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2. Das erste Gefecht

 

Die parteioffizielle Niederlage des demokratischen Sozialismus

 

 

 

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In der einschlägigen Literatur steht meist, dass der Dresdener Parteitag die große Abrechnung mit Bernsteins Revisionismus gebracht habe. Das ist falsch. Denn zwischen den Parteitagen von Stuttgart (1898) und Hannover (1899) wurden sämtliche Argumente vorgetragen. Inhaltlich war der Streit bereits vor der Jahrhundertwende ausgetragen. Danach kam nichts Neues mehr.

Vielleicht wird mancher nun einwenden, es habe ja noch die »Massenstreikdebatte« gegeben, das heißt die Frage, ob die Arbeiter zum Mittel des General- oder Massenstreiks greifen sollten, um ihre politischen und sozialen Ziele durchzusetzen? Und ob sie es offensiv tun sollten oder nur, um Anschläge der Reaktion abzuwehren? Diese Debatte war auch eine Folge der russischen Revolution von 1905, als die Zarenmonarchie durch Massenproteste ins Wanken geraten war.

Die Fronten in diesem Streit aber laufen anders als in der Revisionismusdebatte, zumal Bernstein sich für den Massenstreik zur Durchsetzung allgemeiner, gleicher und geheimer Wahlen aussprach, ganz in der Logik seiner auf politische Aktivität zielenden Doktrin. Er hätte hier mit Rosa Luxemburg gegen den Parteivorstand, besonders aber gegen die Gewerkschaftsführer koalieren können, die das Recht zur Ausrufung von Massenstreiks usurpiert hatten in der Absicht, nie einen großen Streik auszulösen. 

Die Massenstreikdebatte entlarvte die Konzeptlosigkeit der Partei- und der Gewerkschaftsführer und ihr Beharren, um jeden, wirklich um jeden Preis zu bewahren, was man sich aufgebaut hatte.

Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften waren längst Arbeitgeber geworden, ihre Funktionäre begriffen sich als Beamte. Zuerst warteten sie darauf, dass die ehernen Gesetze der Geschichte ihre Pflicht taten. Dann freuten sie sich über jedes Jahr, das ohne Eruptionen verlief. Diese Schicht sozialdemokratischer Funktionäre fürchtete nichts mehr als die sozialistische Revolution, zumal sie ja schief gehen konnte. Friedrich Ebert war ihr Repräsentant. 

In dieser Beziehung hatte Lenin einen guten Riecher, denn er erkannte früh, dass diese Funktionärsschicht am Besitzstand sichernden Status quo klebte. Unter oftmals lauten sozialistischen Proklamationen wuchs die Sozialdemokratie in die bürgerliche Gesellschaft hinein, fast gegen ihren Willen. Sie schuf sich in der bürgerlichen Gesellschaft eine eigene Lebenswelt, aber diese Abgrenzung verband sie mit dem, wovon sie sich abkapseln wollte. Die Partei war, der Weltkrieg würde es zeigen, dem kaiserlichen Vaterland längst näher als der Revolution.

Damals entstand der sozialdemokratische Organisationsfetischismus. Hatten die Sozialdemokraten bis 1878, dem Jahr der Verabschiedung des Sozialisten­gesetzes, die Verfolgung auf sich genommen, um ihren Zielen treu zu bleiben, so fürchteten sie schon kurz nach dem Ende des Gesetzes nichts mehr als seine Wiederauflage. Dabei hatte die Sozialdemokratie unter dem Gesetz enorme Erfolge erzielt. Sie war keineswegs vernichtet, sondern immer stärker geworden. Dem sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsbeamten aber war diese Aussicht ein Gräuel, weil er den bescheidenen Wohlstand und die angesehene Stellung verlieren würde. Man vergisst es oft: Die Angst ist ein zentraler Faktor der Politik.

Die Massenstreikdebatte enthüllte, was Klarsichtige wie Rosa Luxemburg schon längst wussten, aber sie hatte keine weltanschaulichen Folgen für die Sozialdemokratie. Bernstein hingegen begründete den demokratischen Sozialismus. Während heute kaum einer noch weiß, um was es beim Massenstreik ging, ist die Sozialdemokratie ohne Bernstein nicht vorstellbar.

Nachdem die Partei mit all ihren Funktionären Bernstein unzählige Male als Ketzer abgeurteilt hatte, übernahm sie nach der Revolution, die sie nicht verhindern konnte, stillschweigend seine Lehren. Aber dazu kommen wir noch.

Zurück zum ersten parteioffiziellen Höhepunkt der Revisionismusdebatte, die in Wahrheit eine Debatte über marxistischen oder demokratischen Sozialismus war. Nach dem Parteitag in Stuttgart entbrannte der bis dahin mühsam unter der Decke gehaltene Streit vollends.

