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3. Trotzki — der »Dämon der Revolution«

 Trotzki bei detopia

 

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Lew Davidowitsch Trotzki ist in die sowjetische Geschichte als der größte Gegenspieler Stalins eingegangen, obwohl sich die Wege der beiden Männer in Wirklichkeit nur selten gekreuzt haben. Trotzki hatte sich im Kampf um die Parteiführung bereits ausmanövriert, bevor die entscheidende Phase in Stalins Aufstieg zur Macht überhaupt begann. 

Jahrzehntelang wurde den Sowjetbürgern eingetrichtert, Trotzki sei eine Inkarnation des Bösen, und selbst nach Stalins Tod blieb seine politische Rehabilitierung noch lange undenkbar. Auch in der Glasnost-Ära blieben seine Person und seine historische Rolle sehr umstritten.

Er wurde 1879 — ein paar Wochen vor Stalin — in Südrußland als Sohn eines jüdischen Landbesitzers geboren und schloß sich auf dem Gymnasium der revolutionären Bewegung an.1) Im Alter von 19 Jahren wurde er zum ersten Mal verhaftet und nach Sibirien verbannt. Dort widmete er seine Zeit dem Studium der Marxschen Schriften; dann entkam er und arbeitete mit Lenin als Redakteur der Iskra in London. 

Zwischen 1902 und 1907 unterstützte er zeitweise die Bolschewiki und zeitweise die Menschewiki; während des Ersten Weltkriegs näherte er sich den ersteren an, wurde jedoch erst Parteimitglied, als er 1917 nach Rußland zurückkehrte. Bei der Revolution von 1905 hatte er eine wichtige Rolle gespielt und war der letzte Präsident des Peters­burger Sowjets der Arbeiterdeputierten gewesen.

Seinen Ruhm verdankte er hauptsächlich seiner außergewöhnlichen Begabung als Redner. Außerdem war er ein ausgezeichneter Schriftsteller. Bei der Vorbereitung der Revolution von 1917 bewies er ein beachtliches organisatorisches Talent.

Zu dieser Zeit wurde sein Platz an Lenins Seite nie ernsthaft in Frage gestellt. Und als Lenin untertauchen mußte, wurde Trotzki, wenn auch nicht dem Namen nach, so doch in der Praxis, der Führer der Partei. Sogar Stalin schrieb später, die gesamte praktische Organisation und Vorbereitung der Machtergreifung habe unter »der direkten Führung des Präsidenten des Petersburger Sowjets, Genosse Trotzki«, stattgefunden.

Trotzki war für kurze Zeit der erste Außenkommissar der Sowjetunion und später viel länger (bis Januar 1925) Volkskommissar für Verteidigung und Präsident des obersten Kriegsrats. Zwischenzeitlich war er auch Transportkommissar

Bei all diesen Aufgaben erwies er sich als strenger Zuchtmeister, als dynamisch und effizient. Er beging viele Fehler, aber wenn man seine völlige Unerfahrenheit und die gewaltigen Aufgaben in Betracht zieht, die sich dem jungen Staat stellten, dann verdankt die Sowjetunion ihr Überleben in den ersten Jahren wahrscheinlich außer Lenin vor allem Trotzki.

Nach dem Bürgerkrieg begann Trotzki an Macht und politischem Ansehen zu verlieren, und bald nach Lenins Tod war er fast völlig isoliert. Die Gründe dafür lagen hauptsächlich in seiner Person: 

Er war streitsüchtig und ungewöhnlich arrogant und fand es deshalb schwierig, mit anderen zusammenzuarbeiten. Er hatte weder die Geduld noch den politischen Instinkt, eine Machtbasis aufzubauen, und verwickelte sich statt dessen in permanente ideologische und politische Kontroversen mit den anderen Partei­führern. Diese hätten einem vorrevolutionären Literaten besser angestanden als einem postrevolutionären Staatsmann.

Im Jahr 1927 wurde Trotzki aus der Partei ausgeschlossen und zwei Jahre später exiliert. Er lebte zuerst in der Türkei, später in Frankreich und Norwegen und schließlich in Mexiko. Dort wurde er am 20. August 1940 auf Stalins Geheiß ermordet. Im Ausland schrieb er eine Menge, aber seine politischen Aktivitäten (wie etwa die Gründung der Vierten Internationale) waren ineffektiv. Seine früheren Verbündeten in der Sowjetunion distanzierten sich schon früh von ihm. Die prominenteren fielen den Säuberungen zum Opfer.

Seine Anhänger in anderen Ländern bildeten kleine Sekten, die schon für die lokalen kommunistischen Parteien keine Gefahr darstellten, ganz zu schweigen von der Sowjetunion.

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Lenin hatte zwar mit Trotzki häufig ideologische und politische Streitigkeiten ausgefochten, hielt jedoch viel von ihm und sagte einmal, es habe seit Trotzkis Eintritt in die Partei keinen besseren Bolschewiken gegeben. In seinem »Testament«, das erst in der Glasnost-Ära publiziert wurde, schrieb Lenin, Trotzki sei vielleicht der fähigste Mann in der Parteiführung, lege jedoch extreme Selbstsicherheit an den Tag und widme sich viel zu stark der rein administrativen Seite seiner Arbeit.

Trotzkis ideologische Neuerungen, wie etwa die Theorie der »permanenten Revolution« (ursprünglich von Parvus entwickelt), lösten unter den Bolschewiki endlose Debatten aus, hatten jedoch kaum praktische Konsequenzen. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch für die Diskussion, die in den zwanziger Jahren durch Stalins These vom »Sozialismus in einem Land« ausgelöst wurde.

 wiktionary  mutatis_mutandis

Nachdem es einmal den Anschein hatte, daß auf die russische Revolution keine ähnlichen Revolutionen in anderen Ländern folgen würden, war es Trotzki genauso wichtig wie Stalin, die russische Landwirtschaft und Industrie zu entwickeln und sozialistische Strukturen in der Sowjetunion aufzubauen. Er hatte sich jedoch — nicht zum ersten Mal — in eine unpopuläre Position hineinmanövriert, was hauptsächlich seiner ideologischen Rigidität zuzuschreiben war sowie seinem Mangel an pragmatischem Instinkt und seinem fehlenden Verständnis für das in einer gegebenen Situation Machbare im Gegensatz zum Unmöglichen.

Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte er eher recht als Stalin. Dies trifft z.B. auf die Liquidierung der Kulaken als Klasse zu (die Trotzki ablehnte), oder darauf, daß er die Gefahr, die vom Nationalsozialismus ausging, früher erkannte. Er verstand das Phänomen Stalin nicht (»eine vom Parteiapparat geschaffene Mittelmäßigkeit«) und überschätzte die Rolle, die die Bürokratie während der Stalinzeit in der Sowjetunion spielte.

