Anmerk-T1     Anmerk-T3     Start    Register   

Anmerkungen zu Teil 2

Fußnoten (64) bis (126) ab Kapitel 3 ab Buchseite 164 (bis 283)

Kathol. Kirche, Vatikan, Papst  

383-403

64)  Diese beruhigende Voraussetzung gilt ganz sicher nicht für alle Zukunft. Nach amerikanischen Schätzungen könnte die Zahl der "Mitglieder des Atomklubs" in den nächsten beiden Jahrzehnten auf 30 oder sogar 40 Staaten anwachsen. Das Risiko, daß sich darunter ein Staat mit einer Regierung (oder einem Diktator) befinden könnte, deren Entscheidungen mehr von religiösem oder ideologischem Fanatismus als von rationalen Erwägungen bestimmt sind, nimmt dabei selbstverständlich zu.

65Helmut Kohl als Gastredner auf dem Parteitag der CSU im Sommer 1983: Es sei eine "unerträgliche Arroganz", wenn da Menschen behaupteten, einen besseren Weg zu Frieden und Abrüstung zu kennen (als den der Beharrung auf dem NATO-Doppelbeschluß).

66)   Die Literatur zum Thema ist fast unüberschaubar. Ich stütze mich in erster Linie auf folgende Bücher: 

Auf weitere Quellen wird jeweils an den entsprechenden Stellen des Textes verwiesen.

 

67)  Bundesminister Heiner Geißler am 15. Juni 1983 vor dem Deutschen Bundestag (als Antwort auf ein "Spiegel"-Interview des Abgeordneten der Grünen Joschka Fischer, in dem dieser im Zusammenhang mit dem atomaren Wettrüsten von der Vorbereitung "eines zweiten Auschwitz" gesprochen hatte): 

"Herr Fischer, ich mache Sie als Antwort auf das, was Sie dort gesagt haben, auf folgendes aufmerksam: 
Der Pazifismus der 30er Jahre — der sich in seiner gesinnungs­ethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben; dieser Pazifismus der 30er Jahre — hat Auschwitz erst möglich gemacht." 

(Auszug aus dem Stenographischen Bericht des Deutschen Bundestages, 10. Wahlperiode, 13. Sitzung, Mittwoch, den 15. Juni 1983, S. 755)

 

68)  Ich verdanke diesen Hinweis einer brieflichen Mitteilung des Frankfurter Politologen Iring Fetscher. Der französische Ministerpräsident Daladier gehörte zwar einer Partei an, die sich "radikalsozialistisch" nannte. Von dem Namen darf man sich jedoch nicht irreführen lassen. Die von der "radikalsozialistischen" Partei — und der von Daladier von April 1938 bis März 1940 geleiteten französischen Regierung — verfolgte Politik würden wir aus heutiger Sicht eher "nationalliberal" nennen und dem Spektrum "rechts von der Mitte" zuordnen. Pazifistische Motive spielten in ihr jedenfalls keine bedeutungsvolle Rolle.

69)  Zit. nach Walter Jens in: Die Zeit vom 18. Mai 1984, S. 8

70)  Department of Defense, Fiscal Year 1981, S. 109 (zit. nach Anm. 66/3)

71)  Gern hätte ich hier eine Formulierung benutzt, die von jeglichem kränkenden Charakter frei wäre. Das ist jedoch schwierig, wenn man nur die Wahl hat, dem Mann, der die deutsche Politik verantwortet, in einem unsere Sicherheitsinteressen so wesentlich berührenden Punkt Unwissenheit (statt bewußte Falschaussage) zu unterstellen.

72  Jim Garrison u. Pyare Shivpuri, "Die russische Bedrohung. Mythos oder Realität", München 1985

73  Colin S. Gray u. Keith Payne, "Victory is possible", Foreign Policy, Nr. 39 (1980), deutsch unter dem Titel "Sieg ist möglich", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 12 (1980)

74  Dieses während der letzten Phase der "Nach"-Rüstungsdebatte immer wieder als "Beweis" der amerikanischen Verhandlungs- und Kompromißbereitschaft angeführte "Angebot" hätte es in der konkreten Praxis den Russen zugemutet, auf mehr als 60 Prozent ihres gesamten nuklearen Raketenarsenals zu verzichten, während die Amerikaner lediglich knapp 30 Prozent ihrer Vorräte hätten zu verschrotten brauchen (größer war ihr Anteil an landgestützten Raketen nämlich nicht ! ). "Bisher umfassendstes Abrüstungsangebot der Geschichte" (so der deutsche Bundeskanzler in der entscheidenden Bundestagsdebatte) oder abermals nur ein Fall westlicher "Desinformation", einer "Täuschung der Öffentlichkeit" durch die von ihr in die Regierungs­verantwortung gewählten Volksvertreter?

