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- Teil 1 - 

Nur eine Säugetierart wie andere

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Wann, warum und auf welche Weise der Mensch begann, mehr zu sein als nur eine Säugetierart unter vielen — dafür gibt es drei Kategorien von Belegen. Teil I dieses Buches beschäftigt sich mit den traditionellen Erkenntnissen der Archäologie, also der Untersuchung von erhaltenen Skeletten und Werkzeugen, sowie mit neueren Erkenntnissen der Molekularbiologie.

Eine grundlegende Frage betrifft den genetischen Abstand zwischen Mensch und Schimpanse: Unterscheiden wir uns in 10, 50 oder gar 99 Prozent unserer genetischen Anlagen? Die bloße Betrachtung und das Addieren sichtbarer gleicher Merkmale helfen nicht weiter, da viele genetische Veränderungen überhaupt keinen sichtbaren Ausdruck finden, während andere überwältigende Folgen haben. So unterscheiden sich Hunderassen wie dänische Dogge und Pekinese im Aussehen viel stärker voneinander als Mensch und Schimpanse. Dennoch können sich alle Hunderassen untereinander fortpflanzen (sofern anatomisch möglich) und gehören zur gleichen Art. 

Bei bloßer Betrachtung wäre man sicher zu dem Schluß gekommen, der genetische Abstand zwischen dänischer Dogge und Pekinese sei viel größer als der zwischen Mensch und Schimpanse. Die mit dem Auge wahrnehmbaren Unterschiede zwischen verschiedenen Hunderassen, also Größe, Körperbau und Färbung des Fells, werden durch eine relativ kleine Zahl von Genen verursacht, die praktisch ohne Folgen für das Fortpflanzungsverhalten sind.

Wie läßt sich aber sonst unser genetischer Abstand vom Schimpansen bestimmen? Dieses Problem konnte erst vor wenigen Jahren von der Molekularbiologie gelöst werden. Die Antwort ist nicht nur überraschend, sondern sie hat womöglich auch praktische ethische Folgen für die künftige Behandlung des Schimpansen durch den Menschen.

Wir werden sehen, daß die genetischen Unterschiede zwischen uns und den Schimpansen, wenngleich sie groß sind im Verhältnis zu den Unterschieden zwischen menschlichen Populationen oder Hunderassen, im Vergleich zu den Unterschieden zwischen vielen anderen verwandten Arten immer noch sehr klein sind. Offenbar hatten Veränderungen an nur einem geringen Prozentsatz der Schimpansengene enorme Folgen für unser Verhalten. Es konnte außerdem ein Zusammenhang zwischen genetischem Abstand und verstrichener Zeit hergestellt werden, so daß jetzt annähernd feststeht, daß Mensch und Schimpanse sich vor sieben Millionen Jahren (plus minus einige Millionen) von ihrem gemeinsamen Ahnen auf jeweils getrennten Wegen fortentwickelten.

Diese Erkenntnisse der Molekularbiologie geben uns zwar Auskunft über den genetischen Abstand und die verstrichene Zeit, sie sagen jedoch nichts darüber, worin wir uns im einzelnen von Schimpansen unterscheiden und wann es zu diesen Unterschieden kam. Deshalb wollen wir fragen, was man noch aus den Skeletten und Werkzeugen jener Geschöpfe lernen kann, welche die verschiedenen Stufen zwischen unseren affenähnlichen Vorfahren und dem modernen Menschen markieren. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Zunahme unseres Hirnvolumens, Skelettveränderungen in Verbindung mit dem aufrechten Gang und eine Verringerung der Schädeldicke, Zahngröße und Kiefermuskulatur.

Die Größe unseres Gehirns war sicher eine Voraussetzung für die Entwicklung der Sprache und der Innovationsfähigkeit. Man könnte deshalb erwarten, daß die Skelettfunde eine enge Parallele zwischen der Zunahme des Hirnvolumens und der Verfeinerung der Werkzeuge zeigen würden. Das war jedoch zur großen Überraschung der Evolutionsforscher nicht der Fall. Auch nachdem das Gehirnwachstum bereits weitgehend abgeschlossen war, blieben die Steinwerkzeuge noch Hunderttausende von Jahren äußerst primitiv.

Noch vor 40.000 Jahren hatten die Neandertaler Gehirne, die größer waren als die des modernen Menschen, doch ihre Werkzeuge zeigten keine Spur von Neuerungen und auch keinerlei kunstvolle Verzierungen. Die Neandertaler waren immer noch eine Säugetierart wie viele andere. Bei anderen menschlichen Populationen blieben die Werkzeuge auch Zehntausende von Jahren nach Erreichen einer modernen Skelettanatomie so langweilig wie bei den Neandertalern.

Diese paradoxen Erkenntnisse werfen mehr Licht auf die Aussagen der Molekularbiologie und deren Schlußfolgerungen. Es muß also innerhalb des geringen Prozentsatzes von Genen, durch die sich Mensch und Schimpanse unterscheiden, einen noch geringeren Prozentsatz geben, der nicht an der Formung des Skeletts beteiligt ist, sondern für die unverwechselbar menschlichen Merkmale wie Innovationsfähigkeit, Kunst und die Anfertigung komplexer Werkzeuge verantwortlich ist. Zumindest in Europa traten diese Merkmale unerwartet plötzlich auf den Plan, zu einer Zeit, als der Neandertaler dem Cro-Magnon weichen mußte. Dessen Erscheinen läutete das Ende der Epoche ein, in der wir noch eine Säugetierart unter vielen waren. 

Am Schluß von Teil I werde ich einige Überlegungen dazu anstellen, welche wenigen Veränderungen die Auslöser unseres steilen Aufstiegs zum Menschentum gewesen sein mögen. 

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1.  Die Geschichte von den drei Schimpansen   

 

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Wenn Sie das nächste Mal in den Zoo gehen, schauen Sie einmal ganz bewußt bei den Affenkäfigen vorbei. Stellen Sie sich vor, die Affen hätten fast ihr ganzes Haar verloren und in einem Nachbarkäfig befänden sich einige bedauerliche, nackte Menschen, die zwar nicht sprechen könnten, aber ansonsten ganz normal wären. Nun raten Sie einmal, wie ähnlich uns die Affen genetisch sind. Würden Sie zum Beispiel vermuten, daß ein Schimpanse 10, 50 oder 99 Prozent seiner Gene mit dem Menschen teilt?

Und fragen Sie sich dann, warum Affen in Käfigen zur Schau gestellt und zu medizinischen Experimenten benutzt werden, was beides bei Menschen unzulässig ist. Angenommen, es stellte sich heraus, daß Schimpansen 99,9 Prozent ihrer Gene mit uns gemeinsam hätten und die bedeutenden Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen auf ganz wenigen Genen beruhten — würden Sie es dann immer noch für gerechtfertigt halten, Schimpansen in Käfige zu sperren und an ihnen Experimente vorzunehmen? Denken Sie zum Vergleich an Menschen, die das Unglück hatten, geistig behindert zur Welt zu kommen. Von ihnen besitzen manche eine viel geringere Fähigkeit als Affen, Probleme zu lösen, für sich zu sorgen, zu kommunizieren, soziale Beziehungen einzugehen und Schmerz zu empfinden. Nach welcher Logik sind medizinische Experimente an ihnen verboten, aber nicht an Affen?