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Im Januar 1899 erschien Bernsteins berühmtes Buch über die <Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialdemokratie>, in dem er seine Auffassungen erläuterte. Noch vor dem Parteitag in Hannover veröffentlichte Kautsky seine <Antikritik>, und Rosa Luxemburg überarbeitete ihre Artikelserie gegen den Revisionismus und stellte sie zu einem Buch zusammen unter dem Titel <Sozialreform und Revolution>, ein Meisterwerk marxistischer Polemik.

In der sozialdemokratischen Presse wurde dem Streit viel Platz gewidmet, in vielen Parteiorganisationen wurde darüber diskutiert, und manche verabschiedeten flammende Resolutionen, die sie dem Parteitag zur Abstimmung vorlegen wollten. Bebel hatte einen Antrag gegen Bernstein angekündigt, sechs weitere Anträge mit gleichem Tenor folgten. Anträge zur Verteidigung Bernsteins waren nicht vorbereitet worden.

In einem Antrag von Stuttgarter Sozialdemokraten an den Parteitag in Hannover von 1899 hieß es:

»Die Parteiversammlung ist der Ansicht, dass Bernstein sich in seiner Schrift von dem grundsätzlichen Boden, auf dem die Sozialdemokratie steht, entfernt hat. Sie weist seine Kritik unserer Grundsätze und die von ihm empfohlene Taktik aufs schärfste zurück. Die Sozialdemokratie muss an ihrem Charakter als revolutionäre Kampfespartei festhalten und damit auch an ihrer erprobten Taktik. Im Interesse eines geschlossenen Auftretens des kämpfenden Proletariats erwartet die Versammlung von dem Parteitag in Hannover, dass er die Stellung der Partei zu den von Bernstein angeschnittenen Fragen klar präzisiert.«

War die Diskussion in Stuttgart von Vertretern der sich herausbildenden linken Strömung gegen erheblichen Widerstand erzwungen worden, so war sie in Hannover unausweichlich. Revisionisten wie Antirevisionisten hatten sich auf den Kraftakt vorbereitet. Davon zeugt bereits der Umfang der Grundsatzreden: Bebel sprach sechs und Eduard David als Vertreter des im Exil lebenden Bernstein drei Stunden. Die Zahl der Diskussionsredner war genauso stattlich wie die Länge ihrer meist gründlich vorbereiteten Beiträge. Im Vorfeld des Parteitags und auf diesem selbst zeigte sich auch, dass Bernstein und seine Anhänger sich allmählich zu einer organisierten Kraft um den Parteisekretär Ignaz Auer entwickelt

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hatten. Sie stimmten ihr Verhalten vor und auf dem Parteitag ab. Auer blieb seiner Linie treu und bemühte sich, der Kritik aus dem marxistischen Lager die Spitze zu nehmen. Seine Kalkulation war: Das reformistisch-revisionistische Lager darf sich öffentlich - auch parteiöffentlich - nicht zu stark profilieren, sondern muss die Partei Schritt für Schritt erobern. Auer schrieb Bernstein über Bebeis Antirevisionismusresolution nach London:

»Mit dem überall angebrachten Körnchen Salz sehe ich nicht ein, warum wir das nicht alle - Du mit eingeschlossen - sollten unterschreiben können. (...) In puncto Taktik bleibt es, wie es ist, d. h., wir handeln in den meisten Fällen, wie Du verlangst, nur machen wir den von Dir verlangten, aber praktisch den Selbstmord der Partei bedeutenden Streich nicht - offen zu erklären, dass wir von der bisherigen Praxis absehen und neue Formen anwenden.«

Es folgte ein bemerkenswertes Verwirrspiel um die Anti-Bernstein-Resolution auf dem Hannoveraner Parteitag, was die Fragwürdigkeit solcher parteioffiziellen Verdammungsurteile nur noch unterstreicht.

 

David versus Bebel und Luxemburg versus David

Im Mittelpunkt des Parteikongresses stand das Grundsatzreferat Bebels über die Angriffe auf die Grundanschauungen und die taktische Stellungnahme der Partei. Bebel griff die von den Kritikern des Revisionismus entwickelten Gesichtspunkte auf und fasste sie zu einer Stellungnahme zusammen. Nach einer Würdigung der Verdienste von Marx und Engels wandte er sich den strategisch-taktischen Thesen Bernsteins zu. Die revisionistische Auffassung, die sozialen Gegensätze und die Klassenkämpfe würden immer milder, wies er zurück, ganz im Gegenteil stehe der Sozialdemokratie das Schwerste noch bevor.