Da er bis zum Ende seines Lebens seinem orthodoxen marxistischen Ansatz treu blieb, verschwendete er eine gewaltige Menge Zeit mit Debatten, die sich etwa darum drehten, ob ein neuer Thermidor (Robespierre wurde am 9. Thermidor, dem 27. Juli 1794, gestürzt; A.d.Ü.) stattgefunden habe, ob die Sowjetunion staatskapitalistisch oder ein degenerierter Arbeiterstaat sei und ob die Diktatur der Bürokratie angesichts nach wie vor nationalisierter Produktionsmittel noch immer im Kern sozialistisch sei.

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Unter Stalin war Trotzki für die meisten Sowjetbürger eine Personifikation des Bösen, des Kriminellen und des Verrats — er war der Feind par excellence. Alle negativen Kommentare, die Lenin je über Trotzki abgegeben hatte, wurden ans Licht gezerrt und alle positiven verschwiegen. Nach der Parteilinie der gesamten Stalinzeit war Trotzki von Anfang an ein Verräter gewesen. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um Lenin und die Revolution zu bekämpfen. Er war der größte Feind der Arbeiterklasse und der kommunistischen Partei; es war schlimmer, »Trotzkist« zu sein als »Faschist« — mit letzteren konnte man Umgang pflegen, mit ersteren war sogar ein vorübergehendes Arrangement unmöglich. Einzelne Faschisten konnten Verzeihung erlangen, Trotzkisten — niemals.

Nach Stalins Tod wurden in der ersten Tauwetterperiode die schlimmsten Verdrehungen abgeschwächt. Man gab erst einmal zu, daß Trotzki, auch wenn er in der Regel eine falsche Politik verfolgt habe, vor, während und nach der Revolution Schlüssel­stellungen innegehabt hatte, und daß er trotz seiner »bonapartistischen« Neigungen der Sache des Bolschewismus als Redner und Organisator recht gute Dienste geleistet habe. Im allgemeinen wurden jedoch die absichtlichen Verfälschungen der Rolle Trotzkis nicht aus den Lehrbüchern gestrichen.

Insgesamt ging der Trend dahin, Trotzki als eine eher unwichtige Figur darzustellen, die zwar nicht (wie früher behauptet) ein Agent fremder Mächte gewesen sei, jedoch einen negativen Einfluß auf die Partei ausgeübt und stark zu ihrer Desorientierung beigetragen habe. Was immer Trotzki Positives geleistet haben mochte, wurde durch seine Fehler und Missetaten bei weitem aufgehoben.2)

Dies war in groben Umrissen bis 1987 die Parteilinie gegenüber Trotzki, und die Parteiführung zeigte wenig Neigung, sie einer fundamentalen Revision zu unterziehen. In seiner Rede zum 70. Jahrestag der Oktober­revolution implizierte Gorbatschow, Trotzki habe in seinem Kampf mit Stalin unrecht gehabt.3

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Obwohl die überwältigende Mehrheit der in den Moskauer Prozessen Angeklagten inzwischen rehabilitiert worden war — einschließlich aller wirklichen und angeblichen »Trotzkisten« —, blieb Trotzki ausgeschlossen, und das nicht nur aus rein technischen Gründen, denn er war ja von Stalin persönlich zum Tod verurteilt worden — in absentia. An der Haltung der Partei änderte sich zunächst nur, daß das Bild Trotzkis wieder auf den Fotos erschien, auf denen es fast sechzig Jahre lang getilgt worden war.

Wie ein Sprecher des liberalen Establishments sagte, würde die Rehabilitierung Trotzkis sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und erst ganz am Ende des Reformprozesses stehen. Der Glaube an seine Schuld sei nämlich in der Öffentlichkeit so tief verwurzelt, daß es dort enorme Widerstände gebe, den wahren Sachverhalten ins Auge zu blicken.

Ein erster Schlag wurde dem traditionellen Trotzki-Bild durch einzelne Historiker und Essayisten versetzt: Pawel Wolobujew, ein korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften, schrieb, Trotzki sei zwar nie ein echter Bolschewik gewesen, aber ein echter Revolutionär, der in der Partei eine führende Rolle gespielt habe.4) Juri Afanassjew, Rektor an der Moskauer Hochschule für Geschichte und Archivwesen, ging wesentlich weiter und verlangte, Trotzki juristisch zu rehabilitieren und seine Bücher zu veröffentlichen.5)

In den Jahren 1988 und 1989 begannen Artikel über Trotzki zu erscheinen, in denen eine Reihe unterschiedlicher Positionen vertreten wurden. Trotzkis Enkel Esteban besuchte Moskau, und Pierre Broue, der Autor der neuesten Trotzki-Biographie, stattete der Hauptstadt einen Besuch ab. Anfang 1989 wurde angekündigt, daß einige Werke Trotzkis in nicht allzu ferner Zukunft publiziert werden würden. Am 15. November 1988 arrangierte die Trotzki Memorial Association einen Abend, der Trotzkis Andenken gewidmet war. Die Mitglieder forderten Trotzkis Rehabilitierung. Obwohl keinerlei öffentliche Werbung gemacht wurde, waren die 400 Eintrittskarten lange vor dem Abend verkauft.6) Die Versammlung wurde von dem Historiker W. Lyssenko geleitet. Zu den wichtigsten Rednern gehörten die Historiker Bulgakow, Juri Heller und der Ökonom Dsarasow. Außerdem waren u.a. Igor Pjatnitski, Nadeschda Joffe, Tatjana Smilga, Galina Antonow-Owsejenko und die Kinder und Enkel der alten Garde der Bolschewiki anwesend.

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Die Urenkel Trotzkis, ein Sohn Victor Serges (Wladimir Kibaltschitsch) und verschiedene amerikanische Linke forderten den Kreml auf, die Trotzki betreffenden Verbote aufzuheben. Sie argumentierten, daß jedermann in der Lage sein sollte, sich selbst ein Bild von dem Mann zu machen. Dies sei jedoch nur möglich, wenn seine Schriften der Öffentlichkeit zugänglich gemacht würden.7

Solche Forderungen fanden keineswegs allgemeine Zustimmung; in den Sowjetmedien erschienen Artikel mit Titeln wie »Sie versuchen, den kleinen Judas wiederaufzupolieren«,8) und es verging kaum ein Monat, ohne daß Trotzki in den Literaturzeitschriften der extremen Rechten verurteilt wurde.

