klassenunterschiede und Klassenhaß bedeuten.

Hier gewann er auch die ersten Eindrücke von der Bedeutung einer Frage, die ihn in seinen Mannesjahren besonders beschäftigen sollte. Das war das Problem der nationalen Minderheiten. Dshugaschwilis Muttersprache war Georgisch. Jekaterina sprach nicht Russisch, und es ist mehr als zweifelhaft, ob ihr Mann mehr als ein paar Brocken Russisch verstand. In der Schule wurde der Unterricht in den meisten Fächern in Russisch erteilt. Im Stundenplan der Woche standen nur ganz wenige Stunden Georgisch.

Soso nahm die fremde Sprache mit der Leichtigkeit auf, die allen Kindern dieses Alters eigen ist. Aber außerhalb der Schule und zu Hause sprach er weiter Georgisch. Die Muttersprachen einiger seiner Schulgefährten mögen Armenisch, Türkisch oder irgendwelche kaukasischen Dialekte gewesen sein. Aber in der Schule hatten alle diese Mutterlaute zu schweigen. Russisch nahm den ersten und beherrschenden Platz im Unterricht ein. Diese konsequente und rücksichtslose Russifizierungs­politik der zaristischen Regierung verursachte große Verbitterung. Es kam deshalb vor, daß sogar zehnjährige Jungen Schulstreiks und andere Demonstrationen organisierten, um ihre Muttersprache zu verteidigen. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es in Georgien häufig Unruhen in den Schulen: russische Lehrer wurden überfallen, durchgeprügelt, Schulen in Brand gesteckt.11

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Als Dshugaschwili die Schule in Gori besuchte, ereigneten sich dort keine solchen Zwischenfälle, aber trotzdem muß die Mißstimmung unsichtbar weitergeschwelt haben.

In der Frühzeit seines Lebens spielten für ihn die Natur, Überlieferung, Sitten und Gebräuche seiner Geburtsstadt eine große Rolle. Gori liegt an einer Stelle, wo drei fruchtbare Täler zusammenstoßen, in denen Weizen und Wein angebaut wurden. Die Felsen draußen vor der Stadt, die Ufer der Kura und der beiden andern Flüsse, das Gemäuer einer alten byzantinischen Festung, die Felder zwischen den gewundenen kleinen Gassen der Stadt, die halb Stadt, halb Dorf war, boten dem Jungen Raum für Spiel und Phantasie und Möglichkeiten genug, der Enge des elterlichen Hauses zu entrinnen. So gab die Natur dem Knaben, der in einem elenden Arbeiterhaus zu wohnen verurteilt war, wenigstens einigen Ersatz für diese freudlose Atmosphäre. 

Auf dem Land, draußen vor der Stadt, gab es Tiere, Vögel, Pflanzen und Früchte in Fülle, denn nicht umsonst machte die Sage Georgien zum Land des Goldenen Vließes. In dieser gesunden Umgebung wuchs der Knabe, der später Stalin werden sollte, heran. Das Land war sprichwörtlich voll von Sagen und Märchen. Alexander der Große und Dschingis Khan hatten hier Schlachten geschlagen. In den Schulbüchern standen Geschichten von den Einfällen der Perser und Türken. Volkslieder und Balladen erzählten vom Leben kühner georgischer Räuber. In der Überlieferung lebten sie als volkstümliche Helden weiter. Da gab es georgische Adlige, die gegen die russischen Zaren kämpften, oder Männer, die sich an die Spitze der Leibeigenen gestellt hatten, um Rache zu nehmen für das Volk; alle hatten sie ein großes und weiches Herz für die Armen und Unterdrückten und haßten die Reichen zutiefst. Ihre Schlupfwinkel waren droben in den Bergen, von denen bis spät ins Frühjahr hinein der Schnee leuchtet, oder in den Höhlen der Felsenwände, von denen sie auf die Landstraßen herunterstiegen, um ihren Feinden einen Hinterhalt zu legen und sie zu vernichten. 

Alle diese Erzählungen waren der Wirklichkeit nicht gar so fern. Noch zu Stalins Jugendzeit gab es mehr als genug Räuber in der Gegend von Gori. Ringsum gab es verarmte georgische Adlige, die keinen

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sozialen Halt mehr hatten, geschweige ein regelmäßiges und gesichertes Einkommen, und die in einer Vorstellungswelt von unwirklich gewordenen Adelscliquen und ritterlichen Ehrenhändeln lebten. In diesen Kreisen gab es noch zuweilen bizarre Fehden zwischen zwei Gegnern oder auch mit Fremden, die ihren Stolz verletzt oder sonstwie Anlaß zu Feindschaft gegeben haben mochten. Dann war das ganze Land voll von den Geschichten solcher Händel, dann erzählte man Heldentaten, die nahe an Straßenraub grenzten, die aber doch die Phantasie des romantischen Volkes mächtig bewegten. Diese georgischen Robin Hoods waren für die Jungen, die in den Felsen und Feldern um Gori »Räuber und Gendarm« spielten, Vorbilder, denen sie gern nachgeeifert hätten.

So können diese fünf ersten Schuljahre in Gori für den jungen Dshugaschwili nicht ohne einen kindlich hellen Schein gewesen sein. Aber schon damals wuchs in ihm das Bewußtsein sozialer und nationaler Unterschiede, die aus ihm später den Rebellen und Revolutionär machen sollten. Man kann unmöglich sagen, wie stark dieses Bewußtsein in ihm war. Die amtlichen Sowjet­biographen und die Memoiren­schreiber behaupten, ihr Held habe bereits in Gori Darwin gelesen und sei Atheist geworden. Man mag mit vollem Recht bezweifeln, ob er in so früher Jugend überhaupt in der Lage war, Darwin zu lesen. Es mag aber sein, daß er eine allgemeine Vorstellung über die neue Lehre aus populären Zusammen­fassungen gewann; es mag auch sein, daß er sich gegen die Kirche innerlich ablehnend verhielt. 

Es gibt einen sicheren Beweis für seinen rasch entwickelten, frühreifen Geist: Bereits im Jahre 1895, also ein Jahr nachdem er die Schule in Gori verlassen hatte, veröffentlichte er Gedichte in einer führenden georgischen Zeitschrift. Er muß sich also bereits in Gori im Verseschmieden geübt haben. Seine offiziellen Biographen behaupten sogar, er habe sich bereits dort mit marxistischen Ideen vertraut gemacht. Dies ist durchaus unwahrscheinlich: Es gab damals nur ganz wenige Anhänger des Marxismus in Tiflis, der Hauptstadt Transkaukasiens, und es ist kaum denkbar, daß ihr Einfluß sich bis in die Schule von Gori hinaus ausgewirkt hat.12 Stalins Lobredner waren allzu eifrig bedacht, die marxistisch-leninistische Rechtgläubigkeit ihres Helden bis in dessen frühe Jugend zu projizieren.

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Aus den Ereignissen der folgenden Zeit kann man kaum weitergehende Rückschlüsse ziehen als die, daß Dshugaschwili die Schule in Gori in einer aufrührerischen Stimmung verließ, wobei der Protest gegen die soziale Ungerechtigkeit sich mit einem romantischen georgischen Patriotismus vermischte. Als er die oberen Klassen der Schule in Gori besuchte, war er viel mehr von dem wehmutvollen Nationalismus der georgischen Dichter beeindruckt als durch irgendwelche sozialen Ideen. 

»In den oberen Klassen der Schule von Gori wurden wir zwar mit der georgischen Literatur vertraut gemacht, aber wir hatten keinen Lehrer oder Mentor, der unsere innere Entwicklung beeinflußt und unseren Gedanken Ziel und Richtung gegeben hätte. Tschawtschawadses Gedicht >Der Räuber Kako< machte einen tiefen Eindruck auf uns. Kasbegis Heldengestalten ließen in unsern jungen Herzen die Liebe zur Heimat wach werden, und jeder von uns war, als er die Schule verließ, vom heißen Wunsche erfüllt, dem Vaterland zu dienen. Aber keiner hatte eine klare Vorstellung darüber, wie das zu tun sei.« 

So schildert einer von Stalins Schulkameraden, Wano Kezchoweli, die Eindrücke seiner Schulzeit in Gori.13 Da Dshugaschwili sorgfältig darauf bedacht war, seine rebellischen Gefühle vor seinen Lehrern zu verheimlichen, betrachteten sie ihn als einen Musterschüler und halfen ihm, den nächsten Schritt in seiner Laufbahn zu tun.

