2. Der Krieg gegen die Bauern. Bucharins Alternative
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In einem Testament, das er in Form eines an eine Parteikonferenz gerichteten Schreibens hinterlassen hatte, nannte Lenin sechs Führungspersönlichkeiten, von denen seiner Ansicht nach die Zukunft der Partei und der Revolution abhing. Über Bucharin sagte Lenin, dieser sei nicht nur der wichtigste und größte Theoretiker der Partei, sondern auch ihr »Liebling«. Nichtsdestoweniger seien Bucharins theoretische Auffassungen nur unter großen Vorbehalten als marxistisch zu betrachten. Er habe etwas Scholastisches an sich und das dialektische Denken nie völlig beherrscht, ja, er werde es vielleicht nie ganz meistern. Dies war ein nicht gerade zurückhaltendes Urteil, aber es war auch nicht kritischer als Lenins Einschätzung der anderen höchsten Parteiführer.
Lenin war in mancher Hinsicht ein weitsichtiger Führer — eine Tatsache, die den Sowjetbürgern bis heute permanent ins Gedächtnis gerufen wird. Trotzdem wäre er nie auf den Gedanken gekommen, daß fünf der sechs Männer, die er in seinem »Testament« erwähnt hatte, vom sechsten getötet werden würden.
Er hatte zwar an dem sechsten Mann einiges auszusetzen, und dieser hielt seiner Aussage nach unendlich viel Macht in Händen. Auch war Lenin sich nicht sicher, ob dieser sechste Mann seine Macht immer »mit genügender Vorsicht« einsetzen würde — eine Vorhersage, die als eine der größten Untertreibungen aller Zeiten in die Geschichte eingehen sollte. Zehn Tage später empfahl Lenin in einem Postscriptum, Stalin seines Postens als Generalsekretär zu entheben. Aber die Parteiführung nahm die Empfehlung nicht zur Kenntnis. Sie beschloß, den Inhalt des Briefs nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
Wie viele andere wurde auch der »Liebling der Partei« 1938 als Volksfeind erschossen. Wo die Exekution stattfand, und wo er, wenn überhaupt, beerdigt wurde, ist nicht bekannt. Nach Stalins Tod wurden die absurdesten Vorwürfe gegen Bucharin fallengelassen und inoffiziell eingestanden, daß er weder ein ausländischer Spion noch ein Mörder gewesen war. Aber es gab zunächst keine offizielle Rehabilitierung, und er blieb praktisch bis 1988 eine »Unperson«, also noch 50 Jahre nach seinem Tod. Erst vor kurzem wertete eine Gruppe von Rechtskundigen im Auftrag des obersten Gerichtshofs der UdSSR »Hunderte von Büchern und Tausende und Abertausende von Dokumenten, die Bucharins Fall betrafen« sorgfältig aus und kam zu dem Schluß, daß er im Sinne der Anklage unschuldig gewesen war.1) Danach erschien in rascher Folge eine Reihe positiver Artikel über ihn in der sowjetischen Presse, und schließlich wurde sogar seine Parteimitgliedschaft erneuert.
Vielen Opfern Stalins wurde, wenn auch manchmal widerwillig, Respekt gezollt, aber nur Bucharin wurde zum Objekt eines politischen Kultes. Es wurde häufig behauptet, daß sich eine ganz andere und viel bessere Gesellschaft entwickelt hätte, wenn die Partei Bucharins Kurs gefolgt wäre. Viele Opfer wären nicht notwendig gewesen, und ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz — anstatt mit einem grauenvoll verzerrten Gesicht — wäre entstanden. Kurz gesagt, folgende Ansicht machte sich allmählich breit: Der Bucharinismus wurde als historische Alternative zum Stalinismus betrachtet, und selbst 50 Jahre nach seinem Tod wurden Bucharins Ansichten noch für relevant gehalten.
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Nikolai Iwanowitsch Bucharin wurde 1888 geboren und war eines der jüngsten Mitglieder der ersten Riege der bolschewistischen Führer; er stammte wie die meisten von ihnen aus einer Familie der Mittelklasse. Wer ihn in diesen frühen Jahren gekannt hat, z.B. etwa sein Moskauer Klassenkamerad Ilja Ehrenburg, beschrieb ihn als Bücherwurm, der schon als Junge einen unersättlichen Wissensdurst gezeigt hatte. Er war von kleiner Statur, ein enthusiastischer, emotionaler Charakter mit einem offenen, freundlichen Gesicht, und er hatte auf der ganzen Welt keinen persönlichen Feind. Schon als Oberschüler schloß er sich der revolutionären Bewegung an.
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Als 20jähriger organisierte er Streiks, hielt Reden im Auftrag der Partei und wurde ein Mitglied des Exekutivkomitees der Moskauer Bolschewiki. Ein Jahr später wurde er zum ersten Mal verhaftet und nach Nordrußland verbannt, von wo ihm 1911 die Flucht gelang.
Die folgenden sechs Jahre verbrachte er im Ausland: in Österreich, wo er an der Universität Wien Wirtschaftswissenschaften studierte, in der Schweiz, in Schweden und schließlich in den Vereinigten Staaten. Er geriet unter Lenins Einfluß, der ihn als einen marxistischen Ökonomen schätzte, seiner politischen Stabilität jedoch mißtraute und ihn für »zu weich« hielt. Gelegentliche Meinungsverschiedenheiten mit Lenin waren wohl unvermeidlich, da der Parteiführer keinen Widerspruch ertragen konnte, gleichgültig, ob es sich um ein obskures philosophisches Problem oder um ein taktisches Manöver handelte.
Bucharin dagegen war ein Intellektueller, der, trotz aller Parteiloyalität, auf unabhängiges kritisches Denken manchmal nicht verzichten wollte. Aus diesem Grund stand er manchmal links von Lenin, während seine Ansichten zu anderen Zeiten mit denen des rechten Parteiflügels übereinstimmten. Sein politisches Urteil war nicht immer verläßlich, da bei ihm ein gewisser Mangel an Realitätssinn mit einem Übermaß an Dogmatismus gepaart war, eine Eigenschaft, die er mit Trotzki gemein hatte. Beispielsweise war seine ablehnende Haltung zum Waffenstillstand mit den Deutschen im Februar 1918 ein Fehler, den er später zugab.
Bucharin spielte weder bei der Planung der Revolution noch im Bürgerkrieg eine zentrale Rolle. Er war praktisch der einzige Sowjetführer, der weder in der Sowjetregierung noch an der Spitze der Parteihierarchie einen Posten annahm. Er war Mitglied des Zentralkomitees, später des Politbüros und Chefredakteur der Prawda (später der Iswestija), aber er hatte keine Machtbasis, kein Ministerium und keinen Auftrag außer der unklaren Position eines der Chefideologen der Partei.
Sein Buch <Das ABC des Kommunismus> blieb noch lange der grundlegende Text, mit dem die Parteidoktrin einem Massenpublikum vermittelt wurde. Seine Schrift <Ökonomik der Transformationsperiode> war weniger erfolgreich. Sie war ein Manifest der Periode des Kriegskommunismus. Als Bucharin den ersten Teil fertiggestellt hatte, war der Bankrott des Kriegskommunismus bereits unübersehbar, und es wurde gerade die völlig anders geartete Neue Ökonomische Politik (NEP) eingeleitet.2)
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Zum Zeitpunkt von Lenins Tod war Bucharin ein hochangesehenes Mitglied der Parteispitze, aber er gehörte nicht zu den Bewerbern um die Parteiführung; unter den Mitgliedern der höchsten Parteiebene war er sicherlich der am wenigsten ehrgeizige Politiker. Selbst wenn er sich nach der Macht gedrängt hätte, wäre vermutlich für einen so widersprüchlichen Charakter kein Platz in der höchsten Parteiführung gewesen. Er pflegte blutrünstige Drohungen gegen die Feinde der bolschewistischen Partei auszustoßen, war jedoch im Kern seines Wesens ein milder Mensch.
Bei verschiedenen Gelegenheiten versuchte er, zum Tod verurteilte Menschen zu retten. Er gehörte zu den entschiedensten Anhängern von <Proletkult> (einer Gruppe von Literaten, die eine strenge Reglementierung der Kultur befürworteten), trat jedoch gleichzeitig für eine liberalere Haltung gegenüber der alten russischen, nicht-kommunistischen Intelligenzija ein. Es könnten noch viele Beispiele für diese Widersprüche seines Charakters hinzugefügt werden.
Als Lenin starb, war Trotzki beim Kampf um die Nachfolge bereits ausmanövriert worden, was er in erster Linie seiner eigenen Unfähigkeit zu verdanken hatte. Die wirkliche Macht lag in der Hand eines Triumvirats, das aus Stalin, Kamenew und Sinowjew bestand. Es dauerte jedoch keine zwei Jahre, bis Kamenew und Sinowjew in Opposition zu dem neuen Generalsekretär gerieten. Zwischen den dreien gab es zwar viele politische Differenzen, aber sie reichten nicht aus, um die Spaltung der Troika herbeizuführen.
Der eigentliche Grund für den Bruch war ganz einfach, daß Stalin seine Verbündeten nicht mehr brauchte. Er hatte sich inzwischen eine eigene Machtbasis aufgebaut. Sie bestand aus Leuten wie Molotow, die ihm bis zu seinem Ende treu dienen sollten. Trotzdem war er noch nicht stark genug, sich zum alleinigen Diktator aufzuschwingen, und auch die Partei war noch nicht dazu bereit, eine politische Herrschaft dieses Stils zu akzeptieren. In der Folge entstand eine Koalition zwischen Stalin und Bucharin, die fast drei Jahre Bestand hatte. Stalin überließ die ideologischen Verlautbarungen und die Betreuung der Kommunistischen Internationale Bucharin.
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Währenddessen kümmerte er sich um praktische Dinge und verstärkte weiter den bürokratischen Apparat. Es wäre eine ungleiche Partnerschaft gewesen, hätte nicht Bucharin die Unterstützung mehrerer mächtiger Persönlichkeiten in der Sowjethierarchie genossen. So wurde er etwa von Alexei Rykow, Lenins Nachfolger als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare (d.h. dem Premierminister), von Tomski, dem Führer der Gewerkschaften und von anderen Bolschewiki unterstützt, über deren Schicksal weiter unten berichtet wird.