Außerhalb der extremistischen Zirkel kam Trotzki in der Glasnost-Ära etwas besser weg. Er wurde allgemein positiver beurteilt als in der Stalin-Ära. Sowjetische Autoren kamen zu dem Schluß, er sei ein talentierter politischer Führer gewesen und habe Lenin viel näher gestanden als Stalin. Außerdem hätten Trotzki und der Trotzkismus trotz aller Fehler immer einen Trend innerhalb der Arbeiterbewegung repräsentiert. Der Trotzkismus sei wirrköpfig gewesen und habe deshalb auf der politisch-ideologischen Ebene angegriffen werden müssen.9) Sie gaben sogar zu, daß Trotzki mit seiner Kritik an Stalin mehr als einmal recht gehabt habe. Trotzdem fiel das Urteil auch in diesen Schriften insgesamt negativ aus. Nach Wasetski war Trotzki als militärischer Führer wenig überzeugend. Die Rote Armee habe die imperialistische Intervention nicht wegen Trotzkis Mitwirkung zurückgeschlagen und sich im Bürgerkrieg behauptet, sondern trotz seiner Maßnahmen.

Wasetski behauptete auch, Trotzki habe weder bei der Vorbereitung der Revolution noch bei ihrer Durch­führung eine aktive Rolle gespielt. Aber wie erklärt sich dann, daß im November 1918, als die Ereignisse noch frisch im Gedächtnis waren, sogar Stalin schrieb, daß Trotzki eine zentrale Rolle gespielt habe?10) Litt Stalin unter Halluzinationen oder wollte er sich vielleicht bei Trotzki einschmeicheln? Wenn Trotzki jedoch keine zentrale Figur der Revolution gewesen sein sollte, dann hätte es Stalin auch nicht nötig gehabt, ihn sich zu verpflichten.

Es ist kein Wunder, daß sowjetische Leser angesichts derart kurioser Erklärungen bis heute verwirrt sind.

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Darüber hinaus wird ihnen auch noch erzählt, das ganze Konzept des »Kriegskommunismus«, nämlich die Militarisierung der Arbeit und des öffentlichen Lebens sowie die Bürokratisierung des Landes, sei prinzipiell verfehlt gewesen, und all diese Maßnahmen seien Folgen von Trotzkis Entscheidungen gewesen.

Das ist nur ein Teil der Wahrheit, der andere wurde nicht erwähnt, nicht einmal unter Glasnost. Vielleicht war Trotzki tatsächlich kein großer Stratege, aber auch die anderen wichtigen militärischen Führer im Bürgerkrieg begingen, Tuchatschewski nicht ausgenommen, große Fehler. Bei all seinem Extremismus und seiner Rigidität war Trotzki oft liberaler als die meisten seiner Genossen.

Wenn am Ende fast tausend zaristische Generäle in der Roten Armee dienten, dann war das hauptsächlich ihm zu verdanken, und nicht den Stalins und Woroschilows, die sich in hellem Zorn gegen die Beschäftigung dieser Experten der alten Ordnung gewandt hatten. (Auch was die Literatur und das kulturelle Leben betraf, vertrat Trotzki eine liberalere Linie als die Befürworter einer reinen Kultur der Arbeiterklasse. Er forderte z.B. die »Freiheit der Kunst« im Gegensatz zum »sozialistischen Realismus«.)

Er entwickelte sich zu einem gnadenlosen Kritiker der neuen Sowjetbürokratie, die sich in den zwanziger Jahren entwickelte (in seinem Buch Der neue Kurs) und zu einem leidenschaftlichen Kämpfer für inner­partei­liche Demokratie, ja er trat sogar für eine Art (sozialistisches) Mehrparteien-System ein. Der Verfasser einer Geschichte der Trotzkischen Ideen schreibt:

Das wirkliche Anliegen des Buchs Der neue Kurs ist die Erhaltung des revolutionären Geistes. Zu einer Zeit, als die soziale Revolution in der Sowjetunion noch kaum begonnen hatte, von der Revolution im Westen ganz zu schweigen, schien es ihm, als verwandle sich die Partei bereits in eine konservative, institutionalisierte Macht, mehr darauf aus, das wenige bereits Erreichte zu bewahren, als den Versuch zu machen, das viele zu verwirklichen, was sie noch nicht erreicht hatte. Frisches Blut, neue Ideen, Kritik, Diskussion, Enthusiasmus der Massen — all dies, so glaubte er, würde nicht nur die Partei demokratisieren, sondern auch ihren revolutionären Charakter erhalten, der ihre ursprüngliche Inspirationsquelle gewesen war — eine wahre Besessenheit von den wahren Zielen des Sozialismus...11)

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Es ist richtig, daß Trotzki erst in der Opposition zum großen Kämpfer für die Demokratie und gegen die Bürokratie wurde, aber das entwertet seinen Kampf keineswegs. Seine Ideen waren bei den jungen Kommunisten jener Zeit sehr populär, und es war in der Tat sein wichtigstes Ziel, die Jugend gegen den Parteiapparat zu mobilisieren.12)

Wenn viele Jahrzehnte lang immer der »gute Stalin« dem Erzschurken Trotzki gegenübergestellt worden war, so erschienen in der Glasnost-Ära beide Charaktere problematisch, aber in der Gesamtschau blieb die Darstellung Trotzkis immer negativer und zerstörerischer. Die alten Mythen wurden durch neue ersetzt. Man glaubte jetzt, daß Stalin die meisten seiner Ideen von Trotzki geerbt oder übernommen habe. Er habe sich so sehr vor Trotzki gefürchtet, daß er die blutigen Säuberungen der dreißiger Jahre nur begonnen habe, weil er von Trotzki dazu provoziert worden sei. Diese Ideen werden von den extremen Nationalisten und den Neostalinisten besonders stark vertreten, werden jedoch auch im Zentrum des politischen Spektrums relativ häufig geäußert und verdienen deshalb eine eingehendere Untersuchung.