»Es ist für mich selbstverständlich, dass die Gewerkschaften wie die ganze Klassenbewegung an einer gewissen Stelle der Entwicklung mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung einen Kampf auf Leben und Tod zu führen haben.« Auf die von Bernstein vorgeschlagene Weise sei es ausgeschlossen, die Großindustrie und den Großgrundbesitz, die Banken usw. in die Hände zu bekommen, »da müssen wir also wohl oder übel die Fresslegende zur Wahrheit zu machen trachten, um den schönen geschmackvollen Ausdruck Bernsteins zu gebrauchen«. 

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In der Geschichte sei kein Beispiel einer Bewegung wie der sozialistischen. »Wo und wann sind aus den untersten Schichten Millionen und Millionen Arbeiter so weit in ihrer kulturellen und geistigen Entwicklung gekommen, dass sie aus sich selbst den Mut hatten, der ganzen Gesellschaft gegenüberzutreten mit dem ausgesprochenen Zweck, eine von Grund aus umgestaltete Staats- und Gesellschaftsordnung an deren Stelle zu setzen?« erwiderte Bebel auf die These, für eine allgemeine Enteignung gebe es kein Beispiel in der Geschichte. Auch habe man es nicht nötig, mit Gewalt vorzugehen. »Nicht die Revolutionäre sind es, die die Revolutionen machen, sondern zu aller und zu jeder Zeit die Reaktionäre.«

Bebel unterstrich energisch den revolutionären Charakter der SPD und wies die Aufforderung zurück, die Partei demokratisch-sozialistische Reformpartei zu nennen. Der Liberalismus sei die Ideologie des Bürgertums, jede noch so liberale Partei wolle im Gegensatz zur Sozialdemokratie die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung aufrecht erhalten. Der revolutionäre Charakter der Partei schließe selbstverständlich ein, »dass wir Reformen nicht zurückweisen, wo wir sie bekommen können. Das beweist unser Programm; es zerfällt nicht umsonst in einen prinzipiellen und einen praktischen Teil.«

Im Unterschied zu Stuttgart fand sich in Hannover mit dem Gymnasiallehrer Eduard David ein Verteidiger der Bernstein'schen Positionen. David war 1903 für den Wahlkreis Hessen 9 (Mainz) in den Reichstag eingezogen und gehörte zum rechten Flügel der Reichstagsfraktion, 1919 sollte er erster Präsident der Weimarer Nationalversammlung werden und danach mehrere Male Minister. Er plädierte unter anderem dafür, die Außenpolitik der kaiserlichen Regierung zu akzeptieren, und trat im Weltkrieg massiv und erfolgreich dafür ein, die deutschen Kriegsziele zu unterstützen. In diesem Punkt unterschied er sich von Bernstein, der sich bald nach Kriegsausbruch von der Mehrheitsmeinung distanzierte und auch nach 1918 darauf beharrte, dass Deutschland die Hauptschuld am Krieg trage. Im Gegensatz zu David war Bernstein der Nationalismus ein Gräuel. Beide aber trafen sich besonders in der Frage, ob Kleinbetriebe im Kapitalismus lebensfähig seien. Als Agrartheoretiker plädierte David vehement für den bäuerlichen Kleinbetrieb und damit gegen die so genannte Fresslegende, wonach immer und überall die Großbetriebe die kleineren niederkonkurrieren würden.

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David gehörte zu den Köpfen einer Zeitschrift, die 1895 unter dem Titel Der sozialistische Akademiker in Berlin gegründet und bald in Sozialistische Monatshefte umbenannt wurde. Diese Zeitschrift entwickelte sich bald zum Sprachrohr des Revisionismus und zur Konkurrenz für Kautskys Neue Zeit. Bernstein gehörte zu ihren Hauptautoren. Parteisekretär Ignaz Auer blieb der Einzige aus dem Parteivorstand, der die Sozialistischen Monatshefte explizit unterstützte.

Bei seinem Auftritt auf dem Parteitag in Hannover hielt David es allerdings für notwendig zu erklären, dass er sich nicht mit allen revisionistischen Thesen solidarisieren könne.

