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Walter LaqueurStalinAbrechnung im Zeichen von GlasnostStalin: The Glasnost-Revelations (Enthüllungen)
1990 bei Charles Scribner's So. 1990 by Kindler Verlag # Übers. aus Am. von Ute Mihr und Helmut Dierlamm |
1990 406 Seiten Wikipedia.Autor *1921 in Breslau bis 2018 (97) DNB.Nummer (70) dnb.Person Person Laqueur.net HOME detopia: Stalinbuch Kommbuch Deutscher.1948 Wolkogonow 1989 Rezension Hafner ZEIT 1991 zum Buch |
Audio 2009 dlf zu Mein 20.Jahrhundert Arno O.
Inhalt Inhalt.pdf Danksagung (7) Einleitung (9) Anmerkungen (407) Bibliographische Notiz (437) Namenregister (443) Meine Arbeit über die Entstalinisierung und die Debatten über den Stalinismus ist von der Lynde and Harry Bradley Foundation und von Mr. Conrad Black großzügig unterstützt worden, wofür ich mich herzlich bedanken möchte. Mr. Erickson war so freundlich, das Kapitel über Stalin als Feldherr vorab zu lesen. Er hat mich davor bewahrt, in einem Sachgebiet Fehler zu machen, das er viel besser kennt, als ich es je kennen werde. Außerdem schulde ich meinen Kollegen, Assistenten und Praktikanten am Center for Strategie and International Studies in Washington und an der Wiener Library and Institute of Contemporary History in London Dank und natürlich vor allem Naomi. Der Stalinismus, das schwer zu bewältigende Erbe des langjährigen russischen Diktators, ist auch heute noch verankert im politischen Bewußtsein der sowjetischen Nomenklatura. Die Abkehr von Stalin und seinem Herrschaftssystem konnte erst im Zeichen von Glasnost geschehen. Walter Laqueur ist wahrscheinlich der erste nichtrussische Historiker, der das Material aus den Archiven des Politbüros, des KGB und anderer sowjetischer Institutionen auswerten konnte, das in den letzten Monaten zugänglich gemacht wurde. Er zeichnet das beklemmende Bild eines Mannes, der buchstäblich über Leichen ging, um seine Ziele zu erreichen, und rechnet darüber hinaus ab mit dem bürokratisch-terroristischen Herrschaftssystem, dem Stalinismus. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 verblüffte Nikita Chruschtschow die Weltöffentlichkeit durch seine radikale Abrechnung mit Stalin. Er wollte durch diese sogenannte Entstalinisierung innen- wie außenpolitisch sowie ideologisch neue Handlungsfreiheit gewinnen. Die Enthüllungen der Willkürakte und des Terrors Stalins waren damals lückenhaft und nur der Anfang einer sowjetischen Vergangenheitsbewältigung. Erst die von Michail Gorbatschow eingeleitete politische Wende erlaubte den Historikern einen nahezu ungeschmälerten Zugang zu bislang unter Verschluß gehaltenen politischen Dokumenten der Vergangenheit. Walter Laqueur ist wahrscheinlich der erste nichtrussische Historiker, der das Material aus den Archiven des Politbüros, des KGB und anderer sowjetischer Institutionen auswerten konnte, das in den letzten Monaten zugänglich gemacht wurde. Das Ergebnis seiner Studien dieser Quellen ist das vorliegende Buch, in dem er mit Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin, hart ins Gericht geht. |
1. Josef Stalin, 1879-1953 (17) 2. Der Krieg gegen die Bauern - Bucharins Alternative (33) 3. Trotzki - der »Dämon der Revolution« (67) 4. Der große Terror - Wie es dazu kam (89) 5. Eine finstere Affäre - Die Vernichtung der Führung der Roten Armee (119) 6. Der Mord an Kirow (106) 7. Der erste Schauprozeß (109) 8. Die alten Bolschewiki (129) 9. Säuberungen weit weg von Moskau (135) 10. Säuberungen im ganzen Land (139) 11. Die Kommunistische Internationale (Komintern) (145) 12. Der Terror und das einfache Volk (151) 13. Warum sie gestanden (167) 14. Stalin privat (199)
15.