Der neuen, in der Glasnost-Ära entstandenen Mythologie zufolge trägt Trotzki einen großen Teil der Schuld an den Schauprozessen und Säuberungen, weil er zur physischen Eliminierung Stalins aufgerufen haben soll. So schreibt Wolkogonow, Trotzkis Buch Verratene Revolution, das Stalin Anfang 1937 erhalten habe, sei der Tropfen gewesen, der das Faß zum Überlaufen brachte.13) Eine frühere Version dieser Interpretation der Ereignisse findet sich in Roy Medwedews in der Sowjetunion 1988 publiziertem Buch Die Wahrheit ist unsere Stärke:

Zu Beginn der dreißiger Jahre forderte Trotzki in seinen Artikeln keineswegs zum Sturz Stalins auf, er schrieb, im Gegenteil, unter den herrschenden Umständen müsse der Sturz des unter Stalin entstandenen bürokratischen Apparats unvermeidlich zum Sieg der Konterrevolution führen. Er riet seinen Anhängern, sich auf die ideologische Propaganda zu beschränken. Mitte der dreißiger Jahre jedoch, mit Beginn der Massen­repressionen, kamen Trotzki und seine engsten Berater offenbar zu dem Ergebnis, daß man Stalin als einen Tyrannen stürzen müsse. Damals gab Stalin dem NKWD Weisung, Trotzki ermorden zu lassen.14)

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Was soll man mit solchen Behauptungen anfangen? Erstens stimmt die Chronologie nicht: Die ersten Exemplare von Verratene Revolution wurden im Mai 1937 ausgeliefert. Selbst wenn der NKWD Tag und Nacht an der Übersetzung des Buches gearbeitet hätte, könnte sie unmöglich schon 1936, zum Zeitpunkt der ersten Prozesse, an Stalin weitergeleitet worden sein. Tatsächlich hatte Wolkogonow auch in einer früheren Publikation geschrieben, Stalin habe das übersetzte Manuskript erst Ende 1937 erhalten.16) Wir wissen nicht, warum er seine Chronologie geändert hat, aber was immer auch der Grund gewesen sein mag, es kann nicht Trotzkis Buch gewesen sein, das Stalin zu seiner »verzweifelten Entscheidung« getrieben hat.

Es gibt jedoch bei dieser Version noch eine weitere Schwierigkeit: Der Leser kann suchen, soviel er will, er wird in Verratene Revolution keinen Satz, ja nicht einmal einen Hinweis darauf finden, daß der Tyrann Stalin getötet werden solle; entweder weil Trotzki der Mut fehlte, für seine Überzeugung einzutreten, oder, und das ist wahrscheinlicher, weil er als orthodoxer Marxist im Gegensatz zu Stalin nicht an den individuellen Terror glaubte. Trotzki hat weder zu Stalins physischer Eliminierung aufgerufen — noch ist er je mit diesem Ziel aktiv geworden.

Wasetski, gewiß kein Bewunderer Trotzkis, betonte diesen wichtigen Punkt mit folgendem Trotzki-Zitat: »... durch Mord kann man die sozialen Kräfteverhältnisse und den objektiven Kurs der Entwicklung nicht verändern. Die Entfernung des Individuums Stalin würde heute bedeuten, daß einer der Kaganowitsche an seine Stelle treten würde ...«16)

Die westlichen Biographen Stalins (und Trotzkis) tragen eine gewisse Mitverantwortung an den Fantasien über Trotzkis Rolle als indirekter Initiator der Prozesse. Deutscher vertrat beispielsweise die Ansicht, daß die Führer der Opposition vielleicht versucht hätten, Stalin zu stürzen, wenn sie die schrecklichen Niederlagen der Roten Armee von 1941 und 1942 noch erlebt und Hitler vor den Toren Moskaus gesehen hätten.17)

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Stalin sei fest entschlossen gewesen, die Dinge nicht so weit gedeihen zu lassen. Vierzig Jahre später stellte sich Stalin in Wolkogonows simplifizierter Version vor, Hitler werde Trotzki zu seinem Moskauer Vizekönig ernennen ... Die Idee, daß Hitler einen jüdischen Kommunisten zum Vizekönig hätte ernennen können, entbehrt nicht einer gewissen Originalität, aber selbst wenn Stalin ein Wahnsinniger war, so war er doch kein Narr, und eine derartige »Angst« hätte ihn nicht einmal im wildesten Delirium befallen.18)

 

Im allgemeinen tendieren sowjetische Autoren zu Trotzkis internationalen Verbindungen, seinem Einfluß auf die öffentliche Meinung und seiner gesamten politischen Bedeutung in den dreißiger Jahren zu einer krassen Überbewertung. Dies mag zum Teil auf einen Mangel an Informationen zurückzuführen sein: Nachdem sie so lange von westlichen Informationsquellen abgeschnitten waren und selbst in der Glasnost-Zeit normalerweise keinen Zugang zu dem entscheidenden Beweismaterial in den sowjetischen Geheimarchiven erhielten, haben sie denkbar ungünstige Voraussetzungen für das Treffen realistischer Urteile.

So weist etwa Wolkogonow auf die Verbindungen hin, die Trotzki mit Hilfe des deutsch-litauischen Korrespondenten Sobolevicius zu seinen Anhängern in der Sowjetunion aufrechterhalten habe. Er erwähnt jedoch nicht und weiß wahrscheinlich auch nicht, daß diese Verbindung in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren bestanden hatte, und daß jener Sobolevicius (später besser bekannt unter dem Namen Jack Soble) außerdem ein NKWD-Agent war. An anderer Stelle argumentiert Wolkogonow, Trotzkis Schriften seien in Dutzenden von Ländern erschienen, und das Bild Stalins in der Weltöffentlichkeit sei nicht von Feuchtwanger und Barbusse geformt worden, sondern in erster Linie durch Trotzkis Werke.19) Auch dies ist wiederum eine extreme Übertreibung, denn die Schriften ausländischer Kommunisten und Mitläufer erreichten ein unendlich viel größeres Publikum als Trotzkis Bücher.

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Biographen von Stalin, Trotzki und anderen politischen Führern erliegen häufig der Versuchung, Dinge zu schildern und Erklärungen zu bringen, für die sie keine Beweise haben. Manchmal kann dies angesichts fehlender Beweise notwendig sein, und es spricht einiges für das Anstellen von Vermutungen, die auf großer Sachkenntnis basieren, solange sie dem Leser nicht als gesicherte Tatsachen präsentiert werden. Es schadet demnach nichts, wenn Wolkogonow beschreibt, wie Stalin am 21. August 1940, dem Tag, an dem die Nachricht von Trotzkis Ermordung eintraf, gegen zwölf Uhr mittags sein Büro betrat, zu Poskrebyschew »guten Morgen« sagte und sich hinsetzte, um eine Pfeife zu rauchen.

Es kann genausogut sein, daß er früher oder später oder überhaupt nicht zur Arbeit kam oder daß Proskrebyschew an jenem Tag nicht da war, oder daß Stalin schlechte Laune hatte und den Raum betrat, ohne ein Wort zu sagen. Es ist sogar möglich, daß ihm zeitweise der Tabak ausgegangen war.20) Es kann auch durchaus sein, daß Stalin im kleinen Kreis geäußert hat, es sei ein Fehler gewesen, Trotzki 1929 überhaupt gehen zu lassen, auch wenn es dafür keinen Beweis gibt.