Im Herbst des Jahres 1894 trat er in das theologische Seminar in Tiflis ein. Der Traum der Mutter schien sich erfüllen zu wollen. Da die arme Wäscherin keinen Beitrag zu den Unterhalts- und Erziehungskosten im Seminar leisten konnte, verschafften ihm der Rektor der Schule in Gori und der Pope der Gemeinde ein Stipendium. Für den so vielversprechenden Knaben muß die Aussicht, die sich jetzt vor ihm eröffnete, ein mächtiger Ansporn gewesen sein. Schon die Übersiedlung von dem kleinen verträumten Landstädtchen in die bewegte und lärmende Hauptstadt des Kaukasus war ein großes Erlebnis. Im Alter von fünfzehn Jahren war er reif genug, um die Vorteile seiner neuen Stellung zu begreifen, die noch vor nicht gar so langer Zeit für Bauernsöhne gänzlich unerreichbar gewesen wäre.

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Man kann sich denken, in welch freudiger Erwartung er die sechzig Kilometer nach Tiflis zurücklegte und wie sehr ihn das Bewußtsein seines sozialen Erfolgs beglückt haben mußte, der doch so viel wirklicher war als der, der vor rund 20 Jahren seinen Vater zur Reise von Dido-Lilo nach Gori verleitet hatte.

Sein Aufenthalt im theologischen Seminar in Tiflis dauerte vom Oktober 1894 bis zum Mai 1899. Für seine geistige Entwicklung waren dies die entscheidenden Jahre. Welches waren die Einflüsse, die dort auf ihn wirkten?

Im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Gesellschaft Georgiens durch zwei Probleme bewegt: durch die georgisch-russischen Beziehungen und durch die Folgen der Aufhebung der Leibeigenschaft im Kaukasus.

Das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch war die Zarenregierung mit der Eroberung des Kaukasus und mit der Sicherung der eroberten Gebiete beschäftigt gewesen. Georgien, das seit 1783 zu Rußland in einem Vasallenverhältnis gestanden hatte, verlor Anfang des 19. Jahrhunderts seine Unabhängigkeit endgültig. Das Los der Georgier ähnelte in mancher Hinsicht dem der Polen. Aber im Gegensatz zu den Polen, die in jeder Generation einmal zu den Waffen griffen, um für ihre Freiheit zu kämpfen, machten die Georgier niemals einen ernstlichen Versuch zur Abschüttelung der russischen Vorherrschaft. In Georgien verband sich die allgemeine Abneigung gegen die Russen mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber nationalen Ansprüchen. Ihre Beschwerden gegen Rußland waren durch das Bewußtsein gedämpft, daß Georgien nicht mehr als unabhängiger Staat bestehen konnte und daß von allen Mächten, die sich etwa Georgien einverleiben würden, Rußland am wenigsten zu fürchten sei. Die letzten georgischen Könige hatten sich den Russen unterworfen, als Gefahr drohte, das Land könnte von den Türken oder Persern erobert werden. Dieser Entschluß wurde durch religiöse Erwägungen bestimmt. Georgien gehörte ebenso zur griechisch-orthodoxen Kirche wie Rußland.14

In den Augen der Russen war der Kaukasus ein Aufmarschgebiet und Waffenplatz gegen die Türken, der strategisch nur noch durch die Donaufürstentümer übertroffen wurde. Rußland baute die große Militärstraße und später das Netz der georgischen Eisenbahnen, durch das auch die industrielle Entwicklung dieser Provinz einen mächtigen Auftrieb erhielt. Dies war die Seite, die in dem Bild der russischen Herrschaft versöhnend wirkte.

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Anders stand es mit dem kulturellen Einfluß, den Rußland in Georgien ausübte. Die Georgier rühmten sich zwar einer alten Kultur, die viel älter ist als die der Russen, aber trotzdem bot diese georgische Kultur immer noch das Bild einer orientalischen, halb auf Stammesgrundlagen und halb auf feudalen Elementen beruhenden Gemeinschaft. Für Georgien war Rußland gleichbedeutend mit Europa. »Unter den Einflüssen der westeuropäischen und besonders der russischen Zivilisation drangen europäische Sitten und Gebräuche in das Leben der oberen Klassen Georgiens ein«, schreibt der Historiker Chatschapuridse.15

Die Politik der Zaren war voller Widersprüche. Auf der einen Seite waren sie darauf bedacht, Georgien zu russifizieren. Auf der andern Seite wollten sie sich auf die Loyalität des georgischen Adels und der georgischen Geistlichkeit verlassen können. Die letzten Angehörigen der georgischen Fürstenfamilien wurden nach Zentralrußland oder nach Sibirien deportiert, aber die Söhne der deportierten Fürsten durften für ihr Volk wertvolle kulturelle Arbeit leisten, allerdings nur von St. Petersburg aus. Einige von ihnen, wie die Brüder Bagration, wurden so die Sprecher der georgischen Aufklärung. Sie übersetzten zahlreiche Werke der europäischen Literatur ins Georgische und machten die russische Gesellschaft mit georgischer Literatur und Geschichte bekannt. Zar Nikolaus I. machte sogar Teimuraz Bagration zum Ehrenmitglied der Kaiserlich Russischen Akademie.

Mit diesen Einflüssen fanden allerdings auch revolutionäre Ideen ihren Weg in den Kaukasus. Der Mann, der dem Zaren die Provinz eroberte, war General Jermolow, der Held der Schlacht von Borodino im Jahre 1812. Dieser »Prokonsul des Kaukasus« hatte Neigungen für die Dekabristen, die im Dezember 1825 in St. Petersburg einen liberalen Aufstand versuchten. Der General­gouverneur des Kaukasus gewährte einigen berühmten Schriftstellern Unterschlupf, die sich mit den Aufständischen eingelassen hatten. So kam Puschkin in den Kaukasus und Gribojedow, den der Generalgouverneur zu seinem Minister und politischen Berater machte, ferner Bestushew (Marlinski) und andere.

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Ein Regiment, das sich am Aufstand beteiligt hatte, wurde geschlossen in den Kaukasus deportiert. In diesem Regiment dienten viele Offiziere, die der Intelligenz des Landes angehörten und wegen ihrer politischen Haltung zu Gemeinen degradiert worden waren. Die Deportierten traten mit den wenigen gebildeten Georgiern, die es damals gab, in Verbindung und übten einen starken Einfluß auf sie aus. Sie sympathisierten begreiflicherweise mit dem georgischen Nationalismus und Patriotismus und, da sie in diesen Dingen bereits fortschrittlicher dachten als ihre georgischen Freunde, forderten sie auch die Befreiung der Leibeigenen in Georgien.

Dieser frühe Kontakt bereitete den Boden für einen fortdauernden Zustrom liberaler und revolutionärer Ideen aus Rußland vor. Die Zaren selbst leisteten zu dieser Entwicklung, allerdings ohne es zu wollen, einen großen Beitrag, indem sie häufig politische Sträflinge in den Kaukasus deportieren ließen. In jeder Generation erschienen so in der Provinz neue russische Revolutionäre und neue revolutionäre Ideen. Das gilt für Tiflis, für Kutais und für viele andere Plätze des Landes. 

Auf die militärischen Rebellen und die Schriftsteller des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts folgten die Narodniki, Agrar­sozialisten, die sich aus den Reihen der russischen Aristokratie und der Beamtenschaft rekrutierten. Dann kamen polnische Aufständische und russische Terroristen, bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein ganz neuer revolutionärer Typus erschien, nämlich marxistische Fabrikarbeiter, die aus Zentralrußland verbannt wurden. Unter ihnen befand sich Michael Kalinin, der spätere Präsident der Sowjetunion, und Sergius Allilujew, ein bolschewistischer Organisator, der später Stalins Schwieger­vater wurde.