Ganz im Sinn der verabredeten Parteitagstaktik der Revisionisten bemühte sich David, die Gegensätze zwischen den Lagern als harmloser darzustellen, als sie waren. Der Widerspruch in den Auffassungen lasse sich im Wesentlichen dadurch ausdrücken: »Emanzipation durch wirtschaftliche Organisation oder Emanzipation der Arbeiterklasse durch Expropriation auf dem Wege der politischen Gewalt.« Damit forderte David jedoch nicht, mit der bisherigen Praxis zu brechen: »Ihr habt jetzt schon das Richtige getan, ihr braucht gar nicht eure Taktik zu ändern. Er [Bernstein; C. D.] will gar nicht unsere Tätigkeit irritiert wissen, er beurteilt sie nur anders, und das ist sehr wichtig.« Die Bernstein'sche Schrift breche nicht mit dem ökonomischen Prinzip der Sozialisierung, sie wolle nur die Gegenwartsarbeit stärker betonen. An die gewerkschaftliche, genossenschaftliche und politische Bewegung solle der Hebel angesetzt werden, »diese Dreieinigkeit soll hochgehalten werden. Dann erst wird die ganze Kraft entfaltet werden können.«

David präzisierte die praktisch-politischen Auffassungen des Revisionismus auf der Grundlage einer zutreffenden Interpretation der Bernstein'schen Ansichten. Wo Bernstein sich oft im Allgemeinen verlor - erklärlich durch seine seit 1878 anhaltende Abwesenheit von der deutschen Bewegung -, erläuterte David in nahezu programmatischer Form die nächsten Aufgaben, die der Revisionismus der Sozialdemokratie zuwies.

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Welch ein Kontrast. Gestern Abend, am 29. November 1999, war Großkundgebung der SPD in Lübeck. In der Musik- und Kongresshalle (MuK) warben der jetzige SPD-Generalsekretär Franz Müntefering - alias »Münte« - und Ministerpräsidentin Heide Simonis für den sozialdemokratischen Bürgermeisterkandidaten Bernd Saxe. Gut 500 Zuhörer waren da, der Kreisverband hatte kräftig getrommelt, um den Saal voll zu bekommen. 

Auch hier war zu bemerken, wie politische Kundgebungen immer mehr zu Inszenierungen für die Medien werden und die Zuhörer die Kulisse für das Fernsehen abgeben. Eine absurde Situation - drei Reden hören, klatschen, nach Hause gehen. Die Sache dauerte eine Stunde, damit die Medien etwas zu zitieren hatten, mehr ist nicht mehr nötig. 

Heide Simonis gab sich jovial-burschikos als Landesmutter und nannte den Landtagsabgeordneten Saxe, der Bürgermeister werden will, einen »Jungen«. »Münte« wusste offenbar zeitweise nicht, wo er war, sonst hätte er seine Genossinnen und Genossen nicht gebeten, es ihm zu ersparen, eine weitere sozialdemokratische Wahlniederlage in der »Berliner Runde« zu kommentieren - als gäbe es diese Runde anlässlich der Lübecker Bürgermeisterwahlen. Im Mittelpunkt seiner Rede stand die Verteidigung der Berliner Sparpolitik. Die SPD habe zu wenig darauf hingewiesen, dass man jetzt sparen müsse, um künftig wieder gestalten zu können. Dieses Argument hört man jetzt häufig, und manche Genossen vergessen angesichts dieser Perspektive ihren Unmut.

Aber was wollen die Sozialdemokraten gestalten? Heißt das Sparpaket nicht »Zukunftsprogramm 2000«? Haben sich die sozialdemokratischen Marketingstrategen verheddert? Wenn das Sparpaket nicht das Zukunftsprogramm ist, obwohl es so heißt, was soll dann in einem zukünftigen Zukunftsprogramm stehen? Darüber hat bisher keiner ein Wort gesagt. Gerhard Schröder und Co. verlangen offenbar einen Blankoscheck. Man unterstellt ihnen nichts, wenn man behauptet, dass Schröder den Zugewinn an Gestaltungsspielraum benutzen wird, um seinen wirtschaftsfreundlichen Kurs fortzuführen, selbst wenn immer mal wieder etwas an Sozialklimbim abfallen wird, um die Mitglieder und Wähler bei der Stange zu halten. Begeistert waren die Genossen in der MuK, als Müntefering

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den Kanzler als Retter der Arbeitsplätze beim Bauriesen Holzmann pries. Schröder habe durch sein Eingreifen die Pleite verhindert. Ja, wirklich? Waren die Holzmann-Bauten überflüssig, wären sie also mit Holzmann untergegangen? Oder hätten nicht andere Firmen Baustellen und Arbeitsplätze übernehmen müssen? 250 Millionen Mark Staatsknete sind ja auch nicht von Pappe. Man nennt dieses Eingreifen des Staats zugunsten von Konzernen »staatsmonopolistischen Kapitalismus«. Als in den siebziger Jahren Klaus-Uwe Benneter als Jusovorsitzender davon sprach, flog er aus der Partei. Holzmann hatte sich nicht zuletzt mit Dumpingpreisen in die Schulden gewirtschaftet, also zu Lasten seiner Konkurrenten. Und jetzt werden die Holzmänner dank der Schröder-Finanzspritze die Konkurrenten noch mehr bedrängen. Wie viele Arbeitsplätze kostet also die Holzmann-Rettung? 