Doch wir können selbst heute, nach all den Enthüllungen, unmöglich wissen, was Stalin dachte, wenn er Trotzkis Bücher oder Artikel las oder Berichte über Trotzkis Aktivitäten im Exil erhielt, denn darüber gibt es keinerlei gesicherte Quellen. Vielleicht hielt Stalin Trotzki tatsächlich für eine politische Figur, die all den Männern, die er im Kreml um sich hatte, weit überlegen war (wie Wolkogonow behauptet).

Vielleicht war Stalin tatsächlich so vorrangig damit beschäftigt, was Trotzki tun oder von seiner Politik halten könnte, daß daraus eine Art Besessenheit wurde, das dominierende Handlungsmotiv in seinem Leben. Es ist jedoch genauso wahrscheinlich, daß Stalin wegen Trotzki keine einzige schlaflose Nacht verbrachte. Stalin sagte zu Emil Ludwig, als dieser ihn 1931 interviewte, Trotzki sei in der Sowjetunion praktisch vergessen. War dies eine schlichte Lüge, oder hat Stalin seine Meinung später geändert und ist zu dem Schluß gekommen, daß Trotzki, obwohl im Exil und ohne jede politische Basis, sein gefährlichster Feind sei? Sicherlich hat Stalin den Befehl erteilt, Trotzki zu töten, aber das gilt auch für eine ganze Reihe anderer Emigranten und beweist nicht, daß Stalin panische Angst vor ihnen hatte.

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Wolkogonow beschreibt Trotzki als den »großen Meister der Intrige«.21) Tatsächlich hat sich Trotzki jedoch nur selten an Intrigen beteiligt und war kein guter Ränkeschmied; im Vergleich zu Stalin war er auf diesem Gebiet ein blutiger Anfänger. Wäre er ein geschickterer Verschwörer gewesen, hätte ihn Stalin nicht mit so demütigender Leichtigkeit vertreiben können. Wohl war Stalins Logik nicht die eines normalen Menschen, und wir können nicht wissen, welche Gedanken und Ängste ihn Ende der dreißiger Jahre beherrschten. Trotzdem ist die Idee, daß er Millionen von Menschen töten ließ, weil er ehrlich glaubte, sie seien Teil einer riesigen trotzkistischen Verschwörung, ebenso an den Haaren herbeigezogen wie die Idee, daß sie für den japanischen oder den rumänischen Geheimdienst gearbeitet hätten. Wenn Stalin wirklich glaubte, daß Trotzki eine tödliche Gefahr darstellte, dann hätte sich sein Verhalten nach der Ermordung Trotzkis geändert. Es gab jedoch keine solche Veränderung; Stalins Verhalten in den fünfziger Jahren war im Prinzip dasselbe wie in den dreißiger Jahren.

Es gab natürlich Differenzen in der Bewertung Trotzkis durch sowjetische Autoren in der Glasnost-Zeit. So hat sich etwa Roy Medwedew gegen Wolkogonows Theorie vom »Dämon der Revolution« gewandt und die Ansicht vertreten, daß sie viel besser auf Stalin gepaßt hätte.22) Grigori Pomerants hat daraufhingewiesen, daß es nach 1917 nur taktische politische Differenzen zwischen Lenin und Trotzki gegeben und daß er aus einer historischen Perspektive Lenin viel näher gestanden habe als Stalin.23)

Dies waren jedoch die häretischen Gedanken von Außenseitern; die linientreuen Historiker nahmen auch weiterhin eine negative Haltung ein: »Wahrscheinlich liebte er sich in der Revolution mehr als die Revolution selbst.« »Unter dem Banner seines Kampfes gegen Stalin wollte Trotzki lediglich den Stalinismus durch den Trotzkismus ersetzen, und dieser war dem Leninismus genauso feindlich wie der Stalinismus.«24) Nach diesem Denkansatz war der Trotzkismus nie eine wirkliche Alternative zum Stalinismus, weil er einerseits unpraktikabel war (das Konzept von der Weltrevolution) und andererseits dem Stalinismus zu ähnlich (Militarisierung und Bürokratisierung des öffentlichen Lebens, Anwendung verschiedener Arten von Repression, etc.).

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Die Fähigkeit, Freunde zu gewinnen und Leute zu beeinflussen, gehörte nicht zu Trotzkis zahlreichen Talenten. Und doch ist man unwillkürlich betroffen über die unangenehme Neigung sowjetischer Autoren — die nicht notwendigerweise Antisemiten oder Neostalinisten sind —, alles, was Trotzki tat oder schrieb, negativ zu interpretieren. Zwei Beispiele sollten genügen: Trotzki wurde kritisiert, weil er am 25. März 1935 in sein Tagebuch schrieb, daß es keine Revolution gegeben hätte, wenn er und Lenin sich zu jener Zeit nicht in Petersburg aufgehalten hätten. Dies ist vielleicht keine sonderlich bescheidene Bemerkung, aber sie ist im Prinzip richtig.

Ein anderer Kommentar, der sich auf eine Eintragung in Trotzkis Tagebuch bezieht: Trotzki hatte die Auto­biographie des Priesters Awakum gelesen, des Führers der Altgläubigen im 17. Jahrhundert, der vielen Verfolgungen ausgesetzt war und schließlich auf dem Scheiterhaufen endete. Trotzki schrieb:

Ich dachte an die Schicksalsschläge, die wir erlitten hatten, und erinnerte Natascha [Trotzkis Frau] an das Leben des Priesters Awakum. Sie sind zusammen durch Sibirien getaumelt, der rebellische Priester und seine treue Frau, ihre Füße sanken tief in den Schnee ein, und die arme erschöpfte Frau fiel in den Schneewehen immer wieder zu Boden. Awakum berichtet: »Und ich kam heran, und sie begann mir Vorwürfe zu machen und sagte: <Wie lange soll dieses Leiden noch dauern, Erzpriester?> Und ich sagte: <Markowna, es wird dauern, bis wir tot sind.> Und sie antwortete mit einem Seufzer: <So sei es, Petrowitsch, laß uns unseren Weg fortsetzen.>«

Diese Eintragung wurde von einem Mann gemacht, der seinen Sohn und zahlreiche Verwandte durch die Mörder des NKWD verloren hatte und der von Land zu Land getrieben wurde, ohne irgendwo dauerhaft Asyl zu finden. In diesem Licht gesehen — und auch, wenn man Trotzkis späteres Schicksal betrachtet — erscheint die Geschichte Awakums in seinem Tagebuch keineswegs deplaciert. Das einzige, was den sowjetischen Historikern jedoch dazu einfällt, sind einige höhnische Bemerkungen, daß Trotzki geprahlt habe, seine Willenskraft und sein Durchhaltevermögen würden selbst die des unglücklichen Klerikers noch übertreffen.28)