Vielleicht werden Sie entgegnen, Affen seien eben »Tiere« und Menschen eben Menschen, und das reiche aus. Ein ethischer Verhaltenskodex für die Behandlung von Menschen solle nicht auf ein »Tier« übertragen werden, gleich, wieviel Prozent seiner Gene mit unseren übereinstimmen, und gleich, ob es soziale Beziehungen eingehen oder Schmerz empfinden kann. Eine solche Antwort entbehrt zwar nicht der Willkür, aber sie ist zumindest in sich stimmig und nicht leicht von der Hand zu weisen.

In diesem Fall blieben Erkenntnisse über unsere Beziehungen zu Vorfahren ohne ethische Folgen, sie würden aber immerhin unsere geistige Neugierde befriedigen, indem sie uns ein Verständnis unserer Herkunft vermittelten. Alle bisherigen Gesellschaften haben das Bedürfnis verspürt, die eigene Herkunft zu ergründen, ein Bedürfnis, das in Schöpfungsgeschichten Ausdruck fand. Betrachten Sie die Geschichte von den drei Schimpansen als Schöpfungsgeschichte unseres Zeitalters.

 

Seit Jahrhunderten ist bekannt, wo der Mensch im Tierreich ungefähr anzusiedeln ist. Ohne Zweifel gehören wir zu den Säugetieren, der Klasse von Wirbeltieren, zu deren Merkmalen die Behaarung und das Stillen der Jungen zählen. Innerhalb der Säugetiere wiederum gehören wir ganz offensichtlich wie die Affen und Menschenaffen zu den Primaten. Mit diesen teilen wir eine ganze Reihe von Eigenschaften, die den meisten anderen Säugetieren fehlen, zum Beispiel flache Finger- und Fußnägel statt Klauen, Greifhände, ein Daumen, der den anderen vier Fingern gegenübergestellt werden kann, und einen frei herunterhängenden statt am Unterleib anliegenden Penis. Schon im zweiten Jahrhundert n. Chr. leitete der griechische Arzt Galen aus der anatomischen Zerlegung verschiedener Tiere unsere ungefähre Stellung in der Natur richtig ab, als er feststellte, daß der Affe dem Menschen »von den Eingeweiden, den Muskeln, Arterien, Venen, Nerven und der Skelettform her am stärksten ähnelt«.

Es ist auch nicht schwer, den Platz des Menschen unter den Primaten zu bestimmen, denn wir ähneln ganz offensichtlich den Menschenaffen, unter anderem darin, daß wir anders als die übrigen Affen keinen Schwanz besitzen. Klar ist auch, daß die kleinwüchsigen Gibbons mit ihren langen Armen unter den Menschenaffen aus dem Rahmen fallen und daß Orang-Utans, Schimpansen, Gorillas und Menschen enger miteinander verwandt sind als mit den Gibbons. 

Hiernach wird die Bestimmung von Verwandtschafts­beziehungen jedoch unerwartet schwierig, und die Wissenschaftler streiten intensiv über drei Fragen:


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Die erste dieser drei Fragen, so möchte man annehmen, müßte durch die vergleichende Anatomie bereits geklärt sein. Wir besitzen eine starke äußerliche Ähnlichkeit mit Schimpansen und Gorillas, unterscheiden uns von ihnen jedoch in Merkmalen wie dem Hirnvolumen, dem aufrechten Gang, der wesentlich schwächeren Behaarung sowie einer Vielzahl weniger deutlich sichtbarer Eigenschaften. Bei näherer Betrachtung dieser anatomischen Fakten ist jedoch viel weniger klar, was aus ihnen folgt. Je nachdem, welche anatomischen Merkmale man für die wichtigsten hält und wie man sie interpretiert, sind Biologen unterschiedlicher Ansicht darüber, ob wir am engsten mit dem Orang-Utan verwandt sind (die Meinung der Minderheit) — in diesem Fall wären die Schimpansen und Gorillas von unserem Stammbaum abgezweigt, bevor wir uns von den Orang-Utans trennten — oder ob wir nicht vielmehr den Schimpansen und Gorillas am nächsten stehen (die Mehrheitsauffassung), wobei dann die Vorfahren der Orang-Utans ihren eigenen Weg früher eingeschlagen hätten.

Unter den Vertretern der Mehrheitsansicht sind die meisten Biologen davon ausgegangen, daß Gorillas und Schimpansen einander stärker ähneln als dem Menschen, was bedeuten würde, daß unsere Linie vom Stammbaum fortführte, bevor sich Gorillas und Schimpansen voneinander trennten. Dieser Schluß entspricht dem gesunden Menschenverstand, demzufolge ja Schimpansen und Gorillas in eine Kategorie mit der Bezeichnung »Menschenaffen« gehören, während wir Menschen etwas ganz anderes sind. Denkbar ist jedoch auch, daß wir uns nur deshalb im Aussehen unterscheiden, weil sich Schimpansen und Gorillas seit den Tagen unseres gemeinsamen Ahnen nur unwesentlich veränderten, während wir uns in wenigen besonders auffälligen Merkmalen wie dem aufrechten Gang und dem Hirnvolumen sehr stark veränderten. In diesem Fall könnte der Mensch entweder dem Gorilla oder dem Schimpansen am meisten ähneln, oder der Abstand in der allgemeinen genetischen Ausstattung könnte zwischen allen dreien ungefähr gleich sein.


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Unter Anatomen herrscht also nach wie vor Uneinigkeit über die Details unseres Stammbaums. Welche Version man auch bevorzugt, anatomische Studien geben keine Antwort auf die zweite und dritte Frage nach dem Zeitpunkt unserer Abzweigung und dem genetischen Abstand von den Menschenaffen. Vielleicht könnten Fossilienfunde die Probleme mit dem Stammbaum und der Datierung lösen, allerdings nicht die Frage des genetischen Abstands. Das heißt, wenn wir nur genügend Fossilien hätten, so wäre die Hoffnung berechtigt, auf eine Serie datierter proto-menschlicher Fossilien und eine weitere Serie datierter proto-schimpansischer Fossilien zu stoßen, die vor etwa zehn Millionen Jahren auf einen gemeinsamen Ahnen zuliefen und die sich wiederum einer Serie von Proto-Gorilla-Fossilien vor zwölf Millionen Jahren näherten. Leider wurde die Hoffnung, durch Fossilien Aufschluß zu erhalten, ebenfalls enttäuscht, da für den entscheidenden Zeitraum vor fünf bis 14 Millionen Jahren in Afrika kaum Fossilien von Menschenaffen gefunden wurden.