Die taz titelte: »Holzmann saniert Schröder«. So ist es. Wie gut, dass wir einen sozialdemokratischen Kanzler haben, sagte »Münte« in der MuK. Leider aber hat er auch an diesem Abend nicht verraten, welche Ziele die gestaltungswilligen Sozis haben. Vielleicht soll das ja im nächsten Parteiprogramm stehen, an dem Gerhard Schröder und Rudolf Scharping arbeiten. Wenn ich mir aber die Programmautoren anschaue, dann kommt da eher die Beschneidung des Berliner Programms heraus, und zwar um alles, was zu konkret nach demokratischem Sozialismus aussieht.

Hinter dem »Zukunftsprogramm 2000« steht ein großes Fragezeichen. Wo es vom Gestaltungswillen sprechen sollte, klafft eine Leerstelle. In Wahrheit läuft es nach dem Motto: Wenn es VW gut geht, geht es Deutschland gut. Und um dieses Kredo ranken sich sozialdemokratische Girlanden wie etwa im Schröder/Blair-Papier.

Als die Revisionisten mit den »Marxisten« um Programm und Strategie stritten, ging es um die Zukunft Deutschlands. Keinem Revisionisten wäre es in den Sinn gekommen, Gestaltungswillen zu bekunden, ohne zu verraten, um was es geht.

Karl Kautsky hielt sich an seine Ankündigung, mit seiner Antikritik das letzte Wort in dieser Sache gesprochen zu haben. Er wies lediglich die von David geäußerte Ansicht zurück, man könne die ökonomische und politische Macht gleichzeitig gewinnen, ohne aber die marxistische Haltung zum Verhältnis von ökonomischem und politischem Kampf konkreter darzustellen.

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Dagegen hatte Rosa Luxemburg einen ihrer fulminanten Auftritte. Sie setzte sich vor allem mit der revisionistischen These über den Sozialisierungsprozess auseinander. Diese empfand sie als »schwächste Seite in der theoretischen Auffassung Bernsteins und seiner Anhänger«. Nach ihrer Meinung übersahen die Revisionisten den Unterschied zwischen den vergangenen und den heutigen Klassenkämpfen. Das Proletariat wolle keine neue Klassenherrschaft begründen, sondern jegliche Klassenherrschaft abschaffen, es wolle keine neue Form des Privateigentums schaffen, sondern dieses in den Besitz der Gesellschaft überführen. Hieraus schloss sie, dass es eine Illusion sei zu glauben, »das Proletariat könne schon innerhalb der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die wirtschaftliche Macht sich verschaffen; es kann nur die politische Macht sich verschaffen und dann das kapitalistische Eigentum aufheben«.

Die Revisionisten würden es sich sehr einfach machen, warf Rosa Luxemburg ihnen vor. Ihrer Auffassung nach könne die ganze praktische Politik bleiben wie bisher, vielleicht unter größerer Berücksichtigung der Genossenschaften, man müsse dann nur noch das Etikett »Sozialismus« darauf kleben, und schon sei dieser fertig, »Man vergisst nur, dass, wie Engels gesagt hat, wenn man auch die Kleiderbürste unter die Säugetiere klassifiziert, sie noch lange keine Milchdrüsen bekommt.« Wenn man schon alles, was die Partei mache, sozialistisch nenne, dann brauche man keinen Zusammenbruch herbeizuführen. Die Revisionisten würden die Evolutionstheorie so auffassen, dass sie lediglich »eine kleine Korrektur an der dialektischen Geschichtsauffassung vornehmen und die Geschichte ist wieder glatt und hübsch gelöst«. Tatsächlich seien aber alle bisherigen Klassenkämpfe so verlaufen, dass die aufstrebende Klasse im Schoß der alten Gesellschaft durch Reformen allmählich immer mehr erstarkt und gewachsen sei, bis sie sich stark genug gefühlt habe, die alten Fesseln durch eine soziale und politische Katastrophe abzustreifen.

Eine Revolution brauche durchaus nicht Blutvergießen zu bedeuten. Sie könne auch friedlich verlaufen, »und wenn je eine dazu Aussicht hatte, so ist es gerade die proletarische«. Aber dies hänge

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vom Gegner ab. Wie die Revolution sich gestalte, könne man nicht überschauen. »Es kommt nur auf das Wesen der Sache an, und das besteht darin, dass wir eine gänzliche Umbildung der herrschenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung erstreben.«

 

Ein erfolgloser Sieg

In der Resolution des Parteitags wurde der Revisionismus zwar nicht mit Namen genannt, aber sie sollte Bernsteins Ideen zurückweisen, besonders durch die Erklärung, weder den Namen noch das Programm oder die Taktik, also nichts an den sozialdemokratischen Grundanschauungen ändern zu wollen. Die Resolution wurde mit 216 gegen 21 Stimmen angenommen, und zwar in einer Fassung, die Bebels Entwurf sogar noch leicht verschärfte. Einigen linken Delegierten - so dem Breslauer Reichstagsabgeordneten Bruno Schoenlank - war sogar diese Fassung nicht scharf genug, sodass sie dagegen votierten.