Und: Was ist eigentlich besorgniserregender, die Annahme, daß Kohl — und Dregger und Genscher und Waigel und all die anderen Sprecher der Regierungskoalition, die auf dem "Argument" herumritten — es nicht besser wußte, oder die Möglichkeit, daß sie im Geiste einer mit "Vasallentreue" noch milde charakterisierten Auslegung der deutschen Bündnis­verpflichtungen gegenüber der "Schutzmacht" bewußt die Unwahrheit sagten? 

Und: Wie glaubhaft ist eigentlich das "Erstaunen" eben dieser in der Verantwortung stehenden politischen Repräsentanten unserer Gesellschaft darüber, daß das Vertrauen der von ihnen regierten Bürger in ihre Weisheit und ihre Glaubhaftigkeit angesichts derartiger Vorkommnisse (und anderer Anlässe in anderen politischen Bereichen) neuerdings Symptome einer gewissen Überstrapazierung erkennen läßt?

385


75  Zur Auffrischung der Erinnerung hier noch einmal die wichtigsten Details zur Geschichte des legendären "Missile Gap" der 60er Jahre in der Form eines tabellarischen Vergleichs, den ich dem Buch von H. Afheldt (s. Anm. 66/3) entnehme: s. unten.

The Missile Gap — die "Raketenlücke" *

Jahr  —  USA—  SU  —  Balance (+ = Überlegenheit der USA; — = Überlegenheit der UdSSR)

A. Vorhergesagte Raketenlücke

 

USA  

SU

Differenz

1960

30

100

-70

1961

70

500

-430

1962

130

1000

 -870

1963

130

1500

-1370

1964

130

2000

-1870

B. Die wirklichen Zahlen

1960     18      4  (35)         USA    + 14   (-17)
1961     63     20 (50)          USA   + 43   (+13)
1962   294     75                 USA   + 219 
1963   424   100                 USA   + 324  
1964   834   200                 USA   + 634  

 

* Über die sowjetischen Zahlen herrscht noch heute Streit. Bei sonst guter Übereinstimmung differieren so die Zahlen von Neild für die sowjetischen Raketen 1960/61 von denen des International Institute for Strategie Studies, London, aus dem Jahre 1969. Die Zahlen des IISS (Military Balance 1969/70) sind deshalb in Klammern danebengesetzt.

386


76)  Helmut Schmidt, "Verteidigung oder Vergeltung. Ein deutscher Beitrag zum strategischen Problem der NATO", Stuttgart 1965, S. 108

77)  Horst Afheldt bringt in einer Fußnote auf S. 14 seines wiederholt zitierten Buchs (Anm. 66/3) ein groteskes Beispiel für diese Entwicklung. In der FAZ vom 23.10.1981 schrieb der Sicherheitsexperte der Zeitung, Adelbert Weinstein, in einem Kommentar: 

"Die Deutung der Atomstrategie ist schwierig. Der amerikanische Präsident hat aus dem Stegreif zu Grundsatzfragen der nuklearen Kriegführung Stellung genommen. Seine Formulierungen verrieten den Laien ... Das, was Atomstrategie genannt wird, ist seit einem Menschenalter Geheimwissenschaft. Sie wird von einigen Dutzend Analytikern, militärischen Fachleuten, Philosophen und Journalisten betrieben." 

Das mag wohl so sein. Der Gedanke, daß das Schicksal der Erde, unser aller Überleben, von den zu einer Geheimwissenschaft kultivierten esoterischen Gedankenmodellen einer Handvoll Insider abhängig geworden sein könnte, ist andererseits nichts weniger als beruhigend. Und außerdem ist Horst Afheldt beizupflichten, wenn er im Anschluß an Weinsteins Behauptung die Frage stellt, wie eine Abschreckungspolitik eigentlich funktionieren solle, wenn feststehe, daß der für diese Politik im Westen letztlich allein entscheidende amerikanische Präsident sie nicht verstehe und auch nicht verstehen könne.

78  Die im folgenden Text angeführten Fakten, Daten und Zahlen entstammen den in den Anmerkungen 66/2; 66/3; 66/4 und 66/7 sowie 72 angegebenen Quellen.