Während die russische Opposition in dieser Weise ihre fortschrittlichsten Ideen in den Kaukasus exportierte, taten die Zaren ihr Möglichstes, um die soziale Struktur des Landes so rückständig zu erhalten, wie dies mit ihren strategischen Bedürfnissen gerade noch vereinbar war. In Rußland wurde die Leibeigenschaft im Jahre 1861 abgeschafft. Die Emanzipation der georgischen Bauern wurde bis in die Jahre 1864 bis 1869 und sogar noch länger hinausgezögert; es gab sogar bis zum Jahr 1912 eine versteckte Form der Leibeigenschaft unter der Bezeichnung »zeitliches Dienstverhältnis«.

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Die russische Verwaltung, die vor allem darauf bedacht war, sich der Mitarbeit des georgischen Adels zu versichern, verschob die nötigen Reformen immer wieder. Sie ließ sich nur dann zu Teilzugeständnissen herbei, wenn Nachrichten über die Bauernbefreiung in Rußland ihren Weg in die fernen Gebiete des Kaukasus fanden. Die Leibeigenen waren in rebellischer Stimmung. Nach den vielfachen Erfahrungen, die man in Georgien mit Bauernrevolten gemacht hatte, erschien es immerhin reichlich gefährlich, die Reform noch länger hinaus­zuschieben.16) 

Aber in Georgien war die Reform für die Großgrundbesitzer viel vorteilhafter als in Rußland. Die Leibeigenen erhielten zwar ihre persönliche Freiheit, aber die Hälfte des Landes, das sie als Leibeigene bebaut hatten, wurde ihnen genommen. Sie hatten für die Übertragung der anderen Hälfte Entschädigungen zu leisten, die sie nicht aufbringen konnten. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Bauern von ihren Grundherren drückte sich jetzt darin aus, daß sie sich als Landarbeiter verdingten, wie das auch im Süden der USA nach der Aufhebung der Sklaverei in Amerika üblich war, oder auch Verträge über »zeitliche Dienstleistungen« mit den früheren Herren abschließen mußten. 

Noch im Jahr 1911 schrieb eine Behörde, der man gewiß keine zarenfeindliche Haltung nachsagen kann: »In Rußland wird die Leibeigenschaft heute wie ein Gespenst angesehen, das lange schon der Geschichte angehört. Aber in Transkaukasien, vor allem in Georgien, ist bis jetzt kein Gesetz ergangen, das dem System der >zeitlichen Dienstleistungen< einen Riegel vorschiebt. Die wirtschaftliche Abhängigkeit unserer Bauern ist in den letzten fünfzig Jahren immer größer geworden und hat allmählich die Form einer neuen Art von Leibeigenschaft angenommen.«17

So lastete die Leibeigenschaft auf der ganzen Atmosphäre, die den jungen Dshugaschwili umgab. Dies galt nicht nur für die unmittelbar betroffenen Bauern, sondern für fast alle menschlichen Beziehungen im weitesten Sinne, für die Familie, die Kirche und die Schule, für die ganze seelische Haltung und die Art des Lebens überhaupt.18

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Bis zu einem gewissen Grad traf dies natürlich auf das ganze Zarenreich zu. Lenin, der einmal die Bauernbefreiung in Rußland mit der Sklavenbefreiung in Amerika verglich, wies daraufhin, daß die Bauernbefreiung sehr viel weniger durchgreifend war als die Sklavenbefreiung in den Vereinigten Staaten. »Aus diesem Grunde«, sagte Lenin, »tragen die Russen heute, nach einem halben Jahrhundert, immer noch viel mehr Züge des Sklaven an sich als die amerikanischen Neger.«19

Mit dieser bitteren Bemerkung übertrieb Lenin ohne Zweifel, und das war bezeichnend für den revolutionären Propagandisten, der es nicht erwarten konnte, bis die russische Gesellschaft die letzten Spuren ihrer feudalistischen Vergangenheit abgeschüttelt haben würde. Aber wenn diese Bemerkung für die Russen nicht ganz zutraf, so paßte sie um so mehr auf die Kaukasier. Hier zeigte die Gesellschafts­ordnung nur zu viele und zu frische »Narben der Sklaverei«.

Die unverhüllte Abhängigkeit des Menschen vom Menschen, eine rücksichtslose und unverschleierte soziale Klassenschichtung, primitive Formen der Gewaltanwendung und der Mangel an Achtung vor der Würde des Menschen waren für das Leben im Kaukasus kennzeichnend, wie es sich aus der Leibeigenschaft heraus entwickelt hatte. Heuchelei, Enttäuschung und Gewalt waren die einzigen Schutzmittel der Unterdrückten, die in geistigem Dunkel gehalten wurden und im allgemeinen gar nicht in der Lage waren, sich durch offene und organisierte Aktionen zur Wehr zu setzen.

 

Das Priesterseminar in Tiflis war eine merkwürdige Einrichtung. Es war nicht die einzige, aber immerhin die wichtigste höhere Schule in Georgien und darüber hinaus im ganzen Kaukasus. Es war die Stelle, an der sich die Intelligenz der ganzen Gegend bildete und formte. Es war aber zugleich eine Art Schutzgebiet für Ideen und Verhältnisse, die der Zeit der Leibeigenschaft angehörten. Hier drangen fortschrittliche, soziale und politische Ideen auf direktestem Wege ein und stießen dabei mit einer feudalen und kirchlichen Geisteshaltung zusammen.

Von außen gesehen glich das Seminar einer Kaserne. Das Leben der Seminaristen wurde durch strenge Mönche nach beinahe kasernenmäßigen Methoden scharf reglementiert. Sobald sich einmal die Tore hinter dem Neuankömmling geschlossen hatten, wurde erwartet, daß er sich innerlich und äußerlich von der Welt löste.

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Die Seminaristen mußten sich bei Tag und Nacht im Seminar aufhalten, obwohl man über ein Gesuch an den Mönch, der die betreffende Klasse leitete, eine zweistündige Ausgangserlaubnis erhalten konnte. 

Die Tagesarbeit bestand aus Unterrichtsstunden über scholastische Theologie und aus endlosen Gebetsübungen. Die Söhne armer Familien mußten ein Hungerleben führen. Zwanzig bis dreißig Schüler waren in einem einzigen Schlafraum zusammengepfercht. In geistiger Hinsicht war das Seminar zur Hälfte ein Kloster, zur Hälfte eine Kaserne. »Das Leben in der Schule war eintönig und düster«, berichtete ein ehemaliger Seminarist. 

»Tag und Nacht von Kasernenwänden umgeben, fühlten wir uns wie unschuldig zu jahrelanger Haft Verurteilte. Wir waren alle verdrossen und vergrämt. Die Mauerwände, die uns von der Außenwelt abschlossen, erstickten alle jugend­liche Fröhlichkeit. Wenn unser junges Temperament dennoch manchmal durchbrach, dämpften es die Mönche und Aufpasser sofort.«20

Die Studenten durften keine Bücher in öffentlichen Bibliotheken ausleihen. Sie durften nur solche Bücher lesen, die von den Mönchen genehmigt waren. Das Seminar war natürlich auch ein Werkzeug der amtlichen Russifizierungspolitik. Alle Verstöße gegen die Vorschriften wurden mit Zellenhaft bestraft. Die Mönche spionierten sorgfältig die Gedanken und Handlungen ihrer Schützlinge aus, stöberten in ihren Sachen herum, horchten an den Türen und machten auf den leisesten Verdacht hin eine Anzeige beim Rektor.

