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Teil 2 Ursachen, Auswege und Tabus
3. Von der Haltbarkeit des Friedens
Der NATO-Doppelbeschluß als sicherheitspolitisches Lehrstück
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Wenn man sich die alle geschichtlichen Vergleichsmöglichkeiten hinfällig machenden Schrecken eines zukünftigen Krieges mit der Deutlichkeit vor Augen führt, wie wir es getan haben, rührt sich verständlicherweise das Interesse an der Frage, wie groß die Aussichten wohl sein mögen, in einer Welt, die solche Gefahren bereithält, noch einmal davonzukommen.
Da es sich um eine von Menschen für Menschen vorbereitete Apokalypse handelt, müssen wir bei unserem Versuch, Klarheit über unsere Chancen zu gewinnen, von den psychologischen Strukturen ausgehen, die das Denken jener Menschen beherrschen, von deren Entscheidungen unser Überleben abhängen wird.
Daß sie selbst alle friedliebend sind, davon dürfen wir getrost ausgehen. Daß niemand den Krieg will — niemand von denen jedenfalls, die heute in der Position sind, über die Frage entscheiden zu können(64) —, kann ebenfalls vorausgesetzt werden. Leider genügt das nicht, um die Möglichkeit der Katastrophe auszuschließen. Das ist eben das Besorgniserregende: daß wir uns in einer politischen Konstellation, in der alle sich vor dem Ausbruch eines Krieges fürchten, gleichwohl nicht dem Eindruck entziehen können, daß dieser von niemandem gewollte Krieg dennoch langsam, aber unaufhaltsam näherrückt. Dem Eindruck, daß wir, wie man treffend gesagt hat, schon nicht mehr in einer Nachkriegs-, sondern bereits wieder in einer Vorkriegszeit leben.
Unsere Lage wäre, so widersinnig das im ersten Augenblick klingen mag, weniger bedrohlich, wenn sich ein Übeltäter namhaft machen ließe. Wenn wir mit dem Finger auf diese oder jene Regierung zeigen und sie anklagen könnten, sie plane einen Angriffskrieg. Davon aber kann nicht die Rede sein. Selbst Konrad Adenauer hat am Ende seiner Regierungszeit mehrfach erklärt, daß er auch die Sowjetunion zu dem Kreis der Nationen rechne, die den Frieden wollten. Und auch den USA werden selbst ihre schärfsten Kritiker nicht die Absicht zu einem Angriffskrieg unterstellen.
Aber der Krieg, vor dem wir uns fürchten, ist eben auch nicht von der Art des von Adolf Hitler 1939 mutwillig vom Zaun gebrochenen Feldzugs zur Eroberung "neuen Lebensraums". Die Wiederholung eines solchen kriminellen Aktes ist angesichts der Aussicht auf Bestrafung durch einen nuklearen Abwehrschlag denkbar unwahrscheinlich geworden. Vor dem Ausbruch eines Krieges à la 1939 schützt uns das Prinzip der "Abschreckung" wohl tatsächlich. Was wir fürchten und mit Recht zu fürchten haben, ist etwas ganz anderes, nämlich der Ausbruch eines Krieges, den eigentlich niemand will: eines Krieges "à la 1914" infolge einer instabil werdenden, den Verantwortlichen aus den Händen gleitenden Krise, bei welcher die Entscheidungsabläufe sich zu verselbständigen beginnen.66/3
Die Sorge vor einer solchen Möglichkeit könnte paradox wirken, wenn man, wie das hier geschieht, die Rationalität der verantwortlich handelnden Personen voraussetzt. Denn der Ausbruch sowie die Führung eines Atomkrieges würden unstreitig als der Inbegriff eines irrationalen Geschehens anzusehen sein. Aber die Paradoxie ist nur scheinbar und bedeutet daher in der Realität keinen Schutz.