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Die ideologische Kritik an Trotzki hat jedoch auch einen wahren Kern. Er hat zwar Stalin nicht inspiriert, aber er hat den Stalinismus nicht als das erkannt, was er wirklich war. Er glaubte, selbst unter Stalin sei die Sowjetunion im Prinzip noch ein sozialistischer Arbeiterstaat geblieben, fortschrittlicher als jeder andere Staat. Daß Trotzki arrogant und egozentrisch war und zahlreiche politische Fehlurteile traf, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Als er 1927 für innerparteiliche Demokratie eintrat und sogar für ein (begrenztes) Mehrparteiensystem, hatte er diese Überzeugungen nicht in die Praxis umgesetzt, solange er selbst die Macht dazu gehabt hatte. Wenn Kamenew, Bucharin, Sinowjew und viele andere 1923 mit Stalin gemeinsame Sache machten, dann hauptsächlich, weil sie Trotzki und seine Ambitionen fürchteten. 

Wenn Trotzki durch einen historischen Zufall in der Sowjetunion an die Macht gelangt wäre, dann wäre sein Regime diktatorisch und hart gewesen, entsprechend der jakobinisch-leninistischen Tradition, in der er stand.

Es gibt jedoch einen fundamentalen Unterschied zwischen ihm und Stalin: Trotzki war eine autoritäre Persönlichkeit, aber er hatte weder die Mentalität eines orientalischen Despoten, noch war er ein paranoider Massenmörder. Die Gleichsetzung von Trotzkismus und Stalinismus ist deshalb ungerecht und historisch nicht haltbar. Auch die Versuche, Stalins Terrorkampagne mit den »Provokationen« Trotzkis zu erklären, gehören ins Reich der Phantasie. Einige sowjetische Historiker warfen Trotzki vor, er habe nach 1937 zum Sturz des stalinistischen Regimes aufgerufen. Sie hätten ihn einen Feigling genannt, wenn er geschwiegen hätte. Wie hätte er auch schweigen können angesichts der permanenten Verleumdungen, die von Moskau ausgestreut wurden? Armer Trotzki, was immer er auch getan hätte, die sowjetischen Historiker hätten es falsch gefunden; nicht einmal sein Selbstmord hätte ein positives Echo gefunden.

Als Trotzki im August 1940 in Mexiko ermordet wurde, berichtete die Prawda mit einer Verspätung von drei Tagen, daß der »internationale Spion« von einem seiner nächsten Anhänger getötet worden sei. Danach galt der Fall für Jahrzehnte als abgeschlossen; es wurden keine Nachforschungen angestellt. Erst im Rahmen von Glasnost wurde der Fall wieder aufgenommen.

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Obwohl der offiziellen sowjetischen Version der Geschichte weder im Westen noch im Osten jemand Glauben schenkte, war eine Formel, wie sie die Prawda verwendete, damals ziemlich angemessen. In jenen Tagen war es für Regierungen noch nicht üblich, mit im Ausland verübten Terrorakten zu prahlen, wie im Zeitalter von Khomeini und Gaddafi.

Es wurde also nicht publik gemacht, als 1937 Ignaz Reiss, ein Geheimdienstüberläufer, ermordet wurde oder als die militanten Trotzkisten Erwin Wolf und Rudolf Klement, ersteren in Frankreich, letzteren in Spanien, das gleiche Schicksal ereilte; es ereigneten sich noch weitere mysteriöse Todesfälle, wie etwa die von Leon Sedow und Walter Kriwitski (ebenfalls ein übergelaufener Geheimagent), die vielleicht auch keines natürlichen Todes gestorben waren. Die Mörder hatten jedoch (wenn es überhaupt welche gab) ihre Spuren so gut verwischt, daß nichts bewiesen werden konnte.26)

Der Prozeß gegen Jacson alias Mornard alias Mercader brachte zahlreiche Informationen, auch wenn der Mörder sein wirkliches Motiv und den Hintergrund seines Auftrags geheimhielt. Mercader ließ einen Brief zurück, in dem er behauptete, er sei ursprünglich ein überzeugter Anhänger Trotzkis gewesen, »bereit, seinen letzten Blutstropfen für ihn zu vergießen«. In Mexiko sei ihm jedoch klar geworden, daß der geliebte Führer nur ein krimineller Konterrevolutionär sei, der im Dienst (ungenannter) kapitalistischer Regierungen stehe.27) Da und erst da habe er beschlossen, die Welt von diesem Monster zu befreien.

Die wahre Identität von Mercader (sowie ein Teil seiner Motive und des generellen Kontexts der Sache) wurde erst 1948 bekannt, als Enrique Castro aus der Sowjetunion überlief. Er war einer der Führer der kommunistischen Partei Spaniens gewesen und hatte seine Informationen von Caridad, Mercaders Mutter.

Tatsächlich war es dem NKWD gelungen, Trotzkis Umgebung mit Mercader und anderen sowjetischen Agenten zu infiltrieren. Aus mehreren Quellen geht hervor, daß Mercader anscheinend in Paris von einem NKWD-Oberst namens Eitington (alias Kotow, Leontjew und Rabinowitsch) angeworben worden war und einen falschen Paß und mehrere tausend Dollar erhalten hatte.

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Mercader wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Als er 1960 freigelassen wurde, ging er nach Moskau. Er lebte anscheinend nicht besonders glücklich in der sowjetischen Hauptstadt, wurde auch in der CSSR gesichtet und ging schließlich nach Kuba, wo er 1978 starb. Stalin hatte ihn zu einem Helden der Sowjetunion gemacht. Auch Eitington erhielt den Leninorden und, wichtiger noch, das Versprechen, daß er im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger beim NKWD nicht exekutiert werden würde. Nach Stalins Tod wurde er offensichtlich verhaftet, kam jedoch nach ein paar Jahren wieder frei und arbeitete bei einem sowjetischen Verlag. Er starb 1981 in der sowjetischen Hauptstadt.

