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Einleitung  

 

 

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Stalin hatte in vieler Hinsicht sehr untypische Eigenschaften für einen Mann, der zum Führer einer großen Nation aufstieg. Er war körperlich unattraktiv, strahlte keine Wärme aus und vermittelte keine Begeisterung, er war weder ein guter Redner noch ein großer Denker, und er erweckte auch nicht den Eindruck, er sei ein großer Schurke. Trotzdem hatte er eine größere Wirkung auf die Geschichte der Sowjetunion und der Welt als jede andere Gestalt dieses Jahrhunderts.

Das Rätsel Stalin — und die Frage: »Wie konnte es dazu kommen?« — wird noch Generationen von Biographen, Historikern, Psychologen und Philosophen beschäftigen und auch Romanschriftsteller und Dramatiker nicht ruhen lassen. Natürlich geht es dabei nicht nur um das Geheimnis der Psychostruktur und des Charakters eines einzelnen Mannes, sondern um eine ganze Periode in der Geschichte einer Nation.

Aufgrund der Enthüllungen und Debatten der Glasnost-Zeit wissen wir heute beträchtlich mehr über Stalin und den Stalinismus als noch vor ein paar Jahren. Dieses Buch ist ein Versuch, das neue Wissen auszuwerten, auch wenn die Antworten auf viele Fragen noch immer im Dunkeln liegen und manche vielleicht nie beantwortet werden können.

In den dreißiger Jahren schrieb Karl Kraus im ersten Satz eines langen Essays: »Zu Hitler fällt mir nichts ein.« Er meinte vermutlich, über Hitler zu schreiben sei degoutant, weil über ihn bereits eine ausufernde Diskussion geführt worden sei, und daß es ihm schwerfalle, zu diesem Mann noch etwas Neues zu sagen.

Dennoch war Hitler ein wichtiges Thema, denn seine Gedanken und Taten hatten außerordentlich starke Auswirkungen auf das Leben von Karl Kraus und auf das fast aller anderen Europäer. Insgesamt gilt dasselbe auch für Stalin, dessen Name mit den Worten von Wasili Grossman »für alle Ewigkeit in die russische Geschichte eingeschrieben ist«.1)

Als Stalin am 5. März 1953 starb, schien die Zeit stillzustehen. Vielleicht wurden nicht ganz so viele Tränen vergossen, wie es einige zeitgenössische Bericht­erstatter gewünscht hätten, aber die Mehrheit der Menschen in der Sowjetunion war wie gelähmt. Man hatte ihnen viele Jahre lang erzählt, daß sie dem weisen und starken Boß (Chosjain) alles verdankten. Er war allwissend und unfehlbar, und er hatte das Land im Krieg zum Sieg geführt. Man hatte ihnen auch erklärt, daß sie ohne Stalins Führung verloren sein würden, eine leichte Beute für die kapitalistischen Wölfe.*

Sobald jedoch Stalin seine letzte Ruhe gefunden hatte, nahm die Intensität der Lobhudelei auf den Führer dramatisch ab. Sein Name wurde nur noch unregelmäßig in den Medien erwähnt, und wenn früher in keinem Buch, keinem Artikel und keiner Rede eines oder mehrere Stalinzitate fehlen durften, so galt das plötzlich nicht mehr. Die Veröffentlichung der Werke Stalins wurde mit dem 13. Band abgebrochen, und vorläufig erschien Stalin auch nicht mehr in Filmen und auf Gemälden. 

Es wurde kein offener Versuch gemacht, seinem Ansehen zu schaden, aber der riesige Schatten, den er so lange geworfen hatte, begann zu schrumpfen und zu verblassen. Nur drei Monate nach seinem Tod wurde in einem Leitartikel der Prawda (am 10. Juni 1953) zum ersten Mal der Begriff »Personenkult« verwendet. Einen Monat später warf Georgi Malenkow auf einer Konferenz des Zentralkomitees die Frage nach dem Stalin-Kult und der »Verzerrung leninistischer Normen« unter seiner Herrschaft auf. Die Furcht, daß die Herde ohne den guten Hirten verloren sein könnte, nahm schnell ab.

