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7   Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

 

Stalin und Thälmann

 

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"Kann ich einen Vorschlag machen? Ich möchte Sie nicht ausnutzen, ich kann Ihnen kein Honorar zahlen. Schreiben Sie mir doch mal etwas für die Zeitschrift <Antifa> zu der Fragestellung <War Stalin ein Antifaschist?>", forderte mich Fred Löwenberg auf. Ich fand die Idee gut und war einverstanden. Aber leider habe ich den Artikel nie geschrieben. 

Irgend jemand im Karl-Liebknecht-Haus hatte mir den Tip gegeben, als ich mich nach einem interessanten Gesprächspartner zum Thema Antifaschismus in der PDS erkundigte: "Rede mal mit Fred Löwenberg. Der hat eine Menge zu erzählen." Der Tip war goldrichtig. Ich treffe Fred Löwenberg im ehemaligen Redaktionsgebäude des "ND", fünf Gehminuten entfernt vom Berliner Hauptbahnhof — der alles mögliche ist nur nicht Haupt. 

Ein riesiger Plattenbaukasten beherbergte bis Mai 1995 das einheitssozialistische Zentralorgan, das Eingangsfoyer eine deprimierende Mischung aus Plaste und Beton, verblichene Farben, verschlissene, zersessene Polster, schmuddelig. Die Gänge sind lang und dunkel, und überhaupt gleicht der ehemalige Sitz des SED-Zentralorgans eher einem Zementlabyrinth als einer Stätte, aus der sich die unendliche Weisheit des Politbüros, besonders seines Generalsekretärs, über das vom Joch der Ausbeutung durch das Kapital befreite Volk ergoß. 

Hinter einer von hundert gleichen Türen erwartet mich Fred Löwenberg, schlank, fast schmächtig, in Jeans und Schlips, weißhaarig, mit Brille, aber, wie bald merke, ganz anders als die weißhaarigen Herren, die ich sonst sooft treffe. Nach freundlicher Begrüßung gibt es Hagebuttentee. 

Löwenberg, "jüdisch versippt", wurde 1924 in Breslau geboren. Eigentlich heißt er nicht Fred, sondern Ferdinand, nach Lassalle, dem Urvater der deutschen Sozialdemokratie, der ganz unproletarisch in einem Duell umkam.

Großeltern und Eltern waren Sozialdemokraten, ein Onkel, Ernst Eckstein, zählte in der Weimarer Republik zu den Gründern der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), der auch Willy Brandt angehört hatte. Die SAP, eine Linksabspaltung von der SPD, forderte die Einheit der Arbeiterbewegung gegen den aufkommenden Nationalsozialismus.

Eckstein, "Anwalt der Armen", wurde im Mai 1933 von den Nazis ermordet, und Fred Löwenberg erinnert sich, wie Tausende von Menschen sich von der SA nicht davon abhalten ließen, an der Beisetzung des Onkels auf dem jüdischen Friedhof in Breslau teilzunehmen.185

Eine Berufsausbildung wurde Löwenberg in der Nazizeit verwehrt. Der Hilfsarbeiter organisierte sich bald in einer jugendlichen Widerstandsgruppe, die sich zunächst vor allem für Swing und Jazz begeisterte, für "Niggermusik", wie die Nazis sagten. Die politische Aktivität war "eher bescheidener Natur". Es bewahrte ihn Ende 1942 nicht vor der Einlieferung ins KZ Buchenwald. Dort rettete ihn ein "roter Kapo", Robert Siewert, vor der Verschickung nach Auschwitz. Die "roten Kapos" gehörten zur KPD-Organisation im KZ Buchenwald und hatten als Hilfskräfte der SS einen großen Einfluß auf das Lagerleben. (Nachdem seit 1989 auch diesbezügliche Akten zugänglich geworden sind, geriet die KPD-Lagerleitung wegen fragwürdiger Entscheidungen in die Kritik.) Fred Löwenberg las in Buchenwald zum erstenmal Werke von Thomas und Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger.

Nach der Befreiung wurde Löwenberg Mitglied der Münchener SPD. Gleichzeitig war er stellvertretender Kreisvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Weil die VVN unter kommunistischem Einfluß stand, wurde er 1950 aus der SPD ausgeschlossen. Er stieß zur Sozialistischen Aktion, einer Gruppe einstiger Sozialdemokraten, die die SPD "im Geiste August Bebels" erneuern wollten.

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Weil die Sozialistische Aktion Kontakte zur SED pflegte, darunter zu Löwenbergs einstigen Genossen aus dem KZ Buchenwald, wurde er wegen "Geheimbündelei" angeklagt und zu neunzehn Monaten Haft verurteilt. Als die SPD sich 1959 mit dem Godesberger Programm vom Sozialismus verabschiedete und Herbert Wehner 1960 im Bundestag die Außen- und Sicherheitspolitik Konrad Adenauers anerkannte, verlor Fred Löwenberg seine Illusionen in die Sozialdemokratie. Fortan arbeitete er für die 1956 verbotene KPD. 1969 siedelte Löwenberg schließlich nach Ostberlin über, wo er schon während der Zeit der illegalen Arbeit für die KPD eine Wohnung hatte. Er wurde Redakteur der Zeitschrift "Die Wirtschaft" und wirkte als Mitglied des Internationalen Buchenwaldkomitees, in dem sich ehemalige Häftlinge des KZ zusammengeschlossen hatten. Als Antifaschist trat er bei Jugendweihe und FDJ-Veranstaltungen auf, die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse "Urania" gewann ihn als Referenten für internationale Fragen. In der SED hatte er keine Funktionen, sie waren Zugezogenen versperrt. 

Nach der Wende 1989 hat sein jüngster Sohn gefragt: "Sag mal, Vater, ich hab' gehört, du warst so mutig in der Nazizeit. Warum warst Du eigentlich so feige bei der SED als Antifaschist?"

"Die Frage hat mir verdammt weh getan", erinnert sich Löwenberg. "Aber es hat für mich keine Alternative gegebenen zu dieser Art von Sozialismus. Es gab nirgendwo einen besseren Sozialismus — weder in der Sowjetunion noch in Schweden. Wir fühlten uns als Parteisoldaten. Wir glaubten: Wenn wir unserem Land den hundertprozentigen Einsatz verweigern, arbeiten wir dem Gegner in die Hand. Wir haben manches mitgemacht, was uns selber nicht gefallen hat." 

Ich frage Löwenberg: "War Stalin ein Antifaschist?"

"Das hat mich noch keiner gefragt." Nach kurzem Nachdenken: "Vom Ergebnis seiner Politik her nicht. Jeder Sozialist und jeder Kommunist muß Antifaschist sein. Wenn ich Stalin als Kommunisten werte, nein. Stalin war für mich aus heutiger Sicht kein Antifaschist. Er war skrupelloser Machtpolitiker. Er.....

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"War Ernst Thälmann — der Führer der KPD bis 1933 — Antifaschist?" - "Ich lasse auf den Antifaschisten Thälmann nichts kommen. Denn er hat alle Fehler, die er gemacht haben soll und wird - auch unter Moskauer Druck — als Antifaschist gebüßt. Er ist konsequent geblieben. Rosa, seine Witwe, hat bei mir gewohnt. Wir wissen, wie Thälmann monatelang gequält wurde und sich selber gequält hat. Ich habe jetzt den Auftrag, bei den Jungsozialisten zu sprechen über Haltung der Arbeiterklasse zum Faschismus 1933 und später. Ich habe Angst vor dem Thema."

Dann kommt Fred Löwenberg auf meine Frage nach Stalin zurück: "Stalin war für mich aus meiner heutigen Sicht kein Antifaschist. Er war ein skrupelloser Machtpolitiker, der an der Seite Lenins den Krieg geführt hat zur Herausbildung der Sowjetunion. Aber sein Verhältnis zum Faschismus hat er opportunistisch bestimmt. Von seinem Machtdenken aus. Den Krieg hat er zuerst geführt gegen die eigenen Leute."

 

   Stalinistischer Pseudosozialismus  

 

Das ist das richtige Wort: Krieg. Genauer: ein Ausrottungskrieg gegen die eigenen Genossen186 und das eigene Volk. Niemand hat mehr Kommunisten umgebracht als der Kommunist Stalin. Seine Opferbilanz ist nur mit der Hitlers vergleichbar. Die Geschichte kennt sonst keine Blutbäder auch nur ähnlichen Ausmaßes. 

Stalin ist der eigentliche Gründer der SED und der DDR. Und in gewisser Hinsicht auch der PDS. Denn das erste, was die neue Partei auf ihrem Gründungsparteitag, der gleichzeitig der letzte Parteitag der SED war186, tat, war, sich vom Stalinismus loszusagen. Gregor Gysi, der auf diesem Parteitag zum Vorsitzenden gewählt wurde, erklärte: "Wir brauchen einen vollständigen Bruch mit dem gescheiterten stalinistischen, das heißt administrativ-zentralistischen Sozialismus in unserem Lande." 

Der Arbeitsausschuß, der nach dem Rücktritt von ZK und Politbüro der SED amtierende Interimsvorstand der SED zur Vorbereitung des Parteitags, formulierte: "Nur der radikale Bruch mit den stalinistisch geprägten Grundstrukturen der SED kann jenen in unserer Partei, die sich für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft einsetzen, eine neue politische Heimat geben." Und Michael Schumann sagte für den Arbeitsausschuß in seiner Parteitagsrede: "Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System."188

Diese Äußerungen und die Ergebnisse des Parteitags wurden bald in dem Stichwort "anstistalinistischer Grundkonsens" zusammengefaßt. Stalinismus umfaßt eben nicht nur den Stalinschen Terror, die körperliche und geistige Vergewaltigung, sondern auch die Strukturen, die er hinterließ.

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Kaum einer der 2870 Delegierten bezweifelte die Tatsache, daß die Diktatur der eigenen Partei von Stalin geprägt worden war. 

Der Parteitag widmete sich auch den Opfern des Stalinismus, allerdings nur denen der eigenen Partei. Der Parteitag entschuldigte sich beim Volk der DDR für die Vergehen der Führung und legte damit schon den Grundstein für die Rechtfertigungsthesen künftiger Tage. Denn die Genossen Parteitagsdelegierten, die alle für einen regulären SED-Parteitag nominiert worden waren, waren fast durchweg treue Ausführungsgehilfen der Politbürokraten gewesen. Keine Diktatur gelingt ohne willige Helfer. Es ist ein uraltes Verfahren, die Verantwortung an die geschaßte Führung zu delegieren, wenn die Diktatur gestürzt wird. Auch in dieser Beziehung sind Marxisten-Leninisten ganz normale Menschen. 

Aber bei allen Schwächen, liest man heute noch einmal die Dokumente dieses außerordentlichen SED-Parteitags vom Dezember 1989, kommt man aus dem Staunen kaum heraus. So referierte Gysi unter dem Beifall der Genossen, daß die Partei die "modernen Errungenschaften" der BRD zu schätzen wisse. Ob er mit solchen Aussagen heute noch einen Parteitag begeistern könnte? Kaum. 