Die Antwort auf diese Fragen nach unserer Herkunft kam aus unerwarteter Richtung, nämlich aus der Molekularbiologie in ihrer Anwendung auf die Klassifikation von Vögeln (Vogeltaxonomie). Vor rund 30 Jahren erkannten Molekularbiologen, daß die Stoffe, aus denen sich Pflanzen und Tiere zusammensetzen, wie eine Uhr zur Messung genetischer Abstände und zum Datieren evolutionsgeschichtlicher Abzweigungen dienen könnten. Dahinter steckt folgender Gedanke: Angenommen, es gibt eine Klasse von Molekülen, die in allen Arten vorkommen und deren genaue Struktur bei jeder Art genetisch festgelegt ist, und weiter angenommen, daß sich die genannte Struktur im Laufe der Jahrmillionen aufgrund genetischer Mutationen langsam verändert und daß das Tempo dieser Veränderung bei allen Arten konstant ist. Zwei vom gleichen Ahnen abstammende Arten hätten zunächst identische, von ihrem Vorfahr geerbte Molekülformen. Später würde es jedoch bei beiden unabhängig voneinander zu Mutationen und folglich Veränderungen im Molekülaufbau kommen. 


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Wüßten wir nun, wie viele solcher Veränderungen im Durchschnitt alle Million Jahre erfolgen, so könnten wir die heutige Differenz zwischen den Strukturen des Moleküls bei zwei verwandten Tierarten wie eine Uhr benutzen und ausrechnen, wieviel Zeit vergangen ist, seit der gemeinsame Ahne beider Arten lebte.

Nehmen wir beispielsweise an, wir wüßten aufgrund von Fossilienfunden, daß Löwen und Tiger vor fünf Millionen Jahren begannen, sich auseinanderzuentwickeln. Angenommen, die Moleküle wären bei Löwen und Tigern zu 99 Prozent von identischer Struktur und nur zu einem Prozent unterschiedlich. Betrachtete man dann zwei Arten mit unbekannter fossiler Geschichte und fände heraus, daß sich die Moleküle dieser beiden Arten um drei Prozent unterschieden, dann würde die Molekularuhr besagen, sie hätten sich vor drei mal fünf Millionen Jahren, also vor 15 Millionen Jahren, auseinanderentwickelt.

So schön dieses Schema auf dem Papier aussieht, soviel Mühe mußten Biologen investieren, um seine praktische Brauchbarkeit zu testen. Vier Dinge mußten geschehen, bevor Molekularuhren funktionieren konnten: Es mußte das am besten geeignete Molekül gefunden werden; eine rasche Methode zur Messung von Veränderungen in seiner Struktur wurde benötigt; der Beweis für den gleichmäßigen Gang der Uhr mußte erbracht werden (daß sich also die Struktur des Moleküls bei allen untersuchten Arten tatsächlich im gleichen Tempo entwickelt); und es mußte ebendieses Tempo bestimmt werden.

Für die ersten beiden Punkte haben Molekularbiologen um 1970 Lösungen gefunden. Als geeignetstes Molekül erwies sich die Desoxyribonukleinsäure (abgekürzt DNS), jene berühmte Substanz, deren Struktur den bahnbrechenden Untersuchungen von James Watson und Francis Crick zufolge aus einer Doppelhelix besteht. Die DNS setzt sich aus zwei komplementären, sehr langen Strängen zusammen, von denen jeder aus vier Arten kleinerer Moleküle besteht, deren Sequenz sämtliche von den Eltern an ihre Nachkommen weitergegebenen genetischen Informationen beinhaltet. 


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Eine schnelle Methode zur Messung von Veränderungen der DNS-Struktur besteht darin, die DNS zweier Arten zu vermischen (man spricht deshalb von der Hybridisierungstechnik) und festzustellen, um wieviel Grad der Schmelzpunkt der Misch-DNS unter dem Schmelzpunkt der reinen DNS einer der beiden Arten liegt. Wie sich herausstellte, bedeutet das Sinken des Schmelzpunktes um ein Grad Celsius (abgekürzt: Delta T = 1°C), daß sich die beiden Arten in der DNS um etwa ein Prozent unterscheiden.

In den siebziger Jahren interessierten sich die meisten Molekularbiologen und Taxonomen kaum für das jeweils andere Arbeitsfeld. Zu den wenigen Taxonomen, die von den Möglichkeiten der neuen DNS-Hybridisierungstechnik überzeugt waren, gehörte der Orni-thologe Charles Sibley, damals Professor an der Yale-Universität und Leiter des dortigen naturgeschichtlichen Museums. Die Vogel-taxonomie ist ein besonders schwieriges Fachgebiet, bedingt durch die engen anatomischen Erfordernisse der Flugfähigkeit. Es gibt nur eine begrenzte Zahl möglicher Konstruktionen, die einem Vogel beispielsweise den Insektenfang in der Luft ermöglichen, so daß sich Vögel mit ähnlichen Lebensgewohnheiten meist auch anatomisch sehr stark ähneln, unabhängig von ihrer Abstammung. 

Amerikanische Geier zum Beispiel ähneln in Aussehen und Verhalten stark den Altweltgeiern, obwohl Biologen herausfanden, daß erstere Verwandte der Störche, letztere der Habichte sind und daß die Ähnlichkeiten nur vom gleichen Lebensstil herrühren. Enttäuscht von den begrenzten Erfolgen beim Aufdecken der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Vögeln mit herkömmlichen Methoden, wandten sich Sibley und Jon Ahlquist 1973 der DNS-Uhr zu. Ihre Arbeit blieb bis heute die umfangreichste taxonomische Anwendung der Methoden der Molekularbiologie. Erst 1980 waren Sibley und Ahlquist so weit, daß sie ihre Ergebnisse veröffentlichen konnten. Insgesamt hatten sie die DNS-Uhr auf rund 1700 Vogelarten angewendet — fast ein Fünftel aller heutigen Vogelarten.

Obwohl Sibley und Ahlquist eine sensationelle Leistung vollbracht hatten, entspann sich zunächst eine heftige Kontroverse, da nur wenige andere Wissenschaftler die richtige Kombination von Fachkenntnissen besaßen, um sie zu verstehen. Hier sind ein paar typische Reaktionen, die mir gegenüber geäußert wurden:


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Nach meiner Einschätzung kommt das letzte Zitat der Wahrheit am nächsten. Die Prinzipien, auf denen die DNS-Uhr beruht, sind unanfechtbar, und die von Sibley und Ahlquist angewandten Methoden entsprechen dem neuesten Stand der Wissenschaft. Außerdem bezeugt die interne Konsistenz ihrer genetischen Distanzmessungen an über 18.000 Vogelpaaren die Gültigkeit der Befunde.