79  US Government Printing Office, Washington, D. C., 1981, S. 25 (zit. nach SIPRI, s. Anm. 66/2)

 

80  In dem Buch "Generale gegen Nachrüstung" (s. Anm. 66/4) heißt es dazu: 

"Kern der militärischen Argumentation in den Bedrohungs­analysen sind Potentialvergleiche. Man setzt das sowjetische Militärpotential mit Bedrohung gleich und erwartet, daß die Sowjetunion das Langzeit-Rüstungsprogramm der NATO, das Streben zur Schaffung eines Erstschlagspotentials und die Theorien über ›Enthauptungsschläge‹ nicht als Bedrohung empfindet. Mit Akribie werden die Zahlen von Panzern, Flugzeugen, Raketen, Schiffen und Divisionen gegenübergestellt. Die dabei aufgezeigten zahlenmäßigen Vorteile des Warschauer Pakts werden als militärische Bedrohung bezeichnet. Aus dieser Bedrohung wird dann die Notwendigkeit abgeleitet, mehr Mittel zur Verstärkung und Modernisierung des Verteidigungspotentials zur Verfügung zu stellen. Dieser quantitative Kräftevergleich besitzt erhebliche methodische Mängel. Dabei wird nach einer Methode verfahren, die — weder wissenschaftlich noch originell — einfach auf das begrenzte Fachwissen der Öffentlichkeit um militärische Fragen setzt und fehlende Beweiskraft durch ständige Wiederholung von ›Argumenten‹ zu kompensieren sucht." 

387


So würden zum Kräftevergleich z.B. selektiv solche Waffensysteme ausgewählt, bei denen die Gegenseite (quantitativ) überlegen sei, ohne ihren militärisch-strategischen Wert zu berücksichtigen. Ein Beispiel sei die ständige Betonung der östlichen "Überlegenheit" an landgestützten Raketen, von denen die Kontinentalmacht Sowjetunion in der Tat mehr besitze als die USA. Ferner werde der Kräftevergleich meist auf die beiden Supermächte allein eingeengt, anstatt NATO und Warschauer Pakt einander gegenüber­zustellen. Dabei bliebe dann nicht nur das nukleare Potential von England und Frankreich unberücksichtigt, sondern auch das den Warschauer-Pakt-Staaten weit überlegene konventionelle Potential der westeuropäischen NATO-Staaten, das "von der Sowjetunion fast allein kompensiert werden müsse" (S. 59/60). 

Die Autoren gehören einer Vereinigung an, die von zwölf ehemaligen — pensionierten bzw. aus Protest vorzeitig in den Abschied gegangenen — Generalen und Admiralen aus acht verschiedenen NATO-Ländern 1981 unter dem Namen "Generale für Frieden und Abrüstung" gegründet wurde. Der Kreis hat es sich zur Aufgabe gemacht, die westliche Sicherheitspolitik unter militärischen Gesichtspunkten kritisch zu analysieren und Öffentlichkeit sowie Politiker über die mit ihr verbundenen Gefahren aufzuklären. — Mangelhafte Sachkenntnis wird man diesem Gremium kaum vorwerfen können. Zu der grotesken Unterstellung mangelhafter nationaler Zuverlässigkeit hat sich bisher auch niemand hinreißen lassen. So beschränkt man sich von offizieller Seite darauf, diese Gruppe und ihre von Zeit zu Zeit veröffent­lichten Analysen zu ignorieren und nach Möglichkeit totzuschweigen — leider nicht ganz ohne Erfolg.

 

81  Aus der Zuschrift einer Olivia Heider an den "Monterey Peninsula Herald" vom 24.01.1983 — hier zitiert als Beispiel für eine Fülle gleichartiger Leserbriefe.

388


82)  Eine Anmerkung am Rande: Aus diesem Grunde scheint mir auch das neueste Theaterstück von Rolf Hochhuth, "Judith", schon im dramaturgischen Ansatz verfehlt zu sein. Hochhuth schildert darin einen dramatischen Konflikt, der sich an der Frage entzündet, ob die Tötung eines einzelnen Menschen moralisch zu rechtfertigen sei, wenn sich dadurch der Ausbruch eines Krieges verhindern ließe. Sein konkretes Beispiel ist die Person Ronald Reagan. Diese Wahl macht den ganzen dramatischen Konflikt aber von vornherein zu einer gewaltsamen und wirklichkeitsfremden Konstruktion, da sie dem amerikanischen Präsidenten eine Rolle zuschreibt, die mit der Realität wenig zu tun hat.