Damals aber waren die SED-Genossen dankbar für alles, was anders war als der "stalinistische Pseudo­sozialismus". Sie griffen neue Ideen willig auf, suchten an ihnen Halt auf wankendem Boden. Weit über den Kreis der Parteitagsdelegierten hinaus waren viele SED-Mitglieder verwirrt und vom Scheitern ihres Systems so sehr beeindruckt, daß sie zunächst die Reformer unterstützten.188 Und so konnten Ideen Mehrheiten gewinnen, die heute keine Mehrheiten mehr haben. Das gilt besonders für die Arbeiten der "Sozialismusprojekt"-Gruppe an der Berliner Humboldt-Universität um Dieter Klein, Rainer Land und die Brie-Brüder.

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Statt für den Stalinismus sollte die neue Partei nun für einen modernen Sozialismus kämpfen, einen Sozialismus, der sich auf demokratische Institutionen stützte, wie sie in den Gesellschaften des Westen entstanden waren. (Dazu später mehr.) 

Demokratisierung war der zentrale Begriff. Damals steuerte auch Uwe-Jens Heuer Gedanken bei, die über das Bestehende hinausgriffen. In Abgrenzung zur Diktatur sollte der neue Sozialismus vor allem demokratisch sein. Alles andere, vor allem die Frage nach dem Eigentum, stand im Raum - und blieb bis heute dort stehen.189 

 

   Gossweilers Blutrede   

 

Inzwischen aber kann die PDS-Führung auf Parteitagen kaum noch durchsetzen, daß Stalinismus unvereinbar sei mit den Positionen der PDS, auch wenn sie ihre ganze Autorität in die Waagschale legt.190 Es ist in der PDS mittlerweile sogar ungestraft möglich, Stalin zu feiern. So sorgte eine unglaubliche Rede des Historikers Kurt Gossweiler bei einem Kommunistentreffen in Brüssel am 1. Mai 1994 nur für kurzes Aufsehen (siehe Kasten). Gossweiler hat sich bis heute nicht von seinen Äußerungen distanziert. Nicht davon, daß bei den Moskauer Schauprozessen alles mit rechten Dingen zugegangen sei. 

Nicht davon, daß bei Revolutionen eben Köpfe rollen (was ja auch Sahra Wagenknecht ganz in Ordnung findet). Nicht davon, daß Gorbatschow und überhaupt alle Abweichler vom Marxismus-Leninismus nur durchführen wollten, woran man Nikolaij Bucharin und die anderen Opfer Stalins erfolgreich gehindert habe. Per Genickschuß im Keller der Lubjanka, des Gefängnisses des sowjetischen Staatssicherheits­dienstes. Unausgesprochen klingt in Gossweilers Äußerungen mit, daß auch die heutigen Abtrünnigen ein solches Schicksal verdient hätten. 

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Mehr als zwei Jahre lang blieb Gossweilers Blutrede "unentdeckt". Als aber André Brie sie in die Hände bekam, sprach er Klartext: "Sollte Kurt Gossweiler PDS-Mitglied sein, dann gehörte er ausgeschlossen."191

Kurt Gossweiler ist Mitglied der PDS. Der Skandal besteht aber nicht darin, daß er Mitglied ist, sondern daß er Mitglied geblieben ist und bleiben wird. Gossweiler bekannte sich nicht nur zu Rede und Mitgliedschaft, sondern konterte Bries Angriff auch mit der Bemerkung, dieser wolle so seinen Kurs schneller durchsetzen, der "die Partei kaputt machen" müsse. "Wenn A. Brie nun durch seine Ausschluß­forderung dieses selbstzerstörerische Provozieren auf die Spitze treibt, dann sind Mitgliedschaft und Bundesvorstand gefordert, dem ein entschlossenes Halt entgegenzusetzen." 

Gossweiler wittert "die Absicht zu einer Spaltung der PDS und einen indirekten Appell an die Gegner der Partei (...), diese Spaltung mit ihren Mitteln zu erleichtern".192 Hier entdecken wir einmal mehr den stalinistischen Dreh, kritische Positionen in der Partei als Stützpunkte des politischen Gegners zu "entlarven". Stalins Staatsanwalt Wyschinski war auf diesem Gebiet ein unübertroffener Experte. Offenbar hat er gelehrige Schüler.

 

Aus einer Rede des Historikers Kurt Gossweiler, PDS-Mitglied, am 1. Mai 1994.194

Einige sind der Überzeugung, die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder Europas — Albanien ausgenommen — seien seit dem XX. Parteitag überhaupt keine sozialistischen, sondern staatskapitalistische Länder gewesen (...). 

Andere wieder sehen — wie es ihnen seit dem XX. Parteitag und seit Gorbatschow mit wachsender Intensität erzählt wurde — in Stalin den Verderber des Sozialismus, weshalb sie erklären, mit "Stalinisten" könne es keine Gemeinsamkeit geben. 

Auf dieser Position stehen die meisten Organisationen, die sich nach dem Zerfall der kommunistischen Parteien aus deren Trümmern gebildet haben, und zwar nicht nur jene, die sich nunmehr offen als 

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sozialdemokratische Parteien bekennen, sondern auch die Mehrzahl jener, die sich als kommunistische Parteien verstehen, und auch die zwischen diesen beiden manövrierende PDS. Der Antistalinismus ist heute tatsächlich das größte Hindernis für den Zusammenschluß der Kommunisten, wie er gestern der Hauptfaktor der Zerstörung der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Staaten war. (...)

Das bei weitem wirkungsvollste Element des Antistalinismus ist die Darstellung Stalins als eines machtgierigen Despoten, als eines blutdürstigen Mörders von Millionen Unschuldiger. Dazu wäre sehr viel zu sagen. Hier in Kürze nur folgende Anmerkungen: Erstens: Man mag das zutiefst bedauern, aber es ist eine Tatsache, daß noch niemals eine unterdrückte Klasse das Joch der Unterdrückerklasse abgeworfen hat, ohne daß ihr revolutionärer Befreiungskampf und die Abwehr der konterrevolutionären Restaurationsversuche auch das Leben vieler Unschuldiger gekostet hat. Zweitens: Noch immer hat die Konterrevolution diese Tatsache dazu benutzt, die Revolutionäre in den Augen der Massen zu verabscheuungswürdigen Verbrechern, zu Mördern und Blutsaugern zu stempeln: Thomas Müntzer, Cromwell, Robespierre, Lenin, Liebknecht, Luxemburg. 

Drittens: Nur blinde Voreingenommenheit kann den kausalen Zusammenhang übersehen oder leugnen, der zwischen dem Machtantritt des deutschen Faschismus sowie dessen von den westlichen Siegermächten wohlwollend geforderter Aufrüstung und Ermunterung zur Expansion gen Osten hier und den Moskauer Prozessen sowie den repressiven Maßnahmen gegen Ausländer, die ausländischen Emigranten eingeschlossen, dort bestand. Berthold Brecht sah diesen Zusammenhang sehr wohl, als er formulierte: "Die Prozesse sind ein Akt der Kriegsvorbereitung." Noch exakter formuliert: sie waren eine 

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Antwort auf die faschistisch-imperialistische Vorbereitung zum Überfall auf die Sowjetunion. Ohne die Gewißheit des früher oder später erfolgenden faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion keine Moskauer Prozesse und keine drakonischen "Säuberungen" zur Verhinderung einer Fünften Kolonne im Lande. 

Viertens: Nur politisch Blinden oder sehr Naiven blieb verborgen, daß die Chruschtschow und Gorbatschow bei ihren Anklagen gegen Stalin gar nicht von Gefühlen des Abscheus gegenüber Unrecht und Unmenschlichkeit geleitet waren; wäre dem so gewesen, dann hätten sie den Imperialismus und seine Exponenten mindestens mit der gleichen Unversöhnlichkeit attackieren müssen, die sie Stalin gegenüber an den Tag legten. Das Gegenteil aber war der Fall: der hervorstechendste Zug ihrer Politik war die Vertrauenswerbung für den Imperialismus, trotz dessen blutiger Verbrechen an der Menschheit! 

Fünftens: Im krassen Gegensatz zu dieser Haltung steht die Tatsache, daß selbst der diplomatische Vertreter der imperialistischen Hauptmacht, der Botschafter der USA, Joseph A. Davies, Stalin eine positive Bewertung zuteil werden läßt, daß aber diese und andere in gleiche Richtung gehende positive Äußerungen von Zeitzeugen über die Sowjetunion seit dem XX. Parteitag in der Sowjetunion unterdrückt wurden. (...) Taten diejenigen, die - wie Chruschtschow und Gorbatschow - nachträglich die in den Prozessen Verurteilten zu unschuldigen Opfern erklärten, dies nicht vielleicht deshalb, weil sie mit diesen sympathisierten oder gar ihre heimlichen Komplizen waren und weil sie deren damals gescheiterte Sache zu Ende führen wollten? Und wenn wir dann bei genauerer Betrachtung ihrer (der Chruschtschow und Gorbatschow und ihresgleichen) politischen Tätigkeit feststellen müssen, daß sich die Geständnisse der Angeklagten der Moskauer Prozesse über ihre Absichten und Ziele und der zu ihrer 

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Erreichung angewandten Methoden wie das Drehbuch zu ihrem - Chruschtschows und insbesondere Gorbatschows - Wirken liest, dann legt das einen doppelten Schluß nahe: Zum einen den, daß die Moskauer Prozesse als Schüssel dienen können für die Erhellung und Entschlüsselung dessen, was seit dem XX. Parteitag der KPdSU die Sowjetunion, die anderen sozialistischen Länder und die kommunistische Bewegung auf die abschüssige Bahn geführt hat; und zum anderen den, daß das Wirken der Chruschtschow und Gorbatschow und dessen Ergebnis den Rückschluß zuläßt, daß es sich bei den Moskauer Prozessen eben nicht um Inszenierungen von Schauprozessen gehandelt hat, sondern daß in diesen Prozessen Komplotte der gleichen Art aufgedeckt und vereitelt wurden, wie sie von Gorbatschow schließlich zum bereits damals geplanten Ende geführt werden konnten, weil ihm kein Moskauer Prozeß mehr Einhalt gebot.

Aus einer Rede des Historikers Kurt Gossweiler, PDS-Mitglied, am 1. Mai 1994.194

 

   Neubeginn auf tönernen Füßen  

 

Es war zu erwarten, daß Michael Benjamin und seine KPF Gossweiler zu Hilfe eilten. Sie verurteilten die Moskauer Prozesse zwar, wiesen die Ausschlußforderung aber zurück — Brüder und Schwestern im Geiste, hatte Gossweiler doch nur die Grobversion der "feinsinnigeren" Stalinismusrechtfertigung Sahra Wagenknechts geliefert. Überraschend ist jedoch, daß der Streit um die Äußerungen des "Antifaschisten" Gossweiler — als solchen bezeichnet ihn auch André Brie — sang- und klanglos verpuffte. So daß man daraus schlußfolgern muß, daß es in der PDS erlaubt ist, Stalin mitsamt seinen Bluttaten zu verehren.