So wie Darwin seine Hypothesen zur Variation zunächst an Hand von Entenmuscheln getestet hatte, bevor er das explosive Thema und seine Relevanz für den Menschen erörterte, beschränkten sich Sibley und Ahlquist während fast des gesamten ersten Jahrzehnts ihrer Forschungsarbeit mit der DNS-Uhr auf Vögel. Erst 1984 begannen sie mit der Veröffentlichung ihrer Folgerungen aus der Anwendung der gleichen DNS-Methoden für die Herkunft des Menschen. Ihre Studie beruhte auf DNS von Menschen und unseren engsten Verwandten: dem gewöhnlichen und dem Zwergschimpansen, Gorilla, Orang-Utan, zwei Arten von Gibbons und sieben Arten von Altweltaffen. Die Abbildung faßt die Ergebnisse zusammen.

Wie jeder Anatom prophezeit hätte, besteht der größte genetische Unterschied, ausgedrückt in einer starken Verringerung des DNS-Schmelzpunkts, zwischen der DNS von Affen und der von Menschen oder Menschenaffen. Damit wurde nur bestätigt, was jeder weiß, seit Menschenaffen der Wissenschaft bekannt sind. In Zahlen ausgedrückt, haben Affen 93 Prozent der DNS-Struktur mit Menschen und Menschenaffen gemein, in sieben Prozent unterscheiden sie sich.


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Abb. 1:
Folgen Sie den Linien von einem beliebigen Paar höherer Primaten zu dem schwarzen Punkt, an dem sie sich treffen.

Sie können dann links die prozentuale Differenz zwischen der DNS dieser modernen Primaten ablesen und rechts die geschätzte Zahl von Jahrmillionen, seit ein letzter gemeinsamer Vorfahre existierte.

Beispielsweise unterscheiden sich der gewöhnliche und der Zwergschimpanse in etwa 0,7 Prozent der DNS und entwickelten sich vor etwa drei Millionen Jahren auseinander; der Mensch unterscheidet sich in 1,6 Prozent seiner DNS von beiden Schimpansen und divergierte vor etwa sieben Millionen Jahren vom gemeinsamen Vorfahren; der Gorilla unterscheidet sich in etwa 2,3 Prozent der DNS von uns beziehungsweise den Schimpansen und trennte sich vor rund zehn Millionen Jahren von dem gemeinsamen Vorfahren.


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Ebenso wenig überrascht der nächstgrößere Unterschied, nämlich von fünf Prozent, zwischen der DNS von Gibbons und der der anderen Menschenaffen und Menschen. Dies bestätigt die verbreitete Auffassung, daß Gibbons innerhalb der Menschenaffen eine Sonderstellung einnehmen und wir die größten Gemeinsamkeiten mit Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans haben. Unter diesen drei Menschenaffen gilt unter Anatomen der Orang-Utan als ein wenig abseits stehend, und auch dies stimmt mit den Ergebnissen der DNS-Forschung überein, die einen Unterschied von 3,6 Prozent zwischen der DNS von Orang-Utans und der von Menschen, Gorillas und Schimpansen feststellte. Geographisch trennten sich diese drei Arten bereits vor recht langer Zeit von Gibbons und Orang-Utans: Lebende und fossile Gibbons und Orang-Utans sind auf Südostasien beschränkt, während lebende Gorillas und Schimpansen sowie frühmenschliche Fossilien nur in Afrika vorkommen.

 

Ebensowenig Anlaß zur Überraschung bot auf der anderen Seite die Feststellung, daß die stärkste Ähnlichkeit zwischen der DNS des gewöhnlichen Schimpansen und des Zwergschimpansen besteht, die sich zu 99,3 Prozent gleichen und nur zu 0,7 Prozent unterscheiden. Beide Arten gleichen sich so sehr, daß sie erst 1929 überhaupt eigene Namen erhielten. Am Äquator in Zentral-Zaire lebende Schimpansen werden als »Zwergschimpansen« bezeichnet, da sie im Durchschnitt etwas kleiner (und von schwächerer Statur und langbeiniger) sind als die weitverbreiteten »gewöhnlichen Schimpansen«, deren Lebensraum in Afrika weiter nördlich des Äquators liegt.

Aufgrund der jüngsten Fortschritte im Verständnis des Verhaltens von Schimpansen wurde jedoch klar, daß sich hinter den geringfügigen anatomischen Unterschieden zwischen Zwerg- und gewöhnlichen Schimpansen erhebliche Unterschiede im Fortpflanzungsverhalten verbergen. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Schimpansen nehmen die Zwergschimpansen bei der Kopulation, wie die Menschen, eine Vielzahl von Stellungen ein, unter anderem von Gesicht zu Gesicht; der Anstoß zum Geschlechtsakt kann sowohl von Weibchen als auch von Männchen kommen; die Weibchen sind die meiste Zeit paarungsbereit, nicht nur einige Tage in der Monatsmitte; außerdem gibt es starke Bande nicht nur zwischen Männchen, sondern auch zwischen Weibchen oder zwischen Männchen und Weibchen. 


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Offenbar hat die kleine Zahl von Genen, die sich bei Zwerg- und gewöhnlichen Schimpansen unterscheiden (0,7 Prozent), bedeutende Folgen für die Sexualphysiologie und die Geschlechtsrollen. Auf dieses Thema werde ich in diesem und im nächsten Kapitel noch zurückkommen, wenn es um die genetischen Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen geht.

In allen bisher behandelten Fällen lagen bereits überzeugende anatomische Beweise für die Verwandtschaftsverhältnisse vor, so daß die auf der DNS beruhenden Schlüsse nur bestätigten, was Anatomen bereits herausgefunden hatten. Es gelang jedoch auch, mit Hilfe der DNS-Methode ein Problem zu lösen, an dem die Anatomie gescheitert war: die Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Menschen, Gorillas und Schimpansen. Wie Abb. 1 zeigt, unterscheiden sich Menschen von gewöhnlichen Schimpansen bzw. Zwergschimpansen in nur 1,6 Prozent der DNS; 98,4 Prozent sind identisch. Bei Gorillas ist der Unterschied etwas größer, er beträgt ungefähr 2,3 Prozent zu Menschen und Schimpansen.

Lassen Sie uns einen Moment innehalten und überlegen, was diese Zahlen eigentlich bedeuten.

Die Abzweigung des Gorillas von unserem gemeinsamen Stammbaum muß kurz vor unserer Trennung vom gewöhnlichen Schimpansen und vom Zwergschimpansen erfolgt sein. Nicht Gorillas, sondern Schimpansen sind unsere engsten Verwandten. Umgekehrt sind die engsten Verwandten der Schimpansen nicht Gorillas, sondern Menschen. Die herkömmliche Klassifikation beruhte dagegen auf der anthropozentrischen Sichtweise, daß der mächtige Mensch stolz und allein im Zentrum der Welt steht und daß eine fundamentale Dichotomie zwischen ihm und den Affen besteht, die samt und sonders in den Abgründen der Bestialität anzusiedeln seien. Künftig werden die Taxonomen die Dinge vielleicht etwas anders sehen müssen, nämlich aus der Perspektive des Schimpansen: Danach besteht nur eine schwache Dichotomie zwischen den ein wenig höherstehenden Menschenaffen (den drei Schimpansen, einschließlich des »Menschen-Schimpansen«) und den ein wenig tieferstehenden (Gorillas, Orang-Utans, Gibbons).


