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2.2  Wachstumshilfe 

  Anmerk

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Erfreuliche Meldungen aus dem Nord-Süd-Geflecht sind selten. Um so wichtiger ist es, sie herauszustellen. Die gute Nachricht lautet: Die Entwicklungs­hilfe der OECD-Mitgliedsstaaten hat den versprochenen 0,7-Prozent-Anteil am Bruttosozialprodukt der Industrieländer nicht erreicht und wird ihn voraussichtlich nie erreichen.122 Er betrug 1993 weniger als die Hälfte (0,30 Prozent), insgesamt 56 Milliarden US-Dollar.123

Zwar verkünden viele Experten und Politiker, allein Wirtschaftswachstum im Norden mache es den Industrie­staaten möglich, mehr zur Entwicklung des Südens beizutragen, die Zahlen aber sehen anders aus. Das Gegenteil trifft zu:

Je besser es den Industriestaaten geht, um so geringer fällt der Wohlstandsanteil aus, den sie bereit sind, an die Dritte Welt abzutreten. Der Entwicklungs­hilfeetat der USA fiel zwischen 1970 und 1990 von 0,32 Prozent des Brutto­sozial­produkts auf 0,21 Prozent. Die Unterstützungs­leistungen Groß­britanniens sanken in die diesem Zeitraum von 0,42 auf 0,27 Prozent. Die Industriestaaten insgesamt gaben in den Jahren 1980 bis 1982 jeweils 0,37 Prozent, 1990 nur noch 0,35 Prozent für Entwicklungshilfe aus124  — und das im goldenen Jahrzehnt der OECD, als es den Industriestaaten besser ging als jemals zuvor in ihrer Geschichte und während sie Jahr für Jahr mit 300 Milliarden ein Sechsfaches der Entwicklungs­hilfe­ausgaben in die eigene hochgepäppelte Landwirtschaft butterten.125

Es war jedoch ein verlorenes Jahrzehnt für die meisten Entwicklungsländer, dort sind im Schnitt Einkommen und Investitionen gesunken.126 Die Zahl der von der UNO als ärmste Länder bezeichneten Staaten stieg in diesem Zeitraum von 31 auf 42. 127

Der Entwicklungsbericht der Weltbank von 1991 nennt 40 gering industrialisierte Staaten, in denen seit 1980 das Pro-Kopf-Einkommen gefallen ist. In diesen Ländern lebt ein knappes Sechstel der Erdbevölkerung, etwa 800 Millionen Menschen.128 Die Weltbank, vehementer Verfechter des Wachstums­gedankens, spricht ange­sichts solcher Ergebnisse auch eigenen Tuns und Unterlassens von einer »Katastrophe«. Und stellt fest: »Eine deutliche Verbindung zwischen Auslands­hilfe und Verringerung der Armut hat sich nur schwer finden lassen.« 129)

Wer sich über die wohltuenden Effekte des nördlichen Wohlstands für die ganze Welt ausläßt, sollte derlei bittere Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Sonst liegt die Vermutung nahe, daß ihm das eigene Wachstum näher ist als die Not anderer.

Deutschland gab 1992  7,6 Milliarden Dollar130 für Entwicklungshilfe aus und rangiert damit hinter den USA (11,7 Milliarden), Japan (11,1 Milliarden) und Frankreich (8,3 Milliarden) an vierter Stelle. Dabei ist anzumerken, daß unter Entwicklungshilfe auch verzinste Kredite verstanden werden. Sobald die Kapitalhilfe zu mehr als 25 Prozent aus nicht rückzahlbaren Zuschüssen besteht, wird sie komplett als Entwicklungs­hilfe abgerechnet. Insgesamt ein Drittel der bilateralen Entwicklungshilfegelder aus dem BMZ-Etat wird als Kredit vergeben. 1992 erreichten die Einnahmen aus der Tilgung zwei Milliarden, und für Zinsen floß eine Milliarde in die Bonner Kasse; das ist exakt soviel wie die Bruttoauszahlungen für Kredite. Der BMZ-Kritiker Thomas Fues schreibt:

»Werden die empfangenen Zinsen, die Schuldenerleichterungen bei Handelskrediten, die keine vorrangig entwicklungs­politische Zielsetzung haben, sowie die neuen Entwicklungshilfekredite berücksichtigt, sinken die deutschen Hilfe­leistungen auf deutlich unter 0,3 Prozent vom Bruttosozialprodukt.«131

Für den Golfkrieg gegen Iraks Diktator Saddam Hussein machte die Bundesregierung mehr als das Doppelte locker, als sie für Entwicklungshilfe ausgibt, nämlich über 17 Milliarden Dollar plus den Einsatz eines Minenräumverbandes.132) 1992 erreichte die deutsche Entwicklungshilfe mit einem Anteil von 0,39 Prozent am Bruttosozialprodukt ein Rekordtief.

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In den Jahren 1979 bis 1983 hatte er bei 0,46 Prozent gelegen, 1996 dürfte er bei Fortsetzung der gegebenen Politik die 0,3-Prozent-Marke unterschreiten, wobei abzuwarten bleibt, wie ernst die Bonner Regierung ihr 1992 wiederholtes Versprechen meint, einen Bruttosozialprodukt-Anteil von 0,7 Prozent in die Entwicklungs­hilfe zu investieren.133 Zweifel sind begründet. Die Etatplanung der christlich-liberalen Koalition sieht für die Jahre 1995 und 1996 jedenfalls vor, den Anteil des Bundes­ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit am Bundeshaushalt auf 1,96 Prozent einzufrieren; 1988 hatte er 2,47 Prozent betragen.134  Daß die Bundesländer ihre Beiträge zur Entwicklungshilfe steigern, ist angesichts der Ebbe in ihren Kassen nicht zu vermuten.

Zumal nach dem Ende des Ost/West-Konflikts nicht nur die Suche nach Verbündeten in aller Welt hinfällig wurde, sondern auch gigantische Summen nach Osteuropa transferiert werden, um dort die marktwirtschaftliche Entwicklung zu stärken. Allein der Militärriese Rußland mit seinen neu erwachenden imperialistischen Ansprüchen erhielt 1993 von den sieben mächtigsten Industrie­staaten der Erde 43,4 Milliarden Dollar als Kredite, Umschuldungen und sonstige Hilfen zugesagt, nachdem im Jahr zuvor zwischen 26 und 29 Milliarden Dollar geflossen waren.135  

Die meisten Mitgliedsländer der OECD verringerten 1990/91 die »Südhilfe« zugunsten der »Osthilfe«, und die EU sagte Osteuropa mehr Unterstützung zu, als sie den mit ihr vertraglich liierten 66 Entwicklungsländern in Afrika, der Karibik und im Pazifik — den AKP-Staaten — in fünfzehn Jahren gezahlt hat.136 Bei gleichbleibendem Etat gewährte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit den »klassischen« Entwicklungs­ländern 1994 etwa acht Prozent weniger als im Vorjahr.137)

Die Bundesrepublik hat sich von allen Industriestaaten am stärksten engagiert in der Rußlandhilfe, und viele deutsche Bürger fühlten sich nicht zuletzt durch die Medien aufgerufen, den Russen zu helfen. Hier spielte die Erleichterung mit über das Ende der Bedrohung aus dem Osten, aber in nicht geringerem Maß auch der Druck durch das Chaospotential einer Atommacht im Delirium.

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Rußland ist uns näher als Afrika, politisch und kulturell. Rußland gehört zu unserer Welt, wenn es darin auch nicht im Mittelpunkt steht. Nach Tunis fliegt man kürzer als nach Wladiwostok. Und doch ist Afrika weit weg, vor allem kulturell und ethnisch. Der millionenfache Hungertod, das alltägliche Leiden und Sterben übertreffen in ihren Elendsdimensionen die russischen Katastrophen­winter zwar bei weitem, aber sie berühren uns nicht wirklich. Wenn uns da nicht hin und wieder die grauenhaften Bilder mit Wucht träfen, wir würden den Niedergang eines ganzen Kontinents gar nicht bemerken.

 

Zu Zeiten des kalten Kriegs wußten die Entwicklungspolitiker, auf welcher Seite der Front sie kämpften. Wer gegen Moskau war, war fast schon ein natürlicher Freund der NATO. Befreiungsbewegungen, die sowjetisch gesponsert wurden, waren Feinde, selbst wenn sie gegen menschenverachtende Diktaturen kämpften. Linke Regierungen, die im Verdacht standen, mit dem Osten zu liebäugeln, wurden zersetzt und, wenn möglich, weggeputscht wie in Chile 1973. Es mußte dem Westen in der Tat manches bedrohlich erscheinen, feierte der Warschauer Pakt seine einzigen Siege doch in der Dritten Welt, wo die sozialistische Verheißung fern der sozialistischen Wirklichkeit noch nicht deren bitteren Beigeschmack hatte. 