* Die vorliegende Untersuchung basiert hauptsächlich auf den Enthüllungen über Stalin und die Debatte über den Stalinismus in den sowjetischen Medien, die 1987 begann und, was den Zugang zu neuen Dokumenten betrifft, im Sommer 1989 endete. Die Diskussion über die Ursprünge und Folgen des Stalinismus wird zwar zweifellos weitergehen, aber es besteht nur wenig Hoffnung, daß man die wirklich wichtigen Dokumente in den sowjetischen Archiven, die Stalin betreffen, in naher Zukunft zugänglich machen wird. So hat W.W. Tsaplin, der Direktor der wichtigsten Archive des sowjetischen Staates, verkündet, daß die Materialien zur »Repression« noch immer als geheim klassifiziert sind und es verboten ist, auf sie Bezug zu nehmen (Woprosy Istorii KPSS 1, 1990, S. 57). Dasselbe scheint auch für andere zentrale Aspekte der Stalin-Ara zu gelten.

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Drei Jahre nach Stalins Tod wurden auf dem 20. Parteikongreß durch Nikita Chruschtschow einige seiner Verbrechen enthüllt. Chruschtschow schwang sich bald zum mächtigsten Mann der kollektiven Führung auf. Weitere Enthüllungen folgten 1961 nach dem 22. Parteikongreß. Für viele treue Anhänger der Partei war dies ein großer Schock. Tatsächlich wurde Chruschtschows berühmte Rede 30 Jahre lang nicht veröffentlicht. Seine Kritik an Stalin hat bestimmte Grenzen nie überschritten, und durch die Rede wurden vor allem Stalinisten rehabilitiert, die dem Terror zum Opfer gefallen waren. Unter den damaligen politischen Bedingungen konnte eine wirkliche Debatte über Stalin und den Stalinismus gar nicht stattfinden. Selbst die damals verwendeten Begriffe wie »Personenkult« und »Repression« waren angesichts des wirklichen Ausmaßes der Stalinschen Verbrechen grob irreführend. Trotzdem rief schon die begrenzte Entstalinisierung der Jahre 1956-1964 bei einigen Parteimitgliedern beträchtliches Unbehagen hervor und stieß aus leicht nachvollziehbaren Gründen auf Widerstand.

Nach Chruschtschows Sturz stand die Restalinisierung auf der Tagesordnung, auch wenn der Personenkult nie mehr so umfassend wurde wie zu Lebzeiten des Großen Führers.

Erst nachdem 1985 Gorbatschow an die Macht gekommen war, wurde mehr über den Stalinismus und seine Folgen bekannt, und er wurde zum Gegenstand einer nationalen Debatte. Während einige Autoren im Westen gerade dabei waren, die generelle Bedeutung Stalins, das Ausmaß seiner Verbrechen und seiner Verantwortung herunterzuspielen, erscholl paradoxerweise in der Sowjetunion genau zum gleichen Zeitpunkt ein Aufschrei der Empörung, der um so heftiger war, weil man ihn so lange unterdrückt hatte. Allerdings wurde selbst in den achtziger Jahren nicht jedermann in der Sowjetunion zum Antistalinisten: Es gab noch immer Anhänger des verstorbenen Diktators, die den Enthüllungen entschieden ablehnend gegenüberstanden. Sie behaupteten, erstens sei ein Großteil der angeblichen Verbrechen entweder überhaupt nicht oder nicht von Stalin begangen worden, und zweitens sei es falsch, die Ereignisse der dreißiger Jahre mit der moralischen Überheblichkeit der Nachgeborenen zu verurteilen.