Die Linken hatten Recht, denn die eher abstrakte Resolution gab der revisionistisch-reformistischen Minderheit zu viel Manövrierraum, sie lud sie geradezu ein, Bebeis Stoß auszuweichen. Die Resolution verfehlte durch einen taktischen Schachzug maßgeblicher Repräsentanten der Rechten zum Teil ihren Zweck, als diese ankündigten, sie in der Abstimmung unterstützen zu wollen. So erklärte der revisionistische Potsdamer Reichstagsabgeordnete Heinrich Peus: »Die Resolution Bebel wird ja angenommen werden. Cum grano salis kann sie jeder anerkennen.« Georg von Vollmar sagte für den mehrheitlich reformistischen bayerischen Landesverband zu, »mit Vergnügen einstimmig« für die Erklärung zu votieren. Auch Ignaz Auer begrüßte die Resolution, nicht weil sie gegen Bernstein gerichtet sei, sondern weil sie ebenso gut auch von Bernstein akzeptiert werden könne. »Und das bestätigt mir kein anderer als Bernstein selber, der mir schrieb, als ich ihm den Inhalt der ursprünglichen Resolution mitteilte: >Lieber Freund Auer, mit dem nötigen, bei solchen Dingen üblichen Körnchen Salz, stimme ich auch für die Resolution!<«

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»Die bisherige Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft gibt der Partei keine Veranlassung, ihre Grundanschauungen über dieselbe aufzugeben oder zu ändern.

Die Partei steht nach wie vor auf dem Boden des Klassenkampfs, wonach die Befreiung der Arbeiterklasse nur ihr eigenes Werk sein kann, und betrachtet es demzufolge als geschichtliche Aufgabe der Arbeiterklasse, die politische Macht zu erobern, um mit Hilfe derselben durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Einführung der sozialistischen Produktions- und Austauschweise die größtmögliche Wohlfahrt aller zu begründen.

Um dieses Ziel zu erreichen, benutzt die Partei jedes mit ihren Grundanschauungen vereinbare Mittel, das ihr Erfolg verspricht. Ohne sich über das Wesen und den Charakter der bürgerlichen Parteien als Vertreter und Verfechter der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu täuschen, lehnt sie ein Zusammengehen mit solchen von Fall zu Fall nicht ab, sobald es sich um Stärkung der Partei bei Wahlen oder um Erweiterung der politischen Rechte und Freiheiten des Volkes oder um eine ernsthafte Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterklasse und der Förderung von Kulturaufgaben oder um Bekämpfung arbeiter- und volksfeindlicher Bestrebungen handelt. Aber die Partei bewahrt sich überall in ihrer Tätigkeit ihre volle Selbständigkeit und Unabhängigkeit und betrachtet jeden Erfolg, den sie erringt, nur als einen Schritt, der sie ihrem Endziel näher bringt.

Die Partei steht der Gründung von Wirtschaftsgenossenschaften neutral gegenüber; sie erachtet die Gründung solcher Genossenschaften, vorausgesetzt, dass die dazu nötigen Vorbedingungen vorhanden sind, als geeignet, in der wirtschaftlichen Lage ihrer Mitglieder Verbesserungen herbeizuführen, sie sieht auch in der Gründung solcher Genossenschaften, wie in jeder Organisation der Arbeiter zur Wahrung und Förderung ihrer Interessen, ein geeignetes Mittel zur Erziehung der Arbeiterklasse zur selbständigen Leitung ihrer Angelegenheiten, aber sie misst diesen Wirtschaftsgenossenschaften keine entscheidende Bedeutung bei für die Befreiung der Arbeiterklasse aus den Fesseln der Lohnsklaverei. In der Bekämpfung des Militarismus zu Wasser und zu Lande

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und der Kolonialpolitik beharrt die Partei auf ihrem bisherigen Standpunkt. Ebenso verbleibt sie bei ihrer bisherigen internationalen Politik, die auf eine Verständigung und Verbrüderung der Völker, in erster Linie der Arbeiterklasse in den verschiedenen Kulturländern, abzielt, um auf dem Boden einer allgemeinen Föderation die Lösung der gemeinsamen Kulturaufgaben herbeizuführen.