Und trotzdem war dieses freudlose Seminar ein wichtiges Zentrum der politischen Opposition. Viele der Männer, die später nicht nur in Georgien, sondern in Rußland überhaupt, im öffentlichen Leben eine Rolle spielen und Führer der öffentlichen Meinung des Volkes werden sollten, haben ihre Werdejahre hinter diesen grauen Mauern in Tiflis verbracht. Im Jahr 1930 veröffentlichte die Historische Fakultät der Transkaukasischen Kommunistischen Universität die Archive und Akten der Gendarmeriestation Tiflis mit zahlreichen Berichten über Kundgebungen »politischer Widerspenstigkeit« im Seminar. Diese Polizeiberichte, die sich über eine Zeit von zwanzig Jahren erstrecken, nämlich von 1873 bis zu der Zeit, als Dshugaschwili aufgenommen wurde, geben ein klares Bild der Ideen, die damals unter den Seminaristen gärten.21

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Bereits im Jahre 1873 meldete ein Oberst der Gendarmerie seinen Vorgesetzten, man habe Briefe aus dem Seminar aufgefangen, aus denen sich ergebe, daß einige Seminaristen die Werke von Darwin, Buckle, Mill und Tschernyschewski gelesen hätten. Eine Untersuchung wurde angeordnet. Dabei fand man zwei weitere »aufrührerische« Bücher, nämlich das »Leben Jesu« von Renan und Victor Hugos »Napoleon le Petit«. Es wurde festgestellt, daß drei Lehrer ihre Schüler »in liberalem Geiste« unterrichteten. Sie wurden wegen dieses Verbrechens durch den Anstaltsvorsteher entlassen und der Gendarmerie angezeigt. Einige der Beschuldigten wurden gerichtlich bestraft, zum Teil, weil sie von den Verstößen Kenntnis gehabt und es unterlassen hatten, die Vorgänge zu melden.22 In dem Bericht wird besonders betont, daß die Beschuldigten sich von Gefühlen eines georgischen Patriotismus leiten ließen.

Im Juni 1886 schuf sich diese Spannung in einem dramatischen Ereignis Luft, als ein Seminarist namens Joseph Lagijew, der wegen antirussischer Haltung aus dem Seminar verwiesen worden war, den Rektor Pawel Tschudezki ermordete. Der Mörder war der Sohn eines Popen in einem Dorfe nahe bei Gori. Der Chef der Gendarmerie in Tiflis berichtet hierüber folgendes: 

»Mit russischen Priesterseminarien verglichen, ist die Lage im Tifliser Seminar höchst unbefriedigend. Die Seminaristen zeigen oft eine antireligiöse Haltung und sind antirussisch eingestellt. Es ist häufig ganz unmöglich, solche Zöglinge wegen der großen Reizbarkeit und der krankhaften Eigenliebe der Landesbewohner auf einen anderen Weg zu bringen.«23 

In dem Bericht wird weiter ausgeführt, daß einige georgische Zeitungen, die gerade verboten worden waren, die öffentliche Meinung gegen Rußland aufgeputscht und sich bemüht hatten, aus dem Seminar einen Stützpunkt des georgischen Patriotismus zu machen. Das Seminar wurde für mehrere Monate geschlossen. Bei diesen Vorfällen spielte Seine Eminenz, der Exarch von Georgien, Paul, eine merkwürdige Rolle. Er machte den Gendarmerie­kommandanten darauf aufmerksam, daß das Attentat nicht das Werk einer Einzelperson, sondern von einer Geheimorganisation vorbereitet worden sei.

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Er erwähnte dabei den Namen eines gewissen Sylvester Dshibladse, der ein Jahr zuvor den Seminar­vorsteher angegriffen habe. Dieser Zögling sei vor allem verdächtig. Dshibladse wurde einer der Gründer der sozial­demokratischen Organisation und der Mann, der in politischer Hinsicht auf Dshugaschwili den größten Einfluß ausüben sollte. Unter den Studenten, die im Jahre 1886 aus dem Seminar verwiesen wurden, befand sich auch Michael Zchakaja, Sohn eines Popen und später einer der Freunde Lenins, Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei und Vorsitzender des georgischen Sowjets.

Wenige Monate vor dem Eintritt Dshugaschwilis in das Seminar traten alle georgischen Schüler des Seminars in einen Schulstreik. Am 4. Dezember 1893 telegraphierte der Chef der Gendarmerie in Tiflis, General Jankowski, nach St. Petersburg: »Die Mehrheit der Schüler des orthodoxen Seminars ist in den Streik getreten. Sie fordern die Abberufung einiger ihrer Lehrer und die Schaffung eines Lehrstuhls für georgische Literatur.«24 

Der Exarch von Georgien verhandelte einen ganzen Tag lang mit den Seminaristen, ohne daß es ihm gelang, sie von ihrem Streikbeschluß abzubringen. Der Vorsteher des Seminars rief die Polizei zu Hilfe. Diese schloß das Seminar und schickte die Zöglinge nach Hause. Aber der Polizeichef mußte mit einigem Unbehagen in seinem Bericht über den Vorfall zugeben, »daß man in Tiflis, besonders in den gebildeten Kreisen, die Schließung des Seminars als eine Ungerechtigkeit gegen die Seminaristen ansehe, die nichts getan hätten als die nationalen Interessen aus dem Geiste heraus zu verteidigen, der sie nun einmal erfülle«. Als die Studenten die Schule verließen, leisteten sie einen Eid der Solidarität. 87 von ihnen wurden vor Abschluß des Schuljahrs aus dem Seminar ausgestoßen. Wiederum taucht der Name von Michael Zchakaja als Hauptorganisator der Revolte auf. Unter den Relegierten befand sich auch Lado Kezchoweli, ein früherer Schüler der Schule in Gori. Er war nur drei Jahre älter als Dshugaschwili und sollte bald dessen politischer Mentor werden.25 

In keinem dieser Polizeiberichte ist von sozialistischer Propaganda die Rede. Das Hauptmotiv der Kundgebung war beleidigter georgischer Patriotismus.

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Als Dshugaschwili, fünfzehn Jahre alt, in das Seminar eintrat, mußte die Nachwirkung dieses letzten Schulstreiks noch sehr frisch gewesen sein. Die Seminaristen werden über das Ereignis gesprochen und sich über die Ausweisung der 87 Schüler ihr Urteil gebildet haben. Der neu eingetretene Zögling wird mit der Forderung, daß georgische Literatur als Lehrfach eingeführt werde, sicherlich sympathisiert haben. So war er von Anfang an von der politischen Gärung im Seminar beeinflußt. Aber wie in Gori, so verstand er es auch hier, seine wirklichen Gefühle vor seinen Lehrern zu verbergen. 

Er galt auch hier als begabter, fleißiger und aufmerksamer Musterschüler. Sicherlich beobachtete er seine neue Umgebung mit gespannter Aufmerksamkeit. Der Rektor war ein russischer Mönch mit Namen Hermogenes. Der Inspektor war ein Georgier namens Abaschidse, der, eben weil er Georgier war, sich durch übertriebene Dienstbeflissenheit und Unterwürfigkeit bei den russischen Behörden beliebt machen wollte. So konnte hier der junge Dshugaschwili in einem kleinen Rahmen die Wirkung einer autokratischen und totalitären Regierung kennenlernen.

Die Leiter und Lehrer des Seminars lebten in Furcht und gespannter Unruhe. Dem russischen Rektor stand sein ermordeter Vorgänger vor Augen. Der georgische Inspektor zitterte und bebte bei dem geringsten Zeichen der Unzufriedenheit auf Seiten seiner Vorgesetzten und bei dem Gedanken, daß in den Ecken der langen und dunklen Korridore und in den Schlafsälen der Seminaristen neue Komplotte ausgeheckt werden könnten. Aber je schärfer die Mönche auf ihre Zöglinge aufpaßten, je eifriger sie an den Wänden und Türen horchten, je häufiger sie in den Mänteln und Koffern der Seminaristen nach verbotenen Büchern suchten, desto mehr breitete »ich der Widerstand in den grauen Klostermauern aus. Die Seminaristen, die man relegiert hatte, gewannen in den Augen der jüngeren Schüler ein hohes moralisches Ansehen, und es gelang ihnen auch, mit ihren bisherigen Kameraden einigermaßen in Verbindung zu bleiben und somit ihren Einfluß innerhalb dieser kirchlichen Festung weiter geltend zu machen.

Schon während seines ersten Schuljahrs im Seminar muß Dshugaschwili öfters heimlich in die Stadt entwischt sein, um dort mit Mitgliedern der Opposition Fühlung aufzunehmen.