 

Die Geschichte, wie Stalin die Ermordung seines alten Rivalen plante, war natürlich für sowjetische Bürger von beträchtlichem Interesse, und sie wollten auch mehr über die Persönlichkeit seines Mörders wissen. Sie sollten enttäuscht werden, denn die Archive des NKWD sind bis heute ebensowenig zugänglich wie die Archive westlicher Geheimdienste. Die in der Glasnost-Ara veröffentlichten Enthüllungen waren in aller Regel schon Jahrzehnte zuvor im Westen publiziert worden, einschließlich einiger, die sehr wahrscheinlich falsch sind — wie etwa die Geschichte, Mercaders Mutter sei Eitingtons Geliebte gewesen. Einige Bekannte Mercaders haben ihre Erinnerungen veröffentlicht, darunter ein spanischer Landsmann Mercaders und ein sowjetischer Lateinamerika-Spezialist. Keiner von beiden scheint jedoch Mercader besonders gut gekannt zu haben. Auch ist es nicht sicher, daß Mercader, ein kleines Rädchen in einem riesigen Getriebe, alles über den Ursprung des Gesamtplans wußte.

Juan Kobo, ebenfalls Spanier, ärgerte sich über Vermutungen in den sowjetischen Medien, daß Mercader nur ein bezahlter Killer gewesen sei und argumentierte, er sei sowohl Henker als auch Opfer gewesen.28) Warum Opfer? Mercader sei fest davon überzeugt gewesen, daß die Trotzkisten in Spanien mit den Anarchisten kooperiert hätten, die er als Leutnant und Kommissar der Armee der spanischen Republik für gefährliche Feinde hielt. Trotzki zu »liquidieren« sei deshalb das gleiche, wie einen Verbündeten des Faschismus zu töten, einen Feind Spaniens und nicht nur der Sowjetunion. Kobo vergleicht Mercaders Tat mit der eines sowjetischen Partisanen, der während des Krieges einen hohen Nazi-Beamten tötete: »Man darf an Mercaders Verhalten von 1940 nicht die heute gültigen Maßstäbe anlegen, denn die damalige Situation war viel komplizierter.«

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Der Vergleich überzeugt in keiner Weise, denn unabhängig von allen anderen Überlegungen muß sich Mercader der Tatsache bewußt gewesen sein, daß der Spanische Bürgerkrieg 1940 vorüber war. Wenn schon kein Versuch gemacht wurde, Franco zu töten, warum dann Trotzki ermorden? Der Autor enthüllt beiläufig, die Operation zur Liquidierung Trotzkis sei bereits drei Jahre vor dem Mord geplant worden. Eine große Zahl von Leuten sei beteiligt gewesen, für die Spanier unter ihnen, einschließlich Mercaders, sei jedoch ursprünglich keine zentrale Rolle vorgesehen gewesen.

Im Rahmen von Glasnost wurden einerseits die Forderung nach einer (gesetzlichen) Rehabilitierung Trotzkis, andererseits aber auch scharfe Vorwürfe gegen den Gründer der Roten Armee erhoben.29) Unter Stalin war es Sitte gewesen, Trotzki für alle Arten von Verbrechen verantwortlich zu machen, nicht jedoch für die offizielle sowjetische Politik nach 1923. Nur die russischen Emigranten der zwanziger und dreißiger Jahre behaupteten, Stalin sei ein heimlicher Trotzkist gewesen oder in Wirklichkeit habe kein Unterschied zwischen den beiden Führern bestanden. Diese Ansichten fanden damals jedoch keine weite Verbreitung, wurden nicht ausführlich diskutiert und wären in der Sowjetunion als Lästerungen betrachtet worden.

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß der Mann, der gesagt hat, »der Stalinismus ist die Syphilis der Arbeiterbewegung«, in späteren Jahren in den Augen von nicht wenigen Russen zu Stalins Vorbild avancierte. Teilweise lag dies an der radikalen Phraseologie der Trotzkisten; an den Anklagen, daß Stalin ein Menschewist, ein Reformist und ein Opportunist geworden sei, daß er Lenin verraten habe, ja sogar, in einem bestimmten Stadium, daß er einige von Trotzkis Ideen gestohlen (»konfisziert«) habe. Trotz dieser Phraseologie steht jedoch fest, daß Trotzki genau wie Bucharin nicht für ein gewaltsames Ende der NEP eintrat, sondern für einen allmählichen Übergang zum Sozialismus.

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In den dreißiger Jahren, während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit hätte niemand Trotzki für die Kollektivierung verantwortlich gemacht, schon weil sie damals als ein großer Erfolg angesehen wurde. Dies begann sich erst in den sechziger Jahren zu ändern, als Trotzki in Rußland zunehmend attackiert wurde, und zwar nicht, weil er zu Stalin in Opposition gestanden, und nicht, weil er Sabotageakte verübt habe, sondern weil er eine Inspirationsquelle für Stalin gewesen sei.

Diese neue Denkweise hatte ihren Ursprung in den Kreisen der rechtsorientierten, patriotisch-religiösen Dissidenten, deren Anzahl und Einfluß gering waren. Sie verbreitete sich jedoch bald auch im rechten Establishment, wurde in Zeitschriften wie Nasch Sowremennik, Molodaja Guardija und Moskwa artikuliert und war in den siebziger Jahren sogar, wenn auch viel seltener, in den Schriften einiger liberaler Autoren zu finden.30) Es gab allerdings einen grundlegenden Unterschied, denn die Liberalen machten Trotzki zwar für den Terror im Bürgerkrieg der zwanziger Jahre verantwortlich, akzeptierten jedoch nicht das Konzept von Trotzki als Stalins Vorbild.

Die Vorwürfe gegen Trotzki lauteten im einzelnen, er habe versucht, das sowjetische Zivilleben zu militarisieren (z.B., indem er Gewerkschaften nach militärischen Prinzipien organisierte), und er habe Stalin angeregt, die ruinöse Kollektivierung der Landwirtschaft durchzuführen.31) Er habe Stalin zu dem Blutbad in den dreißiger Jahren provoziert, indem er ihn auf jede erdenkliche Weise gereizt und systematisch versucht habe, die traditionelle russische Kultur zu zerstören.

Während einer der rechtsorientierten Autoren Trotzki für die Zerstörung der Moskauer Kirchen verantwortlich machte32) — Trotzki befand sich damals im französischen Exil —, gab ihm ein zweiter die Schuld an der Invasion in Afghanistan und ein dritter an der Verfolgung russischer Schriftsteller wie Esenin und Bulgakow.33) Wenn überhaupt Beweise für diese Behauptungen angeführt wurden, fehlte es ihnen nicht an Originalität; so entdeckte ein Literaturkritiker in einem Gedicht von Esenin einen geheimnisvollen Bezug auf »einen Mann in Weimar«. Der Dichter schloß daraus, daß es sich bei dem Schurken um Trotzki handeln müsse, weil dieser eine Zeitlang in Weimar gelebt habe.34) Die Kollektivierung der Landwirtschaft fand statt, lange nachdem Trotzki aus der Sowjetunion ins Exil getrieben worden war.