Die Waffenbrüder (217) Der »Personenkult« (235) Stalin als Kriegsherr (265) Warum Stalin? Eine nationale Auseinandersetzung (295) Die Psychologie des Stalinismus (308) Stalin und die russische Rechte (316) Die Bewegung »Memorial« und ihre Gegner (335)
Schluß: Vierzig Jahre danach (359) Neue Fakten über die Moskauer Prozesse (383) |
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aus wikipedia-2022
Weimarer Republik und NS-Diktatur Laqueur wurde 1921 im schlesischen Breslau als Sohn des jüdischen Kaufmanns Fritz Laqueur und dessen Frau Else Berliner geboren und wuchs in einer säkularen, assimilierten Familie auf. Seine Eltern und die meisten seiner Verwandten wurden in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet. Laqueur besuchte in Breslau eine Grundschule, in der er mit Schülern aus reichen aristokratischen Familien und aus der jüdischen oberen Mittelschicht zusammen war. In dieser eher elitären Umgebung fühlte er sich schnell fehl am Platz. Die Schulleitung gab ihm daher die Gelegenheit, vier Grundschuljahre in nur drei Jahren abzuschließen, was ihm vermutlich in der Zeit des Nationalsozialismus das Leben rettete, da er so sein Abitur noch vor der Pogromnacht 1938 erwerben konnte. Später besuchte er das Johannesgymnasium Breslau,[L 1] wo ihn u. a. Willy Cohn unterrichtete. Die ersten größeren Ereignisse, an die sich Laqueur erinnerte, waren der Anblick des Luftschiffs Graf Zeppelin, das über seiner Heimatstadt schwebte, und die Reichstagswahl 1930, aus der die Nationalsozialisten als zweitstärkste Partei hervorgingen. Schon in jungen Jahren war Laqueur, so schrieb er in seiner Autobiografie, ein passionierter Zeitungsleser. Da er es sich nicht leisten konnte, täglich viele Zeitungen zu kaufen, ging er in die Redaktionsgebäude und bat dort jeweils um Probeexemplare.[L 2] Es gab die Literatur, Konzerte, Museen und das Kino in seiner Jugend.[L 3] Um sich abzulenken, betrieb Laqueur Sport, z. B. Leichtathletik, Fußball, Handball und Boxen.[L 4] Laqueur sympathisierte mit der KPO im Untergrund und las marxistische Literatur, etwa Karl Korsch oder Fritz Sternberg. Im Jahre 1935 oder 1936, angespornt durch seine Eltern, erkannte er die Notwendigkeit, das Land zu verlassen. Zu jener Zeit war schon die Hälfte seiner jüdischen Freunde ausgewandert. Laqueur versuchte, Verwandte im Ausland zu finden, jedoch ohne Erfolg. Er lehnte ein Angebot ab, ein Ingenieurstudium in der Tschechoslowakei zu beginnen. Anders als seine Eltern konnte Laqueur mit 17 Jahren im November 1938 kurz vor der Pogromnacht auf legalem Wege ausreisen. Via Triest erreichte er noch im November Jerusalem in Palästina.
Die Erinnerungen an seine Jugend in Deutschland seien für seine Arbeit als Historiker und sein Denken als politischer Kommentator von größter Bedeutung gewesen. Rückblickend stellte er sich die Fragen: Wieso scheiterte die Weimarer Republik? Wie schafften Hitler und die NSDAP ihren rasanten Aufstieg? Hätte die NSDAP auch ohne Hitler Erfolg gehabt? Und wieso erkannten die Deutschen und andere europäische Länder nicht die Gefahren, die von Hitler ausgingen?
Im Kibbuz In Palästina
angekommen, konnte sich Laqueur dank eines Zufalls und der Großzügigkeit
eines Onkels an der Hebräischen Universität in Jerusalem einschreiben. Zu
seinem Glück habe die Verwaltung übersehen, dass er noch minderjährig war
und daher nicht hätte immatrikuliert werden dürfen. An dieser Universität
blieb er jedoch nicht lange[L 5], da ihm das Studium der Medizin dort nicht
möglich war und ihm das ersatzweise gewählte Studienfach Geschichte keine
Perspektiven versprach.[3] Laqueur wurde an seiner neuen Wirkungsstätte nicht nur mit den kulturellen Unterschieden zwischen den verschiedenen jüdischen Einwanderergruppen konfrontiert und der häufigen Ablehnung der Juden aus Deutschland, sondern hatte auch Gelegenheit, sich arabische Sprachkenntnisse anzueignen. Doch seine Wanderung durch die Kibbuzim ging weiter. Im Herbst 1939, kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs übersiedelte er mit seiner Gruppe in den näher zu Haifa gelegenen Kibbuz Ein Shemer[6], wo er etwa ein Jahr lang blieb. Hier lernte er auch seine spätere Frau kennen, die aus Frankfurt am Main stammende Barbara Koch (1920–1995), die sich später Naomi nannte. Die Tochter des Mediziners Richard Koch war im November 1936 über Haifa in das Kinder- und Jugenddorf Ben Shemen gekommen und schloss sich dann ebenfalls der Kibbuz-Bewegung an.[7] Im Spätsommer 1940 wurden er und Naomi dann Mitglieder im Kibbuz Shamir[8], der sich jedoch bald darauf spaltete. Die beiden gingen nun Anfang 1942 wieder nach Hasorea. „Dort hatte mein Kibbuz-Leben begonnen und sollte 1944 an gleicher Stelle enden.“[9] Laqueur arbeitete in Hasorea unter anderem als Wächter, was ihm in einsamen Nächten viel Zeit zum Nachdenken bescherte, „und es war während jener langen Stunden in einer mir liebgewordenen Landschaft, daß ich zu dem Schluß kam, das Kibbuzleben sei doch nicht für mich geschaffen. [..] Ich sehnte mich nach der Zeit zum Lernen.“[10] Zugleich aber forderte auch der Zweite Weltkrieg seinen Tribut. Laqueur wurde Mitglied der Hagana und wollte sich Anfang 1943 der britischen Armee anschließen. Bereits im Rekrutierungsort angekommen, musste er dort noch eine Nacht vor der Einschreibung verbringen.