Nach all diesem liegt für die Partei kein Grund vor, weder ihre Grundsätze und Grundforderungen noch ihre Taktik, noch ihren Namen zu ändern, d.h. aus der Sozialdemokratischen Partei eine demokratisch-sozialistische Reformpartei zu werden, und sie weist jeden Versuch entschieden zurück, der darauf hinausgeht, ihre Stellung gegenüber der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung und den bürgerlichen Parteien zu verschleiern oder zu verrücken.«

Resolution des SPD-Parteitags in Hannover, 1899

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Die »Marxisten« hatten nun zwar die große Mehrheit des Parteitags hinter sich, aber nicht zu Unrecht betrachtete der rechte Flügel den Parteitag als halben Sieg. Auer hatte die Entwicklung richtig vorausgeahnt, als er schon vor den Parteitagsdebatten an Bernstein geschrieben hatte: »Die theoretischen Streitfragen - Elends- und Zusammenbruch, materialist. Geschichtsauffassung, Werttheorie usw. - bleibt alles unberührt und somit offen.« Und Vollmar berichtete Bernstein nach dem Schlagabtausch: »Hannover ist, wie du gesehen hast, weit günstiger verlaufen, als sich voraussehen ließ - ich meine das natürlich nicht nur persönlich, in Bezug auf dich, sondern hinsichtlich der ganzen Parteientwicklung. (...) Gegen die >Bayernpolitik< erhob sich (...) kaum eine Stimme (...). Du siehst, wir sind auf besten Wegen und haben seit Stuttgart einen Fortschritt gemacht, den ich damals selbst nicht so vorausgesehen. Die Straße ist jetzt frei für die naturgemäße Entwicklung.« 

Diese Einschätzung traf den Nagel auf den Kopf.

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Von der Niederlage zur Niederlage zum Sieg

Auf dem Dresdener Parteitag 1903 wurde der Revisionismus dann beim Namen genannt. Auch auf den Parteitagen in Lübeck 1901 und in München 1902 hatte es Streit um Bernstein gegeben; der Erfolg der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen und der damit verbundene Vorstoß Bernsteins, die Partei solle den ihr zustehenden Vizepräsidenten des Parlaments nominieren, bildeten den Anlass zu einer heftigen Diskussion über Programm und Politik der Partei.

Aber an den Konfliktlinien änderte sich seit Stuttgart und vor allem seit Hannover nicht mehr viel, auch nicht als Bernstein aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrte. Mit Eduard David war auf dem Parteitag von 1899 ein geschickter und beschlagener Bundesgenosse gefunden, der die revisionistische Sache nicht schlechter vertrat, als der Meister selbst sie hätte vertreten können. Andere Mitstreiter wie Auer und Vollmar hielten es auch nach Hannover für ratsam, der Parteireligion zu huldigen, um ihr reformistisches Geschäft ohne Verurteilung durch Parteigremien im Stillen weiter zu betreiben. Sie leugneten wider besseres Wissen, dass es in der Partei grundlegende Differenzen gab, allenfalls Meinungsverschiedenheiten über Nebensächliches mochten sie zugeben. Das hinderte die Vertreter reformistischer und revisionistischer Positionen aber nicht daran, enger zusammenzurücken, vor allem um ihr gemeinsames Organ, die Sozialistischen Monatshefte.

Es lässt sich im Nachhinhein natürlich nicht beweisen, aber es spricht viel dafür, dass Auers Weg eines Revisionismus auf Filzlatschen am Ende erfolgreich war. Jedenfalls stimmten die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten im August 1914 für die kaiserlichen Kriegskredite unter Berufung auf die Prinzipien der Partei (dazu später mehr). Bernstein dagegen provozierte durch seinen vehementen Widerspruch gegen den parteioffiziellen Marxismus das Lager der Orthodoxie und festigte es. Er lud die »Marxisten« geradezu ein, ihn zu verdammen. Und die Mitgliedschaft hörte auf ihre Parteiführer, denn sie fürchtete den Verlust der Glück verheißenden Heilslehre. Viele Genossen brauchten die Gewissheit, dass die Gesetze der Geschichte auf ihrer Seite standen.

Man sollte den Parteitagen in Sachen Revisionismus aber nicht allzu viel Gewicht beimessen. Immer wurden Revisionismus und

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Reformismus verurteilt, und doch konnten alle prinzipienfesten Resolutionen den Gang der Entwicklung nicht aufhalten. Grundlegende theoretische Fragen konnten ohnehin nicht auf Parteitagen geklärt werden. Die Debattenredner konnten nur zusammenfassen und zuspitzen, was längst publiziert und bekannt war.