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Nein, man sei ja nicht mehr die SED und schlösse Vertreter mißliebiger Thesen nicht mehr aus, erwidern Genossen, wenn man sie darauf anspricht. Wenn aber Gossweilers Positionen in der PDS geduldet werden müssen, gibt es nichts mehr, was nicht geduldet werden müßte.195

 

Der Antistalinismus in der PDS ist unter schwerem Druck. Den Gegenreformern um das Marxistische Forum und die KPF ist es gelungen, den Stalinismusbegriff auszuhöhlen. Gewissermaßen weiß die Partei gar nicht mehr, was Stalinismus überhaupt ist. Wie kann man verurteilen, was man nicht kennt? Eine unabweisbare Logik. Nur daß man sich über den Stalinismus nicht mehr einig ist, liegt weniger an Definitionshindernissen, sondern an einer zweckbestimmten Überlegung. Gibt man zu, daß die DDR stalinistisch war, stellt man sie in die Linie eines Verbrecherregimes. Dann aber kann man den Vorwurf nicht mehr zurückweisen, daß die DDR ein Unrechtsregime war. Und wenn die DDR eine Unrechtsregime war, dann wirft das wenigstens ein schlechtes Licht auf jene, die in der DDR Partei- und Staatsfunktionen innehatten oder auch akademische Titel erwarben.195 Diese Gedankenkette folgt der schlichten Weisheit, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Wissenschaftlich ist eine solche Argumentation nicht, auch wenn Heuer und Genossen das pausenlos strapazieren. Und politisch ist sie mehr als anrüchig. Aber sie ist eine weitverbreitete Variante der Selbstschutzbehauptung "Ich kann doch nicht umsonst gelebt haben". 

 

Für die Relativierung des Stalinismus gibt es verschiedene Gründe. Betrachtet man die Umstände, unter denen sich die PDS vom "administrativ-bürokratischen Sozialismus" lossagte, so wird deutlich, daß die Einmütigkeit der Parteitagsdelegierten wie der Genossen im Land eher auf Orientierungslosigkeit beruhte denn auf Überzeugung.

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André Brie erinnert sich: "Nichts war ausdiskutiert, fast nichts war durchdacht, kaum etwas außer der Kritik am Vergangenen und Vergehenden war verinnerlicht und durchlebt. In dieser Hinsicht stand der Neubeginn auf tönernen Füßen."196 

Als ich ein knappes Jahr nach dem Sonderparteitag für mehrere Wochen durch Ostdeutschland fuhr, fiel mir gleich die tiefe Kluft auf, die sich auftat zwischen Veröffentlichungen oder Äußerungen des Parteivorsitzenden Gregor Gysi auf der einen Seite und der Stimmung an der Basis auf der anderen. Die meisten Genossen diskutierten untereinander nicht einmal über programmatische Aussagen und schon gar nicht über die Vergangenheit, sofern sie die eigene Biographie überschritt. Ich fragte Dutzende von PDS-Mitgliedern und -Funktionären in Dörfern und Städten, im Norden und im Süden der einstigen DDR nach Stalin und Thälmann; das tue ich immer, wenn ich auf Recherchereise bin. Und ich bekam durchweg die Antwort, beide wären vor allem Antifaschisten gewesen, Stalin der Befreier von Hitler und der 1944 im KZ Buchenwald ermordete Thälmann Hitlers Opfer. 

Die Erneuerung der PDS hat nur in wenigen Köpfen begonnen und bis heute die Parteimehrheit nicht erreicht. Ihre Ansätze werden immer wieder zerrieben zwischen dem Beharrungsvermögen der Parteibasis und den Schulterschlußbemühungen der Führung, die es sich nicht gänzlich verderben will und kann mit der Mitgliedschaft. Ich erinnere mich noch gut an mein Erstaunen, als ich nach der Lektüre zahlreicher aufregender PDS-Publikationen zu Geschichtsfragen im August 1991 erwartungsvoll an einer Versammlung der Partei teilnahm im riesigen Kultursaal des Eisenhüttenkombinats EKO in Eisenhüttenstadt, dem ehemaligen Stalinstadt. Gysi und Bisky sprachen, aber es war durch die Bank ideologische Umarmung angesagt, Kampfesstimmung gegen den "Anschluß" und seine sozialen Folgen.

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Kein Sterbenswörtchen über die Schuld der SED vom Podium, keines aus dem Kreis der vielleicht knapp tausend Anwesenden. Mir kam es vor, als wäre ich auf einer Kundgebung von Heimatvertriebenen gelandet. 

Inzwischen sind es nicht mehr nur ältere weißhaarige Herren mit Brille, die sich neuen Einsichten widersetzen, die Relativierung der stalinistischen Vergangenheit hat weite Kreise bis hinauf in die Parteiführung erfaßt. Wahrscheinlich ist dieses alte Denken gar nicht neu, sondern schwieg nur, bis Zorn und Erschütterung über den Machtmißbrauch von Honecker und Konsorten sich gelegt hatten. 

Es geht den Genossen in der PDS um die Rettung des "sozialistischen Versuchs" in der DDR. Fast alle in der PDS beschwören die Ideale jener, die diesen Versuch unternommen haben. Demnach könnten gesellschaftliche Bewegungen jeden Irrsinn ausprobieren, wenn denn nur die Absichten gut sind. Aber es war Stalin, der Geschichte machte, und mit ihm seine Getreuen in Moskau, Warschau, Budapest oder eben auch Berlin. Daß sich heute noch Tausende von einstigen Einheitssozialisten einbilden, es wäre Stalin und seinen Ausführungsgehilfen darum gegangen, die Ideale der Genossen im Lande zu verwirklichen, spricht nicht für das Wahrnehmungsvermögen der meisten PDS-Mitglieder. Sie klammern sich an eine Legende, weil sie die Wahrheit nicht ertragen. 

Und waren die Ideale durchweg demokratisch und humanistisch? Das bezweifle ich. Man studiere die Dokumente der Partei­säuberung bald nach Gründung der SED: Es sind keineswegs nur die Spitzengenossen, die mit roher, nicht nur verbaler Gewalt auf tatsächliche oder vermeintliche Abweichler losgingen. Das haben auch Tausende von "einfachen" Genossen getan. Die Quellen strotzen von abartigen Denunziationen. 

Die Machtfrage stand über allem, das hatte auch der Genosse an der Basis begriffen. Nieder also mit dem Sozialdemokratismus. Stalin hatte in den Köpfen der Genossen gesiegt, Stalin regierte ihre Ideale. Der sozialistische Versuch ist auch in dieser Hinsicht eine Schimäre.

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Man hat nur das Beste gewollt und hätte doch von Anfang sehen müssen, daß das Beste unzählige Menschen ins Unglück stürzte. Sage keiner, er habe es nicht gewußt. 

Es geht gar nicht um Wissen. Es handelt sich vielmehr um "mentale Sperren", um die Weigerung, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, wie der stellvertretende PDS-Vorsitzende Wolfgang Gehrcke 1997 auf einer Stalinismuskonferenz referierte.197 Viele Genossen haben immer noch Angst davor, dem "Gegner" recht geben zu müssen. Wer vor der Wahrheit wegläuft, kommt aber immer wieder in diese Verlegenheit.

 

    Lächerliche Phantomkämpfe   

 

Die Relativierung des Stalinismus entfaltet sich in zwei Richtungen: zum einen in einer Debatte um den Begriff, zum anderen durch den Versuch, die Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland wenigstens in zentralen Punkten vor dem "Stalinismusverdikt" zu bewahren. Beginnen wir mit dem Kampf um die Definition des Stalinismus.

Dabei geht es nicht um Spitzfindigkeiten, sondern um Einsichten mit wichtigen politischen Konsequenzen: Wenn der Stalinismus auf die Herrschaftszeit des "großen Führers der Völker" beschränkt ist, dann haben ihn die kommunistischen Parteien, auch die SED, bereits in den fünfziger und sechziger Jahren überwunden. Wenn man Ulbricht glaubt, dann hatte es in der DDR Stalinismus sowieso nie gegeben. Ist der Stalinismus längst überwunden, dann ist dieses Thema ohne größere politische Bedeutung, und man kann es den Historikern überlassen. Dann gibt es auch keine repressive Kontinuität von Stalin bis Honecker. Dann gibt es bis auf Gossweiler und ein paar andere geistig völlig Verirrte auch keinen Stalinismus in der PDS, sondern höchstens die Vorliebe für einen autoritären oder "vormundschaftlichen" Sozialismus. So läßt sich historische Verantwortung verdünnen. 