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Die traditionelle Unterscheidung zwischen »Menschenaffen« (definiert als Schimpansen, Gorillas usw.) und Menschen entspricht nicht der Realität.

Der genetische Abstand (1,6 Prozent) zwischen uns und den Zwerg- und gewöhnlichen Schimpansen ist kaum doppelt so groß wie der Abstand zwischen Zwerg- und gewöhnlichen Schimpansen (0,7 Prozent). Er ist kleiner als der Abstand zwischen zwei Gibbonarten (2,2 Prozent) oder zwischen so eng verwandten Vogelarten wie Fitis und Zilpzalp (2,6 Prozent). Die restlichen 98,4 Prozent unserer DNS sind ganz normale Schimpansen-DNS. So ist unser Hämoglobin, das Protein, das Sauerstoff transportiert und unser Blut rot färbt, in allen seinen 287 Bestandteilen identisch mit dem Hämoglobin der Schimpansen. Auch in dieser Hinsicht sind wir nur eine dritte Schimpansenart, nicht besser und nicht schlechter ausgestattet als die beiden anderen. Was uns so sichtbar unterscheidet — der aufrechte Gang, das große Hirnvolumen, die Sprache, die spärliche Behaarung und das sonderbare Sexualverhalten — muß auf ganze 1,6 Prozent unseres genetischen Programms konzentriert sein.

Nähmen die genetischen Abstände zwischen den Arten mit der Zeit gleichmäßig zu, so hätte man in ihnen eine zuverlässig funktionierende Uhr. Alles, was man zur Umrechnung genetischer Abstände in absolute Zeiträume seit dem letzten gemeinsamen Vorfahren braucht, ist eine Eichung mit Hilfe eines Artenpaares, von dem sowohl der genetische Abstand als auch der Zeitpunkt der Auseinanderentwicklung aufgrund von Fossilienfunden bekannt ist. Und in der Tat gibt es in zwei Fällen eine solche Eichung für höhere Primaten. Zum einen weiß man von Fossilienfunden her, daß Affen und Menschenaffen sich vor 25 bis 30 Millionen Jahren auseinanderentwickelten; heute unterscheiden sie sich in ungefähr 7,3 Prozent der DNS. Zum anderen trennten sich die Orang-Utans vor zwölf bis 16 Millionen Jahren von den Schimpansen und Gorillas; sie unterscheiden sich jetzt in etwa 3,6 Prozent der DNS. Vergleicht man die beiden Beispiele, so ergibt sich, daß eine Verdoppelung der Evolutionszeit — von zwölf bis 16 auf 25 bis 30 Millionen Jahre — auch zu einer ungefähren Verdoppelung des genetischen Abstandes führt (von 3,6 auf 7,3 Prozent der DNS). Das heißt, die DNS-Uhr ist bei den höheren Primaten über die Jahrmillionen relativ gleichmäßig gelaufen.


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Mit Hilfe dieser Eichung schätzten Siblcy und Ahlquist den zeitlichen Ablauf der menschlichen Evolution wie folgt: Da der genetische Abstand zwischen Mensch und Schimpanse (1,6 Prozent) etwa die Hälfte des Abstands zwischen Orang-Utan und Schimpanse (3,6 Prozent) beträgt, müssen wir seit etwa der Hälfte der zwölf bis 16 Millionen Jahre, in denen sich der genetische Unterschied zwischen Orang-Utans und Schimpansen entwickelte, eigene Wege gegangen sein. Das heißt, daß die Evolutionslinien des Menschen und der »zwei anderen Schimpansen« vor sechs bis acht Millionen Jahren auseinanderliefen. Die gleiche Rechnung ergibt, daß sich der Gorilla vor ungefähr neun Millionen Jahren vom gemeinsamen Ahnen der drei Schimpansen trennte und der Zwerg- und der gewöhnliche Schimpanse sich vor rund drei Millionen Jahren auseinanderentwickelten. Als ich 1954 am College Anthropologie studierte, stand noch in den Lehrbüchern, der Mensch habe sich vor 15 bis 30 Millionen Jahren vom Menschenaffen getrennt. Die DNS-Uhr liefert somit gute Beweise für einen kontroversen Schluß, der auch aufgrund anderer Molekül-Uhren (auf der Grundlage von Aminosäuresequenzen von Proteinen und mitochondrialer DNS) gezogen wurde. Jede dieser Uhren zeigt an, daß der Mensch eine noch recht kurze eigene Geschichte hat, jedenfalls eine viel kürzere, als von Paläontologen immer vermutet wurde.

Was bedeuten nun diese Erkenntnisse für die Stellung des Menschen innerhalb des Tierreichs? Biologen teilen alle Lebewesen in hierarchische Kategorien ein, von denen die jeweils höheren stets größere Unterschiede aufweisen als die vorhergehenden: Unterart, Art, Gattung, Familie, Überfamilie, Ordnung, Klasse und Abteilung. In der Encyclopedia Britannica und in allen biologischen Texten, die ich kenne, werden Menschen und Menschenaffen in die gleiche Ordnung eingestuft, nämlich die der Primaten, und auch in die gleiche Überfamilie mit der Bezeichnung Hominoiden, jedoch in separate Familien, und zwar in Hominiden (Menschenartige) und Pongiden (»Menschenaffen«). Ob sich diese Einstufung nach den Arbeiten von Sibley und Ahlquist ändert, hängt von der Philosophie der Klassifikation ab.


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Herkömmlicherweise ordnen Taxonomen die Arten in Kategorien ein, indem sie recht subjektive Bewertungen der Bedeutung von Unterschieden vornehmen. Danach gehört der Mensch wegen charakteristischer Funktionsmerkmale wie dem großen Hirnvolumen und der aufrechten Körperhaltung in eine eigene Familie, wobei die Messung genetischer Abstände keinen Einfluß auf solche Klassifikation hat.

Eine andere Richtung in der Taxonomie fordert jedoch, bei der Klassifikation müsse der Maßstab von Objektivität und Einheitlichkeit befolgt werden, und jede Einteilung müsse durch den genetischen Abstand oder die Zeitdauer der entwicklungsgeschichtlichen Trennung begründet sein. Alle Taxonomen sind sich heute darin einig, daß Zilpzalp und Fitis zur Gattung Phylloscopus gehören und die verschiedenen Gibbonarten zur Gattung Hylobates. Doch die Angehörigen dieser beiden Gattungen sind genetisch weiter voneinander entfernt als der Mensch von den beiden anderen Schimpansenarten, und auch die Zeitdauer der Auseinanderentwicklung ist länger. So gesehen bilden Menschen keine eigene Familie, geschweige denn eine Gattung, sondern sie gehören in die gleiche Gattung wie der gewöhnliche Schimpanse und der Zwergschimpanse. Da der Gattungsname Homo ältere Rechte besitzt als die Bezeichnung Pan für die »anderen« Schimpansen, hat er nach den Regeln der zoologischen Fachsprache Vorrang. Somit gibt es heute nicht eine, sondern drei Arten der Gattung Homo auf der Welt: den gewöhnlichen Schimpansen, Homo troglodytes, den Zwergschimpansen, Homo paniscus, und den dritten bzw. menschlichen Schimpansen, Homo sapiens. Da der Gorilla sich nur unwesentlich stärker unterscheidet, hat er eigentlich das Recht, als vierte Art der Gattung Homo zu gelten.