Denn die Rationalität der Mitglieder der sich selbst "Homo sapiens sapiens" nennenden Spezies ist, wie noch im einzelnen und mit naturwissenschaftlichen Fakten zu begründen sein wird, in einem höchst eingeschränkten Grade zu verstehen. Eine Überlebensgarantie läßt sich aus ihr ebenfalls nicht ableiten.
So besteht die Gefahr also in dem Ausbruch eines Krieges, den alle Welt abzuwenden sich bemüht.
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Wie kann das im einzelnen zugehen? Das ist die entscheidende Frage.
Wie läßt sich erklären, daß die Anstrengungen so vieler Politiker, deren Friedensliebe und Intelligenz generell gewiß nicht in Zweifel gezogen werden dürfen, das Anwachsen der Gefahr bisher nicht haben verhindern können?
Wie konnte der Eindruck entstehen, daß alles, was sie unternehmen, das Verhängnis im Gegenteil nur immer näherzubringen scheint?
Worin ist der Grund dafür zu sehen, daß trotz mehr als hundert Abrüstungsverhandlungen seit dem Ende des letzten Krieges der Berg an Vernichtungs- und Ausrottungsinstrumenten immer nur weiter angewachsen ist?
Dieses Phänomen ist es, das wir begreifen müssen, um unsere Lage durchschauen zu können. Seine Ursache gilt es herauszufinden, wenn wir dem verhängnisvollen Automatismus der bisherigen Entwicklung vielleicht doch noch entgehen wollen.
Das konkrete Beispiel, an dem der Versuch unternommen werden soll, ist der Ablauf der sogenannten "Nach"-Rüstung. An der Auseinandersetzung, in deren Verlauf über die Aufstellung neuer amerikanischer Waffensysteme — Pershing-2-Raketen und Cruise Missiles — auf bundesrepublikanischem Boden entschieden wurde, sind die psychologischen Mechanismen wie an einem Schulfall abzulesen.27
Wie war das doch noch?
Fast vier Jahre lang hatte sich die offizielle bundesdeutsche Sicherheitspolitik damals auf das Argument berufen, daß der sogenannte <Doppelbeschluß> der NATO "die Russen an den Verhandlungstisch bringen" würde und daß insbesondere die Androhung einer westlichen "Nach"-Rüstung mit landgestützten Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern die Chancen für ein Abkommen über die Reduzierung der in Europa stationierten Kernwaffen erhöhe.
Die "sogenannte" Friedensbewegung — sie als "sogenannte" zu titulieren war ebenfalls Bestandteil der offiziellen Politik — hatte dieser Prognose von allem Anfang an widersprochen.
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Sie hatte ihrerseits warnend vorhergesagt, daß es zur Aufstellung der neuen Systeme vom Typ Pershing-2 und Cruise Missiles kommen werde und daß dieser Schritt zwangsläufig eine Nachrüstung der Gegenseite und damit eine erneute Umdrehung der Rüstungsschraube nach sich ziehen werde. Sie hatte sich für diese Warnung als "Handlanger sowjetischer Interessen" beschimpfen und des Antiamerikanismus verdächtigen lassen müssen.
Dies waren die über Jahre hinweg unveränderten Fronten auf dem Felde westdeutscher Sicherheitspolitik. Welche der beiden Seiten die Situation zutreffend beurteilt hatte — die sich für einzig kompetent erklärende offizielle Politik oder die als "naiv" abqualifizierten Sprecher der Friedensbewegung —, stellte sich im Herbst 1983 schließlich innerhalb weniger Tage heraus: Am 22. November 1983 stimmte der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Koalition von CDU/CSU und FDP für die Aufstellung der neuen amerikanischen Waffensysteme auf bundesdeutschem Boden. Einen Tag später kündigte die Sowjetunion die Fortsetzung der Genfer Abrüstungsgespräche auf. Am 25. November trafen die ersten Pershing-2-Raketenteile an den vorbereiteten Aufstellungsorten bei Mutlangen und Schwäbisch Gmünd ein. Und inzwischen hat die UdSSR auch mit der Aufstellung neuer Raketentypen in der DDR und der CSSR begonnen — das Wettrüsten hat also den ebenfalls vorhergesagten erneuten Schub erfahren.