Zu jenen, die den Stalinismus auf Stalin begrenzen wollen, gehört der Geschichtsprofessor Wolfgang Ruge. Ruge zählte zu den bedeutendsten und bekanntesten Historikern der DDR. Seine Arbeiten waren auch im Westen bekannt. Mir am besten erinnerlich sind seine Darstellung der Weimarer Republik und seine Biographie Gustav Stresemanns, in den zwanziger Jahren Reichskanzler und lange Jahre Außenminister wechselnder Regierungen.198 Vor allem in seinem Buch über die Weimarer Republik rühmt Ruge den heroischen Kampf der Kommunisten gegen Hitler, unterschlägt aber leider, daß sich der Antifaschismus der KPD vor allem gegen die Sozialdemokraten richtete. Ruge ist ein tragische Gestalt, hat er doch fünfzehn Jahre Verbannung und Gulag erleiden müssen. Er glaubt, daß Stalinismus nichts gemein habe mit Sozialismus. Wenn man sich zu humanistischen Grundüberzeugungen bekenne, dann müsse man im Umgang mit menschlichem Leben das erste und wichtigste Kriterium für die Charakterisierung eines Gemeinwesens sehen. Stalins Terror habe Hekatomben von Menschenleben gefordert, ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung der Sowjetunion. Die Verbrechen wögen um so schwerer, als sie im Namen des Sozialismus begangen worden seien. Auch wenn man die Produktionsweise und Produktionsverhältnisse betrachte, könne man nicht von einer Form oder Vorform des Sozialismus sprechen. Der Staat sei Eigentümer der Produktionsmittel gewesen, die Werktätigen hätten trotz sozialer Errungenschaften keinen Zugang zu ihnen gehabt. "Alle grundlegenden Formen einer Ausbeutungsgesellschaft bestanden nebeneinander, einschließlich der Staatssklaverei" in Gestalt der Lager. "Die Sowjetgesellschaft war somit weder sozialistisch noch kapitalistisch. Sie war eine terroristische Theokratie in Gestalt der Stalinschen Alleinherrschaft." An diesen Kriterien gemessen, habe es nach 1953, Stalins Tod, weder in der Sowjetunion noch in den "Satellitenstaaten" Stalinismus gegeben.199 Ich will hier nur der Vollständigkeit halber erwähnen, daß aus durchsichtigen Gründen natürlich auch Uwe-Jens Heuer im Stalinismus einen "Kampfbegriff" sieht - "jedenfalls in seiner Anwendung auf die DDR.200 Und sein Forumsgenosse Gerhard Branstner spricht sogar von "lächerlichen Phantomkämpfen gegen Stalinismus und dergleichen". Er führt sie zurück auf den Druck, der vom Klassengegner auf die PDS ausgeübt werde. Branstner ist davon überzeugt, "daß die verantwortlichen Genossen diesen Unsinn nicht aus freien Stücken treiben. Sie sind darin Objekte ihres bürgerlichen Umfeldes."201 Eine klassische stalinistische Denunziation! Der Stalinismus in der PDS versteckt sich heutzutage auch in seiner Leugnung. Daß die "verantwortlichen Genossen", wer immer das sei, sich aus eigenen Stücken zu Erkenntnissen über den Stalinismus vorarbeiten, kommt Branstner und vielen anderen nicht in den Sinn. Für sie ist Antistalinismus bürgerlich, also feindlich, und Stalinismus gibt es nicht. Diese Position unterscheidet sich himmelweit von der Haltung Wolfgang Ruges, vor allem weil seinem Bestimmungsversuch ein humaner Impetus innewohnt. Bei ihm findet sich die Menschlichkeit, die in so vielen anderen Stellungnahmen zu historischen Fragen fehlt. Da wird nichts verrechnet - nicht einmal Stalins Sieg im Krieg gegen die Säuberungen -, wie man es gerade in und im Umkreis der KPF so häufig antrifft. Gegen Ruges Position spricht aber, daß sie die Kontinuität des politischen und wirtschaftlichen Grundgerüsts des realen Sozialismus zu gering einstuft. Im realen Sozialismus war von Anfang an bis zu seinem letzten Tag die Möglichkeit von Willkür bis zum Massenmord angelegt - wie in allen nichtdemokratischen Gesellschaftsordnungen. Ob diese Möglichkeit sich verwirklichte, hing vor allem ab von Erwägungen und Entscheidungen der politischen Führungen, weil eine gesellschaftliche Kontrolle nicht stattfand. Statt dessen wurden die sozialistischen Staaten mit dem Fortschreiten des Entspannungsprozesses partiell zivilisiert. In dem Maß, wie sie in den KSZE-Prozeß eingebunden wurden, wie Verträge Ost und West miteinander verflochten, wurden den Parteiführungen in Osteuropa Zügel angelegt. Daß trotzdem immer die Gefahr von Gewaltausbrüchen gegeben war, zeigen bis heute die Beispiele VR China und Nordkorea. Bis zu diesem Punkt ist Stalinismus allerdings nicht anders als andere Diktaturen. Er unterscheidet sich von ihnen vor allem durch die ideologische Durchdringung der gesamten Gesellschaft mit einer vulgärsozialistischen Ideologie, die Verstaatlichung der Produktionsmittel und die Führung durch eine Partei (auch wenn es sich meistens nur um die Vermittlung personaler Herrschaft, nämlich der des Generalsekretärs, handelte). Der Berliner PDS-Historiker Horst Helas schreibt: "Nach meinem Verständnis sind als stalinistisch entscheidende Wesenszüge aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der DDR zu kennzeichnen."202 

André Brie räumt ein, daß die Definition des Stalinismus als "administrativ-zentralistisch" "arg verknappt" sein mag, hält sie "als theoretische und politische Erklärung des Untergangs der DDR und der Sowjetunion sowie als Ausgangspunkt für die Erneuerung der sozialistischen Idee und Bewegung" für "hundertmal produktiver und realistischer als die Versuche, die wesentliche Kontinuität zwischen sowjetischem Stalinismus und DDR-Poststalinismus zu leugnen".203 Mit dem wenig glücklichen Begriff "Poststalinismus" bezeichnen Parteierneuerer den Stalinismus nach Stalins Tod. Aber diese so bezeichnete Gesellschaftsordnung ist ja gerade nicht nachstalinistisch. Das Ausschlaggebende am Stalinismus ist nicht Stalin, sondern das System, das er schuf und das zu Recht nach ihm benannt wurde. Sein Tod hat am System nichts geändert (wohl aber die Exzesse beendet). Gregor Gysi hat diese begriffliche Schwäche vermieden, als er dem Stalinismus zuschrieb, daß dieser die kommunistische Partei zum Selbstzweck erhebe. "Die Sicherung der Macht und die Konzentration der Macht wird zur entscheidenden Frage." In Wirklichkeit gehe es aber nicht um die Macht der Partei, sondern einer Führungsschicht und Bürokratie. Diese seien "Alleininhaberin des Wahrheits- und Definitionsmonopols".204 Das 1996 verabschiedete Statut der PDS kennt den Begriff "Stalinismus" nicht und auch keinen antistalinistischen Gründungskonsens. Aber schon das gültige Programm von 1993 ist geprägt vom Lavieren der Führung zwischen den Lagern. Der Begriff "Stalinismus" taucht einziges Mal auf, und zwar in diesem Zusammenhang:

"Von Anfang an wurde der Versuch, eine sozialistische Ordnung zu schaffen, aber dadurch beeinträchtigt, daß er am Rande und außerhalb der entwickelteren kapitalistischen Industrieländer erfolgte, in einem sozialökonomisch, politisch und kulturell zurückgebliebenen Land, ständig bedroht von einer kapitalistischen Umwelt. Bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde das, was als Aufbau des Sozialismus gedacht war, durch die von Willkür, Grausamkeit und Bürokratie erfüllte Herrschaft des Stalinismus."

Was Stalinismus ist, geht daraus nicht hervor. Wie der Stalinismus wirkte (auch nach Stalins Tod), ist abstrakt bis zur Unkenntlichkeit angedeutet. Man tut dem Programm keine Interpretationsgewalt an, wenn man aus der zitierten Passage herausliest, daß Stalinismus gleichzusetzen sei mit der Herrschaftszeit Stalins. Programmatisch ist die PDS in diesem Punkt schon dort angekommen, wo Marxistisches Forum und Kommunistische Plattform hinwollen (in anderen Punkten nicht). Aber noch und auf absehbare Zeit hat die PDS eine Führung, die sich mehrheitlich dem antistalinistischen Grundkonsens des Gründungsparteitags verpflichtet fühlt. Doch hat die Führung die Definitionshoheit für Schlüsselbegriffe verloren. Statt von Stalinismus ist fast nur noch vom "sozialistischen Versuch" die Rede. Und vom Antifaschismus, der alles überwölbenden nachträglichen Vergangenheitsbereinigung.

Der Antifaschismus ist eine mächtige Waffe. Sie dient vielen Zwecken. Als mich in den zehn Jahren meiner DKP-Zugehörigkeit immer wieder und von Mal zu Mal heftiger die Zweifel an der Richtigkeit meiner Entscheidung für "die Partei" plagten, war der Antifaschismus der letzte, aber wichtigste geistige Strohhalm, an dem ich glaubte, mich festhalten zu können. Durfte ich die Genossen verraten, die ihr Leben riskiert und Jahre in Hitlers KZs und Gefängnissen gesessen hatten? In der DKP gab es eine stattliche Zahl beeindruckender Persönlichkeiten, die ihre antifaschistische Gesinnung bewiesen hatten. Hilde Wagners Mann, Karl, der, von der Qual der Lager gezeichnet, ein Symbol der Standhaftigkeit war. Hinfällig schon, doch mit einem unbeirrbaren Glauben an die Richtigkeit "unserer Sache". Max Oppenheimer, den wir einmal als Kandidaten bei Heidelberger Oberbürgermeisterwahlen aufgestellt hatten - was für eine charismatische Persönlichkeit, hochintelligent, Mitglied des Präsidiums der Vereinigten der Verfolgten des Naziregimes (VVN)! Wenn ich in die DDR fuhr, gehörte Antifaschismus zum gern erlebten Pflichtprogramm. Etwa Besuch im KZ Sachsenhausen, mustergültig erhalten. Schautafeln zeugten vom heroischen Widerstand der Kommunisten. Und überall in der DDR Hinweise auf den "Schwur von Buchenwald", die Selbstverpflichtung der Häftlinge, die sich unter Führung der kommunistischen Lagerleitung selbst befreit hatten, zum Kampf gegen den Faschismus. Jeder Kreis, jede Stadt, viele Orte hatten "ihren" Antifaschisten, Opfer von Hitlers Blutherrschaft. Schulen waren nach ihnen benannt, Betriebe, Einheiten der Nationalen Volksarmee, Straßen und Plätze. Glaubt man dem imaginären Adreßbuch der DDR, dann gab es keinen Staat der Erde, der sich dem Antifaschismus fester verschrieben hatte. Kein Name aber war öfter verzeichnet als der von Ernst Thälmann. Heroische Denkmäler kündeten von seinem Ruhm. Nicht nur ich war bereit, vieles in der DDR zu "schlucken", weil doch offensichtlich war, daß dort die richtigen Antworten gegeben worden waren auf die zwölf Jahre des Tausendjährigen Reichs. Nichts war mir wichtiger. Meine Verachtung für das eigene Land war in Wirklichkeit die Verachtung für die Generationen, die Hitler ermöglicht hatten. Und die es nach 1945 nicht geschafft hatten, mit den Haupttätern abzurechnen. Alte Nazis in hohen staatlichen Funktionen, der bittere Satz "Leider kann ich nicht Bundespräsident werden, ich war nie Mitglied der NSDAP", die Weißwäscher in Schulen und Universitäten, die Ehrenretter der Wehrmacht, die einen Oberst Rudel zu den Verteidigern des Vaterlands vor dem Ansturm der bolschewistischen Horden zählten und dessen Naziaktivität nach 1945 quasi als bedauerlichen Irrtum abtaten. Und der Spielwarenhändler in Heidelberg, der in seinem Schaufenster das Modell eines Sturzkampfbombers vom Typ Ju 87 mit Hakenkreuz am Steuerruder ausstellte. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er mir: "Das können Sie nicht beurteilen. Sie haben zu dieser Zeit nicht gelebt." (So wie mir heute auf Veranstaltungen direkt oder durch die Blume mit dem Ausdruck großen Bedauerns deutlich gemacht wird, daß ich das, was da in der DDR passiert sei, als Wessi eigentlich doch gar nicht beurteilen könne.) In der DDR gab es keinen Oberst Rudel und keine Stukas in Schaufenstern. Deswegen war für mich die DDR das bessere Deutschland. Aber je tiefer ich in die Geschichte der DDR, also auch in die meines Irrglaubens, eindrang, um so größer wurden die Zweifel. Abgehakt ist das Thema jedoch immer noch nicht. Auch deswegen diskutiere ich auf meinen Reisen immer wieder über Ernst Thälmann. Am Karl-Liebknecht-Haus kündet eine Plakette aus Vorwendezeiten davon, daß in diesem Gebäude "der Führer der deutschen Arbeiterklasse, der heldenhafte Kämpfer gegen Faschismus und Krieg" gearbeitet habe. Thälmann war Namensgeber der Pioniere, der Kinderorganisation der SED. Jung-Pioniere (1. bis 3. Schulklasse) und Thälmann-Pioniere (4. bis 7. Klasse) trugen rote Halstücher, grüßten militärisch mit der Innenseite der rechten Hand an der linken Stirn und waren "allzeit bereit". Fast alle Kinder der DDR waren Mitglieder der Pionierorganisation "Ernst Thälmann". Sie erfuhren vieles vom Leidensweg des breitschultrigen KP-Führers mit dem kantigen, profilstarken Schädel und spärlichem Haarwuchs. 1933 verhaftet, dann inhaftiert in Plötzensee, 1944 ins KZ Buchenwald verschleppt, um dort ermordet zu werden. Der Mord an Thälmann wurde im Westen lange Jahre bezweifelt. Seine Tochter Irma prozessierte gegen die Mörder des angeblich bei einem alliierten Bombenangriff umgekommenen Kommunistenchefs. Thälmanns Mörder wurden nie verurteilt.