Zwischen 1926 und 1927 scheint im großen und ganzen Einigkeit zwischen Stalin und Bucharin geherrscht zu haben. Letzterer ging in seinem Enthusiasmus für die NEP allerdings etwas weiter als der Generalsekretär: Zu einem bestimmten Zeitpunkt ermunterte er sogar die wohlhabenden Bauern mit der Parole »Bereichert euch«, was er später bereuen sollte. Stalin dagegen war immer stärker von der Idee besessen, daß es ohne eine entscheidende Veränderung in den Dörfern »kein Brot mehr geben« würde. Er begann, die Abschaffung des Privateigentums und die Kollektivierung der Landwirtschaft ins Auge zu fassen.3)
Der Showdown zwischen Stalin und der Gruppe, die später den Namen »die Rechtsabweichler« erhalten sollte, endete mit einem entscheidenden Sieg für den Generalsekretär. Nicht nur die von Bucharin und seinen Anhängern vertretene Politik wurde niedergestimmt, sondern ihre Vertreter verloren auch ihre Schlüsselpositionen in der Partei und in der Regierung. Im Lauf der nächsten Jahre mußten sie in kriecherischen Geständnissen bekennen, daß sie sich geirrt hätten und »die Partei« recht gehabt habe. Inzwischen wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durchgezogen und mit der Umsetzung des ersten Fünf-Jahres-Plans begonnen, der auf die Erweiterung der sowjetischen Industriekapazität abzielte. Das Land wurde einer zweiten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Revolution unterworfen.
Es steht außer Zweifel, daß zwischen Stalin und den »Rechtsabweichlern« echte politische Differenzen bestanden, die viel gravierender waren als jene, die Stalin einige Jahre zuvor zum Bruch mit Sinowjew und Kamenew veranlaßt hatten. Das Problem der Beendigung der NEP stand auf der Tagesordnung. Das Jahr 1929 ging in die sowjetische Geschichte ein als das Jahr der (großen) Wende, als Übergang zu einer sozialistischen Wirtschaft.
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Allerdings stand Bucharin der Kollektivierung der Landwirtschaft keineswegs prinzipiell ablehnend gegenüber. Er wußte, wie wichtig der Ausbau der Schwerindustrie war, und hatte klar erkannt, daß dieser in einem Land mit einer rückständigen Landwirtschaft nicht gelingen konnte, weil keine zuverlässige Versorgung mit Agrarprodukten gewährleistet war. Umgekehrt war Stalin ein durchaus vorsichtiger Charakter, der die Folgen seiner Handlungen immer genau kalkulierte. Er verfügte über kein wirklich klares, detailliertes Konzept und setzte sein Vorhaben in einer Serie von krampfartigen, immer wieder unterbrochenen Maßnahmen um.
Kurz gesagt, die Differenzen der beiden Männer waren eigentlich nicht so sehr prinzipieller Natur, sondern betrafen eher die Geschwindigkeit, mit der die Entwicklung in Landwirtschaft und Industrie vor sich gehen sollte. Auch hatten sie mehr mit der Art von Partei- und Gesellschaftsstruktur zu tun, wie Stalin sie anstrebte. In diesem System würde es nur noch blinden Gehorsam geben und keinen Raum mehr für eine kollektive Führung. Dies war der wichtigste Grund, warum Bucharin und seine Anhänger entmachtet, gebrochen und schließlich beseitigt werden mußten.
Bucharin war nach seinem Sturz noch einige Zeit an der Peripherie der Parteiführung aktiv. Er war noch immer ein Mitglied des Zentralkomitees; er veröffentlichte Aufsätze und hielt Reden vor akademischem Publikum und auf Konferenzen der Sowjetschriftsteller. Auf dem Parteiplenum vom November 1929 gestand er verschiedene Fehler ein; ein Jahr später trieb er seine Selbstkritik sogar noch weiter, bezeichnete Stalins Politik als vollen Erfolg und lobte ihn als eine »energiegeladene, eiserne Gestalt«, die »das Recht völlig verdient hatte, die Partei in die Zukunft zu führen«.
Wenige Jahre zuvor hatte er Stalin noch mit Dschingis-Khan verglichen. Auf dem 17. Parteikongreß erklärte Bucharin, Stalin habe völlig recht gehabt, als er die Fraktion der »Rechtsabweichler« zerschlagen habe. Sämtliche Parteimitglieder hätten die Pflicht, sich auf Stalins Seite zu stellen, er sei der Geist und der Wille der Partei, ihr Führer in Theorie und Praxis.
Solche Erklärungen stimmten mit den anderen auf dem »Parteitag der Sieger« gehaltenen Reden überein; viele Redner trieben die Schmeichelei sogar noch viel weiter. Es hatte sich ein neuer politischer Stil etabliert.
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Eine Zeitlang schien es, als sollte Bucharin wieder eine mittlere Position in den höheren Rängen der Parteiführung erhalten. Soweit Stalin überhaupt irgend jemand in der alten Garde mochte, war ihm Bucharin vermutlich lieber als die meisten anderen. Derartige Gefühle hatten jedoch keinerlei Einfluß auf das Schicksal, das Bucharin bestimmt war. In dem Augenblick, als Stalin sich entschlossen hatte, die alte Garde der Bolschewiki auszurotten, war auch Bucharins Schicksal besiegelt.
Seine Agonie dauerte fast drei Jahre. Er wurde im August 1936 von den Angeklagten im Sinowjew-Kamenew-Prozeß als Mitverschwörer beschuldigt. Eine Untersuchung wurde gegen ihn eingeleitet, jedoch einen Monat später »aus Mangel an juristisch verwertbaren Beweisen« eingestellt. Kurz danach wurden die Beschuldigungen jedoch erneut erhoben, und am 27. Februar 1937 wurde er verhaftet. Der Prozeß fand ein Jahr später statt, und am 15. März 1938 wurde er exekutiert — zwei Tage nach der Verkündung des Todesurteils.
Bucharin belastete sich mit seinen Aussagen (wie sämtliche Angeklagten in sämtlichen Prozessen), aber er bestritt viele der eher spezifischen und grotesken Anklagepunkte, so etwa, daß er für das Ausland spioniert habe und an Verschwörungen zur Ermordung von Lenin, Stalin, Gorki und anderen beteiligt gewesen sei.
Wenige Tage vor seiner Verhaftung hatte Bucharin einen Brief »an Parteiführer künftiger Generationen« diktiert und seine junge Frau gebeten, ihn auswendig zu lernen. In dem Brief stand, er wolle, im Angesicht des Todes und einer tödlichen Maschinerie ausgeliefert, die mittelalterliche Methoden anwende, ein letztes Mal feststellen, daß er immer ein ehrlicher Revolutionär gewesen sei, seit er sich im Alter von 16 Jahren der Partei angeschlossen habe. Niemals habe er die Errungenschaften der Revolution zerstören oder den Kapitalismus wieder einführen wollen. Er sei nie ein Verräter gewesen, und er wäre bereit gewesen, für Lenin sein Leben zu geben. Falls er Fehler begangen habe, so hoffe er, daß die Nachwelt nicht härter über ihn urteilen werde, als Lenin es getan hätte. Der Brief endete mit der Bitte, eine neue Generation von Parteiführern möge diesen Brief vor dem Plenum des Zentralkomitees verlesen lassen und ihn, Bucharin, wieder in die Partei aufnehmen.
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Als Anna Larina (Bucharina) nach vielen Jahren Haft aus dem Gulag freikam, legte sie 1961 diesen Brief den Parteibehörden vor. Es dauerte jedoch weitere 20 Jahre, bis der Brief veröffentlicht und Bucharins Parteimitgliedschaft wiederhergestellt wurde.4) Was hat Bucharin dazu veranlaßt, nach der politischen Niederlage von 1929 auf eine so kriecherische Weise zu kapitulieren? Selbst wenn er seine damalige Politik nachträglich für falsch hielt — was keineswegs sicher ist —, dann sind seine quälerische Selbstkritik und seine byzantinischen Lobreden auf Stalin nur schwer zu verstehen, auch dann, wenn man sie rückblickend bewerten kann. Er war ein loyaler Parteiarbeiter und scheint die Loyalität über die Wahrheit gestellt zu haben. Er hatte Angst, sich politisch zu isolieren, und er hatte Angst um seine junge Frau und sein neugeborenes Kind. Er war schon immer etwas weich gewesen, wie Lenin schon viele Jahre zuvor erkannt hatte, aber viele Männer, die härter waren, verhielten sich genau wie er. Die Frage der Motive wird uns später im Kontext der Säuberungen und Prozesse beschäftigen.
Wir wissen noch immer zu wenig über die Ansichten, die Bucharin nach seiner politischen Niederlage und angesichts von Stalins Aufstieg zum Diktator wirklich hegte. Lange Zeit bezogen wir unser Wissen größtenteils aus dem »Brief eines Altbolschewiken« und aus Gesprächen, die Bucharin in Paris mit Lidia Dan, der Frau des menschewistischen Parteiführers, geführt hat. Zusammen mit einigen Beamten des Moskauer Marx-Engels-Instituts war Bucharin 1936 nach Paris entsandt worden, um über den Kauf von Teilen der Marx-Archive zu verhandeln, die sich im Besitz der exilierten deutschen Sozialdemokraten befanden.