In der Bewegung der Blockfreien genoß die Sowjetunion viel Anerkennung, weil sie sich geschickt als »natürlicher Verbündeter« der vom westlichen Imperialismus geknechteten Dritten Welt stilisierte. Die sozialistische Kritik an ungleichen Handelsbeziehungen zwischen dem Westen und dem Süden traf in vielerlei Hinsicht die Wirklichkeit. Der »weltrevolutionäre Prozeß«, die Verschiebung des internationalen Kräfte­verhältnisses zugunsten des sozialistischen Lagers und die Stärkung der nationalen Befreiungs­bewegungen, schritt in den sechziger und siebziger Jahren scheinbar unaufhaltsam voran. Der provozierte Krieg in Vietnam war für viele Jahre das Menetekel der USA und gleichbedeutend mit einem herben Verlust an Ansehen in weiten Teilen der Welt. Nicht daß die Sowjetunion hehre Ziele verfocht.

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Im Gegenteil, sie exportierte ihr politisches und soziales System und trieb dadurch viele Staaten in die ökonomische Sackgasse mit furchtbaren Folgen für die so beglückten Völker. Sie munitionierte übelste Diktatoren, Hauptsache, sie waren bereit, die Freundschaft mit Moskau zu beschwören. Der Warschauer Pakt profitierte von einer dramatischen Fehleinschätzung des Westens: Dieser unterstützte zu oft korrupte und brutale Herrscher in der Dritten Welt, half ihnen in ihren Kämpfen gegen Befreiungsbewegungen, besonders wenn diese in ihren meist ungaren Programmen von irgendeinem Sozialismus sprachen. Solange Dutzenddiktatoren ihre Länder dem ökonomischen Zugriff der Industrie­staaten nicht verschlossen, zählten sie zu den Freunden, auch wenn man sich hin und wieder genierte. 

Mit am rücksichtslosesten griffen Frankreich und Belgien in ihren einstigen Kolonien ein, wenn diese Gefahr liefen, sich selbständig zu machen. Lange Jahre etwa hielt Paris dem einstigen Sergeanten der französischen Kolonialarmee Jean-Bedel Bokassa die Stange, der sich selbst zum Kaiser der Zentral­afrikanischen Republik kürte und die Menschenrechte mit Füßen treten durfte, solange er dem früheren Soldzahler treu blieb. Viele Befreiungsbewegungen wurden durch einen irrationalen Antikommunismus in die Arme des Sowjetblocks getrieben, auch Fidel Castro.

 

    Eine abstoßende Verkümmerung der Moral   

 

Manchen Politikern im Westen scheinen die unheiligen Allianzen des kalten Kriegs heute unangenehm zu sein. Und so wird zunehmend darüber diskutiert, die Einhaltung der Menschenrechte, die Kürzung der zum Teil abstrus überhöhten Rüstungsetats, aber auch die Beachtung ökologischer Regeln zu fordern, wenn es um das Verteilen von Entwicklungshilfegeldern geht. Dadurch jedoch wird erst einmal die doppelte Moral der Vergangenheit nur noch deutlicher, zumal Selbstkritik nicht zu entdecken ist in den regierungsoffiziellen Verlautbarungen.

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Vielleicht sollte gerade das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Ebene billiger gegenseitiger Schuldzuweisungen verlassen und die Vergangenheit deutscher »Entwicklungs­hilfe« — ja, auch der DDR! — aufarbeiten. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf. Statt dessen aber folgen die jeweiligen Ressortleiter ungerührt dem Pfad der Selbstgerechtigkeit.

 

So erklärt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Regierung habe im Januar 1992 die Entwicklungshilfe für Zaire eingestellt bis auf wenige Programme zugunsten notleidender Bevölkerungs­gruppen, »aufgrund der fortwährenden Manipulierung des Demokratisierungsprozesses durch Staatspräsident Mobutu«.138 Daß dieser grausame Diktator sich schon 1965 an die Macht geputscht hatte und diese seitdem brutal ausübt, scheint die Bundesregierung vor 1992 nicht sonderlich gestört zu haben, jedenfalls nicht ausreichend, um die Entwicklungszusammenarbeit einzustellen. Mobutu war Antikommunist und daher förderungswürdig. Staaten des Westens sorgten Ende der siebziger Jahre sogar mit Geld, Waffen und Soldaten dafür, daß der Herrscher die zairische Befreiungsbewegung niederschlagen konnte. 

Auch der sonst so gestrenge Internationale Währungs­fonds (IWF), dessen Auflagen in vielen Staaten die Sozial- und Bildungspolitik ersticken, lockerte seine Maßstäbe, um trotz einer zerlotterten Wirtschaft Mobutu zu stützen — und dies angesichts ausufernder Korruption und eklatanter Menschen­rechts­verletzungen.139 Mobutu durfte unter den Augen der westlichen Demokratien sein ganz spezielles Herrschafts­system errichten, in dem zwischen dem Privatvermögen des Diktators und dem Staatshaushalt alle Unterschiede weggewischt wurden. Alimentiert mit Entwicklungshilfegeldern seiner Schutzmächte, häufte der Herrscher mitsamt seinen Satrapen Reichtümer an. Er ruinierte die Wirtschaft seines Landes und stürzte unzählige Menschen in bitterste Not.140

Ganz andere Maßstäbe legten dieselben Regierungen, auch die in Bonn, an Nicaragua an. Solange dort Diktator Anastasio Somoza ungestört mit Luxuskarossen aus Stuttgart handeln durfte, genoß er nicht nur bei der Schutzmacht USA Ansehen, sondern war auch Partner der Regierung in Bonn. Das änderte sich, nachdem im Juli 1979 die Sandinisten Daniel Ortegas den Diktator verjagt hatten.

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Genau auf Kiellinie im Fahrwasser des großen Verbündeten jenseits des Atlantiks, entdeckte Bonn die Menschen­rechte und stellte jede Hilfe ein. Erst nach dem knappen Wahlsieg eines konservativen Parteien­bündnisses unter Führung Violetta Chamorros über  die Sandinisten im Jahr 1990 sagte Bonn 175 Millionen Mark Entwicklungs­hilfe zu.

Dies ist nur ein Beispiel von vielen, die bezeugen, daß westliche Regierungen Menschen in Rechts­diktaturen für hilfswürdiger hielten als Menschen, die unter linken Regimes lebten. Wobei hier, unser Beispiel abschließend, anzumerken ist, daß der zivilisatorische Unterschied zwischen dem Schlächter und Ausbeuter Mobutu und dem Befreiungskämpfer Ortega größer kaum sein kann. Hinter dieser Denkwürdigkeit der internationalen Politik steckt eine abstoßende Verkümmerung der Moral.

 

Etwa hundert Entwicklungsländer sind mit dem Niedergang des Warschauer Pakts plötzlich uninteressant geworden für den Norden, im Gegensatz zu Europas Osten. Dort warten ganz in der Nähe neue Absatzmärkte und billige, aber gut ausgebildete Arbeitskräfte in Hülle und Fülle. So bestätigt sich vor aller Augen die Kritik an der Entwicklungspolitik des Westens, daß sie nämlich weniger auf Mildherzigkeit zurückzuführen ist als vielmehr auf strategische und wirtschaftliche Interessen. Immerhin aber verlieren nun. Dutzende dieser unsäglichen Dritte-Welt-Potentaten, deren Lebenselixier die Blockkonkurrenz war, wichtige Unterstützung. Es ist zu begrüßen, daß Menschenrechte nun einen höheren Stellenwert einnehmen sollen. Die Motive aber, die dies bewirkt haben, verdienen höchstes Mißtrauen.

Heute könnten wir uns Moral ungefährdet leisten. Nach den Erklärungen Bonns hat Deutschland keine Feinde mehr. Kein Lagerzwang könnte die Hemmschwelle gegenüber Diktaturen und Pseudodemokratien senken helfen. Und doch gibt es noch immer keine gleichen Maßstäbe für alle Länder der Dritten Welt.