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Diese Annahme wird dadurch gestützt, daß die georgische Zeitschrift »Iberija«, die von dem liberalen Patrioten Ilja Tschawtschawadse herausgegeben wurde, am 29. Oktober 1895, fast genau ein Jahr nach Dshugaschwilis Ankunft in Tiflis, ein Gedicht aus dessen Feder veröffentlichte. Diese Verse, die auf einen patriotischen Ton abgestimmt sind, aber bereits auch die Farben eines radikalen Sozialismus tragen, sind dem bekannten georgischen Dichter R. Eristavi gewidmet. Das Gedicht erschien unter dem Verfassernamen »Soselo« (Seppel). Es ist verständlich, daß der Verfasser nicht sehr daran interessiert sein konnte, daß er als der Autor eines solchen Gedichtes den Leitern des Seminars bekannt wurde.26 

Er verstieß auch sonst gegen die Seminarordnung, denn er lieh sich Bücher aus einer Wanderbibliothek in der Stadt. Abgesehen von georgischer Dichtkunst waren die Meisterwerke der russischen und europäischen Literatur seine Lieblingslektüre. Vor allem erfreute er sich an den drei großen satirischen Dichtern Rußlands, an Saltykow-Schtschedrin, Gogol und Tschechow. Den letzteren hat er später in seinen Reden und Schriften gerne zitiert. Unter den ausländischen Werken, die er in russischer Übersetzung las, finden wir die Romane Victor Hugos und Thackerays »Jahrmarkt der Eitelkeit«. Von größerer Bedeutung für seine geistige Entwicklung waren populäre Darstellungen der Biologie Darwins, ferner Werke wirtschaftlichen und soziologischen Inhalts. Zu jener Zeit übten positivistische und materialistische Vorstellungen über die Natur und die menschliche Gesellschaft einen großen Einfluß auf die jungen Liberalen und Sozialisten aus.

Fast alle Memoirenschreiber, mögen sie Stalin freundlich oder feindlich gesonnen sein, teilen den Eindruck, den G. Glurdjidse, einer seiner Schulkameraden, der noch um 1930 als Lehrer in Gori wirkte, von ihm hatte.

»Manchmal lasen wir in der Kapelle während des Gottesdienstes, wobei wir die Bücher unter dem Gebetpult verbargen. Wir mußten natürlich furchtbar vorsichtig sein, um nicht von unseren Lehrern erwischt zu werden. Joseph war nicht zu trennen von seinen Büchern; er konnte nicht einmal bei Tisch ohne sie sein (...). Wenn man ihn etwas fragte, so pflegte er sich Zeit zu lassen, ehe er antwortete (...). Eines unserer wenigen Vergnügen in der unerträglich stickigen Atmosphäre des Klosters war gemeinsamer Gesang. Es machte uns immer besondere Freude, wenn Soso einen improvisierten Chor dirigierte und in seiner hellen und angenehmen Stimme unsere geliebten Volkslieder anstimmte.«27)

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Ein anderer Schriftsteller, Iremaschwili, weiß jedoch von einem weniger sympathischen Charakterzug des jungen Dshugaschwili zu erzählen. Auch er schildert ihn als eine Hauptperson in den Debatten der Seminaristen, der mehr Wissen besaß als die meisten seiner Kameraden und seine Argumente auch mit mehr Beharrlichkeit und mit größerem polemischen Geschick vorzubringen wußte. Aber der junge Dshugaschwili, der von einem so starken Geltungsbedürfnis getragen war, konnte es nicht verschmerzen, wenn er von einem andern Seminaristen in den Schatten gestellt wurde. Er verlor seine gute Laune, wenn seine Argumente auf wirksamen Widerspruch stießen.

Wenn er sich bei solchen Debatten nicht durchzusetzen wußte, war er beleidigt, mißgelaunt und machte nicht mehr mit. Einige seiner Klassenkameraden wollen sich daran erinnern, daß er zuweilen einen tiefen Groll gegen einen erfolgreichen Opponenten behielt und daß er sich dadurch zu rächen suchte, indem er über den Betreffenden unfreundliche oder abträgliche Gerüchte in Umlauf setzte. Ein solches Verhalten ist vielleicht bei jungen Menschen dieses Alters nichts Außergewöhnliches. Immerhin, es machte den jungen Stalin zu einem schwierigen Kameraden.

Erst zu Beginn des dritten Jahres seines Aufenthalts im Seminar kamen die Mönche dahinter, daß ihr so vielversprechender Schüler auf Abwege geraten war. Im Jahre 1896 machte ein Lehrer folgenden Eintrag in das Klassenbuch: 

»Es scheint, daß Dshugaschwili ein Abonnement bei der Leihbücherei hat, von der er Bücher ausborgt. Heute beschlagnahmte ich bei ihm Victor Hugos <Die Sklaven der Seefahrt>, in dem sich auch das erwähnte Abonnement befand.« 

Der Rektor nahm von der Meldung Kenntnis und verfügte: »Man sperre ihn zur Strafe für längere Zeit in die Zelle. Ich habe ihn schon einmal verwarnt, weil ich ein verbotenes Buch bei ihm fand. Es war <Das Jahr Dreiundneunzig> von Victor Hugo.«28) 

Man muß in der Tat zugeben, daß Victor Hugos berühmter Revolutionsroman nicht gerade das geeignetste Schulbuch war, um einen Seminaristen auf seinen Priesterberuf vorzubereiten.

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Klassenbucheintragungen dieser Art finden sich von dieser Zeit ab immer häufiger. Zum Beispiel: 

»Um 11 Uhr abends nahm ich Dshugaschwili das Buch von Letourneau <Die literarische Evolution der Völker> ab, das er sich in der Leihbücherei ausgeborgt hatte. Ich überraschte Dshugaschwili, als er das Buch auf der Treppe der Kapelle las. Dies ist jetzt das dreizehnte Mal, daß dieser Seminarist des Lesens von Büchern überführt wird, die er sich in der Leihbücherei beschafft. Ich habe das Buch dem Pater Superintendent übergeben.« 

Diese Eintragung stammt vom März 1897, nur vier Monate nach der ersten Rüge. Der Rektor befahl: »Ist für längere Zeit in die Zelle zu sperren, außerdem ist ihm eine letzte Warnung zu erteilen.«29 

Die Rügen lassen nicht erkennen, daß bei Dshugaschwili sozialistische oder marxistische Bücher gefunden worden wären. Aber nach den Erinnerungen seiner Zeitgenossen und nach seinem eigenen Verhalten in der folgenden Zeit zu schließen, muß er in den Oberklassen des Seminars die erste Bekanntschaft mit sozialistischen und marxistischen Ideen gemacht haben. Damals wurde er auch Mitglied eines geheimen Debattierklubs im Seminar und einer geheimen sozialistischen Organisation, die in Tiflis unter der Bezeichnung Messame Dassy bestand. Diesem letzteren Klub trat er im August 1898 bei.30)

Es war offenbar zu gefährlich, sozialistische Bücher ins Seminar zu bringen. Sie wären auch nicht ohne weiteres erhältlich gewesen. Jaroslawski weiß zu berichten, daß damals in ganz Tiflis nur ein einziges Exemplar einer russischen Übersetzung von Karl Marx' »Das Kapital« vorhanden war. Die jungen Sozialisten schrieben daraus einzelne Abschnitte mit der Hand ab. Man darf annehmen, daß Dshugaschwili damals Bücher und Flugschriften sozialistischer Schriftsteller in den wenigen Stunden, die er außerhalb des Seminars verbringen konnte, zu lesen oder vorzulesen Gelegenheit fand.

Die Organisation Messame Dassy, der er als fast Neunzehnjähriger beitrat, war im Jahre 1893 gegründet worden. Sie war eine der ersten sozialistischen Gruppen in Tiflis, obwohl sie nach außen hin ausgeprägt georgisch-patriotische Züge zur Schau trug. Messame Dassy bedeutet »Die dritte Gruppe« zum Unterschied von Meori Dassy (Die zweite Gruppe). Die letztere war eine fortschrittliche liberale Organisation, die in den achtziger Jahren die Intelligenz Georgiens zusammengeführt hatte.31

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Unter den Gründern von Messame Dassy befanden sich Noah Jordania, K. Tschcheidse und G. Zeretelli, die sich bald weit über die Grenzen Georgiens hinaus als die Wortführer eines gemäßigten Sozialismus einen Namen machten. Eines der tätigsten Mitglieder dieses Klubs war Sylvester Dshibladse, derselbe, der aus dem Seminar ausgestoßen worden war, weil er sich zu Tätlichkeiten gegen den Rektor hatte hinreißen lassen. Die Führer der Messame Dassy vertraten ihre Ansichten in den Spalten der liberalen Zeitschrift »Kwali« (Die Furche).