Diese hatten Boris Nikolajewski, einen russischen Sozialisten und führenden Marxismus-Experten, beauftragt, für sie die Verhandlungen zu führen. Nikolajewski war ein gewissenhafter Historiker und außerdem zufällig Rykows Schwager; seine Integrität als Informationsquelle ist kaum je in Frage gestellt worden. Allerdings gibt es guten Grund zu der Annahme, daß Bucharin keineswegs Nikolajewskis einzige Quelle war; der »Brief« nahm auch auf Ereignisse Bezug, die erst stattfanden, nachdem Bucharin Paris wieder verlassen hatte.5) Außerdem wurden gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um die Herkunft des Briefes zu verschleiern. Laut Nikolajewski sagte Bucharin: »Wir sind alle zum Lügen gezwungen, anders kommt man nicht durch.«
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Bucharin und andere Kritiker Stalins hatten anfangs geglaubt, der Terror innerhalb der Partei sei nur eine Überreaktion auf Kirows Ermordung und werde nicht von Dauer sein. Sie meinten, es werde zu einer innerparteilichen Versöhnung kommen:
Wir mußten (so glaubten wir) nur erreichen, daß sich Stalins morbides Mißtrauen wieder legte. Zu diesem Zweck wurde beschlossen, die Loyalität zur Partei und ihrer gegenwärtigen Führung so oft und leidenschaftlich wie möglich zu betonen; Stalin wurde beweihräuchert und seine Person bei allen Gelegenheiten gelobt... Er hat eine Schwäche für solche Lobhudelei, und seine Rachsucht kann nur durch riesige Dosen dick aufgetragener Schmeicheleien besänftigt werden; es gibt keinen anderen Weg. Außerdem dachten wir, Stalins kleine Charakterschwächen seien verzeihlich angesichts der großen Verdienste, die er sich um die Partei erworben hatte, als er sie in den kritischen Jahren des ersten Fünf-Jahres-Plans führte. Wir kamen zu dem Schluß, daß wir immer lauter und immer leidenschaftlicher von den gewaltigen Veränderungen sprechen müßten, die sich jetzt vollziehen würden. Von den »glücklichen Tagen«, die jetzt anbrächen, vom neuen politischen Kurs der Partei, der den Massen ein Gefühl der Menschenwürde vermitteln sollte und auf der Entwicklung des proletarischen Humanismus basierte. Ach, wie naiv sind doch all diese Hoffnungen gewesen! Wenn wir jetzt zurückblicken, können wir kaum mehr verstehen, wie wir die Symptome übersehen konnten, die zeigten, daß der Trend genau in die umgekehrte Richtung ging: Nichts deutete auf eine Versöhnung innerhalb der Partei, sondern alles auf eine Intensivierung des Terrors bis zu seiner logischen Konsequenz, dem Stadium der physischen Liquidierung aller, die wegen ihrer Vergangenheit als Parteiführer als Gegner Stalins oder als Rivalen seiner Machtposition erscheinen konnten.6)
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Im Gespräch mit Lidia Dan und anderen bemerkte Bucharin, die Menschen im Westen hätten keine Ahnung, was für eine Persönlichkeit Stalin sei — nicht nur ein böser Mensch, sondern ein Teufel in Menschengestalt. Außerdem sagte er, sein eigenes Schicksal sei besiegelt, und Stalin warte nur auf eine Gelegenheit, ihn töten zu lassen. Trotzdem weigerte er sich, an Flucht zu denken; er konnte als Emigrant nicht leben. Und er vertraute noch immer auf den Fortschritt (in der Geschichte) und glaubte, das (sowjetische) Volk werde immer mehr erstarken und der Aufbau einer neuen Gesellschaft finde tatsächlich statt.
Der Wahrheitsgehalt dieses Berichts, der eine so wichtige Quelle unseres Wissens über Bucharin war, ist von der Witwe Bucharins in ihren in der Glasnost-Periode publizierten Memoiren heftig bestritten worden.7) Sie ging sogar so weit, die Pariser Menschewiki anzuklagen, wissentlich oder unwissentlich bei der Vorbereitung der Anklage gegen Bucharin mit Stalin kollaboriert zu haben, und das obwohl sie zugab, daß diese »Provokation« von Stalins Standpunkt aus keineswegs entscheidend war.
Frau Bucharin war ihrer Darstellung zufolge ab März 1936 in Paris bei allen Treffen zugegen gewesen, und obwohl es schon vor ihrer Ankunft einige Gespräche gegeben hatte, hielt sie es für völlig unvorstellbar, daß sich Bucharin einem politischen Gegner anvertraut hätte. Im Gegenteil, Bucharin habe sich bei den wenigen politischen Diskussionen gegenüber Nikolajewski positiv über das stürmische Wachstum der Industrie und den Aufbau riesiger neuer Unternehmen in der Sowjetunion geäußert. Die Kollektivierung der Landwirtschaft sei zwar eine schwierige Zeit gewesen, gehöre jetzt jedoch der Vergangenheit an, und es gebe auch keine Meinungsverschiedenheiten mehr in der Sowjetführung. Bucharin, so seine Frau, habe Nikolajewski zum Schluß gewarnt, er werde die Sowjetunion nicht wiedererkennen, wenn er sie jetzt besuche.
Welche von beiden Versionen ist die richtige? Wenn Bucharin im Gespräch mit Nikolajewski seine wirklichen Ansichten artikulierte, dann ist schwer einzusehen, warum er nach Moskau zurückkehrte — in den sicheren Tod. Vielleicht hatte seine Parteiloyalität mehr Gewicht als alle anderen Überlegungen? Vielleicht gab es in Bucharins Geist einen Hang zum stradalets, dem großen Schmerzensmann, dem frühchristlichen Märtyrer? Dieser Zug ist von vielen Beobachtern registriert worden, auch von seiner Frau.
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Sie hat den folgenden Alptraum beschrieben, den sie im Jahr nach Bucharins Ermordung immer wieder träumte: »Ich sah einen Gekreuzigten hängen, wie auf Golgatha, aber nicht Christus, sondern den gemarterten, bleichen Bucharin ... Ein schwarzer Rabe zerhackte den blutbedeckten, leblosen Körper des Märtyrers.« Auch andere sowjetische Autoren haben Bucharin in jüngerer Zeit als einen großen Märtyrer bezeichnet und seinen Aufenthalt in Paris als sein Golgatha.8)
Es gab jedoch einen zentralen Unterschied: Die frühchristlichen Märtyrer widerriefen ihren Glauben nicht, und sie wurden von ihren Feinden, nicht aber von anderen Christen gefoltert. Dagegen war es genau der Zweck der Moskauer Prozesse, der Öffentlichkeit Gruppen von Menschen vorzuführen, die gehorsam die von ihren Folterknechten erfundenen Lügen nachbeteten.
Frau Bucharin berichtet, ihr Mann sei hochintelligent, aber zugleich auch extrem naiv gewesen. Sie behauptet, er habe nach seiner Rückkehr aus Paris bis zum ersten Moskauer Prozeß nicht an die drohende Gefahr geglaubt. Selbst nach dem Prozeß gab er die Schuld eher Sinowjew und Kamenew als Stalin. Sogar als Bucharin in Moskau bereits offen angegriffen wurde, versuchte er noch Stalin telefonisch und brieflich zu erreichen, weil er annahm, die Angriffe fänden ohne Wissen des Diktators statt.9)
Diesem Bild von Bucharin widerspricht jedoch, daß Stalins Kampagne gegen die alte Garde schon viele Jahre zuvor begonnen hatte. In einigen Fällen (z.B. der Fall Rjutins) hatte Stalin die Todesstrafe gefordert, und zwar trotz Lenins Appell: »Zwischen euch soll kein Blut vergossen werden.« Was kann Bucharin dazu gebracht haben, den obersten Henker um Gnade zu bitten, nachdem so viele alte Bolschewiki bereits exekutiert worden waren?
Wie kann man erklären, daß (wie Wolkogonow, Stalins sowjetischer Biograph, berichtet) das Exilorgan der Menschewiki Sotsialistitscheskij Westnik schon sechs Jahre zuvor richtig vorausgesagt hatte, die Anhänger der NEP seien zwar vorerst nur degradiert worden, aber es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie zu »Volksfeinden« erklärt würden.10) Die Menschewiki hatten ja offensichtlich kein Wissen aus erster Hand über Stalins Persönlichkeit, warum haben sie dann die Zukunft klarer gesehen als der führende Theoretiker der kommunistischen Partei?
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In mancher Hinsicht gleichen Fragen dieser Art den Rätseln, die uns die »Endlösung« aufgibt. Die sowjetischen Exekutionen wurden zwar im Unterschied zu den deutschen Morden nicht im verborgenen begangen; zumindest wurde aus dem Schicksal der führenden Bolschewiki kein Geheimnis gemacht. Aber zu Anfang gab es auch in der Sowjetunion den Glauben, daß »solche Dinge in einem zivilisierten Land nicht geschehen«, und schon gar nicht unter Genossen, die derselben politischen Partei angehören.
Frau Bucharin meint, der »Selbsterhaltungstrieb« habe ihren Mann dazu bewegt, die bittere Wahrheit über die Geständnisse beim Prozeß gegen Sinowjew und Kamenew (daß sie nämlich falsch waren) nicht zu akzeptieren. Eine ähnliche Haltung nahmen 1942 auch einige europäische Juden ein. Sie glaubten, was anderswo (etwa in Rußland oder in Polen) passiert sei, könne sich in Dänemark, Holland oder Frankreich nicht wiederholen. Sein Selbsterhaltungstrieb hätte Bucharin veranlassen sollen, 1936 in Paris zu bleiben, anstatt zurückzukehren.
Das Problem bei ihm und vielen anderen bestand darin, daß ihr Optimismus bezüglich der Zukunft des Sowjetregimes über ihren Selbsterhaltungstrieb siegte. Sie scheuten keine geistigen Mühen, um immer neue Gründe zu suchen, warum der Terror bald aufhören und sie nicht mehr treffen würde. Ein französischer Beobachter sagte über seine Glaubensbrüder:
Die Juden waren damals in zwei Kategorien unterteilt: in Pessimisten und in Optimisten. Die ersteren versuchten, in die Vereinigten Staaten oder in die Schweiz zu gelangen oder sich zu verstecken, so gut es eben ging. Die zweiten, die sich in trügerischen Hoffnungen wiegten, wurden dann die Erstanwärter für die Reise nach Auschwitz und Treblinka.11)
Bucharin war ein Mensch, der über einen weiten intellektuellen Horizont und einen scharfen Verstand verfügte; trotzdem schrieb er Briefe, in denen er Stalin, Woroschilow und Ordschonikidse bat, die »schrecklichen Mißverständnisse« aufzuklären. Und er tat dies noch lange, nachdem ihm hätte klar sein sollen, daß es sich keineswegs um Mißverständnisse handelte. Tomski war kein Intellektueller und hatte nur oberflächliche Kenntnis marxistischer Werke. Er erschoß sich, als die ersten Anschuldigungen gegen ihn publiziert wurden.
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Als Rykow Bucharin ein letztes Mal traf, bevor sie beide am 23. Februar 1937 verhaftet wurden, sagte er: »Am weitsichtigsten von uns war also Tomski.«12) Es gibt eine Reihe von Erklärungen für das befremdliche Verhalten Bucharins und anderer. Normalerweise war ein Konglomerat widerstrebender Emotionen dafür verantwortlich, und die mit dem Tode Bedrohten waren zwischen Optimismus und Pessimismus hin- und hergerissen. An manchen Tagen pflegten sie rationalen Erklärungen zuzuneigen, dann gingen sie wieder vom schlimmstmöglichen Fall aus. An anderen Tagen sahen sie die Dinge in einem optimistischeren Licht. Es besteht kein Zweifel, daß immer noch ein beträchtliches Ausmaß an Naivität vorherrschte.