((Kasten Anfang)) Wir Pioniere versprechen: Wir wollen treu, fest, stark und siegesbewußt im Handeln sein - wie unser Ernst Thälmann! Wir wollen immer lernen, arbeiten und kämpfen - wie unser Ernst Thälmann! Wir wollen gute Patrioten werden - wie unser Ernst Thälmann! Wir wollen die ewige Freundschaft zur Sowjetunion und den proletarischen Internationalismus behüten - wie unser Ernst Thälmann! Im Geiste Ernst Thälmanns gilt unsere Liebe, unsere Treue und unsere Kraft unserer Deutschen Demokratischen Republik! Das versprechen wir!

Versprechen der Thälmann-Pioniere auf dem VIII. Parteitag der SED.205 ((Kasten Ende))

Waren andere Opfer des Nazismus Vorbilder und Märtyrer der Arbeiterbewegung, so war Thälmann ein Heiliger. Er wurde geradezu religiös verehrt. Aber im Gegensatz zu den Aposteln, deren Geschichten, wenn auch frisiert, überliefert sind, konnten die DDR-Bürger während der meisten Lebensjahre ihres Staates nichts von Thälmann lesen. Er war gewissermaßen ein Heiliger ohne Hinterlassenschaft. Was DDR-Bürger über Thälmann wußten, wußten sie von den Exegeten seiner Werke, die selbst aber nicht zu kaufen waren. Ende der fünfziger Jahre wurde eine zweibändige Ausgabe mit Reden und Artikeln des Arbeiterführers aus dem Verkehr gezogen. Seitdem gab es keinen Thälmann-Originalton mehr. Ein erstaunliches Phänomen. Denn es wurden Mitte der siebziger Jahre sogar Werke Rosa Luxemburgs herausgegeben, fünf stattliche Bände, inklusive des bei der SED verhaßten Satzes, daß die Freiheit immer nur die Freiheit des Andersdenkenden sei, inklusive auch Luxemburgs Kritik an Lenins Geringschätzung der Demokratie, inklusive der jeden SED-Publizisten beschämenden Brillanz der Sprache und Originalität des Denkens der großen Theoretikerin. "Luxemburgismus" war zu Stalins und Thälmanns Zeit ein Schimpfwort gewesen. Aber Thälmann gab es nicht zu lesen. Dafür wurde der Hamburger in Filmen glorifiziert, und 1979 erschien eine voluminöse Biographie über sein Leben. Interessanterweise endet die zweibändige Ausgabe von Thälmanns Reden und Schriften bereits im Jahr 1930. Selbst zu Stalins Lebzeiten erfuhr der SED-Genosse nicht, was die Ikone zwischen 1930 und dem Machtantritt der Nazis gesagt und geschrieben hatte. Dies hat einen einfachen Grund: Es hätte die Antifaschismuslegende zerstört. Die Behauptung nämlich, daß bei allen Schwankungen und Irrtümern fehlgeleiteter KP-Vertreter (wie etwa des der linken Abweichung bezichtigten Heinz Neumann) die deutschen Kommunisten alles versucht hätten, die Sozialdemokraten für eine Einheitsfront gegen den aufkommenden Faschismus zu gewinnen. Daß der Sieg der Hitlerpartei ermöglicht wurde durch die Spaltung der Arbeiterbewegung, die allein die sozialdemokratischen Führer zu verantworten hätte. Diese hätten in ihrem blinden Antikommunismus den Nazis erst die Chance gegeben, die Macht zu ergreifen. Aus dieser von der SPD verschuldeten Niederlage müsse die Konsequenz gezogen werden, daß die Arbeiterklasse künftig an einem Strang zu ziehen hätte. Die Arbeitereinheitsfront und die Zerschlagung der Grundlagen des Nazismus durch die antifaschistisch-demokratische Ordnung - das ist das Vermächtnis Thälmanns. Darauf beriefen sich bis zu ihrem unrühmlichen Abtritt alle Führer der SED. Und darauf verweisen nach wie vor zahllose Mitglieder und Funktionäre der PDS, für die Thälmann immer noch Vorbild ist. Nun findet man in den Reden Ernst Thälmanns und den Verlautbarungen der KPD in den Jahren von 1930 bis 1933 vor allem die Verstärkung dessen, was schon davor zum Standardrepertoire der deutschen Kommunisten wie auch der Kommunistischen Internationale in Moskau gehört hatte: den bis zur Vernichtungsabsicht sich steigernden Haß auf die Sozialdemokratie. Für die deutschen Kommunisten war die SPD von Anfang an ein Feind gewesen, "soziale Hauptstütze der Bourgeoisie". Zu Beginn war die Feindschaft Ursache und Resultat des Gründungsprozesses der kommunistischen Partei gewesen, die sich als Abspaltung von der SPD herausgebildet hatte, als diese im Ersten Weltkrieg die kaiserliche Regierung stützte. Am Anfang hatten nur die Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht, Sohn des Parteimitbegründers Wilhelm Liebknecht, und der Reformpädagoge Otto Rühle die chauvinistische Haltung der Parteimehrheit bekämpft. Aber bald schon, nicht zuletzt mit dem für Deutschland enttäuschenden Kriegsverlauf, stießen weitere Genossen zur Antikriegsfronde. 1917 gründeten die Kriegsgegner sogar eine eigene Partei, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die für wenige Jahre zu einer Konkurrenz für die "Mehrheitssozialdemokratie" wurde. Den konsequentesten Sozialisten aber war die USPD nicht konsequent antikapitalistisch genug. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, der bedeutende marxistische Publizist Franz Mehring, die Frauenrechtlerin Clara Zetkin, der Parteilehrer Hermann Duncker und der spätere DDR-Präsident Wilhelm Pieck gründeten in der USPD die Spartakusgruppe, die sich zum Jahreswechsel 1918/19 als Kommunistische Partei konstituierte. Das war schon in den Nachwehen der Novemberrevolution. Im Januar 1919 schlug SPD-Reichswehrminister Gustav Noske den "Spartakusaufstand" nieder, um sich nachher mit dem Satz zu rechtfertigen: "Einer muß der Bluthund sein." Der "Spartakusaufstand" war ein politisch und militärisch sinnloser Putschversuch, den die junge KPD gegen den Rat Luxemburgs und Liebknechts inszeniert hatte. Aber gerade diese beiden wurden dabei von sogenannten "Freikorps", ehemalige Frontsoldaten, die als Bürgerkriegssöldner durch die Lande zogen, ermordet. Noske hatte sich auch dieser Freikorps bedient, um den "Spartakusaufstand" niederzuschlagen. Seit diesen Bluttaten einer sozialdemokratischen geführten Reichsregierung diktierte der Haß die Politik der KPD gegenüber der SPD. Es gab nur kurze Zeiten der Besinnung, abgebrochen immer wieder durch radikale Revoluzzerphasen wie etwa den "Hamburger Aufstand" 1923. Die Perioden der Vernunft, etwa das Zusammengehen mit der Sozialdemokratie in den "Arbeiterregierungen" 1923 in Sachsen und Thüringen, wurden später als "rechte Abweichungen" und "Opportunismus" denunziert. Das vorgegebene Feindbild Sozialdemokratie wurde zur unverrückbaren Größe in dem Maß, wie Stalin begann die Politik der KPD zu bestimmen. Schon auf dem 10. Parteitag der KPD in Berlin, sprach "Teddy", wie Ernst Thälmann von seinen Genossen genannt wurde, Klartext im Hinblick auf die sozialdemokratisch dominierte internationale Gewerkschaftsbewegung, die sogenannten "Amsterdamer" und Aufschlußreiches über das kommunistische Verständnis der vielbeschworenen "Einheitsfront der Arbeiterklasse":

"Und gerade, weil die Amsterdamer gemeinsam mit dem Imperialismus die offene Konterrevolution dokumentieren und auf der anderen Seite Sowjetrußland steht im Bündnis mit der internationalen revolutionären Einheitsfront der Arbeiter der ganzen Welt, ist es notwendig, daß auch die deutsche Arbeiterklasse von der reaktionären Front getrennt wird und sich angliedert der revolutionären Front des internationalen Front des Proletariats."206

Auf dem 11. Parteitag 1927 in Essen erklärte der bereits unumstrittene KPD-Chef Thälmann:

"Was die Kampfaufgaben gegen die gesamte SPD anbetrifft, so ist es notwendig, hier den bürgerlichen Charakter der SPD in allen Fragen aufzuzeigen, insbesondere ihre Rolle als imperialistische Arbeiterpartei. Wir müssen einen unerbittlichen Kampf führen für die Entlarvung der sozialdemokratischen Führer, für ihre Vertreibung aus der Arbeiterbewegung. Das ist unsere Hauptaufgabe. Wenn ich heute nicht spreche von einer Vernichtung der SPD, so deswegen, weil die SPD erst dann vernichtet wird, wenn die Arbeiterklasse den Kampf um die politische Macht aufnimmt und durchführt."207

Auf dem 12. Parteitag 1929 sagte Thälmann angesichts der heraufziehenden Gefahr des Nationalsozialismus:

"Der Magdeburger Parteitag [der SPD 1929] bedeutet für uns eine Bestätigung der Faschisierung der Sozialdemokratischen Partei. (...) Wir müssen sehen, daß in der jetzigen Zeit (...) die Sozialdemokratie nicht nur der größte Feind des Kommunismus in der Arbeiterbewegung ist, sondern der stärkste Hebel der sozialfaschistischen Bewegung, der reaktionären Maßnahmen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. (...) Ich will damit nicht sagen, daß der volle Sieg über die Sozialdemokratie und den Faschismus von heute auf morgen errungen werden kann, ich will damit keineswegs sagen, daß die endgültige Zerschmetterung der Sozialdemokratie vor der Errichtung der proletarischen Diktatur möglich ist."208

Vor einer Kominternkommission sagte Thälmann 1930:

"Warum kann der Nationalfaschismus in Deutschland vordringen? Weil der Sozialfaschismus ihm die Wege ebnet (...)."209

Das in der DDR-Geschichtsschreibung so hoch verehrte "Thälmannsche Zentralkomitee" beschloß im Februar 1932 über die Aufgaben der KPD:

"Sie muß durch schonungslosen Kampf die verbrecherische, blutgierige, mörderische Rolle der deutschen Sozialdemokratie und der gesamten II. [sozialdemokratischen] Internationale entlarven, die mit tausend Betrugsmanövern (...) den imperialistischen Kriegsüberfall auf die Sowjetunion organisieren hilft."210

Was die zweibändige Thälmann-Ausgabe und sämtliche DDR-Werke zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung weitgehend unterschlagen, kann der Interessierte im Protokoll der Brüsseler Konferenz der KPD von 1935211 nachlesen. Auf diesem Ersatzparteitag versuchte die KP-Führung, die katastrophale Niederlage 1933 aufzuarbeiten. Sowenig dies grundlegend gelang, einigen Einsichten konnten die Genossen nicht aus dem Weg gehen:

"Eine der wichtigsten Hindernisse für das Zustandekommen einer Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Gruppen war das starre Festhalten an der Kennzeichnung der Sozialdemokratie als soziale Hauptstütze der Bourgeoisie. Wenn es noch unter der Hitlerdiktatur in der Entschließung des Zentralkomitees zur Lage und den nächsten Aufgaben vom Mai 1933 folgendermaßen heißt: ‚Die völlige Ausschaltung der Sozialfaschisten aus dem Staatsapparat, die brutale Unterdrückung auch der sozialdemokratischen Organisationen und ihrer Presse ändern nichts an der Tatsache, daß sie nach wie vor soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur darstellen', so war eine solche Kennzeichnung natürlich nicht dazu geeignet, uns den Sozialdemokraten näherzubringen, die zwar schon in Opposition zu der Politik der Parteivorstandes standen, aber nicht den völligen Bruch mit der Sozialdemokratie vollzogen hatten."212

Im Mai 1933, gut vier Monate nach der Machtübertragung an Adolf Hitler, kurze Zeit nach der Zerschlagung der SPD und der Gewerkschaften und der blutigen Verfolgung ihrer Mitglieder und Funktionäre beschimpft das ZK der KPD, darunter auch Walter Ulbricht, die Sozialdemokratie als "soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur". Das ist kein politischer Fehler, sondern Wahnsinn, Verblendung durch Haß, Vernichtungswut. Bis heute werden in linken Kreisen der VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935 und die direkt im Anschluß daran abgehaltene Brüsseler KP-Konferenz als rühmliche Beispiele dafür genannt, wie der Kampf gegen den Faschismus von Anfang an hätte geführt werden müssen. In ihren Beschlüssen (wie auch in denen der Berner Konferenz der KPD 1939) werde deutlich, daß zumindest damals die Kommunisten begriffen hätten, daß Antifaschismus keine taktische Durchgangsstation zur sozialistischen Revolution sei, sondern einen eigenen Stellenwert besitze. In der Tat sprachen die Kommunisten von einer demokratischen Republik, die es mit Hilfe einer Volksfront zu errichten gelte. Die Volksfront sollte von den Kommunisten bis weit ins bürgerliche Lager reichen. Der Vorsitzende der Komintern, Georgi Dimitroff, stand für antifaschistische Glaubwürdigkeit. Hatte er doch im Prozeß um den Reichstagsbrand in Berlin 1933, den die Nazis den Kommunisten in die Schuhe schieben wollten, nicht nur das Gericht blamiert, sondern auch die NS-Größe Hermann Göring zur Witzfigur gemacht. (Zu DDR-Zeiten konnte man die Auseinandersetzung zwischen Dimitroff und dem als Zeugen geladenen Göring im Originalverhandlungssaal des ehemaligen Reichsgerichts in Leipzig als Bandmitschnitt verfolgen.) Dimitroff, der als Kominternbeauftragter in Berlin gearbeitet hatte, war eine der populärsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Im Rückblick überstrahlte er sogar Stalin. Aber der zog die Fäden. Und er gab auch Dimitroff und der Komintern Weisungen. Zur geradezu mythologischen Überhöhung des VII. Weltkongresses der Komintern trug auch bei, daß Größen wie Thomas und Heinrich Mann zeitweilig in die Volksfrontbemühungen einbezogen waren. Bekannt ist aber auch Thomas Manns Beschwerdebrief über Walter Ulbricht, der die Einheitsbemühungen seitens der KPD vorantrieb. Um was es dabei in Wahrheit von Anfang an ging, zeigen die Ergebnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich habe in vielen Diskussionen mit PDS-Mitgliedern nur ungläubige Ablehnung erfahren, wenn ich darauf beharrte, daß es eine Kontinuität gebe zwischen dem VII. Weltkongreß der Komintern und der Volksdemokratie - ein typischer Neusprechbegriff: Was sollte Demokratie anderes sein als Volksherrschaft? Aber wo am meisten vom Volk geredet wird, hat es am wenigstens zu sagen. Wenn die Praxis das Kriterium der Wahrheit ist, dann ist die Volksdemokratie die Wahrheit des VII. Weltkongresses. Was die Kommunisten unter Volksfront verstanden, haben sie vorgeführt, als sich ihnen mit der Zerschlagung des Nazismus die Gelegenheit dazu bot. Im Juni 1945 veröffentlichte die KPD einen berühmt gewordenen Aufruf. Darin stand, daß es falsch wäre, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen. Das Eigentum solle geschützt, eine parlamentarische Demokratie aufgebaut werden. Einige Zeit später veröffentlichte Politbüromitglied Anton Ackermann einen Artikel, in dem er einen "besonderen deutschen Weg zum Sozialismus" forderte. Das klang so, als würde die KPD tatsächlich die gleichberechtigte Zusammenarbeit der unterschiedlichen politischen Kräfte anstreben, so, wie sie es auf dem Kominternkongreß und der Brüsseler Konferenz angekündigt hatte. Und so wird es in PDS-Kreisen immer noch verstanden und vermeintlich vergebenen Chancen nachgetrauert.

Dabei waren beide KPD-Initiativen taktische Manöver. Die Tatsache, daß Anton Ackermann später für seinen Artikel gemaßregelt wurde, zeigt nur den menschenverachtenden Umgang der Kommunisten untereinander, denn den Artikel hatte Ackermann im Auftrag des Politbüros verfaßt. Schon zu Weimarer Zeiten wurden später als Abweichungen diagnostizierte Beschlüsse der Partei einzelnen angelastet (zum Beispiel Heinz Neumann). So hatte es der "große Stalin" allen vorgemacht.

Die Machtfrage war die entscheidende Frage, und alle Veröffentlichungen und Aktionen der KPD dienten am Ende dem Zweck, diese Frage für sich zu entscheiden. Die Kommunisten hatten sich auch zu keinem Zeitpunkt von der Vorstellung verabschiedet, den "kleinbürgerlichen Einfluß" in der Arbeiterbewegung zu liquidieren, so, wie es in Sowjetrußland gelungen war und wie es als eine Hauptlehre aus der Geschichte der KPdSU verkündet wurde. Die deutschen Kommunisten begriffen ihre Geschichte als eine Geschichte von Kämpfen gegen die Sozialdemokratie. Die SPD war die stärkere Konkurrentin in der Arbeiterbewegung, in den Augen der Kommunisten lag es nur an der SPD, daß man die sozialistische Revolution hatte vertagen müssen.

So ehrlich es viele Kommunisten, die 1945 aus den KZs und Gefängnissen gekommen waren, mit der Einheit der Arbeiterbewegung meinten, ihre Führung verlor ihre Ziele keine Sekunde aus den Augen. Sie tat dies ganz in der Tradition Ernst Thälmanns. Und die Genossen im Lande gehorchten, auch sie in der Tradition Thälmanns.

Dessen Mitstreiter gingen nun daran, eine "antifaschische Demokratie" aufzubauen unter Führung der kommunistischen Partei. Ulbricht berief sich dabei auf Ernst Thälmann - den "kühnen Kämpfer", der das "weithin leuchtende Banner des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus" getragen habe213 - und gehorchte wie dieser den Weisungen Stalins. Damit folgte Ulbricht der Linie, die sein einstiger Parteichef und Politbürogenosse vorgezeichnet hatte.

Ernst Thälmann war ein mutiger Mann. Er hat den Versuchungen und Folterungen der Nazis widerstanden. Er hat unter ständiger Lebensbedrohung nie ein Zugeständnis an den Gegner gemacht. Dafür gebührt ihm Respekt. Aber wird er dadurch schon zur antifaschistischen Vorzeigefigur?

Aber die Frage, ob jemand Antifaschist ist, umfaßt mehr als Mut und Opferbereitschaft. Im Antifaschismus steckt nicht nur das Gegen, sondern genauso das Für. Es gibt keinen undemokratischen und antihumanen Antifaschismus. Antifaschismus heißt auch, sich dafür einzusetzen, daß die Lebensverhältnisse der Menschen human und demokratisch sind. Die Widerstandskämpfer, auch die kommunistischen, haben den Faschismus angeprangert, weil er die Humanität vernichtete. Sie haben beklagt, daß er die Kultur zerstöre und nicht umsonst das Bündnis mit Kulturschaffenden gesucht. Auch die Kommunisten haben herausgestellt, daß die Demokratie die Antwort auf den Nazismus sei. Aber als sie die Möglichkeit hatten, die Demokratie zu verwirklichen, haben sie keinen Augenblick erwogen, dies zu tun. Auch deswegen ist die Volksdemokratie die Praxis des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale.