Aber sie machten eine Tatsache publik, die die Zeitgenossen erst viel später erkannten: die Teilung der Partei in drei Strömungen. Vergleicht man die Argumente Kautskys und Luxemburgs gegen Bernstein, dann sieht man auf der einen Seite die Konturen der sozialistischen Linken, wie sie sich später vor allem im Spartakusbund zusammenschließen sollte. Auf der anderen Seite personifizieren Bebel und Kautsky im Keim die Strömung, die manche Historiker als Zentrismus bezeichnet haben. Es ist der Versuch, die Partei im Interesse ihrer Einheit auf die alten Lehrsätze zu verpflichten. Deshalb wehrten Kautsky und Bebel Bernsteins Kritik ab, obwohl sie diese zunächst keineswegs so abwegig fanden. Und deshalb verschärfte sich auch der Kampf zwischen der Parteiführung und der Linken um Luxemburg, Mehring und Zetkin. Diese Gruppe nämlich verstieß ebenfalls gegen die Parteikonvention, die darauf zielte, die Kräfte zu sammeln, bis die Gesetze der Geschichte dem Kapitalismus den Garaus machten. »Negative Integration und revolutionären Attentismus« hat der Historiker Dieter Groh diese Haltung in seinem Schlüsselwerk zur sozialdemokratischen Geschichte genannt.

Der rechte Flügel der Partei, der seine Basis vor allem in Süddeutschland, aber auch in der Reichstagsfraktion fand, akzeptierte Bernsteins Thesen erst unwillig. Zwar entsprachen Bernsteins Ausrichtung auf die politische Praxis und der Verzicht auf den revolutionären Weg zum Endziel den reformistischen Intentionen. Aber die meisten Reformisten hatten mit Theorie, gleich welcher Art, nicht viel im Sinn. Natürlich begrüßten sie es, dass eine einstige Koryphäe des Marxismus sich ihrem Lager annäherte. Aber die dadurch ausgelöste Debatte schätzten sie nicht. Sie bemühten sich nach Kräften, eine Theorie, die bestens geeignet war, die reformistische Praxis zu begründen, in ihrer Wirkung abzuschwächen.

Bernstein bewahrte sich seine intellektuelle Unabhängigkeit bis zum Ende. Er gehörte zu den Gründern der USPD, erwarb aber nach Kriegsende auch wieder das Parteibuch der SPD. Als diese Doppelmitgliedschaften untersagte, verließ er die USPD und kam

vielen seiner Genossen zuvor, die diesen Schritt erst 1922 taten, nachdem sich bereits 1920 die meisten unabhängigen Sozialdemokraten mit der KPD zusammengeschlossen hatten. Aber auch in der Weimarer SPD blieb Bernstein ein kritischer Kopf. Er verärgerte seine Genossen wohl am meisten, als er darauf bestand, ,dass Deutschland Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs traf. Seine Partei dagegen behauptete, dass Deutschland von seinen Gegnern in den Krieg verwickelt worden sei. Wir wissen längst, dass Bernstein in diesem Punkt allemal Recht hatte.

Die SPD dagegen geriet durch ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 unter Rechtfertigungsdruck. Von der Linken wegen Verrats angegriffen, beharrte sie auf falschen Positionen. Wenn Deutschland am Krieg schuld war, dann war die Bewilligung der Kredite für die Regierung des Kaisers falsch. Die Größe, diesen fundamentalen Fehler einzugestehen, hatte die Partei nicht. Das trug dazu bei, die revanchistischen und nationalistischen Stimmungen aufrecht zu erhalten, die den Nährboden abgaben für Hitlers Aufstieg. Aber ich bin der Darstellung vorausgeeilt.

Rosa Luxemburg und Bernstein bemühten sich, die neuen ökonomischen und sozialen Verhältnisse im nationalen wie im internationalen Maßstab zu untersuchen, jedoch mit kontroversem Ergebnis. Bernstein leitete seine Schlussfolgerungen nicht aus Dogmen ab, sondern aus seiner Analyse der Realität. Sein Sozialismus hatte keine religiösen Züge wie die offizielle Lehre und erweckte schon deswegen viele Anfeindungen.

Kautsky dagegen erwies sich dieser theoretischen Herausforderung nicht gewachsen. Er sah sich als »Chefideologe« und Bewahrer der reinen Lehre, da war es schwer, die Lehre zu verbessern. Während auf dem revisionistischen und dem linken Flügel der Partei neue Schlussfolgerungen aus veränderten Verhältnissen gezogen wurden, versank der Zentrismus in theoretischer und strategischer Stagnation. Diese Erstarrung aber machte ihn und mit ihm die Partei wehrlos gegen den großen Krieg, der sichtbar heraufzog.

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