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Kleinere Staaten des Südens geraten zunehmend unter Druck durch die neue entwicklungspolitische Strategie westlicher Staaten, die auf Einhaltung der Menschenrechte, Senkung der Rüstungsausgaben, politische Demokratie, Rechtssicherheit und die Förderung der »privaten Initiative« durch eine »marktfreundliche und soziale Wirtschaftsordnung«141 drängt, auf daß also aus Entwicklungsländern Bundesrepubliken werden — nach wie vor werden gefährliche Maßstäbe gesetzt, und nach wie vor trübt kein Zweifel die Paradigmen des Wachstumswahns.

Einige Staaten werden mit idealtypischen Anliegen wie denen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit allerdings bestenfalls verbal belästigt. Die Volksrepublik China, das Land der Serienhinrichtungen und der blutigen Nieder­schlagung der Studenten­demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989, diese Autokratie spätstalinistischer Fossilien ohne jeden Respekt vor menschlichem Leben, wurde nach kurzer Quarantäne wiederaufgenommen in den Kreis bevorzugter Partner. Davon kann Fidel Castro nur träumen. Aber Kuba ist nicht der Markt von morgen, dem alle großen Industrienationen hinterherhecheln; Kuba hat keine Atombomben, und Kuba gehört den USA, denen, wenn es gegen Castro geht, die internationalen Gepflogenheiten ganz egal sind.

Kuba steht in seiner Bildungs- und Gesundheitspolitik weit vorne in Mittel- und Südamerika, es hat auch nicht die in anderen Entwicklungsländern vorherrschenden krassen sozialen Unterschiede aufzuweisen. Was wird aus Kubas Kindern, wenn die Vereinigten Staaten schließlich gesiegt haben? Werden sie dann zu Zehntausenden auf den Strich geschickt oder von Mörderbanden gejagt wie in Rio de Janeiro? Werden sie alle dann noch Schulen besuchen können, gleich welcher sozialen Herkunft sie sind? Ja, Kubas Diktatur verletzt Menschenrechte, es sperrt politische Gegner ein und mißhandelt sie. Das ist zu verurteilen. 

Wäre es da nicht sinnvoll, Kuba in die internationale Gemeinschaft zu reintegrieren unter der Voraussetzung, daß es fundamentale Menschenrechte künftig achtet? Nein, die US-Blockade wird weitergeführt, bis das Castro-Regime vom Erdboden getilgt sein wird. Und dann wird aus Kuba eine zweite Dominikanische Republik, wo hinter dem demokratischen Schein Korruption, schreiende soziale Ungerechtigkeit und die Mißachtung elementarer Menschenrechte herrschen.

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Die USA werden jede Verantwortung von sich weisen, und ihr Bonner Verbündeter wird nicht protestieren gegen die neuen Menschenrechtsverletzungen auf der Karibikinsel. Es bedarf für diese Voraussage keiner besonderen prognostischen Fähigkeiten.

Genauso obszön wie die pseudomoralimprägnierte Heuchelei westlicher Staaten gegenüber Kuba und anderen Entwicklungsländern sind die deutsche Militärhilfe für die Türkei142, die Lieferung von ehemaligen DDR-Kriegsschiffen an Indonesien oder der rege Handel mit dem Iran, der im Verdacht steht, die Atombombe zu bauen, und dessen religiöser Fanatismus eine lauernde Gefahr darstellt. Und wann wurden die Scheichs der Öldiktaturen angehalten, die Rechte ihrer Bürger zu achten? Wann fordern die Golfkrieger ein, was ihnen die kuwaitische Herrscherfamilie versprochen hat, als die Irakis aus dem Scheichtum gebombt wurden? Es häufen sich die Berichte über Menschenrechtsverletzungen im befreiten Ölscheichtum.

Weniger Heuchelei wäre möglich. Wäre es nicht sinnvoll, wir begönnen mit der Diskussion noch einmal ganz von vorn? Wir sollten uns zuerst eingestehen, daß unsere Maßstäbe keine globale Gültigkeit beanspruchen dürfen, weder in wirtschaftlicher noch in politischer, noch in kultureller Hinsicht. Auch sind nicht alle Menschenrechte gleichwertig, und offenkundig bewirkt in erstaunlich vielen Fällen die Durchsetzung der einen Menschenrechte die Verletzung anderer, vor allem in armen Ländern.

Politische Freiheit, sofern sie nicht ohnehin nur als Fassade existiert, geht regelmäßig einher mit größten sozialen Ungerechtigkeiten. Die Verwirklichung größerer sozialer Gleichheit scheint fast überall unvereinbar mit Demokratie. Manchmal scheint es, daß Demokratie und soziale Gleichheit nicht kompatibel sind miteinander. Für die Dritte Welt am wichtigsten sind Ernährung, Bildung, ein akzeptables Existenz­minimum, soziale und juristische Mindestgarantien und die Abwesenheit von Krieg, Bürgerkrieg und Folter. Wer sich für diese Grundstandards einsetzen will, wird in den meisten Staaten die Eigentums­verhältnisse ändern müssen.

Das klingt illusorisch, verletzt ein besonders von Diktatoren geschätztes Tabu — Einmischung in die inneren Angelegen­heiten fremder Länder —, es wäre aber zum erstenmal eine Entwicklungshilfe, die entwickelt.

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     »Entwicklungspolitik« — ein neuer Name für »Kolonialismus«     

 

Was können die Länder des Südens tun, die durch die weltpolitischen Wirrungen in der Prioritätenskala der Reichen plötzlich nach unten gerutscht sind? Die Kriterien der Zusammenarbeit waren schon immer die der »Geberländer«. »Entwicklungspolitik« war nur ein neuer Name für »Kolonialismus.«143 Sie wurde in den fünfziger Jahren, als viele Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen worden waren oder wurden, nicht ins Leben gerufen, weil die Reichen das Elend der Armen entdeckt hatten. Sie war vielmehr ein Produkt der neuen Weltpolitik, des kalten Kriegs zwischen Ost und West. Die Kolonien hatten ihre fernen Eigentümer mit billigen Rohstoffen versorgt. 

Bis nach dem Zweiten Weltkrieg diente vor allem Afrika als Rohstofflieferant, als sonst nichts. Das hat bis heute zur Folge, daß die afrikanischen Staaten auf dem Weltmarkt praktisch nicht existieren außer als Exporteure der billigen Grundstoffe, die die Industrie im Norden braucht. Diese Ausfuhren machen neunzig Prozent des Gesamtexports des Kontinents aus. Er ist demnach vollständig abhängig von der Entwicklung des Rohstoffpreises, der vor allem von den Industriestaaten bestimmt wird.144

Unter dem programmatischen Motto »Food for Peace« (»Nahrung für Frieden«) verabschiedete der US-Kongreß im Jahr 1954 das Gesetz Nr. 480. Das Public Law 480 sollte dazu beitragen, den internationalen Handel auszuweiten, neue Märkte für nordamerikanische Landwirtschafts­erzeugnisse zu erschließen, die Unterernährung zu bekämpfen, die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln und die Ziele der US-Außenpolitik zu fördern.

1975 verabschiedete der amerikanische Kongreß ein neues Hilfegesetz. Angeblich, um dem Mißbrauch der Nahrungsmittelhilfe ein Ende zu machen. Seitdem muß eine bestimmte Mindestmenge US-Getreide als Nahrungsmittelhilfe ausgeführt und wenigstens fünfzig Prozent davon auf amerikanischen Schiffen transportiert werden.145

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Aber diese Nahrungsmittelhilfe diente vor allem als Konjunkturspritze für die eigenen Bauern und Reeder. Die Gesetzesänderung war ein Erfolg der Farmerlobby, deren Klientel ihre Produktionsüberschüsse nun zu garantierten Preisen absetzen konnte auf Kosten des Steuerzahlers. Und ein Sieg für die fünf großen Getreidehandelskonzerne, die ein wenig mehr abgesichert wurden gegen die Unbilden des internationalen Wettbewerbs. Unter der Überschrift »Lebensmittelhilfe für arme Länder« steht im Gesetz:

»Indem der Präsident nach diesem Gesetz Lebensmittelhilfe gewährt (...), soll er sicherstellen, daß die Zuteilung von Waren oder die konzessionelle Finanzierung auf der Möglichkeit basiert, die Märkte für Amerikas Überschüsse im Ausland auszuweiten.«

Neu war in den vierziger und fünfziger Jahren nicht der Hunger, auch wenn er damals die heute bekannten Ausmaße nicht erreicht hatte. Neu waren aber die Getreideüberschüsse, die eine äußerst effektive Landwirtschaft unter dem Einsatz enormer Mengen von Dünger, Giften und Wasser erzielte. Und neu waren die zunehmenden Sorgen der Bauern, diese Berge von Weizen und Mais nicht verkaufen zu können. 