Als sich Ilja Ehrenburg, einer der Überlebenden, Jahre später in seiner Autobiographie auf diese Haltung bezog, bemerkte ein anderer Überlebender (Ewgeni Gnedin), daß diese Hinweise auf die naive Haltung ansonsten sehr nüchterner Leute bei einer späteren Generation auf völligen Unglauben stoßen würden. Auch hier gibt es wieder eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Holocaust: Es gab einen Zeitraum, in dem Informationen über den Massenmord bereits in Umlauf waren, aber nicht zur Kenntnis genommen wurden.
In beiden Fällen waren die Menschen desorientiert, weil sie mit einer völlig neuartigen Situation konfrontiert wurden, für die es keinen Präzendenzfall gab, der als Richtschnur für ihre Handlungen hätte dienen können. Ideologische Vorurteile wirkten sich ebenfalls lähmend aus: Je treuer und loyaler jemand zum Kommunismus und zur bolschewistischen Partei stand, desto schwerer war es für diesen Gläubigen, der Realität des Stalinismus ins Auge zu blicken.
Das schreckliche Dilemma, in dem Bucharin 1936/37 steckte, hatten viele andere auch. In einer Beziehung war sein Fall jedoch vom historischen Standpunkt aus einmalig. Nur von Bucharin wurde behauptet, seine Ansichten hätten eine wirkliche Alternative zu Stalins Politik dargestellt.13) Wenn er ein besserer Politiker gewesen wäre — cleverer, energischer und ehrgeiziger —, wäre es dann nicht vielleicht möglich gewesen, daß die Geschichte der Sowjetunion eine andere Richtung genommen hätte? In bestimmten Kreisen im Westen wurde diese Ansicht seit den sechziger Jahren vertreten, und unter Gorbatschow wird sie jetzt auch in der Sowjetunion zunehmend artikuliert.
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Was war der Kern von Bucharins Alternative? Diese Frage wird schon lange Zeit diskutiert. In der Regel wird vor allem die Wirtschaftspolitik erörtert, die in der Sowjetunion nach 1927 verfolgt wurde: die überstürzte Liquidierung der NEP, die Kollektivierung der Landwirtschaft in Rekordzeit und die extrem hohen Planziele, die der sowjetischen Industrie gesetzt wurden. Die strittigen Fragen waren jedoch keineswegs nur ökonomischer Natur. Das Problem der Machtverteilung in der Partei und auf dem Land, eine Kernfrage des Führungsstils, erwies sich langfristig sogar als noch wichtiger. Die Entscheidung, die Landwirtschaft zu kollektivieren und die Kulaken als Klasse zu vernichten, wurde hauptsächlich aus politischen und ideologischen Gründen getroffen und weniger aufgrund der Annahme, daß auf diese Weise ein Überfluß an Nahrungsmitteln produziert oder die Erhöhung der Industriekapazität finanziert werden könnte.
Die NEP war ein großer Erfolg gewesen. Sie brachte die sowjetische Wirtschaft wieder auf die Beine: Die Industrieproduktion stieg zwischen 1921 und 1926 auf mehr als das Fünffache, und der Output an Elektrizität, immer ein verläßlicher Indikator, stieg auf das Siebenfache; im selben Zeitraum verdoppelte sich die Getreideernte. Allerdings kam immer noch etwas weniger Getreide auf den Markt als vor dem Ersten Weltkrieg. Die Bauern (etwa 80 Prozent der Bevölkerung) hatten mehr zu essen, und ihr Lebensstandard war schneller gestiegen als der Lebensstandard der städtischen Arbeiter.
Dies war für viele Parteiführer ein Grund zur Sorge, denn das Stadtproletariat war ihre eigentliche politische Basis. Seine Interessen lagen der Partei am meisten am Herzen. Außerdem hatte die Parteiführung immer erwartet, daß durch Getreideexporte das Kapital für den Import von Investitionsgütern beschafft werden könnte, die für die Industrialisierung gebraucht wurden. Der linke Parteiflügel unter Trotzki und seine Anhänger hatten sich in den frühen zwanziger Jahren für höhere Wachstumsraten eingesetzt — eine Forderung, die damals auf den Widerstand von Stalin und Bucharin stieß. Die »linke Opposition« hatte die Ansicht vertreten, man könne die Investitionen nicht (wie im Großbritannien des 19. Jahrhunderts) durch Profite aus den Kolonien finanzieren und müsse deshalb auf die Methode der »primitiven Akkumulation« zurückgreifen, d.h. die wohlhabenden Bauern sollten ausgepreßt werden.
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Allerdings faßte Trotzki lediglich Zwangsanleihen bei den »Kulaken« (den — nach russischen Maßstäben — reicheren Bauern) ins Auge. Er regte keineswegs an, die Gans zu schlachten, die goldene Eier legte. Dagegen hegte Bucharin (von seinen Freunden »Bucharschik« genannt) die Erwartung, daß die NEP nicht nur ein paar Jahre» sondern eine ganze Generation und vielleicht noch länger dauern würde. Stalin hatte ursprünglich Bucharins Ansicht geteilt, redete sich jedoch Anfang 1928 ein, daß die NEP nicht mehr funktioniere. Die Wachstumsraten sanken, und vor allem hielten die Bauern den Weizen zurück, anstatt ihn für die vom Staat festgesetzten (niedrigen) Preise zu verkaufen.
Diese Art von Krise wäre vorhersehbar gewesen und war auch tatsächlich von verschiedenen Führern der Bolschewiki vorhergesehen worden. Man hätte sie wahrscheinlich am besten bewältigen können, indem man einen gewissen Druck auf die Bauernschaft ausgeübt und gleichzeitig die Versorgung der Dörfer mit Konsumgütern verbessert hätte. Stalin entschied sich jedoch für eine radikale Lösung, für die große Peitsche ohne ein Stückchen Zuckerbrot. Er beschloß, die Landwirtschaft so schnell wie möglich zu kollektivieren, um der Gefahr »der Erpressung durch die Bauern« ein für alle Mal ein Ende zu setzen.
Außerdem wollte er gleichzeitig die Industrialisierung mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vorantreiben. Nach dem ersten Fünf-Jahres-Plan von 1929 sollte die Kohle- und Ölproduktion verdoppelt und der Ausstoß von Stahl und Roheisen verdreifacht werden. Stalin und seine Anhänger übertrieben bewußt das Ausmaß der bestehenden Krise. Ihr Hauptargument war, »außerordentliche Maßnahmen« seien erforderlich, denn der Sieg des Sozialismus werde nur durch die Zerschlagung der privaten Landwirtschaft möglich, weil die Bauern permanent den Kapitalismus reproduzieren würden.
Später vertrat Stalin die Ansicht, daß die Sowjetunion aus außenpolitischen Gründen gar nicht die Zeit für eine langsame Industrialisierung mit mäßigen Wachstumsraten habe. Wenn es ihr nicht gelinge, innerhalb von 15 bis 20 Jahren eine Schwerindustrie als Basis für ihre militärische Verteidigung aufzubauen, würde sie wieder ins Hintertreffen geraten und geschlagen werden — wie schon so oft in der russischen Geschichte.
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Obwohl dieses Argument erst artikuliert wurde, als die Kollektivierung bereits durchgeführt war, gibt es Grund zu der Annahme, daß solche Befürchtungen schon früher eine Rolle gespielt hatten. Rückblickend erwies es sich als das stärkste Argument der Befürworter von Stalins »wilden Wachstumsraten«, da zwischen dem ersten Fünf-Jahres-Plan und dem Angriff der Nazis auf die Sowjetunion keine zwölf Jahre vergingen.
In der Diskussion mit Bucharin ging es nicht um langfristige Perspektiven. Bucharin war keinesfalls dagegen, die Industrieproduktion zu erhöhen, und er selbst stimmte, wenn auch etwas widerwillig, im Januar 1928 für die Anwendung »außerordentlicher Maßnahmen«. Er und seine Kollegen betrachteten sie jedoch wirklich als Notmaßnahmen, die nicht zur Norm werden dürften. Er schlug vor, die NEP bezüglich der Landwirtschaft im großen und ganzen fortzusetzen und bei temporären Krisen Nahrungsmittel aus dem Ausland zu importieren. Diese Politik, so meinte er, würde eine Expansion der Industrie auf breiter Front nicht unbedingt behindern.
In seiner Gesamtanalyse hatte Bucharin jedoch ebensowenig ein Gesamtkonzept für die wirtschaftliche Zukunft der Sowjetunion wie Stalin. Allerdings konnte er es vielleicht auch leichter entbehren, weil er keine sofortigen radikalen Änderungen befürwortete. Er erinnerte sich an Lenins Mahnung, das Agrarproblem müsse mit großer Vorsicht und ohne zuviel Druck gelöst werden. Andererseits war er der Gefangene seiner eigenen dogmatischen Konzepte: Wenn er die Ansicht teilte, daß eine unmittelbare Kriegsgefahr bestand und daß die ländliche und städtische Bourgeoisie eine Gefahr für die Führung der kommunistischen Partei darstellte, wie konnte er dann eine peredyschka, eine Atempause,, rechtfertigen, und sei es auch nur für ein oder zwei Jahre?
Da Bucharin an zum Teil eingebildete und zum Teil übertriebene Gefahren glaubte, kam er zu dem Schluß, daß die Parteiführung nur wenig Spielraum habe. Diese Annahme beraubte ihn in der Debatte mit Stalin seiner stärksten Argumente. Er hätte sonst bezüglich der Kollektivierung auf einer viel längeren Übergangsperiode bestehen können. Er hätte gegen die Deportation (mit Todesfolge) protestieren müssen, die Millionen Kulaken und andere Menschen traf, deren einziger Fehler darin bestanden hatte, daß sie Unternehmungsgeist bewiesen und hart gearbeitet hatten.
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Er hätte sich für eine sorgfältigere und rationalere Vorbereitung des ersten Fünf-Jahres-Plans einsetzen können, was eine höhere Qualität der Produkte und mehr Ausgewogenheit bei den Planzielen zur Folge gehabt hätte, ohne daß der Gesamtausstoß dadurch notwendigerweise geringer geworden wäre. Aber er hatte nicht den Mut, für seine Überzeugungen einzutreten — oder er handelte nicht, weil das Sprichwort »Eile mit Weile« noch nie zum Sprachschatz der bolschewistischen Partei gehört hatte.