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Dies hat jedoch sowjetische Autoren nicht daran gehindert, ihm an der Katastrophe mehr Schuld zu geben als Stalin. So gibt Wasili Below, einer der populärsten Sowjet­schriftsteller in einem 1989 veröffentlichten Roman, Stalins Gedanken wie folgt wieder: »Die Reise, die er letztes Jahr nach Sibirien gemacht hatte, überzeugte ihn, daß Trotzki bezüglich der Bauernschaft absolut recht hatte; diese Scheißer kann man nicht einmal als Kanonenfutter auf den Barrikaden verwenden.«35)

Trotzki hatte keine hohe Meinung von der Bauernschaft, aber er sprach nie in beleidigenden Ausdrücken über sie, wie es beispielsweise Gorki tat. Führende sowjetische Zeitungen veröffentlichten bittere politische Angriffe auf Trotzki, andere machten ihn dafür verantwortlich, daß unerwünschte Schriftsteller, wie etwa Mandelstam und Pasternak, in der Sowjetunion immer populärer würden.36) Sie erwähnten nicht, daß er viel von Esenin gehalten hatte, der erst in späteren Jahren zu einem Helden der Rechten avancierte. So schrieb etwa V. Chatjuschin in der literarischen Monatschrift Moskwa:

Trotzki träumte davon, das Land in einen militär-feudalistischen Staat zu verwandeln, um auf diese Weise die Weltrevolution durchzuführen ... Das bedeutet, er träumte davon, der Idee der Freimaurer, ihre Herrschaft auf die ganze Welt auszudehnen, zur Legalität zu verhelfen. Das Haupthindernis auf diesem Weg war Stalin. Ihm ist aller Wahrscheinlichkeit nach der abenteuerliche Charakter dieser freimaurerisch-zionistischen Verschwörung gegen die Menschheit bewußt geworden.«37)

 

Welche Gründe steckten hinter diesen Angriffen? Solange Trotzki eine einflußreiche Position innehatte, also bis etwa 1923, war er natürlich genauso verantwortlich für alle Mängel, Niederlagen und Verbrechen der herrschenden Gruppe, zu der er genau wie die anderen Parteiführer gehörte. Die Härte seines Vorgehens ist schon erörtert worden; dieselben Vorwürfe könnte man gegen Lenin oder die anderen kommunistischen Führer erheben, insbesondere gegen Dserschinski, den Leiter der Tscheka. Aber Lenin und Dserschinski waren sakrosankt, sie durften nicht verantwortlich gemacht werden. Trotzki hingegen war eine naheliegende und leicht zu treffende Zielscheibe.

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Dies änderte sich in der Glasnost-Ara bis zu einem gewissein Grad; jetzt konnte die alte Garde der Bolschewiki — zu der viele Juden gehörten — als Angriffsziel gewählt werden. So etwa Swerdlow, den man für die Ermordung der Zarenfamilie und das Kosaken-Pogrom verantwortlich machte. Sogar einige entwurzelte Russen wie Bucharin und Lunatscharski waren betroffen; sie sollten bei der Zerstörung der traditionellen russischen Kultur geholfen haben.

In gewissem Umfang spielte Trotzki nur eine Stellvertreterrolle, solange die wirklich Schuldigen (zu denen vor allem Lenin gehörte) von den Rechten nicht genannt werden konnten. Es wäre jedoch falsch, den echten Haß zu unterschätzen, den Teile der russischen Rechten und der Neostalinisten gegen ihn hegten. Er war eine Personifikation alles Bösen, und er war als Kommunist und als Jude doppelt verwundbar; sein »ursprünglicher Name« Leib Bronstein wurde von seinen Feinden immer besonders gern im Munde geführt, eine Art der Diffamierung, die einst ein Monopol der Nazis gewesen war.38)

Niemand hätte auch nur davon geträumt, von Lenin als Uljanow, von Gorki als Peschkow oder von Kirow als Kostrikow zu sprechen. Die Prophezeiung eines russischen Juden (»die Trotzkis machen die Revolution, und die Bronsteins werden den Preis dafür bezahlen müssen«) ist genauer in Erfüllung gegangen, als sich irgend jemand zu träumen gewagt hätte.

Es spielte kaum eine Rolle, daß Trotzki in Wirklichkeit gegen die Kollektivierung war. Er hatte geschrieben, ohne moderne Maschinen sei es genauso unmöglich, die privaten Höfe von Kleinbauern zu lebensfähigen Kollektivbetrieben zusammen­zuschließen, wie viele kleine Boote zu einem Hochseedampfer zusammen­zumontieren. Er hatte die kommende Katastrophe vorausgesagt, das Abschlachten des Viehbestands, die Zerstörung der russischen Landwirtschaft, und er rief den Kreml vom Exil aus bei vielen Gelegenheiten dazu auf, von seinem brutalen Unternehmen abzulassen, selbst dann noch, als ein Großteil des Schadens bereits angerichtet war.39)

All dies wurde von Trotzkis Kritikern ignoriert: Stalin und seinen Kreaturen, die die Kollektivierung geplant und ausgeführt hatten, wurde wenigstens teilweise verziehen, aber Trotzki wurde nicht rehabilitiert, obwohl er dagegen gewesen war.

Trotzkis Urteile waren oft falsch. Es gibt jedoch keinen Beweis dafür, daß er nach seinem Ausschluß aus der Parteiführung noch Einfluß auf Stalins Ideologie oder seine praktische Politik gehabt hätte. Im Gegenteil, die Tatsache, daß Trotzki einen bestimmten Kurs vorschlug, war wahrscheinlich Grund genug für Stalin, diesen Kurs zu verwerfen.40) Unter Stalin waren Sündenböcke unverzichtbar, und Trotzki war eine ideale Wahl. Jahrzehntelang war er der Satan gewesen, und in der Glasnost-Ära blieb eine gewisse Kontinuität gewahrt. Er war immer noch ein Bösewicht, wenn auch aus anderen Gründen.

Wie schon der Patriarch in Lessings Nathan sagt, nachdem er alle Zeugenaussagen gehört hat, die Nathans Unschuld beweisen: »Tut nichts, der Jude wird verbrannt.« In der Tat ist der Vergleich zwischen Trotzki und Leasings Nathan, einem guten und weisen Mann, nicht ganz befriedigend. 

Aber wie viele Sünden und Unterlassungssünden Trotzki auch immer begangen haben mag, es widerspricht jedem Gerechtigkeitssinn, wenn man ihn zum großen Schurken in einer Gruppe von Heiligen macht, die von Lenin angeführt wurden.

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