In den vierziger Jahren waren die Getreideernten um fünfzig Prozent gestiegen, der einheimische Verbrauch aber nur um knapp ein Drittel gewachsen. Jeden Monat eine Million Dollar kostete die Lagerung der Überschüsse den US-Steuerzahler. Hätte man sie zum Verkauf im In- oder Ausland freigegeben, wären die Getreidepreise gefallen — die furchtbarste Bedrohung, die die Agrarlobby sich ausmalen konnte.

Hinzu kam in der Vorgeschichte des Gesetzes Nr. 480 die Erkenntnis, daß die USA nicht autark sind, daß sie Rohstoffe von außerhalb einführen müssen. Unverhohlen erklärte der Koordinator der US-Lebensmittel­hilfe zu Zeiten der Regierung von Präsident Gerald Ford, Robert R. Spitzer, daß die USA in den fünfziger Jahren Lebensmittel »weise« in verschiedenen Ländern »plaziert« hätten, um Käufer dafür zu »entwickeln«.

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Auf gut deutsch: Die US-Regierung bemühte sich, andere Staaten von Lebensmittellieferungen abhängig zu machen, um die eigene Rohstoffversorgung zu sichern.

Getreide als Waffe — das stand als Credo hinter den humanitären Reden. Der ehemalige US-Landwirtschafts­minister John Block kommentierte das neue Gesetz mit den offenen Worten: »Für die nächsten zwanzig Jahre werden Lebensmittel unsere wichtigste Waffe sein.« Und der bekannte Republikaner Jesse Helms schrieb: »Lebensmittelexporte werden der Haupthebel unserer Außenpolitik sein.«146

Die erfolgreiche Generalprobe für die neue Hungerwaffe wurde drei Jahre vor Verabschiedung des Public Law 480 in Szene gesetzt. 1951 bat Indiens Regierung die Vereinigten Staaten um Nahrungsmittelhilfe, da die eigene Ernte wegen schlechtem Wetter zu gering ausgefallen war, um die Bevölkerung zu ernähren. Die USA fanden sich dazu aber nur bereit, nachdem die Inder zugesagt hatten, ihnen Thorium zu liefern, dessen Ausfuhr eigentlich untersagt war. Thorium wird gebraucht, um Atomenergie zu produzieren.

Das Gesetz Nr. 480 war ein großer Erfolg. Im ersten Jahrfünft nach seiner Verabschiedung konnten die Amerikaner Getreide im Wert von fünf Milliarden Dollar loswerden, das hieß in den meisten Fällen: verkaufen, wobei die Abnehmer zinsgünstige Darlehen erhielten. Eine Zeitlang durften die Bezieher von US-Getreide sogar in der eigenen Währung bezahlen. Diese Gelder landeten dann als zinsgünstige Kredite bei amerikanischen Unternehmen, die sie in den Käuferländern investierten. 

Schließlich wollte man Afrikanern oder Asiaten nicht nur Getreide verkaufen, sondern auch noch an dessen Verarbeitung verdienen. Was wiederum die Märkte für US-Agrarprodukte erweiterte. 1971 arbeiteten 419 Tochtergesellschaften amerikanischer Firmen in 31 Ländern, um die Nahrungsmittelhilfe gewinnträchtig zu vermarkten.147 Sie und die mit ihnen zusammenwirkenden Entwicklungsexperten erzielten große Siege im Kampf gegen einheimische Getreidearten und Ernährungsgewohnheiten. So wurde der Weizen zum Vorboten des Hungers.

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Etwa zwei Drittel der Nahrungsmittelhilfe des Nordens an den Süden, die sogenannte Programmhilfe, werden bedürftigen Ländern umsonst und ohne Auflagen zur Verfügung gestellt. Ein Viertel geht in die sogenannte Projekthilfe, und zehn Prozent wandern in die Katastrophenhilfe. Die Programmhilfe verändert teilweise die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. Wenn große Mengen an billigen Nahrungsmitteln das Land überschwemmen, fallen die Preise der einheimischen Erzeuger. Auf dem Land wächst die Not, während in den Städten der Preisniedergang begrüßt wird. Diese Art der Hilfe bevorzugt die städtische Bevölkerung und zerstört die Agrarwirtschaft. In der Projekthilfe werden häufig Arbeiten mit Nahrungsmitteln entlohnt, und es gibt auch Speisungen in der Hygiene- und Gesundheitserziehung, um die Frauen zu ködern. Die Katastrophenhilfe versucht Menschen vor dem Hungertod zu bewahren.148

Die Wahlstimmen der amerikanischen Farmer, die Angst vor dem Kommunismus mit seinem welt­revolutionären Anspruch und strategische Interessen standen am Anfang der staatlichen Mildtätigkeit für die Dritte Welt. Die Entwicklungshilfe ist seitdem ihren Wurzeln treu geblieben und wußte die Interessen der Geberländer stets zu wahren, und das in allen Facetten.

In den letzten zwanzig Jahren wurde mehr als ein Viertel der Wälder Mittelamerikas vernichtet, um Weide­gebiete zu schaffen. Das Fleisch der dort gehaltenen Rinder dient der Versorgung der Vereinigten Staaten. Das Geld für diese ökologische Katastrophe stammt von der Weltbank, aus dem US-Entwicklungs­hilfe-Etat, der Kasse der Organisation Amerikanischer Staaten und dem Haushalt der panamerikanischen Weltgesundheitsorganisation. Zwei Drittel des urbar gemachten Landes in Mittelamerika dienen inzwischen der Rindfleischerzeugung.149

800 Tonnen Pflanzen und Tiere kann ein Hektar Regenwald ernähren. Wird dieser Hektar gerodet, dann erzeugt er als Weide nicht mehr als 200 Kilogramm Rindfleisch im Jahr. Das reicht für 1600 Hamburger. Allerdings ist das Weideland nicht lange nutzbar, weil der Boden durch Überweidung bald unfruchtbar wird.

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Eine Schätzung besagt angesichts dieser Ausgangslage, daß ein Hamburger eine halbe Tonne Regenwald kostet.150 Entwickelt werden hier vor allem die fragwürdigen Eßgewohnheiten der US-Amerikaner.

Der britische Reisejournalist Patrick Marnham berichtet in einem aufrüttelnden Buch151 von geradezu abstoßenden Beispielen westlicher Entwicklungsgrotesken, die der Tatsache geschuldet sind, daß Entwicklungshilfe nicht selten vor allem Hilfe für den Geber ist und eine Spur der Zerstörung hinterläßt.

Beispiel Nummer 1 — Gambia: 1973 benutzte die nordamerikanische Hilfsorganisation »Catholic Relief Services« (CRS152) eine Getreidespende der US-Entwicklungsbehörde (US Agency for International Development: USAID) für ein Programm unter dem Namen »Essen für Arbeit«. Den Bauern wurde ein Naturallohn angeboten, wenn sie sich an Entwicklungsprojekten beteiligten. Drei Jahre später schenkten die USA Gambia 35.000 Tonnen Hirse und Reis, obwohl kein Nahrungsmangel herrschte. Das waren damals 100 Kilogramm pro Kopf, zwei Drittel des Jahresbedarfs. Warum sollten die Bauern in Gambia Nahrungsmittel erzeugen, die angesichts der Massenschenkungen der getreideberggedrückten Amerikaner sowieso keine Käufer fanden? Auf diese Weise wurde die Wirtschaft des Landes allmählich so umstrukturiert, daß es sich nicht mehr selbst versorgen konnte. Lebensmittelspenden erwiesen sich als wirksame Waffe, um eine selbstbewußte und unabhängige Bauernschaft zu unterwerfen.153

Viele Hilfsmaßnahmen dienten und dienen als Mittel der Kriegführung mit dem Ziel, dem abhängig gewordenen Land Nahrungsmittel zu verkaufen, die die eigenen Bauern zu Hause nicht absetzen können. Und wenn das Empfängerland nicht bezahlen kann, bekommt es Kredite oder wird zu Geschäften mit US-Firmen gezwungen.154

Die Zerstörung stabiler wirtschaftlicher Strukturen in Gambia hatte bittere Konsequenzen für das Land und seine Bewohner. Thomas Sankara, Präsident von Burkina Faso, dem früheren Obervolta, trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er erklärt: »Die Nahrungsmittelhilfe verleitet zur Trägheit, sie gewöhnt die Afrikaner an den Zustand von Almosenempfängern und schafft Arbeitslosigkeit. So, wie in Frankreich an die Clochards Suppe verteilt wird, so tun es die Industrieländer mit den Afrikanern.«155