Es dauerte nicht besonders lange, bis die Fehler und Nachteile des neuen Kurses nur allzu deutlich wurden. Über die Folgen für die Landwirtschaft herrscht heute praktisch Einigkeit: Die Kollektivierung, wie sie von Stalin durchgeführt wurde, war eine Katastrophe. Sie führte nicht nur zur Vernichtung der Kulaken als Klasse, sondern zur fast völligen Zerstörung der sowjetischen Landwirtschaft. Diese leidet noch heute unter den Folgen und wird wahrscheinlich das schwächste Glied der sowjetischen Wirtschaft bleiben, wenn sie nicht radikal reformiert wird.
Es stimmt zwar, daß 1935 die Rationierung von Brot abgeschafft wurde, aber Produktion und Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung blieben bei allen anderen Agrarprodukten unter dem Niveau von 1929 — und dem vor 1914. Dies war der Fall, obwohl im Laufe von vielen Jahrzehnten Hunderte Milliarden Rubel in diesen Bereich investiert wurden, unendlich viel mehr als in jedem anderen Land. Zwischen 1971 und 1986 wurden 680 Milliarden Rubel in die sowjetische Landwirtschaft gesteckt, wobei sich im Laufe der Jahre die Höhe der festen Investitionen verdreifacht hatte. Doch diese Anstrengungen hatten lediglich das Ergebnis, daß der Ausstoß an Agrarprodukten gerade noch mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten konnte und im Fall einer schlechten Ernte nach wie vor Getreide importiert werden muß.
Das traditionelle russische Dorf wurde zerstört. Die Kolchosen und Sowchosen, die an seine Stelle traten, waren deprimierende und ineffektive Einrichtungen. Die verbleibenden Bauern bezogen einen wesentlichen Teil ihres Einkommens aus den Produkten, die sie auf kleinen privaten Grundstücken, einem Zugeständnis des Regimes, anbauten. Die Versorgung der Städte mit Obst und Gemüse, ja sogar mit Fleisch, war auch 60 Jahre nach der Kollektivierung noch von diesen kleinen Grundstücken außerhalb des »sozialistischen« Sektors abhängig.
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Eines der Ergebnisse der Kollektivierung zwischen 1932 und 1933 war die große Hungersnot in der Ukraine, die Millionen Todesopfer forderte, obwohl dieses Land früher einmal eines der reichsten Agrargebiete Rußlands gewesen war.
Auch nach der Überwindung der unmittelbaren Krise blieb das Leben in den russischen Dörfern karg und elend. Am schlimmsten war es in Zentral- und Nordrußland, außerhalb der Schwarzerde-Gebiete. Wenn die deutschen Truppen bei ihrem Vormarsch tatsächlich von den weißrussischen Bauern als Befreier begrüßt wurden, wie ein sowjetischer Romanautor berichtet, dann vor allem wegen der Leiden der Kollektivierung. Die schlimmste Gefahr für das Regime lag allerdings nicht im Widerstand der Bauern, sondern in deren Apathie. Der Bauernschaft wurde durch die Verfolgungen der Jahre 1929-1933 das Rückgrat gebrochen, aber auch jede Initiative ausgetrieben.
In den folgenden Jahrzehnten bastelte die Führung mehr oder weniger permanent am Agrarsystem herum: Lange Zeit (und mit verheerendein Ergebnis) experimentierte man mit Konzepten von Lyssenko. Danach wurden, besonders unter Chruschtschow, noch viele andere Methoden ausprobiert. In der Sowjetunion gab es mehr Traktoren und Mähdrescher als in Amerika und Europa zusammengenommen, aber sie blieb auch weiterhin von Getreideimporten aus dem Ausland abhängig. Eine neue Generation von Russen begann das alte russische Dorf zu idolisieren, obwohl man sie gelehrt hatte, daß alles im alten ländlichen Rußland rückständig, ärmlich und kulturfeindlich gewesen sei. Das Schlagwort von der Idiotie des Landlebens wurde durch Bezüge auf die Idiotie des Lebens in der Großstadt ersetzt.
Aus einer historischen Perspektive gesehen ist das einzige Argument, das für die Revolution von oben in den Jahren 1929—1932 trotz all ihrer tragischen Konsequenzen noch angeführt werden kann, daß sie eine historische Notwendigkeit war. Die Sowjetunion, so lautet das Argument, mußte sich schnell industrialisieren, um das kommunistische Regime zu stärken, den Lebensstandard des gesamten Landes zu heben. Man benötigte eine leistungsfähige Schwerindustrie, die es dem Land ermöglichen sollte, sich in einem künftigen Krieg zu verteidigen.
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Aus diesem Grund mußte Zwang angewandt werden, denn die zur Industrialisierung benötigten Ressourcen konnten nur aus der Landwirtschaft herausgepreßt werden. Außerdem, welche andere Alternative hätten die Behörden noch gehabt, nachdem sich die Bauern 1928 und 1929 geweigert hatten, ihre Produkte auf den Markt zu bringen?
Diesen permanenten »Rückzug« der Bauernschaft vom Markt hat es allerdings gar nicht gegeben. Es gab lediglich zeitweilige Schwierigkeiten infolge von zwei aufeinanderfolgenden schlechten Ernten und einer verfehlten Preispolitik. Man hätte die Getreidekrise durch eine Reihe verschiedener Mittel und Wege bewältigen können. Sie alle waren jedoch für eine Mehrheit der Parteiführung politisch inakzeptabel, weil sie den Einsatz dieser Mittel als Kapitulation vor dem nicht sozialisierten Sektor interpretiert hätte.
Noch heute wird eine Debatte darüber geführt, ob das »Auspressen« der Landwirtschaft einen positiven Beitrag zum Ausbau der Industrie geleistet hat, ob es gar keinen Unterschied machte oder ob es in Wirklichkeit eine negative Wirkung hatte. Nachdem die Behörden das traditionelle Dorf vernichtet und durch Kollektivbetriebe ersetzt hatten, mußten sie die neuen Betriebe mit Traktoren und anderen Maschinen ausstatten. Mit den Worten eines Historikers:
Die Landwirtschaft war in den Jahren des Fünf-Jahres-Plans von 1929 bis 1932 ein Netto-Rezipient der realen Ressourcen. Keineswegs flossen Ressourcen aus der Landwirtschaft in den industriellen Sektor, sondern es gab, in den Preisen von 1929 gerechnet, einen relativ bedeutenden Fluß in der umgekehrten Richtung.14)
Man könnte argumentieren, daß die Bauern, die in die Stadt flohen oder nach Sibirien deportiert wurden, eine Reservearmee billiger Arbeitskräfte für einige der gigantischen industriellen Bauprojekte darstellten. Letztlich geht es im Kern der Debatte darum, ob Stalin und die Mehrheit in der Parteiführung psychologisch und politisch in der Lage gewesen wären, irgendeine andere Lösung als die »militär-feudalistische Ausbeutung der Bauernschaft« (wie es Bucharin 1928 genannt hatte) zu akzeptieren, obwohl sie den Markt als den schlimmsten Feind der sozialistischen Planung betrachteten. Und dazu waren sie offensichtlich nicht in der Lage.
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Seit Stalins Tod wurde, beginnend mit der berühmten Geheimrede Chruschtschows, kein Geheimnis mehr aus der miserablen Lebensqualität der sowjetischen Landbevölkerung gemacht. Zwar pflegten die Historiker und Wirtschaftswissenschaftler immer noch das Argument anzuführen, daß Stalins Kollektivierung alles in allem eine progressive Maßnahme gewesen sei. Es seien in der Tat Fehler gemacht worden und unschuldige Menschen hätten leiden müssen, aber man könne nun einmal keine Eierkuchen backen, ohne Eier zu zerbrechen. Einige wenige Historiker und Wirtschaftswissenschaftler vertraten kritischere Ansichten, wurden jedoch wegen Mangels an ideologischer Wachsamkeit gerügt.15)
Sobald sich der Leser allerdings von den abstrakten Diskussionsbeiträgen abwandte und konkrete Beschreibungen der Bedingungen las, wie sie ab den späten zwanziger Jahren für das sowjetische Dorf bezeichnend waren, dann ergab sich ein düsteres und deprimierendes Bild. Diese Bedingungen werden in den Büchern von Fjodor Abramow, Sergei Salygin und der ganzen Gruppe von Schriftstellern geschildert, die später unter dem Namen derewenschtschiki (die Dorfschriftsteller) bekannt wurde. Im Jahr 1987 wurde eingestanden, daß jeder dritte Kolchos mit Verlust arbeitete; vermutlich war dies schon die ganze Zeit der Fall gewesen.
Was waren nun die generellen Langzeitfolgen der zweiten Revolution von 1929, wenn man einmal von der Landwirtschaft absieht? Sowjetische Autoren der Glasnost-Periode tendieren dazu, das spätere Versagen der sowjetischen Wirtschaft auf falsche Entscheidungen zurückzuführen, die 1928 getroffen worden seien. Sie hatten die kommunistische Strategie der kommenden Jahrzehnte bestimmt, und zwar aus zwei Gründen: Das System der Kommandowirtschaft, die von einer parasitären und lähmenden Bürokratie geführt wird, wurde damals tief in der sowjetischen Gesellschaft verankert. Sie lähmte jede Initiative in der Wirtschaft des Landes und brachte sie schließlich knirschend zum Stillstand.
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Noch schlimmer als die wirtschaftlichen waren jedoch die politisch-psychologischen Konsequenzen, die Entmenschlichung des Parteiapparats, wie Bucharin sie Nikolajewski schilderte:
... die tiefgreifenden Wandlungen in der psychologischen Struktur derjenigen, die an dieser [Kollektivierungs-] Kampagne teilgenommen haben, und die sich, anstatt verrückt zu werden, zu professionellen Bürokraten entwickelt haben. Danach war der Terror für sie eine normale administrative Maßnahme, und sie empfanden es als hohe Tugend, jeden Befehl zu befolgen, der von oben kam.
In welchem Ausmaß kann man nun Stalin persönlich für die Ergebnisse der »großen Wende« verantwortlich machen? Ohne Stalins Initiative, die auf seinen Sibirienbesuch Anfang 1928 folgte, und der Kehrtwende, die er anschließend vollzog, wäre die große Kollektivierungskampagne nie gestartet worden, und der Krieg gegen die Bauern hätte keine Fortsetzung gefunden, nachdem seine ökonomischen und politischen Konsequenzen allmählich deutlich geworden waren.
Dem stehen die Tatsache gegenüber, daß die Politik der Kollektivierung ziemlich populär war, und zwar nicht nur auf den oberen Parteiebenen, sondern auch weiter unten in der Hierarchie. Ihre Popularität basierte auf der Furcht, daß die Sowjetmacht nicht wirklich gesichert sei, solange die Landwirtschaft sich noch in privaten Händen befinde. Die traditionelle Haltung gegenüber der Bauernschaft war Mißtrauen. Die Bauern wurden als eine Klasse betrachtet, die ihre eigenen Interessen nicht verstand; also mußten ihre Angehörigen wie Kinder erzogen und wenn nötig bestraft werden.