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Über Stalins Leben und über sein politisches Erbe ist viel geschrieben worden. Der größte Teil dieser Literatur wurde im Westen produziert und war von unterschiedlichen Standpunkten geprägt: Ein Teil der Autoren bewunderte Stalin, ein Teil verabscheute ihn, und wieder andere waren um einen objektiven, distanzierten Standpunkt bemüht. Die größten Unterschiede zwischen den Untersuchungen über den Stalinismus bestanden vermutlich in deren Schlußfolgerungen. Sie wurden geschrieben, bevor die im Zuge von Glasnost enthüllten Tatsachen auf fast alle Aspekte des sowjetischen Lebens ein neues Licht warfen.

Wie wichtig sind diese Enthüllungen, und in welchem Ausmaß machen sie eine radikale Neubetrachtung eines halben Jahrhunderts sowjetischer Geschichte erforderlich? Auf diese Frage können mit gleicher Berechtigung gegensätzliche Antworten gegeben werden, die vom jeweiligen Standpunkt abhängig sind. Man kann argumentieren, daß alles in allem nur wenig Sensationelles bekannt wurde und nicht viele entscheidende neue Fakten enthüllt wurden. Sei es, weil aus der sowjetischen Gesellschaft selbst in den dreißiger und vierziger Jahren trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Informationen nach außen drangen oder weil selbst im Rahmen von Glasnost viele zentrale historische Quellen nicht zugänglich waren, beziehungsweise schon früher vernichtet wurden. Einige haben vielleicht niemals existiert.2)

Es kann also selbst unter den Bedingungen von Glasnost nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob Stalin an der Ermordung von Sergei Kirow oder am Tod Ordschonikidses beteiligt war. Man kann auch nicht definitiv feststellen, wie viele Todesopfer die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Säuberungen oder der Krieg mit Deutschland gefordert haben. Selbst die Art und Weise, wie an der Spitze des Staates Entscheidungen getroffen wurden, blieb zum größten Teil ein Geheimnis.

Von einem anderen Standpunkt aus sind die aufgedeckten Tatsachen von immenser Bedeutung. Ein Großteil der Informationen über die Sowjetunion, die in den dreißiger und vierziger Jahren in die Außenwelt drangen, waren nämlich nur Gerüchte oder Berichte aus zweiter Hand. Viele erwiesen sich später als korrekt, aber zum Teil waren sie auch nur halbwahr, verzerrt oder völlig falsch. Ihre endgültige Verifizierung oder Falsifizierung war erst im Rahmen von Glasnost möglich.

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Es gibt jedoch noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Bis 1986 war die Diskussion und Bewertung Stalins und des Stalinismus fast ausschließlich von Nicht-Russen beherrscht. Sie betrachteten die Sowjetunion von außen. Ein solche Perspektive hat einiges für sich, ist jedoch offensichtlich auch mit Nachteilen verbunden. In der Tat fehlte den Schriften der ausländischen Beobachter oft eine ganze Dimension, vor allem die Unmittelbarkeit, die persönliche Lebenserfahrung mit dem politischen System, die einen mit den spezifischen Unwägbarkeiten zutiefst vertraut machte, die für ein Verständnis von Stalins Rußland von entscheidender Bedeutung sind.

All das bedeutet nicht, daß ausländische Beobachter (wie einige sowjetische Schriftsteller behauptet haben) unmöglich verstehen konnten, wie die Menschen in der Sowjetunion während der Stalin-Ära lebten. Selbst unter den Bedingungen von Glasnost war nicht alles, was über Stalin und den Stalinismus geschrieben wurde, der Weisheit letzter Schluß. Ein Teil der Schriften war schlichtweg falsch; einige Autoren wiederholten Gedanken und Argumente, die im Westen schon Jahrzehnte zuvor geäußert worden waren; sogar die Nazi-Literatur über die Sowjetunion fand in Moskau einige verspätete Nachahmer.