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Ein Mitarbeiter des angolanischen Sozialministeriums erklärte: »Es ist leicht, kostenlos Lebensmittel zu verteilen, aber es ist erstaunlich, festzustellen, welche Auswirkungen dies in den Köpfen der Menschen hat: nämlich anzunehmen, daß sie ihre Mägen füllen können, ohne auch nur irgend etwas zu tun.« Und ein Vertreter der berühmten britischen Hilfsorganisation Oxfam sagt: »Die Nahrungsmittelhilfe richtet mehr Schaden an, als daß sie Gutes tut. Sie zerstört das Wirtschaftsleben auf dem Land. Wenn Sie gespendeten Mais auf den Markt geben, führt das zu einer Senkung der Abnahmepreise für die Farmer- bis hin zu dem Punkt, daß es für die Bauern uninteressant wird, weiter Nahrungsmittel anzubauen.«156

Die Folgen der Mildtätigkeit in Gambia: Zwischen 1979 und 1992 sank die Nahrungsmittelerzeugung pro Kopf auf 89 Prozent bei einem jährlichen Bevölkerungswachstum von 2,5 Prozent. Die Abhängigkeit von auswärtigen Nahrungsmitteln beträgt 64 Prozent. 29 Prozent der Exporterlöse müssen zur Tilgung der Auslandsschulden verwendet werden, die bei einem Bruttosozialprodukt von 370 US-Dollar pro Einwohner 445 Dollar pro Kopf betragen. Gambia hat 1991 Waren im Wert von 221 Millionen Dollar importiert, aber nur Güter für 41 Millionen Dollar exportiert, ein Handelsbilanzminus von 180 Millionen Dollar157, das einem von Schulden gedrückten Land jede Perspektive rauben kann.

 

Beispiel Nummer 2 — Mali: Ausländische Berater hatten der Regierung dieses afrikanischen Landes einen Nationalplan ausgearbeitet, dessen Ziel darin bestand, »die gesamte Bevölkerung in die Lage zu versetzen, einen Lebensstandard zu erreichen, in dem alle ihre kulturellen und materiellen Bedürfnisse erfüllt werden«. Der Plan sah vor, die Nomaden seßhaft zu machen, auch weil es die Regierung und die Entwicklungshelfer nicht tolerierten, daß diese Menschen keine Steuern bezahlten, den Staat nicht beanspruchten und sich dem modernen Leben und vor allem der Geldwirtschaft widersetzten. Dieser Mangel an Entwicklungs­bereitschaft mußte behoben werden.

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Marnham gibt die Erklärungen eines malischen Regierungsbeamten wieder: »Im Sahel haben wir einen Mangel an Bäumen, der durch die Ziege nur noch verschlimmert wird. Aus der Sicht der Nomaden ist die Ziege nur ein Übergangstier hin zum Rind. Wir werden also die Ziegen durch Rinder ersetzen. Wir werden den gesamten Sahel in bewirtschaftete und unbewirtschaftete Zonen einteilen, wir werden Rindermastbetriebe einrichten und die Transsaharastraße bauen, um einen leichteren Zugang zu den internationalen Märkten zu haben, denn nach der Umstellung unserer Agrarwirtschaft werden wir eine Leicht- und Schwerindustrie aufbauen, die auf einem höheren Konsum und einer gestiegenen Binnennachfrage aufbaut. Wenn Sie nicht sehen können, wie das erreicht werden kann, dann müssen Sie den Nationalplan studieren. Da steht alles drin!«

Der dickleibige Nationalplan war von einem Franzosen geschrieben, in Frankreich gedruckt und mit französischen Entwicklungs­hilfegeldern bezahlt worden. An der Umsetzung der großen Projekte des Plans waren außerdem die USA beteiligt. Man nahm den Nomaden die Ziegen weg und funktionierte sie zu seßhaften Rinderzüchtern um. Es wurden Brunnen gebohrt, um die wachsenden Rinderherden zu tränken. Getreidesilos speicherten das Futter. In Hochzeiten wurden 750.000 Rinder aus dem Sahel an die Küste getrieben.

Das Desaster war unvermeidlich. Die wachsenden Viehherden trampelten die Böden platt, vor allem an den Brunnen. Rinderdung ließ die Nitratbelastung des Wassers zunehmen. In den typischen Dürrezeiten konnten die einstigen Nomaden mit ihren anspruchsvollen Herden schließlich keine Ersatzweiden mehr finden. Eine riesige Zahl von Rindern verendete, und die einstigen freien Nomaden wurden zu Opfern des Hungers.158

Auch in Botswana wurden Nomaden zu Rinderzüchtern umfunktioniert, wofür sich unter anderem die Weltbank engagierte. Es gelang, das Weideland auf das Zweieinhalbfache auszuweiten, indem tiefe Brunnen gebohrt wurden. Aber die Rindermassen zerstampften die Brunnengebiete zu pflanzenlosen Hartböden bis zu zehn Kilometer im Umkreis einzelner Brunnen.159

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So zerschlug die Entwicklungspolitik eine selbstgenügsame Lebensform, nahm Tausenden von Menschen ihre Identität und ihren Stolz; sie vernichtete, was diese Menschen zu Recht als Wohlstand empfanden, und hinterließ Hungerleider, die nun dankbar dafür sein dürfen, daß ihnen großherzig Nahrungsmittel geschenkt werden. Der Untergang der Nomaden ist nur eine kleine Episode der Weltgeschichte, aber sie enthält als geradezu klassisches Beispiel schon die ganze Tragik dessen, was unsere Entwicklungspolitik weltweit bewirkt.

Dürreperioden kennen die Menschen in Afrika. Sie konnten damit umgehen, bevor die Europäer kamen und die große Entwertung aller Fähigkeiten und Fertigkeiten einleiteten. Was die Afrikaner noch nicht kannten, war die tödliche Saat des Fortschritts. Wie hätten Nomaden auch begreifen sollen, daß die Frikadellen­multis sie brauchten?

Der malische Nationalplan, den ausländische Experten entwarfen, hatte insgesamt folgende Ergebnisse: Die Auslands­verschuldung hat 1992 2,6 Milliarden US-Dollar erreicht, 7 Prozent der Exporte dienen der Schuldentilgung und Zinszahlung, die Handelbilanz weist ein Defizit von rund 352 Millionen Dollar auf, die Nahrungsmittel­produktion pro Kopf ist zwischen 1979 und 1992 um 9 Prozent zurückgegangen, während die Bevölkerung jährlich um 3,1 Prozent wächst.160

Hinzu kommt, für Mali und viele andere schwarzafrikanische Staaten, eine Absonderlichkeit von spezieller Güte: Die Bevölkerung Malis hat sich inzwischen an den Weizen gewöhnt, der die Silos in den USA, Kanada und der EU überquellen läßt. Weizen wächst in Mali kaum, und die traditionelle Hirse paßt nicht zur amerikanisch-europäischen Brotwirtschaft. Haben die malischen Bauern eine gute Hirseernte, dann wird ein Großteil zu lächerlichen Preisen nach Europa exportiert — als Viehfutter.161

Die an die klimatischen Bedingungen angepaßte und anspruchslose Hirse wird in vielen Ländern Afrikas nur noch gering geachtet. Der mit der Entwicklungshilfe sich vollziehende Export des Lebensstils, der in den Industriestaaten gepflegt wird, hat auch die Eßkultur in der Dritten Welt leiden lassen.

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Kamerun importierte 1983 eine knappe halbe Million Flaschen Champagner, und Baguettebrot aus einge­führtem Weizen gilt vielerorts als angemessene Ernährung.162

 

Beispiel Nummer 3 — Mauretanien: 1973 verflochten sich die .Wirkungen einer Dürreperiode mit den Folgen einer drastischen Vergrößerung der Rinderherden mauretanischer Nomaden. Die Errungenschaften der modernen Veterinärmedizin hatten die Bestände auf eine kritische Größe anschwellen lassen. Die überstrapazierten, kaputtgetrampelten Böden und eine langanhaltende Dürre lösten eine Nahrungsmittel­knappheit aus. Obwohl genug Getreidereserven vor Ort lagerten, flogen die Luftwaffen verschiedener Länder heldenhafte Hilfseinsätze. Nach einigem Hickhack um Zuständigkeiten durften auch Bundeswehrmaschinen den Sahel anfliegen, allerdings mußten sie in der malischen Hauptstadt Bamako landen, obwohl dort niemand hungerte. Bamako wurde mit Getreide überschwemmt. Marnham: »Tatsächlich aber hätte es für die Sahelbewohner keinen großen Unterschied gemacht, wenn die Flugzeuge auf den Atlantik hinausgeflogen wären und ihre Ladung über dem Wasser abgeworfen hätten.«

Der Großteil des gelieferten Getreides wurde erst nach der Dürre verteilt. Es trug dazu bei, den lokalen Agrarmarkt zu zerstören. Die Folgen dieser Katastrophenhilfe lassen sich heute bestaunen, wenn einem einstige Rinderhirten auflauern, um sich gegen Honorar fotografieren zu lassen.