Aber selbst die Verfechter von Einheitlichkeit und Objektivität in der Taxonomie sind anthropozentrisch, so daß es auch für sie sicher eine bittere Pille sein wird, Mensch und Schimpansen in die gleiche Gattung einzuordnen. Es kann jedoch keinen Zweifel geben, daß spätestens dann, wenn sich die Schimpansen selbst mit dieser Frage beschäftigen werden oder Taxonomen aus dem Weltall die Erde besuchen, um ein Inventar ihrer Bewohner anzulegen, sie ohne Zögern die neue Klassifikation wählen werden.


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Welche Gene sind es im einzelnen, in denen sich Mensch und Schimpanse unterscheiden? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst verstehen, was die DNS, unsere Erbsubstanz, eigentlich bewirkt.

Ein großer oder sogar überwiegender Teil von ihr hat keine bekannte Funktion und besteht womöglich nur aus »Molekül-Schrott«, das heißt aus DNS-Molekülen, die sich verdoppelt oder einstige Funktionen verloren haben und durch die natürliche Auslese nicht eliminiert wurden, weil sie uns nicht schaden. Die Hauptfunktionen der DNS hängen dagegen mit den langen Aminosäureketten zusammen, die wir Proteine nennen. Bestimmte Proteine sind am Aufbau unseres Körpers beteiligt (zum Beispiel Keratin für das Haar oder Kollagen für das Bindegewebe), während andere Proteine, Enzyme genannt, für die Synthese oder Zerlegung der meisten übrigen Moleküle unseres Körpers zuständig sind. Von der Abfolge der kleinen DNS-Moleküle, der Nukleotidbasen, hängt die Abfolge der Aminosäuren in unseren Proteinen ab. Wieder andere Teile der DNS regulieren die Proteinsynthese.

Jene unserer sichtbaren Merkmale, die sich genetisch am einfachsten verstehen lassen, sind die, welche von einzelnen Proteinen und Genen herrühren. So besteht das bereits erwähnte sauerstofftransportierende Protein unseres Blutes, Hämoglobin, aus zwei Aminosäureketten, von denen jede durch einen einzigen DNS-Abschnitt (ein »Gen«) bestimmt wird. Die beiden Gene haben keinen weiteren beobachtbaren Effekt als den genannten, also die Definition der Struktur des Hämoglobins, das bekanntlich nur in den roten Blutkörperchen vorkommt. Umgekehrt wird die Hämoglobinstruktur von diesen Genen aber vollständig definiert. Wieviel man ißt oder Sport treibt, kann zwar die erzeugte Hämoglobinmenge beeinflussen, nicht jedoch Einzelheiten seiner Struktur.

Dies ist der einfachste Sachverhalt, aber es gibt auch Gene, die Einfluß auf eine Vielzahl erkennbarer Merkmale nehmen. So ist die lebensbedrohliche Tay-Sachs-Erbkrankheit mit zahlreichen Verhaltens- und anatomischen Anomalien verbunden: Blindheit, starre Körperhaltung, gelbliche Hautfärbung, abnormes Kopfwachstum und weitere Veränderungen. In diesem Fall wissen wir,


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daß alle genannten Symptome durch Veränderungen eines einzigen, durch das Tay-Sachs-Gen definierten Enzyms hervorgerufen werden, aber wir wissen nicht genau wie. Da dieses Enzym an vielen Stellen im Gewebe unseres Körpers vorkommt und einen weitverbreiteten Zellbestandteil zerlegt, haben Veränderungen in diesem einen Enzym weitreichende und am Ende tödliche Folgen. Umgekehrt werden manche Merkmale, wie die Größe des Erwachsenen, gleichzeitig von einer Vielzahl von Genen und zudem von Umweltfaktoren (z. B. der Ernährung im Kindesalter) beeinflußt.

Die Wissenschaft besitzt zwar heute ein gutes Verständnis der Funktion vieler Gene, die für bekannte Einzelproteine verantwortlich sind, viel weniger weiß man jedoch über die Rolle von Genen im Hinblick auf komplex bestimmte Merkmale, wie zum Beispiel die meisten Verhaltensweisen. Es wäre absurd anzunehmen, daß so charakteristische Merkmale des Menschen wie Kunst, Sprache oder Aggression von einzelnen Genen abhingen. Verhaltensunterschiede zwischen menschlichen Individuen unterliegen offenbar in hohem Maße Umwelteinflüssen, und dabei ist die Rolle der Gene äußerst umstritten. Für Verhaltensweisen, die sich bei Schimpansen und Menschen konstant unterscheiden, sind genetische Unterschiede jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit von Bedeutung, wenngleich die verantwortlichen Gene noch nicht identifiziert wurden. So hängt die menschliche Fähigkeit zur Sprache, im Unterschied zu Schimpansen, mit Sicherheit von Genen ab, die die Anatomie des Stimmapparates und die Nervenverbindungen im Gehirn festlegen. Ein Schimpansenkind, das im Haus eines Psychologen-Ehepaars zusammen mit ihrem gleichaltrigen Baby aufwuchs, behielt das Aussehen eines Schimpansen und lernte weder sprechen noch aufrecht gehen. Ob menschliche Sprößlinge hingegen fließend Englisch oder Koreanisch lernen, ist gen-unabhängig und einzig eine Folge der sprachlichen Umgebung im Kindesalter, was auch die sprachliche Entwicklung koreanischer Kleinkinder beweist, die von englischsprachigen Eltern adoptiert wurden.

Was läßt sich vor diesem Hintergrund über die 1,6 Prozent unserer DNS aussagen, die sich von der Schimpansen-DNS unterscheiden? Bekannt ist, daß sich die Gene für das wichtige Hämoglobin nicht unterscheiden und bestimmte andere Gene nur geringfügige Differenzen aufweisen.