Außerdem war die Idee, daß sich die Industrialisierung schneller vollziehen müsse, nicht in Stalins Kopf entstanden; diese Forderung war in den Jahren zuvor von Trotzki, Sinowjew, Kamenew und vor allem von Preobraschenski erhoben worden. Stalin machte sich nach 1928 viele ihrer Argumente zu eigen. Es gab eine Menge »revolutionärer Ungeduld« an der Parteibasis, besonders bei der jüngeren Generation, und ihr mußte ein Ventil geschaffen werden. Die Weltrevolution, wie Lenin und Trotzki sie vorhergesagt hatten, war nicht eingetreten; statt dessen mußten jetzt in der Sowjetunion neue Anstrengungen gemacht werden, die Wirtschaft schneller als je zuvor zu entwickeln und vor allem die Schwerindustrie auszubauen.
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Es ist unbestritten, daß es dem Regime in beträchtlichem Maße gelang, den Enthusiasmus der jüngeren Generation für die Verwirklichung von Mammutprojekten wie Magnitogorsk und Kusnezk, Dneproges, Saporoschje und Stalingrad zu kanalisieren. Das Gefühl war weit verbreitet, daß die jungen Kommunisten »den Himmel stürmen« könnten (und würden). Diese Stimmung erwies sich als ansteckend: Daß die Sowjetunion sich scheinbar am eigenen Schnurrbart aus dem Sumpf zog, fand im Westen zunehmend Interesse und Unterstützung, besonders weil die kapitalistische Welt just zu jener Zeit mit einer schweren Rezession zu kämpfen hatte.
Das »sozialistische Sechstel der Welt« verwandelte sich, und das russische Beispiel würde, wie viele Besucher prophezeiten, alle anderen Länder inspirieren. Zwar standen einige westliche Experten den Siegesmeldungen skeptisch gegenüber, aber ihre Kommentare wurden meist ignoriert.
Die Geschichte der sowjetischen Industrie ist im Gegensatz zur Geschichte der Landwirtschaft ab 1929 nicht eine Aneinanderreihung von Katastrophen. Die Stahl- und die Werkzeugindustrie machten eindrucksvolle quantitative Fortschritte; dagegen wurden die im ersten Fünf-Jahres-Plan bezüglich der anderen Industrien für 1933 anvisierten Ziele erst in den fünfziger Jahren erreicht.
Nach den amtlichen Zahlen folgte auf sehr hohe Wachstumsraten der Industrieproduktion (in den ersten drei Jahren des Planungszeitraums betrugen sie je 20 Prozent) im letzten Jahr des Plans ein steiler Abfall. In den Jahren 1934 bis 1936 gab es wieder einen Anstieg, gefolgt von einer neuerlichen Stagnation von 1937 bis 1938. Dieser unregelmäßige Fortschritt hatte viele Gründe. Einer der wichtigsten war die einseitige Konzentration auf einige wenige, strategisch wichtige Industrien. Dagegen wurde z.B. das Transportwesen vernachlässigt, was indirekte Auswirkungen auf das Wachstum der Schwerindustrie hatte.
Wie erfolgreich war nun die Industrialisierung der Sowjetunion, wenn man eine vergleichende historische Perspektive einnimmt? Die damals publizierten amtlichen Zahlen, die bis zur Glasnost-Ära nicht in Frage gestellt wurden, waren enorm übertrieben. Außerdem sagen sie nichts über die Qualität der Produkte aus; die Tatsache, daß eine Million Tonnen Stahl produziert wurde, heißt nicht, daß er für den beabsichtigten Zweck verwendbar war — oder überhaupt zu etwas taugte.
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Nach den im Rahmen von Glasnost veröffentlichten Zahlen wuchs das sowjetische Bruttosozialprodukt zwischen 1929 und 1941 nicht, wie von den offiziellen Statistikern behauptet, um das Fünffache, sondern nur um den Faktor 1,5. Das ist immer noch eine eindrucksvolle Wachstumsrate. Sie ist jedoch nicht höher als die von Hitler-Deutschland zwischen 1933 und 1939 erreichte Wachstumsrate. Im gleichen Zeitraum, in dem die sowjetische Industrieproduktion um 20 Prozent oder mehr zunahm, galt das auch für die deutsche Industrie.
Man kann behaupten, das die deutsche Industriekapazität schon vorher existiert habe und lediglich nicht ausgelastet gewesen sei, während die sowjetischen Fabriken völlig neu aufgebaut werden mußten. Außerdem könnte man anführen, daß der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland primär auf Kriegsvorbereitungen beruhte, aber das gilt natürlich auch für das sowjetische Wirtschaftswachstum.
Es ist vielleicht fruchtbarer, wenn man das industrielle Wachstum im Rußland der dreißiger Jahre mit dem Wachstum vor der Revolution vergleicht. Zwischen 1880 und 1914, einem langen Zeitraum, der sowohl gute Jahre als auch Perioden der Stagnation und des Niedergangs umfaßte, hatte die jährliche Wachstumsrate fünf bis sechs Prozent betragen. Das war höher als in jedem anderen Land. Das jährliche Wachstum der russischen Industrie war mit 5,7 Prozent im Durchschnitt höher als in jedem anderen Industrieland einschließlich der Vereinigten Staaten.
Auch diesen Sachverhalt könnte man mit dem niedrigen Entwicklungsstand Rußlands erklären. Es ist eine sattsam bekannte Tatsache, daß rückständige Wirtschaften schneller wachsen als entwickelte — das ist der zweifelhafte Vorteil der Rückständigkeit. All dies trifft jedoch auch für den Beginn der neuen sowjetischen Wirtschaftspolitik Ende der zwanziger Jahre zu: Rußland war noch immer ein unterentwickeltes Land, als der erste Fünf-Jahres-Plan in Kraft trat. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, daß die Sowjetunion schnellere Fortschritte machen würde als andere Länder. Daraus ergibt sich, daß das Wachstum der sowjetischen Industrie zwar eindrucksvoll, aber keineswegs einmalig war, sowohl was die russische Geschichte, als auch was den Vergleich mit anderen Ländern angeht.
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Wie real war nun rückblickend betrachtet die Alternative Bucharins? Es gibt heute praktisch niemanden mehr, der behaupten würde, Stalins Ansatz sei der einzig mögliche gewesen. Allein schon die Tatsache, daß Bucharins Ideen 50 Jahre nach seinem Tod so breit diskutiert wurden, weist darauf hin, daß es Alternativen gegeben haben muß. Die Bedeutung des Begriffs »Alternative« ist jedoch keineswegs eindeutig.
Manche sowjetischen Autoren sind auch heute noch der Ansicht, daß die Kollektivierung im Grunde unvermeidlich war, da dem Land sowohl aus innen- wie aus außenpolitischen Gründen einfach keine Zeit für eine andere Politik blieb. Auch die Gewaltanwendung gegen die Kulaken halten sie für unvermeidlich, weil diese nur unter Druck kooperiert hätten.16) Die von Stalin und seinen Kreaturen begangenen Exzesse betrachten sie jedoch als unnötig und kontraproduktiv. Mit anderen Worten, es war nicht nötig, Millionen von Menschen zu töten oder in weiten Teilen des Landes eine Hungersnot auszulösen, nur um ein neues Verwaltungssystem durchzusetzen, das, gelinde gesagt, nicht sehr effektiv war. Stalin und eine Mehrheit der Partei hatten nur im negativen Sinne ein klares Ziel. Sie wollten das kapitalistische System auf dem Land zerstören, hatten jedoch kein Gesamtkonzept, was an seine Stelle hätte treten können. Daher die vielen Veränderungen, denen die sowjetische Landwirtschaft in den folgenden Jahren unterworfen wurde.
Eine solche Kritik ist völlig legitim, aber sie beantwortet unsere Frage nicht: Nach welchem anderen System hätte eigentlich verfahren werden sollen, nachdem einmal Konsens darüber bestand» daß man keine Zeit verlieren durfte, daß das Land den Bauern, die es bewirtschafteten, weggenommen werden mußte, und daß die Sowjetunion ohne diese Maßnahme periodischen Krisen ausgesetzt sein würde?
Stalin und die meisten anderen Mitglieder der Parteiführung hegten ein tiefes Mißtrauen gegen die Bauernschaft. Sie waren der festen Überzeugung, daß deren Instinkte »kleinbürgerlich« seien und es immer bleiben würden. Sie glaubten, die Bauern würden sich niemals freiwillig von ihrem Land trennen, und damit hatten sie wahrscheinlich recht. Da jedoch die Bauern zu jener Zeit noch immer 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten, hatte es die Partei nicht nur mit äußeren Feinden zu tun, sondern auch mit einem mächtigen inneren Feind, und sie fühlte sich wie in einer belagerten Festung.17)
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Stalin war letztlich nicht interessiert an einer blutigen Auseinandersetzung. In späteren Jahren nannte er den Konflikt mit den Bauern einen bitteren Bürgerkrieg. Hätte er einen anderen, weniger verlustreichen Weg zu seinem Ziel gesehen, eine »Lösung ohne Krise«, wie Bucharin es ausdrückte, dann hätte er ihn wohl eingeschlagen. Aber Stalin glaubte, daß die NEP in Hinblick auf die Landwirtschaft nicht länger funktionierte, daß landwirtschaftliche Genossenschaften (die auf ausländischen Vorbildern beruhten) in der Sowjetunion wahrscheinlich nicht gut funktionieren würden und daß in jedem Fall die Zeit für geduldige Überzeugungsarbeit fehlte, um die Bauern nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum zu erziehen.
Sowohl seine politischen als auch seine wirtschaftlichen Annahmen waren jedoch falsch: Die »Kommandohöhen« waren fest in der Hand der kommunistischen Partei. Außerdem führte das stalinistische Modell nicht, wie er angenommen hatte, zu einer radikalen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation. Wenn man daran glaubte, daß das Land enteignet werden müsse, und zwar sofort, dann gab es keine Lösung, die sich radikal von der Stalins unterschieden hätte.