Reagan ist gewiß nicht der moderne Cato, der mit seinem "Ceterum censeo ..." eine primär an der Vermeidung aller friedensgefährdenden Risiken interessierte Gesellschaft demagogisch aufzustacheln versuchte. Wir haben ihn vielmehr doch wohl im ganz ursprünglichen Wortsinn als einen genuinen "Repräsentanten" seiner Wähler anzusehen, die ihn eben deshalb mit überwältigender Mehrheit in sein Amt beförderten, weil er genau das sagte und zu tun versprach, was die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung in der augenblicklichen Situation denkt und zu tun für richtig hält. Sein Tod würde an der grundsätzlichen Tendenz der amerikanischen Politik daher aller Voraussicht nach überhaupt nichts ändern — womit das dramatische Exempel Hochhuths a priori aller tragischen Qualität entbehrt.

83)  "Eine derartige Überlegenheit — weit über 1000 zu Null [Anmerkung: Gemeint sind wieder einmal ausschließlich die landgestützten SS-20-Sprengköpfe, siehe dazu Anm. 80] —, die immer noch wächst, bei einem derartigen Waffensystem — punktzielgenau; Reichweite bis zu 5000 km; selbst weitgehend unverwundbar, da beweglich —, eröffnet der Sowjetunion viele Möglichkeiten, unter anderem, mit einem einzigen Schlag alle wichtigen Ziele in Europa zu zerstören.

389


Dann wären die wichtigen Punkte zerstört. Europa würde verteidigungsunfähig. Es wäre aber nicht in der Fläche zerstört. Es stünde nach der Besetzung zur Ausbeutung zur Verfügung." (Alfred Dregger am 21.11. 1983 im Deutschen Bundestag, Quelle: Anm. 66/1, S. 43/44) 

Das ist der Tonfall schlichten Verfolgungswahns! Aber: Spiegelt nicht auch dieser Repräsentant die psychische Verfassung einer Majorität der von ihm Repräsentierten demokratisch-getreulich wider?

 

84  Angesichts der bei uns herrschenden Atmosphäre möchte ich mich an dieser Stelle vorsorglich gegen einen Standardvorwurf verwahren: Diese Überlegungen haben nicht die Feststellung einer "moralischen Äquidistanz" zu beiden Supermächten zum Ziel. Kurz und deutlich: Selbstredend wäre ich, wenn ich zwischen diesen beiden Möglichkeiten wählen müßte, immer noch lieber ein Neger in den USA als ein Dissident in der UdSSR. Die Argumentation bezieht sich allein auf die grund­sätzliche Austauschbarkeit der Rollen hinsichtlich des im Text beschriebenen psychologischen Mechanismus.

85  Christoph Bertram, des Liebäugelns mit Positionen der Friedensbewegung unverdächtiger Strategieexperte der "Zeit", charakterisierte den US-Falken Richard Perle folgendermaßen: "Richard Perle, Anfang Vierzig, liebevoller Familienvater und charmanter Gesprächspartner, begnadeter und gnadenloser Guerilla-Kämpfer in den Korridoren der Macht, der vom Pentagon aus den Feldzug gegen die gesamte amerikanische Rüstungskontrollpolitik seit Kennedy führt." (Die Zeit vom 7.12.1984, S. 68)

86)  Aus dem Hirtenwort der kathol. Deutschen Bischofskonferenz "Gerechtigkeit schafft Frieden" vom 27.04.1983

87)  Die Formulierung ist eine Abwandlung einer Metapher, mit der Walter Jens den Sachverhalt treffend erfaßte, als er von "den phantasietötenden Schmink-Worten der Vernichtungsindustrie" schrieb (s. Anm. 66/7, S. 19). Von einer sprachlichen "Verbiederung der Welt" sprach Günther Anders ("Die Antiquiertheit des Menschen", München 1956, 6. Aufl. 1983, S. 116 f.) schon vor Jahrzehnten aus Anlaß der — nur von wenigen als alarmierend erkannten — Tatsache, daß man der am 7. März 1955 gezündeten amerikanischen Wasserstoffbombe den gemütvollen Namen "Grandpa" (Großväterchen) gegeben hatte.

390


88 Bert Brecht, Ges. Werke, Bd. 9 (Gedichte, 2), S. 636

89)  Zitiert nach Walter Jens, s. Anm. 66/7, S. 7/8

90) Hans-Martin Gauger, "Unwahre Wörter?", Merkur, Februar 1985, S.169

91)  Dolf Sternberger, "Über die verschiedenen Begriffe des Friedens", Stuttgart 1984

92)  "Nun war aber für jedermann von vornherein klar — und dies hat sich nach erfolgter Nachrüstung bestätigt —, daß es dabei nicht bleiben würde. Es war klar, daß die andere Seite reagieren würde mit einem weiteren Schritt. Also war, was man ›Nachrüstung‹ nannte, von daher gesehen das genaue Gegenteil dessen, was dies Wort suggerierte", und in dieser Tatsache liege — "wie berechtigt auch immer das ›Nach‹ gewesen sein mochte" — seine "Unwahrheit" (H.-M. Gauger, s. Anm. 90). 