Die damals gelieferte Technik, ohnehin für den Einsatz in Nordamerika und Europa entwickelt, ist heute meist unbrauchbar, weil Ersatzteile fehlen. Sie müßten gegen Devisen beschafft werden. Statt der heimischen Selbstversorgungs-Agrikultur werden Kakao, Kaffee, Erdnüsse oder Baumwolle angebaut für die reichen Europäer und Amerikaner.163 Und während die Exportfrüchte tonnenweise verschifft werden, verhungern die Menschen, von den Lebensmitteln quasi nur durch einen Zaun getrennt.

Das mauretanische Bruttosozialprodukt schrumpfte zwischen 1980 und 1992 jährlich um 0,8 Prozent. Bis 1999 wird die Bevölkerung jährlich voraussichtlich um 2,8 Prozent wachsen.

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Die Landwirtschaft produziert nur 81 Prozent dessen, was sie 1979 bis 1981 pro Kopf der Bevölkerung erzeugt hat. Die Nahrungsmittelimport-Abhängigkeit hat 59 Prozent erreicht.164 Kein Zweifel, auch dies ein trauriger Erfolg westlicher Entwicklungshilfe. Und ein prototypischer: Der fruchtbare, reiche Kontinent Afrika ist heute zu einem Drittel abhängig von Nahrungsmittelimporten, und dies auch durch Entwicklungs- und Katastrophenhilfe!

Würde man Verschwörungstheorien glauben, so müßte man zu dem Schluß kommen, die reichen Nationen des Nordens hätten sich verbündet, um, gestützt auf einen perfiden Plan, in den einstigen Kolonien die Grundlagen selbständigen Wirtschaftens zu zerstören. 1973 konnte sich zum Beispiel Tansania noch selbst mit Nahrungsmitteln versorgen, vier Jahre später wurden 55.000 Tonnen importiert, 1983 waren es schon 160.000 und 1985 336.000 Tonnen. Gleichzeitig verringerte sich die landwirtschaftliche Anbaufläche.

Der damalige Landwirtschaftsminister Tansanias erklärte: »Der Weizen ist überhaupt kein Problem. Wir bekommen dieses Jahr 1983 160.000 Tonnen Getreide aus Kanada, Frankreich und den USA. Wir könnten mehr gebrauchen, aber es reicht.«165 Die Landwirtschaft in Tansania produzierte 1992 pro Kopf der Bevölkerung 21 Prozent weniger als im Zeitraum 1979 bis 1981. Einer Ausfuhr von 400 Millionen US-Dollar stand 1992 eine Einruhr von 1,2 Milliarden gegenüber.166

1973 erwischte die Entwicklungs-Verheißung auch Lesotho im südlichen Afrika. Nach einer Mißernte bat die Regierung in Maseru um 1000 Tonnen Weizen. Großbritannien schickte 6000, Belgien 1000 Tonnen. Obwohl die Regierung sich im Ausland verschuldete, um Vorratslager zu bauen, verrottete ein Teil des Getreidebergs. Schon 1979 lebte die Hälfte der Bevölkerung von wachsenden Hilfslieferungen, während die landwirtschaftliche Anbaufläche zurückging.167 1965 hatte die Landwirtschaft noch 65 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beigetragen, 1986 war dieser Anteil auf 21 Prozent gefallen, und 1991 hat er bei 14 Prozent gelegen. In diesem Jahr betrug die Auslandsverschuldung 428 Millionen US-Dollar.168

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Dort wie in anderen afrikanischen Staaten ruinierten die kostenlosen Lebensmittellieferungen die einheimische Landwirtschaft und zerstörten die lokalen Märkte. Die einstigen Bauern bilden heute die Slumbewohner der Städte. Die Versorgung der Stadtbevölkerungen mit billigen Lebensmitteln ist in vielen Regionen der Welt das Hauptanliegen der politisch Verantwortlichen, denn in den Ballungszentren wird über die Macht entschieden, nicht auf dem Land. Und so helfen die Hilfslieferungen aus dem Norden mit, die Mächtigen im Süden davor zu bewahren, eine sinnvolle Agrarpolitik zu betreiben.169

Die Hungerkatastrophe in Äthiopien hat viele Ursachen wie etwa ein ineffektives politisches System, Trockenheit oder Wassermangel. Nach Auffassung der amerikanischen Agrarexperten Pat Mooney und Cary Fowler aber wird ein wichtiger Grund unterschlagen, nämlich der Druck, den Entwicklungshelfer auf Äthiopiens Regierung ausgeübt haben, moderne Hochertragssorten anzubauen statt der einheimischen Fruchtarten, vor allem Tef. Diese Süßgrasart ist zwar weniger ergiebig, dafür aber fähig, der Dürre zu widerstehen. Sie braucht vor allem weniger Wasser als die Produkte aus Saatgutlaboratorien. Noch 1985 haben die Geberländer darauf gedrängt, hochgezüchteten Mais statt Tef anzupflanzen.170 Der Mais jedoch war nicht angepaßt an Boden und Klima in Äthiopien, Mißernten waren die Folge.

Der Dritte-Welt-Fachmann Jürgen Lichtenberger, früher selbst Leiter internationaler Hilfsprojekte, stützt sich auf eigene Erfahrungen in Afrika, wenn er schildert, daß sich Nahrungsmittelmangel in vielen Fällen lindern ließe, wenn man ein paar Lastkraftwagen einsetzen würde. Oft gebe es ganz in der Nähe von Notstandsgebieten Regionen mit Ernteüberschüssen. Aber die Regierungen der Industriestaaten böten trotzdem Lebensmittellieferungen an und überschwemmten in medienwirksamen und spektakulären Aktionen Häfen und Flugplätze. In den Empfängerländern werden dadurch die Lager- und Beförderungs­möglichkeiten überstrapaziert, und die Hilfsmittel kämen nur mit Verzögerung bei den notleidenden Adressaten an. Lichtenberger:

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»Nahrungsmittelhilfe hat auch einen propagandistischen Zweck: Schwer beladene Frachtflugzeuge, Berge aus Maissäcken, aus Trockenfischbündeln, aus Speiseölfässern zeigen deutlich die wirtschaftliche Macht unseres Gesellschafts­systems. Sie dokumentieren die Vorzüge unseres Gesellschaftssystems wirkungsvoller als jeder Propagandafilm.« Seit einigen Jahren stellt wenigstens die Europäische Union Gelder bereit, um Überschüsse in Afrika aufzukaufen und innerhalb des Kontinents in Notstandsgebiete zu befördern.171 Ein Fortschritt immerhin.

 

    Mit Katastrophenhilfe Katastrophen auslösen    

 

Auch wenn alle Anzeichen dafür sprechen und wenn man nicht anders vorgehen dürfte, wollte man die nationalen Wirtschaften »armer« Länder nachhaltig vernichten, es handelt sich nicht um eine Verschwörung. Gewiß hat es auch falsches Spiel und nationale Egoismen gegeben, als es darum ging, Ländern der Dritten Welt den Weg ins Entwicklungsparadies zu weisen. Aber das ist nicht das Erschütternde an der zwischenzeitlich herbeientwickelten Dauerkatastrophe, und das macht die Lage nicht so aussichtslos. Nein, oft in bester Absicht verwandelten die Experten des Nordens das karge Leben der Menschen im Süden in ein Jammertal aus Armut und Hunger. Denn unsere Hilfe zerstört mehr, als sie hilft. 

Wir ersparen den Regierungen von Dritte-Welt-Ländern das Nachdenken über grundlegende Umstruktur­ierungen, und die Unterdrücker können Militär und Polizei ernähren und die Menschen ruhig halten. Der Verkauf von billigen Lebensmittelimporten beruhigt die Massen und füllt das Staatssäckel meist korrupter Diktaturen oder Pseudodemokratien. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Brigitte Erler, berichtet in ihrem aufregenden Buch »Tödliche Hilfe« aus Bangladesh, daß die dortige Regierung gar nicht daran interessiert war, daß das Land sich selbst mit Nahrungsmitteln versorgen könne. Sie unterhält sogar ein Nahrungsmittelministerium, um die Importe zu verwalten.