Dshugaschwili erzählte später, weshalb er zum Sozialismus kam. »Ich wurde Marxist wegen meiner sozialen Stellung. Mein Vater war Arbeiter in einer Schuhfabrik, und auch meine Mutter war Arbeiterin. Ich wurde in diese Richtung vor allem aber auch durch die harte Unduldsamkeit und durch die jesuitische Disziplin getrieben, die im Seminar so erbarmungslos auf mir lasteten. Die Atmosphäre, in der ich dort lebte, war bis zum Bersten geladen mit Haß gegen die zaristische Tyrannei und Unterdrückung.«

Die letzten und entscheidenden Anstöße kamen freilich von außen. In jenen Jahren gab es Unruhen und Streiks unter der Arbeiterschaft von Tiflis. Das waren die ersten Streiks in der Hauptstadt des Kaukasus. Wir können uns heute kaum mehr ein Bild von der Wirkung machen, die diese Vorfälle auf die Arbeiterklasse und die radikale Intelligenz ausübten. In späteren Jahren waren Streiks eine mehr oder weniger gewöhnliche Erscheinung. Je häufiger sie sich wiederholten, desto mehr verloren sie ihre aufreizende Macht. Aber in den ersten Streiks enthüllte sich ganz unerwartet die Kraft, die in der Arbeiterbewegung steckte. Sie waren eine neue Waffe im sozialen Kampf und, wie es bei neuen Waffen meistens der Fall ist, erweckten sie übertriebene Hoffnungen oder Befürchtungen. Herrscher und Beherrschte sahen in ihnen das Vorzeichen großer Ereignisse und dramatischer Veränderungen. Soweit es sich um Rußland handelte, sollte diese Voraussicht nicht trügen.

Tiflis bot damals das Bild einer sozialen Revolution im kleinen Rahmen. In dem Leben der Stadt spiegelte sich die frische Wirkung des industriellen Kapitalismus auf den orientalischen, feudalen und in Stammes­traditionen befangenen Kaukasus wider.

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 »Das Land, das in den Jahren nach der Reform nur spärlich besiedelt und von Hochlandbauern bewohnt war, stand bisher ganz abseits von der Entwicklung der Weltwirtschaft, sogar abseits von der Geschichte. Jetzt wurde es, fast von heute auf morgen, in ein Land der Ölindustriellen, der Weinhändler, der Getreide- und Tabakaufkäufer verwandelt.« So beschrieb der damals noch unbekannte Lenin den Zustand des Landes um die Jahrhundertwende. Die Ölfelder von Baku und Batum (nur Ölhafen) wurden mit Hilfe englischen und französischen Kapitals entwickelt. Zu den Industriezweigen, die Lenin aufführt, kamen bald noch die reichen Mangangruben von Tschiaturi. Im Jahr 1886/87 betrug der Gesamtwert der industriellen Produktion in den beiden georgischen Provinzen Tiflis und Kutai's nur zehn Millionen Rubel. In vier Jahren hatte sich dieser Wert mehr als verdreifacht. 1891/92 betrug er bereits 32 Millionen Rubel.32

Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der in der Industrie beschäftigten Arbeiter von 12.000 auf 23.000, das Eisenbahnpersonal nicht inbegriffen. Tiflis war der Hauptknotenpunkt der transkaukasischen Eisenbahn zwischen der Küste des Kaspischen Meeres und  des Schwarzen Meeres, die also Baku mit Batum verbindet. Die Eisenbahnwerkstätten wurden zum wichtigsten Industriezweig in Tiflis, zugleich aber auch das wichtigste Nervenzentrum der heimlichen Arbeiterbewegung im Kaukasus, die sich eben jetzt zu bilden begann. Diese Werkstätten und die lärmenden asiatischen Basare waren die beiden Pole im Leben der Stadt. Man kann sich vorstellen, wie der junge Dshugaschwili stundenlang das Leben und Treiben der orientalischen Händler beobachtete. Diese Bilder haben sicher ihren Eindruck auf seinen aufnahmefähigen Geist gemacht. Aber diese Welt des Orients, die so »abseits des Weges der Geschichte liegt«, war nichts für ihn. Er wurde von dem neuen Element im Leben des Kaukasus angezogen.

Zwei oder drei der angehenden Kleriker, die Revolutionär geworden waren, hatten die Rolle des Mentors bei dem jungen Dshugaschwili übernommen. Sylvester Dshibladse, der eine führende Rolle unter den Anhängern der Messame Dassy spielte, war bereits zu bedeutend, um des Novizen persönlicher Freund werden zu können.

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 Dafür fand er sich mit zwei ändern Männern zusammen, die ihm Freunde und Lehrer wurden. Dies waren Sascha Zulukidse und Lado Kezchoweli. Zulukidse, der nur drei Jahre älter war als Dshugaschwili, genoß bereits als Schriftsteller ein ziemliches Ansehen unter den Mitgliedern der Messame Dassy. Er diente der Sache mit Inbrunst, aber seine Kraft war schon durch die Tuberkulose gebrochen, die ihn fünf oder sechs Jahre später aufs Totenbett werfen sollte. Seine Essays und Aufsätze, die in den lokalen georgischen Blättern erschienen, lassen seine umfassende Kenntnis in soziologischen Fragen erkennen. Sie waren brillant geschrieben und verrieten eine natürliche schriftstellerische Begabung.

Unter seinen Werken befindet sich eine populäre Darstellung der Wirtschaftslehre von Karl Marx. Zusammen mit Sascha Zulukidse besuchte Dshugaschwili gelegentlich die Redaktion der Zeitschrift »Kwali« und lauschte, zunächst respektvoll, später mit halbironischem Lächeln, den Worten der Weisheit, die von den Lippen der halb liberalen und halb sozialistischen Redakteure flossen.

Sein anderer Freund und Lehrer, Kezchoweli, war kein Schriftsteller. Er war eine mehr praktisch gesinnte Natur. Nachdem er sich dem neuen Glauben angeschlossen hatte, kam es ihm vor allem darauf an, daß auch andere seinem Beispiel folgten. Er hatte schon etwas von der Welt jenseits des Kaukasus gesehen. Er war einer der 87 Schüler, die im Jahre 1894 vom Seminar relegiert worden waren. Er war dann nach Kiew gegangen, das als altes Zentrum geistigen und politischen Lebens galt und einen sehr viel weniger provinziellen Anstrich als Tiflis hatte.

In Kiew hatte er einige Jahre verbracht und war mit sozialistischen Untergrund­gruppen in Verbindung gekommen, die ihrerseits wieder Verbindung mit Gleichgesinnten in St. Petersburg, ja sogar mit den verbannten sozialistischen Führern in der Schweiz, Frankreich und England pflegten. Er war in den Kaukasus zurückgekommen mit dem festen Willen, etwas zu tun, um die Bewegung in seiner Heimat über die ersten schüchternen Anfänge hinauszuführen. Er war vor allem darauf bedacht, eine geheime Druckerei zu schaffen, die er als unentbehrliche Basis für jede revolutionäre Propaganda betrachtete. Die lokalen, halb liberalen,

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halb sozialistischen Zeitungen waren hierfür nicht geeignet. Ihre Herausgeber mußten bei jedem Wort, das sie schrieben, darauf achten, daß kein Gendarm hinter ihnen stand. Sie hatten jeden Artikel, bevor er in Druck ging, dem zaristischen Zensor vorzulegen. Die schüchterne und blutarme Propaganda, die diesen Blättern gestattet wurde, vermochte niemand zu überzeugen und konnte nie zu dem erhofften Ziel führen. Für diese jungen Revolutionäre galt es vor allem, sich der Bevormundung durch die Zensur zu entziehen. Man mußte eine Geheimdruckerei haben. Kezchoweli lenkte sofort Dshugaschwilis Interesse auf solche Probleme, als dieser der Messame Dassy beitrat.