In den dreißiger Jahren haben die Kommunisten Thälmanns außerdem nicht nur für die Volksfront agitiert, sondern auch die Moskauer Prozesse gutgeheißen, den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 begrüßt, genauso die Okkupation polnischen Territoriums durch Sowjettruppen, die Besetzung Litauens, Lettlands und Estlands oder den Krieg gegen Finnland. Und wie berichtet wird, hat auch Ernst Thälmann im Gefängnis kein Mitleid empfunden mit der Garde der Altbolschewisten, die Stalins Wahn zum Opfer fielen. Kein Mitleid äußerten Thälmann und Genossen auch mit den ungezählten deutschen Kommunisten, die vor Hitler ins Paradies der Werktätigen geflohen waren, um dort Stalins Geheimpolizei in die grausamen Hände zu fallen oder wieder zurückgeschickt zu werden, weil die beiden Diktatoren sich bis zu Hitlers Vertragsbruch am 22. Juni 1941 so gut verstanden und ja schon die polnische Beute brüderlich geteilt hatten. Warum nicht auch Gefangene teilen? Als die Nazis am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg begannen, hatte der Antifaschismus keine Konjunktur. Hitler und Stalin hatten sich auf die Teilung Osteuropas verständigt - keine Rede von antifaschistischem Widerstand. Als Hitler Belgien, Holland, Luxemburg und Frankreich überfiel, erklärten die sowjetische Regierung und die kommunistischen Parteien in den angegriffenen Ländern, es handele sich um einen Krieg zwischen imperialistischen Mächten. Französische Kommunisten etwa entzogen sich der Einberufung zum Militär, weil sie an einem imperialistischen Krieg nicht teilnehmen wollten. Von Antifaschismus war bei den Kommunisten immer noch nicht die Rede. Erst seit dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion gab es wieder einen antifaschistischen Kampf. Ich will den mutigen Widerstandskampf der europäischen Kommunisten gegen die braune Barbarei keineswegs leugnen, nur sollten vielleicht endlich auch in die PDS-Kreisen die kommunistischen Ammenmärchen über den Antifaschismus begraben werden.

Der angeblich so volkstümliche Ernst Thälmann hatte sich schon 1927 für den deutschen Lenin gehalten, und es gibt keinen Zweifel daran, daß er, hätte er überlebt, in der Führung von KPD und SED so agiert hätte, wie seine Genossen es taten. Nein, das Naziopfer Thälmann war kein Antifaschist, soweit man unter Antifaschismus Humanität und Demokratie versteht. Er war dies nicht einmal nach den Kriterien der Brüsseler Konferenz seiner Partei, wenn man deren Aussagen wörtlich nimmt, also unter Freiheit Freiheit versteht und unter Demokratie Demokratie und nicht das Gegenteil. Gewiß, nach 1945 wurden in der Sowjetischen Besatzungszone Kriegsverbrecher und -gewinnler enteignet, es wurde die naziverseuchte Lehrerschaft davongejagt, es wurde die Justiz von braunen Funktionären gesäubert214, und an den Hochschulen lehrten statt der Heilschreier des Dritten Reichs Ernst Bloch, Hans Mayer oder Robert Havemann. Aber es fehlte die Demokratie. Die entscheidende Lehre aus dem Kampf gegen den Nazismus wurde in der Sowjetischen Besatzungszone nicht gezogen. Weil es in Wahrheit gar nicht um Antifaschismus ging, sondern um Stalins Pläne in Europa, um sowjetische Sicherheitsinteressen, schließlich um die gesellschaftliche und politische Gleichschaltung. Deshalb gab es in den wesentlichen Zügen in allen osteuropäischen Ländern die gleiche Entwicklung: in der von den Nazis zerschlagenen Tschechoslowakei genauso wie in Polen, das ein Drittel seiner Bevölkerung verlor. Und eben genauso in der SBZ/DDR. Überall setzten die kommunistischen Parteien die gleichen Grundsatzentscheidungen durch, gab es Enteignungen und Säuberungen des Staatsapparats. In der SBZ wurden sie mit dem Antifaschismus begründet, das ist der entscheidende Unterschied. Dort nannte sich die Volksdemokratie aus Propagandagründen "antifaschistisch-demokratische Ordnung".

Im Zeichen des Antifaschismus wurden auch Großgrundbesitzer enteignet, die zum Widerstand gegen Hitler gezählt hatten. Es wurden Wissenschaftler verfolgt und verjagt, die aus dem Exil gekommen oder von den Nazis zum Tod verurteilt worden waren wie Robert Havemann. Es landeten Antifaschisten aus den KZ in sowjetischen Internierungslagern und Gefängnissen, weil sie im Verdacht standen, anders zu denken, als Stalin es vorschrieb. Ja, es saßen nach Kriegsende nicht wenige Antifaschisten wieder in Buchenwald oder Sachsenhausen, wo sie bis 1945 von den Nazis eingesperrt worden waren. Der Antifaschismus von KPD und SED war genauso demokratie- und menschenverachtend wie der Antifaschismus von Thälmanns Partei. Das ist kein Wunder, denn es war immer noch der gleiche: Es war der Antifaschismus Stalins. Eine Propagandalüge, die je nach Bedarf aus dem Waffenarsenal geholt wurde. Aus dem "Abschaum" von einst, aus Trotzkisten oder Anhängern Bucharins, aus der "Fischer-Maslow-Bande" und dem "Linkssektierertum" Neumanns, wurden nun eben "faschistische Agenten". Die fand man überall dort, wo man sie finden wollte.

Das ist tragisch, denn eine antifaschistische Umgestaltung wäre in allen Teilen Deutschlands notwendig gewesen. Im Westen ließ man die alten Eliten weitgehend ungeschoren, bezog sie ein in den Aufbau und deckte den Mantel des Schweigens über den braunen Sumpf. Aber immerhin schuf man eine bürgerlich-demokratische Ordnung, wenn auch zu Recht Defizite beklagt werden. Im Osten baute man die Gesellschaft um, aber mit dem Ziel, eine Diktatur zu errichten. Es ist keine "zweite deutsche Diktatur", wie es fahrlässigerweise oft gesagt und geschrieben wird. Die Terrorherrschaft der Nazis und das SED-Regime sind nicht gleichzusetzen, wohl aber in vielen Punkten zu vergleichen. Sie in einen Topf zu werfen aber würde bedeuten, den Nationalsozialismus zu verharmlosen. Fest steht aber, daß KPD und SED keine antifaschistischen Konsequenzen aus dem Naziregime gezogen haben. Sie wollten die ganze Macht. Der frühere SED-Historiker Kurt Pätzold hat das Ergebnis dieser Politik in einer PDS-Publikation eindrücklich beschrieben:

"Was bedeutete zu Zeiten der DDR die Besinnung auf antifaschistische Traditionen für eine Erziehung zur Demokratie, die doch den Namen nicht verdient ohne die Möglichkeit und die Wirklichkeit zu Widerspruch und Widerstand, wenn sie mehr als nur marginale Gegenstände betreffen? Was blieb von dem Programm der antifaschistischen Demokratie, wie es maßgeblich von jenen Kommunisten entwickelt wurde, die später im Staat DDR an führendem Platz standen? Die Fragen stellen heißt vom ruhmlosen Untergang des Staates handeln."

Pätzold stellt außerdem dar, daß die Kommunisten sich nach 1945 nicht befreit hätten von einem Politikverständnis, "das seine theoretische Quelle im Stalinschen Leninismus besaß und durch die jede Opposition verfolgende politische Praxis seit den zwanziger Jahren tief verwurzelt war." Der Berliner Historiker fährt fort:

"Die Geschichte des Verrats an der Idee des antifaschistischen Demokratismus begann mit der Eliminierung, zuerst der geistigen Diffamierung, alsbald auch der juristischen Verfolgung der von der Generallinie abweichenden Genossen. Niemals besaßen diese Vorgänge nur innerparteiliche Bedeutung. Die Freiheit der Meinungsäußerung gerade gegen eine Ansicht der Mehrheit, die dem Individuum oder der Minderheit doch geistige oder charakterliche Anstrengung abverlangt, galt nicht als Wert oder gar als Verdienst. Im minderen Falle wurde sie als Störung, im schwereren als Ausdruck von Feindschaft gedeutet, also abgetan oder bestraft. Das einst beschlossene Programm des Antifaschismus wurde praktisch zunehmend entdemokratisiert, und die Forderung nach eigenem Nachdenken und eigener Initiative, die im Untergrund eine so große Rolle spielte, sinnentleert und durch das Verlangen nach Disziplin ersetzt." 215