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Die bundesdeutschen Nahrungsmittellieferungen verwandelten sich zumindest in sozialliberalen Zeiten teilweise in kostenlose Rationen für Soldaten und Polizisten.172

Aber selbst wo Nahrungsmittel nicht dazu dienten, die Unterdrückung aufrechtzuerhalten, machte die Entwicklungspolitik aus genügsamen Dorfbewohnern, aus Bauern und Handwerkern, Millionen von Arbeitslosen im Elend. Der Anteil der »ordentlich« Beschäftigten liegt in Schwarzafrika bei höchstens 15 Prozent.173 Ohne den Drang des Nordens und der mit ihm verbündeten Eliten in vielen Entwicklungs­ländern, die Dritte Welt in die Weltwirtschaft zu integrieren, würde es die heutigen Katastrophen nicht geben. Nicht die grauenhaften Bilder von Bürgerkrieg und Flüchtlingslagern, nicht das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts endlosen Elends.

Ja, das Leben der Menschen vor ihrem erzwungenen Eintritt in die Weltwirtschaft war meist hart, es gab Armut und Hunger, aber das Leid war begrenzt. Die Menschen konnten damit umgehen. Heute versinkt ein ganzer Kontinent in Hoffnungslosigkeit. Millionen von Menschen haben jeden Halt und ihr Selbstbewußt­sein verloren, sie sind zu Almosenempfängern verkommen, und die großzügigen »Geberländer« sprechen abfällig von einem Faß ohne Boden.

Johann Galtung beklagt, daß die Entwicklungshilfe dazu beigetragen hat, die Infrastruktur für eine auf Exporte in den Norden orientierte Wirtschaft in großen Teilen der Dritten Welt aufzubauen. Er nennt dies zu Recht »Unterentwicklungshilfe«.174 Der Generalsekretär von amnesty international Äthiopien, Mesfin Wolde-Miriam, kritisiert die staatliche Entwicklungshilfe des Westens als von einseitigen Interessen bestimmt: »Die Entwicklungsvorschriften sind in Wirklichkeit eine Förderung dessen, was internationaler Handel genannt wird, und betreffen die Güter und Dienstleistungen der Geberländer.« Entwicklung definiert er als »einen unfreiwilligen Prozeß«, der den Ländern der Dritten Welt aufgepfropft worden sei durch Kräfte, die weitgehend von außen kommen. »Die Institutionalisierung von Nahrungsmittelabhängigkeit ist nur ein Beweis für das Fehlen des Wunsches, die Ursache statt der Symptome zu bekämpfen.«175

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Für die Unternehmen der Industriestaaten ist Afrika wie viele andere Entwicklungsländer längst abgeschrieben. Von den 200 Milliarden deutscher Direktinvestitionen im Ausland 1990 flossen etwa fünf bis sechs Prozent in Entwicklungsländer, erklärt Matthias Kleinen, der Pressechef von Daimler-Benz.176 Vor allem um Afrika südlich der Sahara hatte das private Kapital schon in den achtziger Jahren einen großen Bogen gemacht. Bank- und Exportkredite wurden zur Mangelware, vor allem für die ärmsten Länder.177

Vielleicht denken die Experten aus dem Norden und ihre Regierungen über unabweisbare Tatsachen einmal nach, statt weiter dem entwicklungspolitischen Aktionismus zu frönen. Vielleicht halten auch die Hilfsorganisationen einmal inne in ihrem Wettbewerb um Spendengelder. Welchen Sinn soll es haben, mit der Katastrophenhilfe von heute die Katastrophe von morgen auszulösen, bis das Ende der einen nur noch der Auftakt der nächsten ist?

 

    Entwicklungshilfe als Exportförderung   

 

Brigitte Erler berichtet von einem Gespräch des damaligen Entwicklungshilfeministers Claus Offergeld (SPD) mit Vertretern des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). »Da können wir uns mit einem fettigen Tuch den Mund abwischen!« freute sich ein Unternehmer über die rosigen Aussichten, die die »Lieferbindung« des Ministeriums der deutschen Industrie bescherte. In jeder Vorlage für ein Entwicklungs­hilfeprojekt mußte nämlich die Beschäftigungs­wirksamkeit für die Bundesrepublik nachgewiesen werden. Trotz zum Teil überhöhter Preise erhielten bundesdeutsche Firmen gewinnträchtige Aufträge auf Kosten des Entwicklungshilfeetats. Im Schnitt wurden die Projekte zwanzig Prozent teurer als bei der Vergabe durch eine internationale Ausschreibung.178

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Aber schon zuvor funktionierte die bundesdeutsche Entwicklungshilfe als Exportförderung zu Lasten der Dritten Welt und der einheimischen Steuerzahler. Im Jahr 1980 beispielsweise sammelte die westdeutsche Industrie Aufträge aus Entwicklungs­hilfegeldern in Höhe von acht Milliarden Mark. Jeder Mark öffentlicher Entwicklungshilfe stand damit 1,25 Mark gegenüber, die an die Industrie in der BRD zurückfloß. An den falschen Proportionen hat sich bis heute nichts geändert. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 1992 für Grundschulbildung, sauberes Trinkwasser und Ernährungsprogramme gerade zehn Prozent der internationalen Entwicklungshilfe ausgegeben.179

Ein hoher Prozentsatz der Entwicklungshilfe ist gebunden an die Beschaffung von Produkten, Dienstleistungen und den Einsatz von Experten aus den Geberländern. Im Jahresbericht 1992 des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit heißt es dazu lapidar: »Angesichts der auf dem deutschen Arbeitsmarkt vorhandenen Probleme achtet die Bundesregierung in allen entwicklungs­politisch geeigneten Fällen darauf, daß Anbieter aus der Bundesrepublik Deutschland entsprechend berücksichtigt werden, ohne die Prinzipien des internationalen Wettbewerbs zu vernachlässigen.«180 So harmlos können Ministerialautoren schildern, wie sie Milliarden in den Sand setzen.

Entwicklungshilfe ist in hohem Maße gleichbedeutend mit vom Steuerzahler finanzierter Gewinnsubvention für Privatunternehmen. 1988 etwa flossen Entwicklungshilfegelder in folgenden Anteilen an die Absenderländer zurück: Australien — 58 Prozent, Bundesrepublik Deutschland — 60 Prozent, Kanada — 76 Prozent, USA — 82 Prozent, Großbritannien — 90 Prozent. Kritiker schätzen, daß die Zweckbindung von Hilfsgeldern die Kosten für die Empfängerländer um 25 bis 30 Prozent erhöht.181

Ein Ministerialdirektor des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit plauderte dereinst aus dem Nähkästchen und wußte Denkwürdiges zu berichten darüber, nach welchen Grundsätzen Entwicklungs­hilfegelder vergeben werden. Danach verlaufen die Verhandlungen zwischen Regierungs­vertretern eines Industrie­staats und eines Entwicklungslandes nicht selten so ab:

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Den Präsidenten des Dritte-Welt-Landes verlangt es nach einem Flughafen, der Vizepräsident wünscht sich ein Krankenhaus für seine Heimatprovinz, der Finanzminister verweist auf einen fehlenden Rechner in seinem Ressort, und der Staatssekretär regt an, seinem Sohn ein Stipendium an einer deutschen Universität zu verschaffen. Dazu packt der Bonner Regierungsvertreter noch ein Projekt für Frauen, kleine Bauern oder die Trinkwasser­versorgung, damit er nachweisen kann, daß er sich an das »Grundbedürfniskonzept« seines Ministeriums hält. Am Ende kommt heraus, daß nach den Gebern die herrschende Schicht des Entwicklungs­landes vom Steuergeld aus Deutschland profitiert, und für die Armen fällt ein Brosamen ab.182

 

In den nach wie vor gültigen »Grundlinien der Entwicklungspolitik« von 1986 wird festgestellt: »Deutsche Entwicklungspolitik ist vorrangig auf die armen Bevölkerungsschichten ausgerichtet.«183 Der Duisburger Politologe Franz Nuscheler hat die bundesdeutsche Vergabepraxis bei der Entwicklungshilfe untersucht und herausgefunden, daß diese wohlklingende These der Wirklichkeit nicht standhält. Statt dessen sei die Vergabe geprägt von den Exportinteressen deutscher Unternehmen und deren Bevorzugung von Großprojekten. Hinzu kommen laut Nuscheler Organisationsdefizite in der Verwaltung und der Hang von Dritte-Welt-Eliten zu Prestigeobjekten.184) Es darf bezweifelt werden, daß die Produkte und die Leitbilder der deutschen Industrie zweckmäßig sind unter den Bedingungen der Dritten Welt. Und wie sich die offiziell zum Ziel gesetzte Armuts­bekämpfung verwirklichen lassen soll, solange es darum geht, Technik aus Deutschland zu verkaufen, steht in den Sternen.