Kezchoweli und Zulukidse waren darauf bedacht, dem neuen Lehrling der Revolution eine besondere Aufgabe zuzuweisen. Er sollte einige Studienzirkel von Arbeitern leiten. Er sollte dort vor Tabakarbeitern, Maurern, Schuhmachern, Webern, Druckern und Schaffnern der Pferdebahn Vorträge über sozialistische Themen halten. Diese Arbeiter kamen im geheimen in kleinen Gruppen zusammen, kaum mehr als jeweils ein Dutzend. Jedem freiwilligen Helfer aus Studentenkreisen wurden ähnliche Aufgaben zugeteilt, denn die junge Organisation brauchte dringend Propagandisten, die in der Lage waren, die Mitglieder aufzuklären, die selber die Bücher und Broschüren über die neue Lehre nicht lesen konnten. 

Diese Zirkel versammelten sich in den überfüllten Privatwohnungen der Arbeiterviertel. Die Luft war zum Schneiden dick vom scharfen Qualm der Machorka und dem Dunst von Schweiß und schmutzigen Arbeitskleidern. Ein Genosse paßte auf der Straße auf, daß die Gruppe nicht von einer Polizeistreife überrascht wurde. Diese Vortragstätigkeit wird für den jungen Seminaristen ein Gegenstand hoher moralischer Befriedigung gewesen sein. Der Lohn dieser Arbeit war sein gesteigertes Selbstvertrauen. Da stand er, eines der Schäfchen, die der Mönch Abaschidse hüten sollte, und legte seine geistigen Sprengpatronen in die Grundmauern von Staat und Kirche. Die Arbeiter lauschten aufmerksam, die meisten waren viel älter als der Redner, und trotzdem erkannten sie ihn als Autorität und geistigen Führer an.

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Nach einer solchen Zusammenkunft mag es hart, ja demütigend gewesen sein, in das düstere Seminar zurückzueilen, den Mönchen eine Ausrede für das lange Ausbleiben zu erzählen, eine fromme Miene aufzusetzen und sich mit dem. Rest der »Herde« zu vereinigen, die in der Kapelle fromme Lieder sang. Dies war ein Doppelleben in einem doppelten Sinne. Nicht nur, daß der Ungläubige den orthodoxen Kirchenglauben heucheln mußte; der Revolutionär, der draußen in der Stadt bereits etwas galt und anfing, im öffentlichen Leben eine Rolle zu spielen, hatte in die Rolle eines Schülers zurückzufallen, der noch nicht erwachsen ist, der von Vorgesetzten herumkommandiert und angeschnauzt wird. Wie lange sollte das so weitergehen?

In dem letzten oder auch in den beiden letzten Jahren, die Dshugaschwili im Seminar verbrachte, muß ihn diese Frage oft bewegt haben. Er täuschte die Mönche ohne alle Gewissensbisse und entwickelte sich zu einem Meister der Heuchelei und der Verstellung. Selbstvorwürfe brauchte er sich deshalb nicht mehr zu machen. Er zahlte nur Betrug mit Betrug heim. Schnüffelten sie nicht hinter ihm her, stöberten sie nicht seine Sachen durch, wenn er in der Stadt war? War nicht ihr ganzer Unterricht ein grandioser Betrug?  

Seine eigene Heuchelei war nur die Antwort auf die ihre. In diesem Kampf der Lügen und der Verstellungen war er jedenfalls der Stärkere. Dieses Bewußtsein der eigenen Überlegenheit und die Befriedigung, die er daraus zog, machten es ihm möglich, eine Situation zu ertragen, die an sich ganz unerträglich war. Selbstverständlich hätte er jeden Tag seinen Koffer packen und den Mönchen Lebewohl sagen können. Aber was dann? Außerhalb des Seminars hatte er keine Grundlage für seine Existenz. Die politische Organisation war schrecklich arm und hätte ihm nicht helfen können. Er wollte seiner Mutter nicht aufs neue zur Last fallen. Die Aussicht, ungelernter Arbeiter in einer Fabrik oder Schreiber in einem Büro zu werden, konnte ihn nicht reizen. So unerfreulich das Seminar war, es ließ ihm doch Zeit und Gelegenheit zum Nachdenken, zum Diskutieren, zum Träumen und zum Lesen. All das aufzugeben, wäre ihm nicht leicht gefallen. Ein junger Mann, der impulsiver und idealistischer gesonnen gewesen wäre als er, hätte vielleicht die Türe des Seminars hinter sich zugeworfen und auf alle Folgen gepfiffen.

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Aber er war nun einmal der Sohn früherer Leibeigener, und wenn er jetzt auch daran arbeitete, das Denken und Trachten eines ganzen Volkes umzugestalten, so hatte er doch etwas von der Unbeweglichkeit und Dickfelligkeit seiner bäuerlichen Vorfahren geerbt, die sich vor allem Neuen fürchteten. Wenn er im Seminar blieb, so bedeutete das fortgesetzte Verstellung und Heuchelei. Aber diese Kunst hatte er von Jugend auf üben müssen. Sie war ihm jetzt beinahe zur zweiten Natur geworden.

Bei all dem wurde seine Lage immer schwieriger. Die Eintragungen im Klassenbuch, die über ihn in den letzten Monaten seines Aufenthalts im Seminar gemacht wurden, sprechen nicht von sozialistischer Propaganda. Diese Seite seiner Tätigkeit verstand er anscheinend wohl zu verbergen. Aber seine Auseinandersetzungen mit den Lehrern wurden schärfer und schärfer. In einem Bericht vom 29. September 1898 heißt es: »Um neun Uhr abends versammelte sich eine Gruppe von Seminaristen im Speisesaal um Joseph Dshugaschwili, der aus Büchern vorlas, die von der Schulbehörde nicht genehmigt waren. Die Seminaristen wurden daraufhin einer Leibesvisitation unterzogen.« Ein paar Wochen später wird vermerkt, daß »im Laufe einer Durchsuchung bei den Seminaristen Joseph Dshugaschwili wiederholt versuchte, diese Maßnahme zu kritisieren und seinem Mißfallen über die häufigen Durchsuchungen Ausdruck gab. Er erklärte, daß diese Durchsuchungen in anderen Seminarien nie gemacht würden. Dshugaschwili ist im allgemeinen respektlos und aufsässig gegen seine Vorgesetzten.«33

Wenige Monate, nachdem er der Messame Dassy beigetreten war, wurde sein Dilemma durch die Mönche gelöst. Am 29. Mai 1899 wurde er aus dem Seminar ausgestoßen, weil er aus »unbekannten Gründen« zu einer Prüfung nicht erschienen war.34 Er sagte später, er sei wegen »marxistischer Propaganda« relegiert worden. Dies ist nicht der Grund, der von der Schulleitung angegeben wurde. Aber es ist zum mindesten sehr wahrscheinlich, daß man seiner politischen Zuverlässigkeit mißtraute. Als sich die Tore des Seminars auf immer für ihn schlössen, wird er den Schritt in die Freiheit ohne Bedauern getan haben. Hinter ihm, in den Mauern, die halb Kloster, halb Kaserne waren, lagen fünf Jahre seiner Jugend begraben.

Dshugaschwili-Stalin unterscheidet sich von fast allen andern, führenden Persönlichkeiten der Revolution dadurch, daß seine Eltern als Leibeigene geboren worden waren.

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Die meisten Revolutionäre kamen aus ganz ändern Gesellschaftsschichten, aus dem Landadel, der Mittelklasse und der Intelligenz. Als Lenin Student war, beobachtete er mit großem Interesse und aus nächster Nähe das Leben der russischen Bauern. Aber als Sohn eines in den Adelsstand erhobenen Schulrats lebte er nicht mit den Bauern und gehörte nicht zu ihnen. Trotzki sah die Armut und die Ausbeutung, wenn er aus dem Fenster des Hauses seines Vaters sah. Dieser war ein jüdischer Grundbesitzer, der es zu etwas gebracht hatte.