Übergehen wir die Tatsache, daß nicht ein einziger der sich bis dahin so selbstsicher gebärdenden Politiker nachträglich eingeräumt hat, er habe sich geirrt. Während man vorher jedes noch so begründete kritische Bedenken selbstherrlich abwies65, ging man anschließend mit Stillschweigen über die offenkundige Tatsache hinweg, daß die offizielle Politik gescheitert, daß es gründlich mißlungen war, durch das Beharren auf dem Doppelbeschluß "Frieden mit weniger Waffen" zu schaffen, wie man es beabsichtigt und den Wählern wieder und wieder in Aussicht gestellt hatte.
Solche Sprachlosigkeit angesichts eines selbst zu verantwortenden Fehlschlags ist als typisch menschliche Schwäche sicher verzeihlich.
Sie bleibt andererseits bedauerlich, da sie identisch ist mit dem Verzicht darauf, aus der mehrjährigen Debatte über das Für und Wider der sogenannten "Nach"-Rüstung die unübersehbaren Lehren zu ziehen. Die Weigerung, sich dieser Aufgabe zu stellen, wiegt schwer, denn die Geschichte des "Doppelbeschlusses" stellt ein sicherheitspolitisches Lehrstück ersten Ranges dar.
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Versuchen wir daher — des Vorwurfs mangelnder Kompetenz und daraus abzuleitender Anmaßung durchaus gewärtig — aufgrund allgemein zugänglicher und nachprüfbarer Quellen nach besten Kräften wenigstens zu einem bescheidenen Teil zu jener Aufarbeitung beizutragen, der sich die in der Regierungsverantwortung stehenden offiziellen Sicherheitspolitiker bisher verweigert haben.66
Am einfachsten dürfte es sein, wenn wir zu diesem Zweck die wichtigsten Argumente der "Nach"-Rüstungs-Befürworter der Reihe nach kritisch unter die Lupe nehmen. Natürlich kommt es uns dabei zugute, daß wir diese kritische Betrachtung post festum, in Kenntnis des Ausgangs der Dinge, vornehmen können.
Es ist jedoch nicht unfair, wenn wir von dieser uns "nach der Rückkehr vom Kirchgang" zugefallenen "Klugheit" Gebrauch machen, da es, um das nochmals zu betonen, nicht darum geht, in billiger Schadenfreude nachträglich den "Schwarzen Peter" auszuteilen. Die für die "Nach"-Rüstung ins Feld geführten Argumente haben ja, wie erinnerlich, nicht nur denen eingeleuchtet, die sie seinerzeit vortrugen und zur Grundlage ihrer Politik machten.
Zweck der hier versuchten nachträglichen Manöverkritik ist es allein, unser aller Skepsis angesichts bestimmter, auf den ersten Blick einleuchtend, ja geradezu trivial erscheinender "Sicherheitsargumente" zu schärfen. Denn eben das ist das entscheidende Problem: Nicht alles, was wir für den Frieden und unsere Sicherheit glauben tun zu müssen, dient dem angestrebten Zweck wirklich.
Die falsche Parallele:
München 1938
Eines der scheinbar "schlagendsten" Argumente der "Nach"-Rüstungs-Befürworter bestand und besteht in dem Hinweis auf das Scheitern der "Beschwichtigungspolitik", mit der die westlichen Demokratien in den dreißiger Jahren versuchten, Hitler von kriegerischen Abenteuern abzuhalten.
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Wäre dieser Wahnsinnige — und mit ihm unser in seiner Mehrheit geistig von ihm infiziertes Volk — nicht vielleicht wirklich von seinen kriegerischen Eroberungsgelüsten abzubringen gewesen, wenn diese Staaten ihm, anstatt seine mehr oder weniger plausibel begründeten Gebietsansprüche stückweise auf Kosten anderer Staaten zu befriedigen, ihre Entschlossenheit demonstriert hätten, allen Annexionsversuchen notfalls mit Waffengewalt entgegenzutreten? Wenn sie, Hitlers Beispiel folgend, selbst aufgerüstet hätten, anstatt dem Diktator ihre Friedenssehnsucht zu beteuern?