Aus diesem Grund sind zahlreiche sowjetische Autoren der Ansicht, daß seine Annahme, die Revolution von oben sei eine bittere Notwendigkeit gewesen, richtig war, obwohl sie auf eine skandalöse Art durchgeführt wurde und großen Schaden anrichtete. Wenn Stalin zu hart war, dann war Bucharin in ihren Augen zu weich, und in der gegebenen Situation war es vermutlich weniger gefährlich, zu hart zu sein. Bestenfalls plädieren diese Kritiker für eine Mischung aus Stalins und Bucharins Ideen. Der stalinistische Ansatz wäre dann lediglich auf eine etwas humanere Weise und in etwas längerer Zeit durchgeführt worden. Es ist nicht sicher, ob dies wirklich machbar gewesen wäre, und wenn ja, ob die Ergebnisse wesentlich anders ausgesehen hätten.
Es gab in der Tat grundsätzliche Alternativen, aber nur, wenn man Stalins politische Grundannahmen nicht teilte, und diese waren, um es noch einmal zu wiederholen, auch die Grundannahmen der Mehrheit der Parteiführung.18) Letztendlich ging es bei dem Problem nicht nur um die ideologische Konsequenz, sondern auch um einen neuen despotischen Führungsstil, der sich in der Partei entwickelt hatte und mit Konzessionen und schrittweisem Vorgehen nicht vereinbar war.
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Einige westliche Historiker traten in den siebziger Jahren für Bucharins Alternative ein, und als Folge von Glasnost haben das auch sowjetische Autoren getan. Knapp zusammengefaßt lauten ihre Argumente: Lenin kam gegen Ende seines Lebens zu dem Schluß, daß die Machtergreifung der Bolschewik! im Oktober 1917 verfrüht gewesen sei, weil die sozialen Bedingungen noch nicht reif gewesen seien. Trotzdem hätten sich die Bolschewiki diese Gelegenheit nicht entgehen lassen können und dürfen.
Die Konsequenzen der verfrühten Machtergreifung könnten jetzt allerdings nur vermieden werden, wenn es gelinge, eine harmonische Gesellschaft zu schaffen, in der Frieden zwischen Stadt und Land herrschte. Hierfür sollten die Bauern durch Überzeugungsarbeit zum Sozialismus bekehrt werden. Dies war der Tenor von Lenins letzten Artikeln mit ihrer Betonung von NEP und Kooperation. Bucharins Doktrin basierte auf den letzten Gedanken Lenins: Die Bauern sollten »in den Sozialismus hineinwachsen«, und ihre Bedürfnisse angemessen berücksichtigt werden, ohne daß auf eine beschleunigte Industrialisierung verzichtet werden müsse. Im Klartext: Für die Bedürfnisse der Bauern sollte die Leichtindustrie eingesetzt werden.
Wir werden nie erfahren, ob Lenin 1922 glaubte, daß die NEP fünf Jahre überdauern würde. Es ist zweifelhaft, ob er sich wirklich im klaren war, welche Konsequenzen die »verfrühte Machtergreifung« haben würde. Auch ist es unwahrscheinlich, daß er sich am Ende seines Lebens Theorien zuwandte, wie sie bereits von den Menschewiki und von Kautsky vertreten worden waren.
Aus seinen politischen Vorschlägen läßt sich eine solche Haltung gewiß nicht ableiten; es gibt keine Beweise, daß er ein demokratischeres Regime befürwortete, ganz zu schweigen von einer erneuten Zusammenarbeit mit anderen linken Parteien. Er war nicht bereit, von Theorie und Praxis der Diktatur Abstand zu nehmen, und Bucharin stimmte mit Lenins Ansichten völlig überein. Es ist richtig, daß er die Bürokratie kritisierte, die er bisher nicht als Gefahr wahrgenommen hatte. Aber diese Art von Kritik wurde von allen Fraktionen der Partei geteilt, von Trotzki und Preobraschenski bis Stalin.
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Kritik an der Bürokratie war keineswegs mit der Forderung nach innerparteilicher Demokratie gleichzusetzen und schon gar nicht mit der Forderung nach Demokratie für das ganze Land. Wenn Bucharin den politischen Prozessen der späten zwanziger Jahre kritisch gegenüberstand, die in mancher Hinsicht die Vorläufer der Moskauer Prozesse waren, so machte er seine Kritik nicht publik.
Kurz gesagt, weder Lenin noch Bucharin hatten ein klares Konzept, wie man eine harmonischere Gesellschaft erreichen könnte, ohne gleichzeitig die kommunistische Revolution in einem insgesamt rückständigen Land preiszugeben.
Wir wissen nicht einmal genau, welchen Stellenwert dieses Anliegen in ihrer politischen Agenda hatte. Und schließlich ist es zweifelhaft, ob es überhaupt einen anderen Weg gab, »die Konsequenzen zu vermeiden«, als die Macht zumindest mit den anderen linken Parteien zu teilen — also mit den Menschewiki und den Sozialrevolutionären zusammenzuarbeiten. Dies war jedoch völlig undenkbar, denn beide Parteien waren schon von Anfang an politische Feinde der Bolschewiki gewesen.
Die Oktoberrevolution hatte sich nicht nur gegen die bürgerlichen Parteien, sondern auch gegen diese linken Parteien gerichtet. Angesichts des spezifischen Charakters der bolschewistischen Partei mußte ein Kurs der Zusammenarbeit als völlig verrückt, wenn nicht gar als politischer Selbstmord erscheinen. Er war nie eine ernsthafte Alternative: Diese Tür war mit der Machtergreifung der Bolschewiki zugeschlagen worden.
Man konnte allenfalls noch darauf hoffen, daß wenigstens ein gewisses Maß an innerparteilicher Demokratie erhalten bleiben und sich Rosa Luxemburgs berühmte Prophezeiung nicht erfüllen würde. Sie hatte vorausgesagt, die Diktatur des Zentralkomitees werde unweigerlich zur Diktatur einer Handvoll von Parteiführern und letztlich zur Herrschaft eines einzelnen Diktators führen.
Es hatte Fraktionen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der bolschewistischen Partei gegeben, aber nach der Oktoberrevolution wurde der Druck, eine monolithische Partei zu schaffen, immer größer. Obwohl diese Entwicklung besonders Stalins Mentalität stark entgegenkam, trug auch Bucharin sein Teil dazu bei.
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Im Gegensatz zu einigen anderen Autoren, die der Ansicht sind, es habe keine reale Alternative mehr gegeben, nachdem Stalin einmal Generalsekretär der Partei geworden war, hat V.P. Danilow, der führende Sowjethistoriker der Kollektivierung, darauf hingewiesen, daß noch längere Zeit eine Chance bestanden hätte, Stalin abzusetzen oder seine Macht zu reduzieren:
Eine solche Möglichkeit existierte bis Ende 1927, als Bucharin und seine Anhänger sich dem Druck der Stalinisten beugten und für den Parteiausschluß Trotzkis, Sinowjews und Kamenews sowie einer Anzahl weiterer Führer der »neuen Opposition« stimmten. Dies war ein tragischer Fehler, der die Partei — und Bucharin selbst — teuer zu stehen kam. Er bedeutete das Ende eines Gleichgewichts der Macht, das in der obersten Parteiführung seit Lenins Tod geherrscht hatte.
Erst jetzt war es der stalinistischen Fraktion möglich, die ganze Macht an sich zu reißen, der innerparteilichen Demokratie den entscheidenden Schlag zu versetzen und eine stalinistische Autokratie zu errichten, die auf der Kommandowirtschaft der Parteibürokratie basierte. Von diesem Augenblick an waren die Alternative Bucharins und Bucharin selbst zum Untergang verurteilt...19)Auch wenn Bucharin und seine Anhänger nach 1927 zum Untergang verurteilt waren, erklärt das nicht, warum sie so kriecherisch kapitulierten. Anstatt sich in hemmungslosen Selbstanklagen zu ergehen (»die Rechtsabweichung stellte für die Partei und die kommunistische Internationale die größte Gefahr dar«, sagte Bucharin), hätten sie kämpfend untergehen können.
Oder sie hätten sich wenigstens aus der aktiven Politik zurückziehen und darauf verzichten können, politische Ereignisse zu kommentieren. Statt dessen sangen sie Loblieder auf Stalin. An ihrem Schicksal hätte sich jedoch nichts geändert, was immer sie auch taten. Aber sie verhielten sich zumindest in der Öffentlichkeit auf eine Art und Weise, wie es noch in keinem anderen Land und in keiner anderen Partei vorgekommen war.
Es mangelte ihnen eigentlich nicht an Mut, aber sie waren mit dem Glauben großgeworden, daß es außerhalb der Partei keine Wahrheit gebe, und sie hatten Angst, sich zu isolieren.
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Vielleicht war es auch nicht nur eine Frage des Drucks und der Parteiloyalität, vielleicht hatten sie auch ihr Selbstvertrauen verloren und begannen allmählich zu glauben, daß Stalin den richtigen Kurs eingeschlagen habe, ja daß die Ereignisse nach 1928 seinen Kurs eher rechtfertigten als den ihren.
Dabei kommt einem die Haltung in den Sinn, die von der obersten militärischen Führung Deutschlands gegenüber Hitler eingenommen wurde: Sie hatten zur Vorsicht gemahnt und bei vielen Gelegenheiten auf die großen Risiken hingewiesen, die Hitlers Pläne für einen skrupellosen Angriffskrieg beinhalteten.
Nachdem jedoch Hitler einen Erfolg nach dem anderen errungen hatte, vom Einmarsch in Österreich und in der Tschechoslowakei bis zum Sieg über Frankreich und dem Sieg auf dem Balkan, waren die Marschälle und Generäle nicht mehr geneigt, Kritik zu üben, auch wenn sie vielleicht noch nicht völlig überzeugt von Hitlers Genie und nicht ganz frei von schlimmen Vorahnungen waren. Es ist schwierig, gegen den Erfolg zu argumentieren. Allerdings waren Hitlers militärische Siege eindeutigere Erfolge als Stalins innenpolitische Erfolge.
Trotz all ihrer Zweifel mußten die Führer des rechten Flügels der kommunistischen Partei eingestehen, daß die Industriekapazität des Landes stark gewachsen war. Im Land herrschte eine Atmosphäre des Enthusiasmus, und die Stimmen derjenigen, die ihn nicht teilten, erreichten sie nur selten. Unter diesen Bedingungen mögen sie wohl gedacht haben, daß Stalin letztlich doch recht gehabt habe. Warum auch hätten sie noch die Kassandra spielen sollen, obwohl der Zustand vor der Kollektivierung ohnehin nicht mehr wiederherstellbar war?