Im Sommer 1944 verließ Laqueur dann endgültig Hasorea und zog nach Jerusalem. Als er Mitte der 1950er Jahre zum ersten Mal ein Visum für die USA beantragte, wurde ihm dies zunächst verweigert, mit der Begründung, er sei Mitglied einer kommunistischen Siedlung gewesen und habe sich vom Kibbuz nie öffentlich losgesagt. Erst eine positive Rezension von Walter Lippmann zu Laqueurs erstem in englischer Sprache erschienenen Buch brachte dann die Wende.[11] Das Kibbuzleben aber blieb ihm in bester Erinnerung.
In Jerusalem erlebte Laqueur das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Israelischen Unabhängigkeitskrieg (1948). Die Lebensumstände und Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu sichern, erlaubten ihm keine akademische Ausbildung.[12] Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt zunächst in Ulrich Salingrés Antiquariat und Buchhandlung Heatid (Die Zukunft)[13], danach dann vom Frühjahr 1946 bis 1953 als Journalist, ehe der Autodidakt sich durch seine Veröffentlichungen einen Ruf als Historiker verschaffte. Der Start seiner journalistischen Laufbahn erfolgte als Jerusalem-Korrespondent der 1943 von der Bewegung Hashomer Hatzair gegründeten Zeitung Hamishmar.[14] Laqueurs Eltern, die bereits über fünfzig waren und sich keinen Neuanfang zutrauten, sowie zahlreiche andere Verwandte wurden im Holocaust ermordet.
Faszination Russland Schon in jungen Jahren war Laqueur von Russland fasziniert. Die sowjetische Politik und die Geschichte der KPdSU waren ihm bereits vertraut, aber die Geschichte Russlands im 19. und im frühen 20. Jahrhundert interessierten ihn mehr als die Gegenwart. Nach einem Beinbruch im Waschraum von Hasorea lernte er 1942 bei einer ehemaligen Lehrerin in bis zu acht Stunden täglich die russische Sprache. Neben ihr waren seine Arbeitskollegen weitere Quellen der Inspiration und Information, mehrheitlich Juden aus Russland, die ihm Lieder beibrachten – und Flüche. In seinen Dreißigern besuchte Laqueur zum ersten Mal die Sowjetunion und reiste seitdem fast jedes Jahr in das Land, sei es aus privaten Gründen, um z. B. die Familie seiner verstorbenen Frau Naomi im Kaukasus zu besuchen, oder aus beruflichen Gründen, als er im Auftrag der Neuen Zürcher Zeitung ausgedehnte Reisen durch die Sowjetunion unternahm.[L 6] Seine Landeskenntnis ließ ihn in Distanz zu revisionistischen Interpretationen des Kalten Krieges und zur Stalin-Deutung von Isaac Deutscher treten. So stimmte er mit John Lewis Gaddis überein. Jedoch erlosch sein Interesse für die Sowjetunion, als unter Parteichef Breschnew eine Phase der Stagnation eintrat, obwohl die Sowjetunion weiterhin ein wichtiger Akteur der Weltpolitik blieb. Erst als Gorbatschow Chef der KPdSU wurde, erwachte sein Interesse aufs Neue. Im Buch Putinismus: Wohin treibt Russland? (2015) nennt er Russland eine „Diktatur mit großer Unterstützung der Bevölkerung“. Nachdem er schon in den 1990er-Jahren über den russischen Patriotismus geschrieben hatte, fand er die Annahme naheliegend, dass es in Richtung der autoritären Rechten gehen würde, konnte aber nicht voraussehen, dass diese Entwicklung – in seinen eigenen Worten – „so weit gehen und so schnell verlaufen würde“. Dass die Linke im Ausland dies nicht wahrnehmen wolle, bezeichnete er als „aberwitzig“.[