Haben die in diesen Demokratien damals existierenden pazifistischen Bewegungen etwa nicht dazu beigetragen, die Verteidigungsbereitschaft dem expansionslüsternen Nazireich gegenüber psychologisch zu unterminieren, und haben sie damit etwa nicht, wenn auch gewiß ungewollt und aus idealistischen Motiven, Hitler in die Hände gespielt? Und muß man deshalb nicht auch dem Minister Heiner Geißler beipflichten, der die Ansicht vertrat, die Pazifisten der damaligen Vorkriegsjahre hätten aus diesem Grunde auch eine Mitschuld daran zu tragen, daß Auschwitz möglich wurde? 67
"Wer vor dem Druck einer Diktatur weichen muß, weil er ihrer Macht nicht standhält", so folgerte Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner die "Nach"-Rüstungs-Debatte am 21. November 1983 einleitenden Rede, "verleitet sie zu immer neuer Erpressung und zur Anwendung von Gewalt."
Und weiter: "Wir sollten nicht jene bittere Erkenntnis des britischen Premierministers Neville Chamberlain vergessen, der nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens die englische Ohnmacht gegenüber dem national-sozialistischen Regime im Unterhaus beschrieb. Er sagte: ›Die Erfahrung der letzten Tage hat uns nur zu deutlich gezeigt, daß militärische Schwäche diplomatische Schwäche bedeutet.‹"
Die Parallelen liegen, so scheint es vielen, auf der Hand. Auch der sowjetischen Diktatur werden wir ihren expansionistischen Appetit, so wird uns hier suggeriert, nur durch einen — das militärische Gleichgewicht "wiederherstellenden" (zur Legitimität dieser Formulierung vgl. Anm. 92) — erneuten Rüstungsschritt, eben die "Nach"-Rüstung, austreiben können.
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Ein Verzicht auf die Aufstellung der neuen Waffensysteme Pershing-2 und Cruise Missiles wäre "ein Signal der Schwäche". Er liefe auf einen "einseitigen Verzicht auf Abschreckung" hinaus, der ein "unkalkulierbares Risiko" berge. "Für solche Wagnisse ist der Frieden in Freiheit ein zu kostbares Gut" (Helmut Kohl). Folgerichtig wird die "sogenannte" Friedensbewegung, die der Aufstellungsabsicht entschieden widerspricht, in dem Debattenbeitrag des CDU-Fraktionsvorsitzenden Alfred Dregger denn auch als "Unterwerfungsbewegung" bezeichnet: "Diese sogenannte Friedensbewegung, die nicht nach dem Willen ihrer Anhänger, aber objektiv eine Unterwerfungsbewegung ist ..."
Die Formulierung ist noch glimpflich. Sie enthält sich einer direkten moralischen Bezichtigung. Diese aber ist bei derartiger Betrachtungsweise mittelbar, sozusagen implizit, dennoch mitgedacht. Denn wer sich gegen die "Nach"-Rüstung engagiert und damit — ob nun absichtlich und bewußt oder nicht — russischen Interessen in die Hände spielt, der hätte, in Analogie zu Geißlers Argument, gegebenenfalls dann auch die Schuld an der Einrichtung neuer "GULAGs" in den von der Sowjetmacht zukünftig unterworfenen Gebieten mitzutragen.
Ist das alles etwa nicht schlüssig und zwingend? Läßt sich etwa nicht verstehen, daß jemand, der das alles glaubt und deshalb so argumentiert, außerstande ist, daran zu zweifeln, daß "unsere Sicherheit, der Schutz unserer Freiheit gebieten ..., daß wir mit der Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen beginnen" (Helmut Kohl)?