Sinowjew, Kamenjew, Bucharin, Rakowski, Radek, Lunatscharski, Tschitscherin und viele andere kannten die soziale Not, gegen die sie zu Felde zogen, nur aus der Ferne. Für die meisten von ihnen waren die kapitalistische Ausbeutung und vollends die Leibeigenschaft soziologische Begriffe, in deren Realitäten sie mehr oder weniger tief einzudringen Gelegenheit hatten. Mehrere führende Bolschewisten wie Kalinin, Tomski und Schljapnikow waren Arbeiter, und wie die meisten russischen Arbeiter waren sie irgendwie mit dem Lande verwurzelt. Aber fast keiner von ihnen hatte in seiner Jugend die Luft der Leibeigenschaft so unmittelbar geatmet und so darunter gelitten wie Dshugaschwili-Stalin.

Mit zwanzig Jahren war Dshugaschwili jener Umgebung schon weit voraus, aus der er gekommen war. Jetzt gehörte er zur Intelligenz, freilich nicht zu der Schicht, die auf einer sicheren wirtschaftlichen Grundlage ein wohlgeordnetes Leben führen kann und die sich deshalb ihres Platzes und ihres Wertes innerhalb der Gesellschaftsordnung wohl bewußt ist. Er gehörte zu der halb nomadischen Gruppe der gesellschaftlich Deklassierten. Aber nichts und niemand konnte ihm das beinahe körperliche Gefühl der Nähe zu denen rauben, die ganz unten am Fuße der gesellschaftlichen Pyramide standen. Die Revolutionäre der Oberschicht kannten aus persönlicher Berührung nur die Elite der Arbeiterklasse, das heißt die intelligenten Arbeiter, die für die sozialistische Propaganda zugänglich und eifrig darauf bedacht waren, mit Intellektuellen Freundschaft zu schließen.

Sie sahen in der großen, trägen Masse, die für die sozialistischen Vorstellungen nicht ohne weiteres aufgeschlossen ist, nur allzu leicht die Rückständigen, die ihrer selbst nicht bewußten Gruppen des Proletariats.

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Die marxistischen Revolutionäre empfanden es immer als eine Last, daß sie diese träge und rückständige Masse mitschleppen mußten. Sie erinnerten sich an die Schicksale der Revolutionäre der oberen Klassen, die in einer der vergangenen Generationen aus reinem Idealismus »ins Volk gegangen« waren, um in seiner Mitte für das Wohl dieses Volkes zu arbeiten. Sie waren von mißtrauischen Bauern bestialisch abgeschlachtet oder den Gendarmen verraten worden. Die Marxisten hofften, daß es mit Aufklärung und politischer Belehrung und Erfahrung möglich sein müsse, auch diese rückständige, ihrer selbst nicht bewußte Schicht zum Sozialismus hinzuführen. Aber einstweilen wußten diese Theoretiker und Propagandisten keine Sprache zu sprechen, die den noch nicht erwachten Massen verständlich gewesen wäre. Anderseits fühlten sich die jungen Studenten zunächst fast ausnahmslos aus menschlicher Sympathie, in der sich eine Art Schuldbewußtsein verbarg, zum Sozialismus hingezogen. Aus solchen Gefühlen heraus wollten sie in den unterdrückten Klassen die Verkörperung aller Tugenden und alles Edlen sehen.

Der junge Dshugaschwili muß ein ganz außergewöhnliches, beinahe instinktives Einfühlungsvermögen für dieses rückständige Element im Leben und in der Politik Rußlands besessen haben. Je älter er wurde, desto stärker wurde es. Aber zunächst interessierte auch er sich vor allem für die intellektuell fortgeschrittenen Arbeiter, weil er durch sie an die zurückgebliebenen Massen herankommen und sie aus ihrer Indolenz und Trägheit aufrütteln konnte. In seinem tiefsten Innern gab er sich keinen optimistischen Hoffnungen oder idealistischen Verallgemeinerungen über die Arbeiterklasse Rußlands hin. 

Mit skeptischem Mißtrauen begegnete er nicht nur der Ausbeuterklasse, den adeligen Grundbesitzern, den Kapitalisten, den Mönchen und den zaristischen Gendarmen, sondern auch den Ausgebeuteten selbst, also den Arbeitern und Bauern, deren Sache er zu der seinen gemacht hatte. In seinem Sozialismus fand sich keine Spur verdrängten Schuldgefühls. Sicherlich empfand er eine gewisse Sympathie für die Klasse, in die er hineingeboren war. Aber sein Haß gegen die Besitzenden und gegen die herrschende Klasse muß sehr viel stärker gewesen sein.

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Der Klassenhaß, den die Revolutionäre aus der Oberschicht empfanden und predigten, war eine Art sekundärer Emotion, die sich in ihnen regte und die sie mit theoretisch erarbeiteten Überzeugungen weiterentwickelten. Bei Dshugaschwili war der Klassenhaß nicht nur sekundärer Natur, für ihn war dieser Haß alles. Die sozialistischen Theorien sprachen ihn an, weil sie ihm eine rationale und moralische Rechtfertigung für sein eigenes Gefühlsleben gaben. Sentimentalitäten jeder Art waren ihm fremd. Sein Sozialismus war kalt, klar und rauh.

Diese Züge seines Charakters sollten ihm in der Zukunft sehr von Nutzen sein. Aber in ihnen lagen auch ernste Hemmungen. Die Revolutionäre der oberen Klassen kamen mit ererbten kulturellen Traditionen zum Sozialismus. Sie rebellierten gegen die Meinungen und die Vorurteile der Umgebung, in der sie aufgewachsen waren, brachten aber trotzdem in das revolutionäre Milieu einige Werte und Qualitäten ihrer eigenen Welt mit, nicht nur Wissen, sondern auch das Raffinement des Denkens, Sprechens und der gesellschaftlichen Umgangsformen. Um es deutlich zu sagen: Ihre sozialistische Rebellion war selber ein Produkt moralischer Empfindsamkeiten und intellektuellen Raffinements. 

Das waren nun ausgerechnet die Eigenschaften, die das Leben für Dshugaschwili nicht bereitgehalten hatte. Im Gegenteil! Ihn hatte sein Lebensweg durch so viel Schmutz und so viel Niedrigkeit geführt, daß seine Empfindsamkeit und sein Gefühl abgestumpft waren. Wenige der anderen revolutionären Führer litten so wie er unter einem Gefühl der sozialen Minderwertigkeit. Die meisten von ihnen hätten, wenn sie sich einen ruhigeren und sicheren Lebensweg ausgesucht hätten, eine brillante und respektable Laufbahn ergreifen können. Ein Mann von Lenins Genius hätte in jedem politischen Regime eine hervorragende Rolle spielen können. Trotzki war ein Literat, der sich überall hätte zur Geltung bringen können. Kamenjew, Lunatscharski und Bucharin hätten als Universitäts­lehrer unschwer ihre Karriere machen können. Sie alle waren begabte Redner und Schriftsteller, Männer mit angeborenem Elan, voll von Phantasie und Originalität, die sich bei ihnen bereits in einem erstaunlich frühen Lebensalter bemerkbar machten.

Der junge Dshugaschwili hatte viel Scharfsinn und einen natürlichen gesunden Menschenverstand, aber keinerlei Einbildungskraft und Originalität. Er konnte vor kleinen Arbeiterzirkeln Vorlesungen über sozialistische Themen halten; er war aber kein Redner und, wie seine weitere Entwicklung zeigen sollte, alles andere als ein glänzender Schriftsteller. 

In dem kastenmäßig geordneten, amtlichen Rußland konnte der Sohn georgischer Bauern auf der sozialen Stufenleiter nicht hochklettern, auch wenn er noch so viel Ehrgeiz, Hartnäckigkeit und Glück gehabt hätte. 

Wäre er in der Kirche geblieben, so wäre er bestenfalls ein anderer Abaschidse geworden. So war es unvermeidlich, daß die Umstände, die sein Leben formten, in ihm einen gewissen Minder­wertigkeits­komplex entwickelten, von dem er sich auch in der sozialistischen Untergrund­bewegung nicht freimachen konnte. 

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