Das ist die Tradition Stalins und Thälmanns. Und deshalb sollten die Bürger der DDR Thälmann verehren, ihn aber nie kennenlernen. Nie lesen, was er schrieb und gesagt hatte. Natürlich war auch der SED-Führung diese groteske Glaubwürdigkeitslücke bewußt. Deshalb ließ sie 1979 eine dicke Thälmann-Biographie veröffentlichen. Wer sie liest, staunt darüber, wieviel man auf so vielen Seiten verschweigen kann. Aber der Normalleser konnte mangels Quellen nicht überprüfen, ob die Biographie ein zutreffendes Bild des KP-Führers zeichnete. Man lese die Darstellung der Biographie über eine beliebige Zeitspanne und lege Thälmanns Reden und Schriften daneben: Irgendwann wird Verschweigen zur Lüge. Im "ND" vom 26. September 1997 werden drei Personen nach ihrem Thälmann-Bild befragt. Darunter auch Professor Lothar Berthold, der als Koautor an der Thälmann-Biographie mitgewirkt hat. Für Berthold ist Thälmann nach wie vor "ein großer Führer seiner Klasse". Zu den Verdiensten des KP-Chefs rechnet Berthold auch die "Durchsetzung des Marxismus-Leninismus in der Partei", die "feste Freundschaft (...) zur Sowjetunion". Und: "Thälmann kämpfte um die Einheitsfront mit den Sozialdemokraten und eine breite antifaschistische Front der demokratischen Volkskräfte gegen die drohende faschistische Diktatur." Vielleicht sollte der Biograph noch einmal Reden und Artikel Thälmanns und die Einsichten der Brüsseler KPD-Konferenz studieren. Ich befürchte aber, daß er Realitätsverlust mit Wissenschaft verwechselt. "Marxismus-Leninismus", das war zu Thälmanns Zeiten Stalinismus in reinster Form, so, wie er im "Kurzen Lehrgang" festgezimmert war. Das war gnadenloser Kampf gegen "Abweichler". Die Übernahme dieses "Marxismus-Leninismus" war die Transplantation eines Krebsgeschwürs in die KPD. Diese Operation ist Thälmann gelungen. Daß er dafür heute noch gelobt wird, kann nur an nicht zu übertreffender Ignoranz liegen. Manchmal ist das "ND" noch genauso wie früher, als ich es abonniert hatte. Der Historiker Ronald Sassning, Autor von Biographien antifaschistischer Widerstandskämpfer, äußert auf derselben Seite zum Teil drastische Kritik an Thälmann. Aber am Schluß seiner Stellungnahme schreibt er: "Es war sein Grundanliegen, daß von deutschem Boden kein Krieg ausgehen darf." Nun fallen mir gleich eine Menge von Deutschen ein, die zu Weimarer Zeiten keinen Krieg wollten und dies auch glaubwürdig durch Worte und Taten untermauerten. Man denke nur an Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky, man denke vor allem an unzählige Funktionäre und Mitglieder der Sozialdemokratie, man denke an Gustav Stresemann. Man denke an Frauenrechtlerinnen und Pazifisten. Sie alle haben gegenüber Thälmann den Vorzug, sich auch vehement für Demokratie eingesetzt zu haben. Sie waren gegen jeden Krieg und für Demokratie. Beides kann man für die KPD Thälmanns nicht sagen. Selbstverständlich war Thälmann ein Anhänger des revolutionären Kriegs. Die KPD hatte eine eigene geheime Militärorganisation, die den Bürgerkrieg trainierte, und dies keineswegs nur aus Gründen der Selbstverteidigung. Als dritter kommt der einstige DDR-Staatsanwalt Peter Przybylski zu Wort. Er ist als Autor zweier bekannter Dokumentenbände unter dem Titel "Tatort Politbüro" einem breiteren Publikum bekannt geworden. Zu DDR-Zeiten kannten ihn Krimifreunde von der Mattscheibe, weil er die Serie "Der Staatsanwalt hat das Wort" moderierte. Przybylski spekuliert darüber, was aus Thälmann geworden wäre, hätte er überlebt. Er sieht ihn als Führer der SED und erklärt: "(...) doch gewiß wäre er nicht vor dem Volke nach Wandlitz geflüchtet." Na, wenn man bedenkt, daß sein großes Vorbild Stalin das Volk mied, mag man daran zweifeln. Aber das spielt hier keine Rolle. Richtig diagnostiziert Przybylski, daß Thälmann nicht anders gehandelt hätte als Wilhelm Pieck oder Walter Ulbricht. Mitten in den lehrreichen Ausführungen des einstigen Staatsanwalts aber finde ich zwei Sätze, die mir zu denken geben: "Deutschen Kritikern steht es schlecht zu Gesicht, heute ausgerechnet Thälmann in Grund und Boden zu stampfen. Wir sollten froh sein, daß es Männer wie ihn gab, weil es unsere moralische Kollektivschuld etwas mildert." Dazu zwei Einwände: Erstens wird die Schuld Deutschlands an Krieg und Völkermord durch nichts gemildert, auch nicht durch die Tapferkeit Ernst Thälmanns. Zweitens aber war Thälmann Vertreter eines Systems, das wie sein historischer Gegenspieler Menschen verachtete und zu Millionen massakrierte. Thälmann war gegen den Massenmörder Hitler, aber für den Massenmörder Stalin. Man sollte die These von der historischen Einzigartigkeit des Nationalsozialismus nicht mißbrauchen, um Verbrechen anderer zu leugnen oder zu verkleinern. Das tut Przybylski nicht. Aber er läßt diese Möglichkeit offen, weil er sein Argument nicht zu Ende führt. Und er unterstellt, daß nur diese beiden Möglichkeiten existiert hätten: Stalinismus oder Nationalsozialismus. Das ist aber eine arg begrenzte Weltsicht. Es hat immer auch den sozialdemokratischen, den christlichen und liberalen Antifaschismus gegeben. Nie mußte der Widerstand gegen den Nazismus antidemokratisch sein. Daß solch Einsicht für einen vom Todfeind inhaftierten kommunistischen Funktionär kaum zu erwarten war, ändert nichts an ihrer Richtigkeit.

Der Nationalsozialismus hat Millionen von Opfern gefordert. Warum wird von ihnen eines hervorgehoben, dessen Eignung zum Vorbild bezweifelt werden muß? Anders gefragt: Warum gibt es in linken Kreisen immer noch diese Affinität zum kommunistischen Widerstand? Warum immer noch die Heldensage von Ernst Thälmann, der mit seiner Partei die Weimarer Republik unterminiert hat, als es notwendig gewesen wäre, sie zu verteidigen? Weil es immer noch um die Rechtfertigung der kommunistischen Politik in Deutschland geht. Dies nicht in dem Sinn, daß die PDS insgesamt und unisono die DDR und die SED für das Beste hält, was die Deutschen bisher hervorgebracht haben, wie zum Beispiel Thälmann-Biograph Berthold. Sondern um zu retten, was vermeintlich zu retten ist: wenigstens wichtige Teile der eigenen Geschichte. Um ein Gegengewicht zu schaffen gegen die nur von wahnhaftem Realitätsverlust zu leugnenden Verbrechen der eigenen Bewegung, verweisen viele in und außerhalb der PDS auf die Unterstützung, die das Kapital, konservative Kreise, bürgerliche Parteien und Medien Hitler gewährt haben. An dieser Unterstützung gibt es keinen Zweifel, genausowenig an dem Skandal der Verdrängung der NS-Vergangenheit in Westdeutschland, an der Integration der Täter, der Weißwaschung der Nazirichter. Wahrlich, speiübel muß einem heute noch werden, daß es bis in unsere Tage dauerte, bis endlich Zwangsarbeiter entschädigt werden und Wehrmachtdeserteure nicht mehr als Verbrecher abgestempelt sind. Daß eine Ausstellung über unabweisbare Bluttaten der Hitler-Wehrmacht auf den Protest in konservativen Kreisen stößt, als wäre die so ehrenhafte Wehrmacht nicht Hitlers Hauptwerkzeug gewesen im Krieg gegen die Völker Europas. Aber wie kann man sich von diesem moralischen und politischen Sumpf abheben, wenn man die Untaten der eigenen Bewegung relativiert und aufrechnet? Die Tragödie des kommunistischen Antifaschismus besteht darin, daß er am Ende dazu diente, eine Diktatur zu rechtfertigen. Ich entsinne mich noch gut zahlloser Diskussionen über Erich Honecker. Schon zu dessen Amtszeit gab es viele Genossen, die es begrüßt hätten, wenn der altersstarrsinnige Parteichef abgetreten wäre. Viele haben Honecker vieles übel genommen, vor und nach der Wende. Aber dann kam immer die Einschränkung: "Immerhin, er war Antifaschist." Ulbricht und Honecker nutzten den Antifaschismus schamlos aus, um ihre Macht zu legitimieren. Sie paßten ihn willkürlich ihren Bedürfnissen an. Die jüdischen Opfer oder die Homosexuellen wurden herabgewürdigt, wenn nicht gar unterschlagen. Schon 1948 wurde die Mitgliedschaft in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) abhängig gemacht vom Wohlverhalten gegenüber der SED, ein Jahr später wurde schon gefordert, für die Ziele der Einheitspartei einzutreten. 1952/53 wurden Funktionäre jüdischer Organisationen in der DDR, die meist in der VVN engagiert waren, verfolgt. Die SED hat sich auch nicht der antisemitischen Kampagne Stalins in dieser Zeit verweigert. 1953 wurde die VVN verboten und damit der letzte Rest des unabhängigen Antifaschismus.216 Fein säuberlich wurde nun getrennt zwischen jenen, die "nur" Opfer Hitlers waren, und jenen, die im Widerstand kämpften. Zu den Widerstandskämpfern wurden aber auch jene gezählt, die im Moskauer Exil Stalins Mordgeschäfte mitbetrieben hatten. Nichtkommunistische Widerstandskämpfer kamen höchstens am Rande oder als KP-angeleitete Bündnispartner in Frage. Eine große Zahl von Widerstandskämpfern und Opfern des Nazidiktatur wurde verschwiegen und so herabgewürdigt. Die Überhöhung des kommunistischen Widerstands ist gleichbedeutend mit der Mißachtung des Antifaschismus anderer Kräfte. Der Berliner Historiker Jörn Schütrumpf, der der PDS angehört, schreibt in einer Parteiveröffentlichung seiner Partei ins Stammbuch: "Bis zum Ende der DDR [blieb] eine Hierarchisierung des Antifaschismus unübersehbar. Mit dieser Hierarchisierung wurde vom ersten bis zum letzten Tag der Führungsanspruch der Kommunisten legitimiert und so der gelebte Antifaschismus denunziert."217 Genauso ist es. Was ist das für ein Antifaschismus, der Antifaschisten verleugnet, geringschätzt, mißachtet unterdrückt? Und was ist das für ein Antifaschismus, der die Opfer des Stalinismus unterschlägt? Im Jahr 1991 hat Parteivorstandsmitglied Michael Schumann treffend festgestellt, daß die SED den Gedanken an die Opfer stalinistischer Herrschaft beiseite geschoben habe,

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"als sei dies ein anderes, nicht zur Sache gehöriges Thema. Aber die Opfer politischer Gewalt, die Trauer um sie und auch ihr Vermächtnis sind nicht selektierbar. Und diejenigen, die sich der Arroganz realsozialistischer Macht entgegenstellten, lebten den Geist des Antifaschismus. Es gibt ihn nicht halbiert. Das Vermächtnis der Opfer des Faschismus ist der ungeteilte Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung, gegen alle Formen der Verletzung von Menschenrecht und Menschenwürde."218

 

So offenkundig diese Tatsachen sind, so offenkundig ist die feste Überzeugung einer überwältigenden Mehrheit in der PDS, letztlich doch das bessere Deutschland zu repräsentieren. Hier wirken Doktrinen der SED weiter. Es wäre notwendig, sie aufzuarbeiten und zu überwinden, um den Antifaschismus aus Stalins Händen zu befreien. Das wäre eine antifaschistische Tat. Und nur von diesem Standpunkt aus wäre es möglich, den Widerstand gegen Hitler gerecht zu beurteilen. Ohne Rechtfertigungsverrenkungen, ohne Relativierung und ohne Aufrechnung. Aber um dieses zu leisten, müßten die PDS-Genossen heraus aus den Schützengräben des ideologischen Kriegs von einst. Sie müßten begreifen, daß es nicht ihre Geschichte gibt und nicht die der anderen. Daß man seine Geschichte nicht verliert, sondern erst gewinnt, wenn man sie in Frage stellt. Daß man die SED nur überwindet, wenn man auch ihre Feindbilder überwindet.

Als mich Fred Löwenberg kurz vor dem Abschied nach einem aufregenden Gespräch fragt, ob ich einen Artikel schreiben würde über das Thema "War Stalin ein Antifaschist?", habe ich natürlich darauf verzichtet, ein Honorar zu fordern. Fred Löwenberg deutete an, daß es in der Redaktion über dieses Thema Auseinandersetzungen gegeben habe. Er wollte meinen Artikel offenbar benutzen, um die Diskussion voranzutreiben. Statt eines Honorars bat ich Fred Löwenberg darum, mir zuzusagen, daß mein Artikel auch veröffentlicht würde. Für den Papierkorb würde ich nicht schreiben. Fred Löwenberg, der eigentlich Ferdinand heißt wie Lassalle, hat diese Bedingung akzeptiert. Er würde in der Redaktion von "Antifa" vorschlagen, den Artikel bei mir in Auftrag zu geben und ihn nach Ablieferung zu veröffentlichen.

Ich habe Fred Löwenberg meine Adresse und Telefonnummer hinterlassen, damit er mir schreiben kann, ob die Redaktion den Artikel veröffentlichen will. Leider hat sich Fred Löwenberg nicht gemeldet.

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