Verständlich im Sinne psychologischer Einfühlbarkeit ist das alles ohne jeden Zweifel. Wenn man die Argumentation jedoch einmal auf ihre logische und sachliche Substanz abklopft, bekommt man erstmals einen gehörigen Schrecken angesichts der Voreingenommenheit, mit der an diesen beiden schicksalhaften Novembertagen im Deutschen Bundestag eine Entscheidung durchgesetzt wurde, die unsere Sicherheit in der Tat existenziell berührt.
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Denn keine der Analogien und Parallelen, auf welche die "Beweisführung" sich stützt, hält einer kritischen Betrachtung auch nur einen Augenblick stand. Zwischen der Natur der uns bedrohenden Risiken und der Realitätsferne, mit der man an diesen beiden Tagen über sie diskutierte, wird ein wahrhaft bestürzender Abgrund sichtbar.
Der Ausgangspunkt der ganzen Argumentation ist schlicht unhaltbar.
Die historische Parallele zwischen der Situation von 1938 und der Lage, in der wir heute den Frieden zu sichern haben, existiert in Wahrheit überhaupt nicht. Es trifft zu — und selbstverständlich hat Chamberlain mit seiner von Helmut Kohl zitierten verspäteten Einsicht insofern recht —, daß die westlichen Demokratien unzureichend "nachgerüstet" hatten, während Hitler sich unübersehbar auf seinen Krieg vorbereitete. Hitlers Anfangserfolge belegen das Versäumnis zur Genüge.
Aber man braucht doch einige Zeit, um sich von seiner Verblüffung zu erholen, wenn ein deutscher Bundeskanzler diese damalige Situation an einer entscheidenden Stelle seiner Argumentation zum Parallelfall für die gegenwärtige Lage der Sicherheitspolitik erklärt. Denn während die damaligen Demokratien militärisch in jeder Hinsicht wirklich schwach waren, könnte das heutige westliche Verteidigungsbündnis jeden potentiellen Angreifer, wie jedermann weiß, gleich mehrfach hintereinander vernichten (wenn dann irgendein Sinn zu sehen sein sollte). Und auch der Gegner wäre dazu in der Lage.
Diese Situation mit der Situation der Westmächte im Jahre 1938 Hitler gegenüber zu vergleichen ist mehr, als gesunder Menschenverstand sich bieten lassen sollte. Wie könnte in der heutigen Lage ein Schritt nuklearer "Nach"-Rüstung unsere Sicherheit noch vergrößern?
Verschieben wir die Begründung der Sorge, daß er sie ganz im Gegenteil spürbar verringert haben dürfte, auf später. Beschränken wir uns für den Augenblick auf die Frage, wie ein solcher Schritt in einer Situation mehrfacher "Overkill"-Kapazitäten beider Seiten Sicherheit erhöhen oder, umgekehrt, wie ein Verzicht auf diesen Schritt Sicherheit verringern sollte. ("Ein einseitiger Verzicht würde die auf uns gerichtete nukleare Bedrohung nicht mindern, sondern die Gefahr eines Krieges erhöhen", behauptete Helmut Kohl in, wie wir unterstellen wollen, ehrlicher Überzeugung.)
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Die Frage ist rein rhetorisch. Denn wenn die Aussicht auf einen fünf- oder sechsmaligen Tod nicht ausreichen sollte, einen potentiellen Angreifer abzuschrecken, wie realistisch wäre dann die Annahme, daß die Fähigkeit, ihm dieses Schicksal siebenmal zu bereiten, den angestrebten Abschreckungseffekt würde herbeiführen können?