Mitte der achtziger Jahre wuchsen im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit angesichts deftiger Fehlschläge Keime der Selbstkritik. Es gestand ein, Projekte an Zielgruppen vorbeigeplant zu haben und zu technikfixiert vorgegangen zu sein. Mit der Bevölkerung vor Ort sei oft gar nicht gesprochen worden, und sie sei an Planung und Durchrührung nicht beteiligt worden.

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Bei kaum einem Agrarprojekt in einem arabischen Land besitzen die Experten genügend Sprachkenntnisse, um mit den Bauern zu reden. Die Gutachter des Ministeriums kamen bei der Untersuchung von 42 Projekten nur bei 9 zu dem Ergebnis, daß die Zielvorgaben als »realistisch und inhaltlich klar« bezeichnet werden könnten. In 20 Fällen notierten sie deutliche Mängel bei der Planung, wohingegen es bei der Durchführung bessere Noten gab.185

Von geradezu bestürzender Eindeutigkeit ist eine Untersuchung des Schweizer Entwicklungsexperten Toni Hagen ausgefallen.186 Er spricht von einem »Experimentieren an der Dritten Welt«. Er hat 230 Entwicklungsprojekte ausgewertet und kommt bei einer überwiegenden Mehrheit zu klaren Resultaten: Lediglich 76 Projekte, also ein Drittel, stuft er als »erfolgreich« oder »sehr erfolgreich« ein, 42 Projekte dagegen als »schädlich« oder »sehr schädlich«, den Rest als »nutzlos«, »fragwürdig« oder mit »geringer Wirkung«.187) Ein Wirtschaftsunternehmen, dem man eine solche Bilanz nachweisen könnte, wäre längst bankrott. Aber hier geht es nur um Menschen in fernen Ländern.

Collins und Lappé haben in sieben Punkten zusammengefaßt, welche Kriterien an Hilfsprojekte angelegt werden sollten. Zunächst ist zu fragen, wer das Projekt durchführt: Ging die Initiative von den Betroffenen selbst aus, oder stand am Anfang die Idee einer Hilfsorganisation? Konzentriert sich das Projekt ausschließlich auf technische Belange, oder bezieht es auch die sozialen und politischen Verhältnisse mit ein? Stärkt es Privilegien von Mächtigen, oder fördert es, daß bislang Machtlose Macht gewinnen? Hemmen ausländische Experten Anstrengungen von Einheimischen, oder unterstützt das Projekt Bestrebungen zur Demokratisierung und Selbstversorgung? Kann das Projekt mit örtlichen Mitteln durchgeführt werden, oder begünstigt es die Abhängigkeit von ausländischen Produkten und fremdem Know-how? Ermutigt das Projekt zum Widerstand gegen die Ausbeutung durch einheimische oder ausländische Mächte, oder paßt es die örtlichen Bedingungen fremden Bedürfnissen an?

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Wird der Erfolg von Außenstehenden nach deren Kriterien gemessen, oder ist der Ausgang des Projekts offen, während die Einheimischen es nach ihren Maßstäben bewerten und entwickeln?188 So einfach und vernünftig diese Fragen sind, so offenkundig ist es, daß den ihnen zugrunde liegenden Intentionen selten Rechnung getragen wird.

Ein anderer denkwürdiger Effekt kommt dazu: 

In den Industriestaaten finanzieren die Mittelschichten etwa zwei Drittel der staatlichen Entwicklungshilfe über ihre Steuern. Diese Gelder kommen in erster Linie nicht den Armen, sondern den Wohlhabenden der Dritten Welt zugute, die meist reicher sind als die Mehrheit der Steuerzahler im Norden. Selbst im Nord-Süd-Verhältnis funktioniert die Umschichtung des globalen Wohlstands zugunsten der Reichen. Ganz grotesk wird es, wenn die Eliten in Dritte-Welt-Ländern sich darauf verlegen, gesellschaftliches Eigentum zu privatisieren und ins Ausland zu verlegen. Dann sind Entwicklungshilfegelder das Schmiermittel, um den Umverteilungsapparat am Laufen zu halten. Oft genug steht einer horrenden staatlichen Auslandsverschuldung ein nicht weniger horrendes privates Vermögen weniger Reicher im Ausland gegenüber. Venezuela zum Beispiel hatte bis 1982 Auslandskredite in Höhe von 34 Milliarden Dollar angehäuft, das private Auslandsvermögen betrug gleichzeitig 54 Milliarden.189

Damit kein Mißverständnis aufkommt: 

Es ist keineswegs das Ziel der Entwicklungspolitik, parasitäre Eliten in Entwicklungs­ländern reicher zu machen. Aber es ist das Ergebnis einer Politik, die an den sozialen Strukturen nichts ändern will — und vielleicht auch nicht kann. Die sozialen Strukturen sind der Verteiler für alle Einkommen, stammen sie aus Arbeit, Unternehmensprofiten, Importerlösen oder der Entwicklungshilfe.

Selbst auf niedrigster Ebene, in Dörfern oder Stadtvierteln, erweisen sich Machtstrukturen als äußerst resistent gegen Versuche von außen, sie im Interesse der Armen aufzubrechen. 

Brigitte Erler beschreibt aus eigener Erfahrung, daß oft jahrelange Bemühungen von Experten an versteinerten Verhältnissen scheitern, weil die Einflußreichen ihre Position mit aller Kraft verteidigen. Selbst dort, fernab jeder Regierung, zementiert die Entwicklungshilfe mit ihren Projekten die Machtstellung der ohnehin schon Mächtigen.190

Brigitte Erler spricht von »einer perfekten Interessenidentität« zwischen der Industrie aus den Geberländern und den Bereicherungs- und Macht­erhaltungs­interessen der Empfängerländer. 

Sie verweist darauf, daß etwa in Bangladesh, einem der ärmsten Länder der Erde, die Reichen praktisch keine Steuern zahlen, sondern sich im Schutz der herrschenden Militärs weitgehend davor drücken können. Mitte der achtziger Jahre zahlten von 90 Millionen Einwohnern191 offiziell lediglich 400.000 Steuern, und dies meist nur auf dem Papier. 

In Pakistan wird der riesige Feudalbesitz nicht besteuert. Entwicklungs­hilfezahlungen werden auf die entsprechenden Provinzetats angerechnet. Wird mit ausländischem Geld ein Krankenhaus gebaut, so wird der Provinzhaushalt um die entsprechende Summe gekürzt. Alle staatlichen Einnahmen kommen in einen großen Topf, und daraus werden dann Schulen finanziert, aber auch das Militär.

Folgt man den Zahlen der Weltbank, so würde bei Entwicklungsländern mit mittlerem Einkommen eine 2%ige Besteuerung der wohlhabendsten 20% einen Gesamtbetrag ergeben, der so groß ist wie die derzeitigen Entwicklungs­hilfeleistungen durch Industriestaaten.192

Aber dies wäre ein Eingriff in die politischen und sozialen Verhältnisse, eine Verletzung der Souveränität fremder Staaten. Die Frage, die sich aufdrängt, ist nur, welcher Sinn darin bestehen soll, marode und korrupte Regimes zu stützen und dies als Entwicklungshilfe zu bezeichnen. Es wird viel diskutiert über den Sinn und Unsinn der Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), die in vielen Schuldnerstaaten brachiale Einschnitte ins soziale Netz bewirkt haben. 

Vielleicht sollte man in den internationalen Kreditinstituten darüber nachdenken, wie man die diktatorischen oder pseudodemokratischen Regimes und ihre Klientel in Dritte-Welt-Staaten daran hindert, das eigene Volk auszuplündern und ungeheure Summen auf ausländischen Konten zu horten. Auflagen, die diesem Ziel verpflichtet sind, dürften nur bei den Betroffenen auf Unwillen stoßen. Dazu zählen die Banken im Norden, die davon profitieren, daß diese Vermögen in ihren Tresoren und Schließfächern deponiert werden.

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Von Christian von Ditfurth 1995