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Bei den neun Proteinketten, die bis heute sowohl beim Menschen als auch beim gewöhnlichen Schimpansen untersucht wurden, unterscheiden sich nur fünf von insgesamt 1271 Aminosäuren: eine Aminosäure in einem Muskelprotein mit der Bezeichnung Myoglobin, eine in einer sekundären Hämoglobinkette (der sogenannten Deltakette) und drei in dem Enzym Carboanhydrase. Wir wissen jedoch noch nicht, welche Abschnitte unserer DNS für die funktionell bedeutsamen Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse verantwortlich sind, die in den Kapiteln 2 bis 7 behandelt werden: das unterschiedliche Hirnvolumen, die Anatomie des Beckens, des Stimmapparats und der Geschlechtsorgane, die Behaarungsdichte, der weibliche Menstruationszyklus, das Klimakterium und andere Merkmale. Diese wichtigen Veränderungen beruhen sicher nicht auf den bisher aufgedeckten Unterschieden bei fünf Aminosäuren. Heute können wir mit Gewißheit nur soviel sagen: Ein Großteil unserer DNS ist »Schrott«; das steht zumindest für einen Teil der 1,6 Prozent, die sich zwischen Mensch und Schimpanse unterscheiden, bereits fest. Die funktionell bedeutsamen Unterschiede müssen deshalb auf einen bislang noch nicht identifizierten Bruchteil der 1,6 Prozent beschränkt sein.

Innerhalb dieses kleinen Bruchteils unserer DNS haben einige Unterschiede stärkere Konsequenzen für unseren Körper als andere. Zunächst einmal lassen sich die meisten Aminosäuren von Proteinen durch mindestens zwei alternative Nukleotidbasen-Sequenzen in der DNS definieren. Veränderungen in den Nukleotidbasen von einer solchen Sequenz zu einer alternativen sind »stumme« Mutationen, die keine Veränderungen in den Aminosäure-Sequenzen von Proteinen bewirken. Selbst wenn eine Veränderung in einer Base dazu führt, daß eine Aminosäure durch eine bestimmte andere ersetzt wird, ähneln sich doch einige Aminosäuren sehr stark in ihren chemischen Eigenschaften oder sind in relativ unempfindlichen Teilen von Proteinen angesiedelt.

Andere Teile von Proteinen sind dagegen entscheidend für deren Funktion. Wird eine Aminosäure in einem solchen Teil durch eine chemisch unähnliche Aminosäure ersetzt, dürfte sich eine beobachtbare Folge einstellen. So ist beispielsweise die Sichelzellenanämie,


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eine Krankheit mit oft tödlichem Verlauf, das Ergebnis einer Veränderung der Löslichkeit unseres Hämoglobins, die wiederum aus einer Veränderung in nur einer der 287 Aminosäuren des Hämoglobins resultiert, die ihrerseits auf eine Veränderung in nur einer der drei diese Aminosäure definierenden Nukleotide zurückgeht. Hierdurch wird jedoch eine Aminosäure mit negativer Ladung durch eine ohne Ladung ersetzt, was zur Folge hat, daß sich die elektrische Gesamtladung des Hämoglobin-Moleküls ändert.

Während wir also im Hinblick auf die entscheidenden Gene noch im Dunkeln tappen, gibt es viele Beispiele für die große Wirkung, die einzelne oder mehrere Gene haben können. Auf die zahlreichen auffälligen Unterschiede zwischen Tay-Sachs-Patienten und Gesunden, die alle auf eine einzige Veränderung in einem Enzym zurückgehen, habe ich bereits hingewiesen. Dabei handelt es sich um ein Beispiel für Unterschiede zwischen Angehörigen der gleichen Spezies. 

Für Unterschiede zwischen verwandten Arten bieten die Maulbrüterfische der Familie Cichlidae im ostafrikanischen Victoriasee ein sehr anschauliches Beispiel. Die beliebten Aquariumsfische, von denen etwa 200 Arten nur in dem einen See vorkommen, entwickelten sich vermutlich in den letzten 200.000 Jahren von einem einzigen Ahnen. Die heutigen 200 Arten unterscheiden sich in ihren Ernährungsgewohnheiten voneinander nicht weniger als Kühe von Tigern. Manche fressen Algen, andere sind Raubfische, wieder andere leben von Schnecken, Plankton, Insekten und den Schuppen anderer Fische oder haben sich auf den Raub von Fischembryos spezialisiert. Sämtliche dieser Arten im Victoriasee unterscheiden sich jedoch nach Untersuchungsergebnissen im Durchschnitt um nur 0,4 Prozent ihrer DNS. Das bedeutet, daß weniger genetische Mutationen erforderlich waren, um aus einem Schneckenfänger einen Babykiller zu machen, als Menschen aus Menschenaffen.

Wir wollen nun fragen, ob die gewonnenen Erkenntnisse über unseren genetischen Abstand vom Schimpansen nur für die Klassifikation von Bedeutung sind oder auch darüber hinaus. Am wichtigsten dürften hier die Folgen für unsere Vorstellung vom Platz des Menschen und der Menschenaffen im Universum sein.


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Bezeichnungen sind über ihre Zweckmäßigkeit hinaus auch Ausdruck und Ursache von Einstellungen. (Überzeugen Sie sich selbst, indem Sie Ihren Partner einmal statt mit »Liebling« im gleichen Tonfall mit »Du Schwein« anreden!) Die jüngsten Erkenntnisse über die genetische Nähe zwischen Menschen und Menschenaffen werden unsere Einstellungen sicher nachhaltig beeinflussen, aber wie bei den von Darwin in seinem Werk Über die Entstehung der Arten dargelegten Erkenntnissen wird es wohl viele Jahre dauern, bis es zur Übereinstimmung über die genauen Folgen kommt. Ich will nur ein kontroverses Thema nennen, das davon betroffen sein könnte: den Gebrauch, den wir von Menschenaffen machen.

Zur Zeit gehen wir von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen Tieren (einschließlich der Menschenaffen) und Menschen aus und lassen uns davon in unserem moralischen Urteil und Handeln leiten. Wie am Kapitelanfang bereits erwähnt, wird die Haltung von Menschenaffen in Zookäfigen nicht beanstandet, während das gleiche mit Menschen undenkbar wäre. Ich frage mich, wie die Öffentlichkeit wohl reagieren würde, wenn das Schild am Schimpansenkäfig die Aufschrift »Homo troglodytes« trüge. Andererseits leisten Zoos auch einen wichtigen Beitrag zum Schutz von Menschenaffen in ihren Lebensräumen, da ohne die Sympathie und das Interesse, das viele von uns erst durch Zoobesuche gewinnen, die Spendenbereitschaft noch geringer und die Arbeit von Naturschutzverbänden noch schwieriger wäre.

Wie ebenfalls bereits erwähnt, gilt es als zulässig, mit Menschenaffen, nicht jedoch mit Menschen, gegen ihren Willen medizinische Experimente mit zuweilen tödlichem Ausgang durchzuführen. Das Motiv ist hierbei gerade, daß uns Menschenaffen genetisch so sehr ähneln. Mit vielen unserer Krankheiten können auch sie sich infizieren, und ihre Körper reagieren ähnlich auf die Krankheitserreger wie unsere. Deshalb sind Versuche an Menschenaffen viel aussichtsreicher als Versuche mit anderen Tierarten, wenn es um die Verbesserung der medizinischen Behandlung von Menschen geht.