Was die "Nach"-Rüstungs-Befürworter während der ganzen jahrelangen Kontroverse zu keiner Zeit zur Kenntnis zu nehmen bereit oder fähig waren — die Argumente der "sogenannten" Friedensbewegung anzuhören haben sie sich konsequent geweigert —, ist die Tatsache, daß sich über den Akt einmaligen Umbringens hinaus aus einsichtigen Gründen nicht mehr wirkungsvoll drohen läßt. Während sie nach Kräften dazu beitrugen, das Instrumentarium zur Ausrottung ganzer Völker auf noch wahnwitzigere Größenordnungen anwachsen zu lassen, ist ihnen völlig entgangen, daß das Maximum der Möglichkeiten psychologischer Abschreckung längst weit überschritten ist. Sie scheinen außerstande, die schlichte Tatsache zu begreifen, daß, sollte das dem Westen heute zu Gebote stehende Vernichtungspotential zur Abschreckung noch immer nicht genügen, prinzipiell keine zusätzliche Drohung dazu fähig wäre.
Die eigentümliche, wie entschlossen wirkende Blindheit der Befürworter einer weiteren nuklearen Aufrüstung ist nicht zuletzt deshalb fatal, weil sie in dieser Runde den Gedanken erst gar nicht aufkommen ließ, die beabsichtigte Aufstellung der neuartigen Systeme könne vielleicht andere als reine Abschreckungszwecke verfolgen. Dieser Gedanke stellt sich zwangsläufig ein, sobald einem die Unmöglichkeit aufgegangen ist, Abschreckung auf diesem Wege zu "vermehren". Der Versuch, diesen argumentativen Zusammenhang in die Debatte einzubringen, wurde als Symptom eines angeblichen <antiamerikanischen Ressentiments> konsequent unterbunden.
Wir müssen darauf noch zurückkommen.
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Was aber ist nun von Geißlers Behauptung zu halten, zwischen Auschwitz und dem Pazifismus der dreißiger Jahre bestehe ein ursächlicher Zusammenhang? Läßt sich das Engagement der heutigen Friedensbewegung mit diesem "Argument" wirklich moralisch disqualifizieren? Nichts anderes bezweckte ja die ministerielle Anmerkung.
Mir scheint, der Zusammenhang ist grundsätzlich in der Tat nicht in Abrede zu stellen. Jedoch bedarf dieses Zugeständnis einiger zusätzlicher Bemerkungen, die in der Diskussion über den Geißlerschen Vorwurf bisher erstaunlicherweise unerwähnt geblieben sind: Um zu vermeiden, daß die Aussage, Pazifismus sei eine der Mitursachen für Auschwitz gewesen, als unfaßliche Verleumdung mißverstanden werden kann, ist es selbstverständlich notwendig, im gleichen Atemzug und mit der gleichen moralischen Rigorosität auch der zahlreichen weiteren Mitursachen des organisierten Völkermords zu gedenken.
Ja, die hohe Sensibilität für schuldhafte Zusammenhänge, die aus Geißlers Äußerung abzulesen wäre, wenn sie denn keine Verleumdung gewesen sein soll, zwingt uns dazu, diese anderen Mitursachen nach dem Grade der Schuld zu ordnen, die mit ihnen jeweils verknüpft gewesen ist.
Dann aber wäre, lange bevor die Rede auf die damaligen Pazifisten kommen könnte, zunächst einmal daran zu erinnern, daß seinerzeit ein ganzes Volk Millionen von Mitverursachern für Auschwitz gestellt hat. Jeder einzelne von uns Älteren, die wir überlebt haben, gehört dazu. Eben deshalb, weil wir überlebt haben. Denn niemand von uns kann die furchtbare Tatsache abstreiten, daß sein Überleben in der damaligen Zeit erkauft werden mußte mit der Bereitschaft, bei bestimmten Gelegenheiten Augen und Ohren zu verschließen. Und den Mund auch, immer dann, wenn vernehmlicher Protest moralische Pflicht gewesen wäre. Sicher: Was hätte es geändert, wenn man sich dafür in einem versteckten Keller von der SS zu Tode hätte prügeln lassen? Zu dieser Entschuldigung nahmen wir damals und nehmen wir auch heute noch Zuflucht.
Sie ändert nichts daran, daß die Entscheidung, die uns überleben ließ, uns unwiderruflich zu Mitschuldigen hat werden lassen. Jeden einzelnen. Nicht nur jeden Richter und jeden Anwalt und jeden Polizisten.