Trotzdem sind einige der sowjetischen Schriften zum Thema von tiefem Einfühlungsvermögen geprägt und strahlen daher eine Autorität aus, die ein Außenstehender nur mit einer außerordentlichen Anstrengung seiner intellektuellen Fähigkeiten und seiner Vorstellungskraft erreichen könnte. Aus diesem Grund sind die Berichte und Interpretationen von entscheidender Wichtigkeit, die in den letzten Jahren in der Sowjetunion über Stalin und den Stalinismus publiziert wurden. Sie enthalten nämlich nicht nur neue Fakten, sondern sind auch von einem Verständnis geprägt, das sich im Lande selbst entwickelt hat.

Stalins Persönlichkeit und seine Politik werden noch viele Jahre diskutiert werden, und es ist gegenwärtig fruchtlos, von einer endgültigen, allgemein akzeptierten Beurteilung auch nur zu träumen. Geschichte wird so lange geschrieben und wieder neu geschrieben, bis ein bestimmter Zeitraum nicht mehr von Interesse ist. Was Stalin und den Stalinismus betrifft, ist es unwahrscheinlich, daß dies bald der Fall sein wird.

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Ich habe mich nicht verpflichtet gefühlt, alle Aspekte der Stalinschen Herrschaft gleich detailliert zu behandeln; der Leser wird viel stärker mit Säuberungen und mit Terror konfrontiert werden als mit Fünf-Jahres-Plänen. Ich mußte mich innerhalb eines beschränkten Rahmens auf das konzentrieren, was für die Stalin-Ära spezifisch und einzigartig ist. Die meisten Gesellschaften haben einen Prozeß der Industrialisierung durchlaufen, aber die sowjetischen Säuberungen, die Schauprozesse und der Personenkult waren einzigartige Phänomene.

Man möge es dem Autor deshalb verzeihen, wenn er den spezifischen Elementen des Stalinismus mehr Platz einräumt als der Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion — ähnlich wie man es vorziehen könnte, bei einer Untersuchung des Dritten Reiches der Rolle von Propaganda und Terror mehr Zeit und Raum zu geben als dem von Hitler veranlaßten Bau der Reichsautobahnen.

Ein Großteil des vorliegenden Buchs handelt von Ereignissen, die ein halbes Jahrhundert oder mehr zurück­liegen. Die dabei behandelten Probleme sind jedoch nach wie vor verblüffend aktuell. Nach einer offiziellen Moskauer Parole der sechziger und siebziger Jahre war Lenin, obwohl schon lange Zeit tot, lebendiger als jeder andere Zeitgenosse. Dasselbe gilt auch für Stalin, denn der Einfluß des Stalinismus war so tiefgreifend, daß er bis heute das Hauptproblem der sowjetischen Gesellschaft geblieben ist.

Wirklich nachhaltige Veränderungen sind nur möglich, wenn das Erbe des Stalinismus ausgelöscht wird — jenes Klima der Furcht und des Mangels an Initiative, das die Wirtschaft und das öffentliche Leben bestimmt —, und das hat sich als schwieriger erwiesen, als viele Leute anfangs geglaubt hatten. Im Rahmen von Glasnost hat es auf zahlreichen Gebieten vielversprechende Neuansätze gegeben. Sie waren unter verschiedensten Aspekten verblüffend angesichts der Unfreiheit in der Sowjetunion, die Stalins wichtigstes Erbe war und so lange Bestand gehabt hatte.

Kann man die Aussage wagen, daß diese Veränderungen endgültig sind und der Bruch mit der Vergangenheit irreversibel ist? Ich hoffe das sehr, aber nur die Zeit kann es uns lehren. Der Niedergang und Sturz des Stalinismus scheint mir sicher, aber ich glaube auch, daß es noch ein weiter Weg sein wird, bis er wirklich ganz am Ende ist. Stalins Geist ist noch nicht exorziert, und er wird sein Heimatland noch jahrelang heimsuchen. 

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