Daß Bucharins Schicksal zutiefst tragisch war, sollte den Historiker nicht blind machen für die große Verantwortung, die er trug. Nach 1929 verdiente Bucharin als politischer Führer keinen Respekt mehr. Sein moralisches Rückgrat war gebrochen. Selbst wenn das auch bei den meisten seiner Zeitgenossen der Fall war, so wird es dadurch nicht weniger verwerflich. Im Dezember 1934, nach der Ermordung Kirows, schrieb Bucharin als Chefredakteur der Iswestija, einen Artikel des Inhalts, daß jede Form von Opposition und Abweichung zum Bruch mit der Partei, zum Konflikt mit dem sowjetischen Recht und zur Konterrevolution führe. Das liege in der Logik des Klassenkampfes: »Die Wahrheit dieser Lehre hat sich in all ihrer fürchterlichen Tiefe wieder einmal durch die faschistische Degeneration des Abschaums der Sinowjew-Gruppe gezeigt.«
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In den Jahren nach Lenins Tod, fuhr Bucharin fort, sei die Partei während der großen Ära des Wiederaufbaus von Stalin geführt worden. Die früheren Führer, die jetzt nicht mehr an der Spitze stünden, hätten zu einem wichtigen historischen Zeitpunkt politisch Bankrott gemacht: »Die stalinistische Führung ist nicht zufällig gewählt worden, sie ist die Geschichte, ist die Partei...«
Es ist wichtig, das Datum zu berücksichtigen, an dem dies geschrieben wurde: Dezember 1934. Zu diesem Zeitpunkt stand der große Terror erst an seinem Beginn. Weder Bucharin noch seine Familie schwebten damals in unmittelbarer Lebensgefahr.
Was immer auch der Grund war, er kollaborierte freiwillig mit dem Regime. Wenn er über die »faschistische Degeneration« seiner früheren Genossen schreiben konnte, dann hatte er jegliche Selbstachtung verloren, sein moralischer und politischer Bankrott war total, obwohl der Grund, den er andeutete, nicht ausschlaggebend war.20)
Es ist jedoch überhaupt nicht sicher, ob überhaupt eine <Alternative Bucharins> existierte, auch vor 1928. Intoleranz gegenüber der Opposition war nämlich nicht das Monopol einer bestimmten Fraktion innerhalb der bolschewistischen Partei; Kamenew und Sinowjew hatten sich ähnlich verhalten, während sie 1925 mit Stalin kollaborierten.
Auch ist es mehr als zweifelhaft, ob unter Trotzki das »Gleichgewicht der Kräfte« aus der Zeit nach Lenin erhalten geblieben wäre, falls er darüber hätte entscheiden können.
Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen war nie ein charakteristisches Merkmal der bolschewistischen Partei gewesen.
Die alten Bolschewiki hätten ihre Gegner zwar nicht ermordet, aber sie hätten sie sicherlich aus allen einflußreichen Positionen entfernt. In den unteren Rängen der Partei herrschte allgemeine Zustimmung zu einem politischen Stil, wie ihn Stalin viel besser repräsentierte als die anderen alten Bolschewiki. Dieses System basierte auf dem »Befehl von oben«, wobei die Existenz eines einzelnen Herrschers viel wichtiger war als die von Komitees. Propaganda und Terror wurde vor Beratungen und Überzeugungsarbeit der Vorzug gegeben, und Härte trat an die Stelle von Harmonie.
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Es ist oft die Frage gestellt worden, warum sich die bolschewistische Partei auf diese besondere Weise entwickelte, und es wurden verschiedene Erklärungen angeboten: Die patriarchalische Struktur des alten russischen Dorfes, das vollständige Fehlen einer demokratischen Tradition im vorrevolutionären Rußland, das niedrige Niveau der politischen Kultur bei der Parteiführung und andere Gründe. Diese Fragen sollten eher im allgemeinen Rahmen der Entstehung des Stalinismus diskutiert werden als im spezifischen Kontext von Bucharins Alternative. Angesichts des Charakters der Partei hätte eine <Bucharin-Alternative> wenig Unterstützung gefunden, falls sie als eine echte politische Alternative aufgefaßt worden wäre und nicht nur als eine Reihe kosmetischer Korrekturen an Zeitplan und Durchführung des »Großen Sprungs nach vorn«.
Wie bereits erwähnt, wollte Chruschtschow Bucharin nach dem 20. Parteikongreß rehabilitieren. Über die Gründe des Scheiterns dieses Versuchs gibt es verschiedene Ansichten. Einer Quelle zufolge waren führende ausländische Kommunisten gegen die Rehabilitierung. Diese Erklärung ist jedoch höchst unwahrscheinlich, weil es nie großen Einfluß auf die sowjetischen Führer hatte, was etwa Thorez oder Togliatti sagten oder taten. Letzterer hätte einer Rehabilitierung Bucharins ohnehin in jedem Fall positiv gegenübergestanden. Ohne Zweifel war der Widerstand von solchen Stalinisten wie Suslow der ausschlaggebende Faktor. Nach Chruschtschows Sturz kam es zu erneuten Angriffen gegen Bucharin.21)
Allerdings wurden einige Anschuldigungen jetzt fallengelassen, beispielsweise daß Bucharin für ausländische Mächte Spionage betrieben habe. Seine Rehabilitierung fand deshalb erst im Rahmen von Glasnost statt, und es entwickelte sich ein regelrechter Bucharin-Kult, auch wenn ihm bestimmte Kreise nach wie vor ablehnend gegenüberstanden. Die stärksten Widerstände existierten in rechten nationalistischen und in neostalinistischen Kreisen.
Daß die ultra-orthodoxen Stalinisten sich gegen eine Rehabilitierung stellen würden, war zu erwarten, dagegen war das Unbehagen der Rußland-Chauvinisten schwerer zu erklären. Sie behaupteten, Bucharin habe Lenin nicht nahegestanden, er habe nur einen bescheidenen ideologischen theoretischen Beitrag geleistet und als echter Internationalist keine Sympathie für die traditionelle russische Kultur empfunden: Er hatte den Dichter Esenin nach dessen Selbstmord im Jahre 1929 kritisiert.
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Ihrer Ansicht nach war Bucharins Gegnerschaft zu Stalins Kollektivierung (mit der sie teilweise übereinstimmten) für eine Gesamtbewertung seiner Person weniger wichtig als sein Weltbürgertum, d.h. der »nationale Nihilismus«, den er mit der gesamten alten Garde der bolschewistischen Partei gemeinsam hatte.22) Auch die Tatsache, daß Bucharin für eine konsequentere Anti-Nazi-Politik eintrat als Stalin, hat ihn bei der extremen Rechten nicht gerade beliebt gemacht.23)
Der neue Bucharin-Kult manifestierte sich im Entstehen von Jugendclubs, die sein geistiges Erbe studierten, in Konferenzen, die seinem Andenken gewidmet waren (in Wuppertal, Budapest, Oxford und Peking), sowie in Ausstellungen und zahlreichen Publikationen.24) Die erste Biographie, die in der Glasnost-Ara über Bucharin erschien, war von einem Ungarn (Miklos Kun). Danach erschienen zahllose Artikel und Memoiren — vor allem die von Bucharins Witwe — sowie Romane und Dramen, in denen Bucharin eine Rolle spielte. Einige von Bucharins Aufsätzen wurden 1988 in sowjetischen Zeitschriften nachgedruckt und weitere erschienen 1989 als Buch — Etjudy (Studien).25)
In der Parteiführung ist die Bucharin-Alternative jedoch nicht zur neuen Orthodoxie geworden. Die Erklärung, mit der Bucharins Rehabilitierung und seine Wiederaufnahme in die Partei verkündet wurden, machte deutlich, daß seine Ansichten keineswegs alle im nachhinein für richtig befunden wurden. Um es mit den Worten von Lukjanow, einem Mitglied von Gorbatschows Politbüro, auszudrücken: Die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung waren eine absolute Notwendigkeit, um den Sozialismus aufzubauen und den Sieg über den Faschismus zu erringen. Wenn dem so ist, dann hatte Stalin im Prinzip recht:
Die NEP hätte nicht fortgesetzt werden können, weil man keine Zeit verlieren durfte. Da es keinen Weg gab, die Bauern zu überzeugen, mußten sie zwangsweise in die Kollektive getrieben werden. Die Debatte ist also auf die Frage reduziert, wieviel Druck hätte angewandt werden sollen, und ob man nicht mit weniger Todesopfern und einer weniger allgemeinen Zwangsumsiedlung die gleichen Ergebnisse hätte erzielen können.
Das neuerliche Interesse an Bucharin hat seine Wurzeln zum Teil in seiner attraktiven Persönlichkeit und zum Teil in seinem tragischen Schicksal. Auch wirkt Bucharins <Kommunismus mit menschlichem Antlitz> inspirierend auf moderne Marxisten, die Lenins Ideen im Kern für richtig halten und meinen, sie seien erst von Stalin verzerrt worden, ohne daß diese Entwicklung jedoch zwangsläufig gewesen sei.
Es ist selbstverständlich, daß sich unter Bucharins Führung ein anderes System als der Stalinismus entwickelt hätte und daß dem Land die Schrecken der großen Säuberungen vermutlich erspart geblieben wären. Bucharin hat jedoch keine führende Position angestrebt, und es ist zweifelhaft, daß er sich im Machtkampf hätte behaupten können, wenn er dies getan hätte. Sein Stil widersprach zu sehr dem bolschewistischen Temperament, wenn man die Mentalität der zwanziger Jahre berücksichtigt.26)
Auch ist es nicht sicher, daß Bucharins ökonomische Vorschläge zu Ergebnissen geführt hätten, die sich von denen Stalins radikal unterschieden. Seine Ideen über eine Allianz zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft und seine Sorge über die wachsende Rolle der Bürokratie und der staatlichen Monopole haben viel für sich. Er riet zu mehr Mäßigung und Vorsicht. Es ist jedoch zweifelhaft, daß sich all das zu einer umfassenden Strategie hätte zusammenfügen lassen.
Bucharins Schwäche bestand nicht darin, daß er das dialektische Denken nicht begriffen hätte, oder daß er seinen Standpunkt von Zeit zu Zeit radikal änderte, sondern darin, daß er weder bereit noch in der Lage war, die leninistische Doktrin zu überschreiten, wenn er sich mit den ökonomischen Problemen der Sowjetunion auseinandersetzte.
Angesichts der Tatsache, daß seine Partei in einem rückständigen Land an die Macht gekommen war, und angesichts seiner engen Bindung an die Ideologie der Bolschewiki, war es ihm nicht gegeben, wirklich alternative Strategien für die landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung seines Landes zu entwickeln.
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