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Moralisch stellt sich hier ein noch schwierigeres Problem als beim Einsperren von Menschenaffen in Zookäfige. Denn schließlich werden ja auch Menschen, nämlich Straftäter, in millionenfacher Zahl unter oft schlechteren Bedingungen als denen in Zoos eingesperrt. Doch zu medizinischen Tierversuchen gibt es keine Parallele, obwohl Experimente an Menschen der Wissenschaft viel wertvollere Erkenntnisse liefern würden als solche an Schimpansen. Kommt die Rede auf die Menschenversuche in den Nazi-KZs, so wird das Handeln der beteiligten Ärzte zu Recht als eine der schlimmsten Scheußlichkeiten der Nazi-Barbarei verurteilt. Warum dürfen solche Experimente aber an Schimpansen durchgeführt werden?

Irgendwo auf der Skala zwischen Bakterien und Menschen muß festgelegt werden, wo Töten zu Morden und Essen zu Kannibalismus wird. Für die meisten von uns liegt die Trennlinie zwischen dem Menschen und allen anderen Arten. Nicht wenige haben sich jedoch entschlossen, als Vegetarier ganz auf Fleisch zu verzichten. Und eine immer lautstärkere Minderheit erhebt Einspruch gegen medizinische Versuche an Tieren — oder jedenfalls an bestimmten Tierarten. Dieser Bewegung für die Rechte von Tieren geht es vor allem um Katzen, Hunde und Primaten, weniger um Mäuse und wohl gar nicht um Insekten und Bakterien.

Das Treffen einer willkürlichen Unterscheidung zwischen Menschen und allen übrigen Lebewesen wäre Ausdruck eines blanken Egoismus bar jedes höheren Prinzips. Eine Trennlinie, beruhend auf unserer höheren Intelligenz, unseren sozialen Beziehungen und unserer Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, würde es dagegen schwer machen, ein Entweder-Oder zu rechtfertigen, eine Trennlinie zwischen dem Menschen und allen Tieren. Vielmehr sollten für Experimente mit verschiedenen Arten auch verschiedene Maßstäbe gelten. Die Gewährung von Sonderrechten für unsere genetisch engsten Verwandten im Tierreich mag am Ende auch nur eine Form von Egoismus sein. Aber jedenfalls läßt sich aufgrund des eben Erwähnten (Intelligenz, soziale Beziehungen usw.) objektiv begründen, daß Schimpansen und Gorillas eine Sonderbehandlung vor Insekten und Bakterien verdienen. Wenn es derzeit überhaupt eine in der medizinischen Forschung verwendete Tierart gibt, für die ein völliges Verbot medizinischer Experimente gerechtfertigt wäre, so handelt es sich mit Sicherheit um Schimpansen.


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Zum moralischen Dilemma der Tierversuche tritt bei den beiden Schimpansen noch die Tatsache, daß sie als Spezies vom Aussterben bedroht sind. Die medizinische Forschung tötet also nicht nur einzelne Lebewesen, sondern gefährdet zusätzlich das Überleben der ganzen Art. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Nachfrage zu Forschungs­zwecken die einzige Bedrohung für wildlebende Schimpansen-Populationen darstellt; die Zerstör­ung der natürlichen Lebensräume und das Einfangen für Zoos spielen ebenfalls eine schlimme Rolle. Aber es genügt schon, daß von der medizinischen Forschung eine nicht unerhebliche Gefahr ausgeht. 

Das moralische Dilemma wird noch durch die Tatsache verschärft, daß in der Regel mehrere Schimpansen sterben müssen, um nur einen einzigen (oft ein Jungtier mit Mutter) zu fangen und zu einem Forschungslabor zu befördern; und auch dadurch, daß die medizinische Forschung kaum eine Rolle bei dem Bemühen um den Schutz wilder Schimpansen-Populationen gespielt hat, obwohl sie daran ein objektives Interesse haben müßte; und nicht zuletzt dadurch, daß die zu Forschungszwecken gefangenen Schimpansen oft unter grausamen Bedingungen gehalten werden. Dem ersten solcher Tiere, dem ich begegnete, war ein langsam wirkender, tödlicher Virus eingespritzt worden, und während der Jahre seines langsamen Sterbens wurde er einsam und allein in einem kleinen, kahlen Käfig im Inneren eines Gebäudes der U.S. National Institutes of Health gehalten.

Werden Schimpansen eigens zu medizinischen Zwecken in Gefangenschaft gezüchtet, entkräftet dies zwar den Vorwurf der Ausrottung wilder Populationen. Doch das grundlegende Dilemma wird damit nicht gelöst, jedenfalls ebenso wenig, wie die fortgesetzte Versklavung der Nachkommen der in Amerika geborenen Schwarzen nach dem Ende des afrikanischen Sklavenhandels im 19. Jahrhundert der Sklaverei in Amerika zur Anerkennung verhalf. Warum ist es zulässig, Versuche mit dem Homo troglodytes anzustellen, nicht jedoch mit dem Homo sapiens? Und wird man umgekehrt Eltern, deren Kind an einer tödlichen, zur Zeit an Schimpansen untersuchten Krankheit leidet, überzeugen, daß das Leben ihres Kind nicht so wichtig ist wie das von Schimpansen? 

Letzten Endes müssen schwierige Entscheidungen dieser Art von der breiten Öffentlichkeit und nicht nur von der Wissenschaft getroffen werden. Gewiß ist nur, daß unsere Einstellung zu Menschen und Menschenaffen unsere Entscheidungen bestimmen wird.

 

Und schließlich werden unsere Ansichten über Menschenaffen auch darüber entscheiden, ob sie überhaupt in der Natur überleben können. Die Gefahr für ihre Populationen geht heute vor allem von der Zerstörung der Regenwälder in Afrika und Asien und der legalen und illegalen Gefangennahme und Tötung aus. Sollten sich die bestehenden Trends fortsetzen, wird es Berggorillas, Orang-Utans, Schopfgibbons, Zwergsiamangs und vielleicht eine Reihe weiterer Menschenaffen in 15 bis 20 Jahren nur noch in Zoos geben. 

Es genügt nicht, an das moralische Pflichtgefühl der Regierenden in Uganda, Zaire und Indonesien zu appellieren und sie aufzufordern, die noch wild lebenden Menschenaffen zu schützen. Diese Länder sind arm, und die Einrichtung und Unterhaltung von Nationalparks ist ein kostspieliges Unterfangen. 

Wenn wir Menschen, als »dritter Schimpanse«, zu der Auffassung gelangen, daß die beiden anderen Schimpansen es wert sind, gerettet zu werden, so müssen die reicheren Länder den Hauptteil der Kosten übernehmen. Aus der Perspektive der Menschenaffen geht es also bei allem, was wir aus der Geschichte der drei Schimpansen gelernt haben, in erster Linie um unsere Bereitschaft, diese Rechnung zu begleichen.

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