Grand Tour Anfang der 1950er Jahre begann er seine Grand Tour durch Europa mit den Stationen Paris, Berlin und London. Als Laqueur nach dem Zweiten Weltkrieg Europa bereiste, studierte er nicht nur europäische Geschichte, sondern er verfolgte regelmäßig auch die britische, französische und deutsche Presse; er war daher über die aktuelle internationale Politik gut informiert. Einige Jahre lang hatte er bereits Kommentare zur europäischen Politik geschrieben, doch war er stets auf das Wissen und auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen, weil er keine eigenen einschlägigen Erfahrungen gemacht hatte. In Paris besuchte er im Mai 1953 das Büro des Kongresses für kulturelle Freiheit.[L 8] Für den Kongress, der, weil er von der CIA finanziell unterstützt wurde, in den 1960er Jahren in Ungnade fiel, verfasste Laqueur ein monatliches Rundschreiben mit einer Auflage von mehreren hundert Exemplaren. Anfangs wurde es vom Kongress nicht als fester Bestandteil des Programms akzeptiert, dennoch wuchs nach einiger Zeit der Umfang des Rundschreibens. Allmählich entwickelte es sich zu einem Vierteljahresheft – der Name wurde von Soviet Culture zu Soviet Survey geändert und hieß schließlich nur noch Survey. Der Survey war eine Zeitschrift für Geschichte, Politik und Soziologie sowie für kulturelle Trends und erschien danach regelmäßig noch fast ein Vierteljahrhundert lang. Ungefähr zehn Jahre dauerte Laqueurs Mitarbeit im Kongress, jedoch war er nie fest angestellt. Danach gründete Laqueur 1966 zusammen mit George Mosse das Journal of Contemporary History, wofür er führende Historiker als Autoren für wichtige Beiträge gewann, wie z. B. Klaus Epstein, Wolfgang J. Mommsen, Eugen Weber und andere. Bis heute erscheint das Journal of Contemporary History vierteljährlich.[L 9] Laqueurs zweite Station war das zerstörte Berlin, wo zwar die Trümmer weggeräumt, jedoch viele Viertel nicht saniert worden waren. Hinzu kam noch die Teilung der Stadt. Seine dritte Station war London. Was ursprünglich nur als längerer Besuch gedacht war, entwickelte sich zu einem Aufenthalt von fünfzehn Jahren.[L 8] Seit den 1950er Jahren lebte Walter Laqueur vor allem in Washington, D.C. und London. Er bekleidete Professuren an der Brandeis und der Georgetown University und hatte zahlreiche Gastprofessuren an renommierten Universitäten in den Vereinigten Staaten und Israel inne. Von 1965 bis 1994 war er Direktor des Institute of Contemporary History in London.[17]
Interessen und Arbeiten In seinen Arbeiten beschäftigte sich Walter Laqueur insbesondere mit der
Geschichte Europas – u. a. mit dem „Euro-Optimismus“, den er als übertrieben
empfand – oder mit dem Sonderweg Finnlands, mit der Geschichte Russlands im
20. Jahrhundert – hierbei v. a. mit Stalin, mit Struktur und
Existenzperspektiven der Sowjetunion sowie mit Prognosen für das heutige
Russland – und neuerdings mit der politischen Situation im Nahen Osten.
Darüber hinaus gilt Laqueur als wichtiger Begründer der wissenschaftlichen
Beschäftigung mit politischer Gewalt und Terrorismus.
Terrorismus und Guerillakriege Seine erste persönliche Erfahrung mit dem Terrorismus machte Laqueur nach dem Zweiten Weltkrieg in Jerusalem, als er unfreiwilliger Zeuge eines Bankraubs wurde. Das Ereignis selbst beeindruckte ihn wenig, aber es bereitete ihn auf die Konfrontation mit Terrorakten vor, die damals in der ganzen Region verübt wurden. Er hatte schon in den 1970er Jahren erkannt, dass eine Definition des Terrorismus unmöglich sei, weil sich dessen Wesen ständig verändere und er stets zugleich von seinem politischen und kulturellen Umfeld geprägt werde. Wie er selbst 30 Jahre später bemerkte, kann man noch immer keine klare Definition des Terrorismus aussprechen.[ Neben dem Terrorismus interessierte Laqueur sich auch für Guerillakriege, so etwa die von Mao in China oder von Castro auf Kuba geführten Kriege. Hierzu veröffentlichte er seine Studien History of Terrorism und Guerilla – sie standen jahrelang auf dem zweiten Platz der am häufigsten zitierten Bücher.