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Sondern auch jeden Kaufmann, jede Hausfrau und jeden Arbeiter. Alle. Niemand kann von jeglicher Mitschuld freigesprochen werden, mit der einzigen Ausnahme der kleinen Schar derer, die damals aktiv Widerstand leisteten und bewußt ihr Leben aufs Spiel setzten.
Auch die Soldaten dürfen wir keineswegs vergessen. Insbesondere nicht die Frontsoldaten, so tapfer sie immer gekämpft haben. Denn jedem von ihnen wäre bei der Anlegung des unerbittlichen Geißlerschen Maßstabes gerade der Todesmut vorzuhalten, den er an den Tag gelegt hat, weil eben seine Tapferkeit (wie ungewollt auch immer) mit dazu beitrug, Hitlers Herrschaft zu verlängern, und somit auch dazu, die Todesmühlen der KZs ein wenig länger in Betrieb zu halten, als es ohne seinen Einsatz möglich gewesen wäre.
Wen die Empfindlichkeit seines Gewissens dazu befähigt, der Mitschuld an der Ermöglichung von Auschwitz bis in diese feinen Verästelungen nachzuspüren, der mag dann in der Tat das Recht haben, am allerletzten Ende der hier nur höchst unvollkommen nachgezeichneten Stufenleiter moralischer Verstrickung, auch noch der Spur an Mitverursachung zu gedenken, die — möglicherweise — auf das Konto der damaligen Pazifisten entfällt. Ich möchte sogar annehmen, daß ein christlich denkender Pazifist die Demut aufbringen würde, das Dilemma anzuerkennen und diesem Gedankengang zu folgen. (Ich bezweifle nur, daß der Herr Geißler es so gemeint hat.)
Aber der ministerielle Versuch, der heutigen Friedensbewegung durch die Konstruktion dieses Zusammenhangs gleichsam prophylaktisch die Ehre abzuschneiden, war nicht nur perfide. Er war auch historisch unhaltbar. Ihm fehlt nicht nur die moralische, sondern auch jede reale Grundlage.
Denn die Friedensbewegung auch der dreißiger Jahre war, wie anders, ein auf der linken Hälfte des politischen Spektrums angesiedeltes Phänomen. Die politische Verantwortung aber trugen in den beiden die Anti-Hitler-Koalition anführenden Demokratien damals konservative (England) oder doch jedenfalls rechtsorientierte (Frankreich) Regierungen.
Daß Neville Chamberlain und Edouard Daladier so lange — wie der spätere Verlauf bewies: zu lange — zögerten, sich auf die von Hitler ausgehende Bedrohung vorzubereiten, hat daher auch keine pazifistischen Ursachen gehabt. Die inzwischen zugänglichen Dokumente erwecken vielmehr den Eindruck, daß man im Westen damals — wie heute! — die Sowjetunion für den eigentlichen Ausgangspunkt aller drohenden Gefahren hielt und der Versuchung erlag, das stramm antikommunistisch ausgerichtete Nazi-Deutschland als eine Art Wachhund gegenüber der kommunistischen Weltbedrohung zu betrachten.68
Nein, wenn denn schon eine Parallele zwischen der letzten Vorkriegszeit und der heutigen Situation gesehen werden soll, so bezöge sie sich auf einen ganz anderen Punkt: Viel eher erschiene es angebracht, eine Lehre aus dem Elend und der Kette furchtbarer Verbrechen zu ziehen, in die sich unser Volk damals verstrickte, weil es sich in einen blindwütigen Antikommunismus hatte hineintreiben lassen. In eine seelische Verfassung, in der das eigene Lager schließlich als der einzige Hort wahrer menschlicher Bestimmung erschien, woraus sich dann im weiteren Verlauf bekanntlich die Überzeugung entwickelte, zu einem Kreuzzug berechtigt zu sein, mit dem das Übel aus der Welt geschaffen werden sollte.
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