Naher und Mittlerer Osten Anfang der 1950er Jahre wollte Laqueur eine Zeit lang Experte für den Nahen und Mittleren Osten werden. Er empfand es aber als deprimierend, keine Lösungen für die unzähligen Konflikte zu sehen, die diese Region beherrschten, die nach dem Zweiten Weltkrieg nun aus unabhängigen Ländern bestand. Stattdessen beschäftigte er sich mit den neuen Tendenzen, die sich hier allmählich abzeichneten: das Anwachsen des arabischen Nationalismus, das Auftauchen des radikalen Islam als politischer Faktor und vereinzelt sogar des Staatssozialismus. Ebenso befasste er sich mit dem Staat Israel und dessen wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Ausland nach der Staatsgründung, jedoch auch mit den späteren Konflikten und Kriegen mit seinen Nachbarländern.[L 12]
Laqueur schrieb 2008 anlässlich des 60. Jahrestags der Gründung des Staates
Israel einen Essay: „Disraelia. A Counterfactual History 1848–2008“ über
eine fiktive Geschichte Israels: Wie sähe die Lage heute im Nahen Osten aus,
wenn im 19. Jahrhundert ein charismatischer Führer aufgetreten wäre und
seinen Glaubensbrüdern erklärt hätte, dass es für die Juden in Europa keine
Zukunft gebe, sich jedoch im Nahen Osten eine verlockende Chance für sie
anbiete? Was, wenn dieses Projekt von mehreren europäischen Königshäusern,
Staaten und der Kirche unterstützt worden wäre und man dafür finanzielle
Unterstützung erhalten hätte? Wäre es dann überhaupt zum Holocaust gekommen
und würde Israel womöglich heute in Frieden mit seinen Nachbarländern leben?
Welchen Rang hätte dieses Land heute in der Welt?[L 13]
Das 19. Jahrhundert Wenn Laqueur noch einmal hätte neu anfangen können, hätte er, nach eigenem Bekunden, sich wahrscheinlich nicht mit Geschichte und Politik befasst. Wenn er die Wahl gehabt hätte, dann hätte er sich eher für das 19. Jahrhundert entschieden als für das vergangene Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert hatte nach seinem Geschmack „zu viel Politik“, zu viele Ereignisse von historischer Bedeutung und dafür zu wenig Kultur, Unterhaltung, joie de vivre.[L 14] Gewiss war das 19. Jahrhundert nicht das ruhmreichste der Menschheitsgeschichte, obwohl die New York Times in einer 15-teiligen Serie das 19. Jahrhundert als die Blüte aller Jahrhunderte bezeichnete. Kriege, Zensur, Depressionen, wirtschaftliches Auf und Nieder überschatteten die Zeitläufte, zugleich aber herrschte ein dynamischer Optimismus hinsichtlich der Zukunft – ein Optimismus, den Laqueur, trotz aller modernen technologischen Errungenschaften, für das 21. Jahrhundert nicht teilen kann. In den letzten Zeilen seiner Biografie Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens kommt der Autor auf den vorsichtigen Rat zurück, den er seinen Nachfahren geben möchte: Sie sollten sich keine allzu großen Hoffnungen für die absehbare Zukunft machen. Freilich, so schließt er, dürften sie wohl auch ohne seinen Rat längst zu diesem Schluss angelangt sein.[L 15]
Werke (Auswahl)
als Autor Die globale Bedrohung. Neue Gefahren des Terrorismus. (Dawn of Armageddon). Econ, München 2001, ISBN 3-548-70089-6.
Krieg dem Westen. Terrorismus im 21. Jahrhundert. Ullstein, Berlin 2004,
ISBN 3-548-36678-3. Die letzten Tage von Europa. Ein Kontinent verändert sein Gesicht. Thies. Propyläen, Berlin 2006 Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens. Propyläen, Berlin 2009.
After the Fall: The End of the European Dream and the Decline of a
Continent. Macmillan, 2012.
als Herausgeber Kriegsausbruch 1914. (Sammlung Dialog 44). Nymphenburger, München 1970.
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Walter Laqueur (1990) Stalin - Abrechnung im Zeichen von Glasnost