Im Zusammenhang mit der häufig vorgetragenen Erinnerung daran, daß der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt es gewesen ist, der diesen Doppelbeschluß des Jahres 1979 angeregt habe, ist auch daran zu erinnern, daß Helmut Schmidt wohlweislich intensive und ernsthafte amerikanische Verhandlungs­anstrengungen zur Verhinderung des Zwangs zu einer Nachrüstung als wesentlichen Bestandteil der Vertragskonstruktion angesehen hatte. 

Aber abgesehen davon, daß die Amerikaner zwei Jahre, also nicht weniger als die Hälfte der für diese Verhandlungen zur Verfügung stehenden Zeit, untätig verstreichen ließen, hat sich nachträglich in aller Deutlichkeit gezeigt, daß der sich bei den Gegnern der "Nach"-Rüstung schon früh regende Verdacht, die Amerikaner verhandelten gar nicht ernsthaft und seien im Grunde lediglich an der Aufstellung ihrer neuen "Systeme" interessiert, nicht aus der Luft gegriffen war (und auch nicht Ausdruck "antiamerikanischer Ressentiments" gewesen ist). 

391


Seine Berechtigung hat der amerikanische "Time"-Mitarbeiter Strobe Talbott in dem Buch "Raketenschach" (München 1984) inzwischen anhand amerikanischer Dokumente mit deprimierenden Details unwiderlegbar dokumentiert. Aber auch diese Veröffentlichung, die nachweist, daß die Verantwortlichen der amerikanischen Regierung an einem Verhandlungserfolg in Genf überhaupt nicht interessiert waren, daß sie seine Möglichkeit, wo immer sie sich anzudeuten schien, sogar nach Kräften sabotiert haben, hat keinen unserer "Nach"-Rüstungsbefürworter wenigstens nachträglich irritiert. Seit die Aufstellung der neuen "Systeme" begonnen hat, ist das Thema vom Tisch. So daß jetzt der Verdacht sich regen muß, daß auch sie in Wirklichkeit nur daran, nur an dieser Hälfte des "Doppel-Beschlusses, wirklich interessiert gewesen sind. 

Diese Annahme würde immerhin die sonst in diesem Kreise einigermaßen verwunderliche "Ignoranz" verständlich werden lassen — nämlich als nur vorgetäuscht —, die objektiv hinter einigen ihrer zentralen Argumente nachzuweisen ist. — Die "Generale für Frieden und Abrüstung" hatten den NATO-Doppelbeschluß schon 1983 als Kombination "nuklearer Drohgebärden gegenüber der Sowjetunion mit einem großangelegten Täuschungsmanöver gegenüber der aufs höchste gefährdeten Bevölkerung Westeuropas" bezeichnet (s. Anm. 66/4, S. 207). 

Übrigens spricht schon die Tatsache Bände, daß die offizielle amerikanische Behörde für Rüstungskontrolle und Abrüstung (ACDA) nur über einen Etat verfügen kann, der niedriger ist als die für die US-Militärkapellen bewilligte Summe (66/4, S. 204).

 

93  Egon Bahr, "Atomare Klassenunterschiede", Der Spiegel, Nr. 7/1984, S. 36 f. Die US-Regierung hat ihre Konsultations­verpflichtung ihren Verbündeten gegenüber ohnehin von vornherein durch die Einschränkung relativiert, daß sie nur dann gelte, wenn die zeitlichen Umstände in einer Krise das zuließen (Nino Pasti, "Militärisches Kräfteverhältnis und Nachrüstung", Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/1981, S. 190). 

392


Was das für die Praxis bedeutet, kann man sich an den Fingern abzählen. H. Afheldt erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß die USA nicht einmal ihren engsten Verbündeten Großbritannien informierten (geschweige denn konsultierten), bevor sie im November 1983 die — zum britischen Commonwealth gehörende! — Insel Grenada besetzten, eine Erfahrung, die "doch dem letzten Träumer die Augen öffnen" sollte (Anm. 66/3, Fußnote 428 auf S. 218).

94  Aus der Erklärung von US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger zum Etat der Streitkräfte 1984: "Ferner ist die Erkenntnis wichtig, daß Abschreckung zwar einen bewußten Entschluß zur Führung eines Angriffs abwenden, doch nicht alle Arten von Konflikten verhindern kann ... Abschreckung kann auch einen unbeabsichtigten oder durch einen ›Betriebsunfall‹ ausgelösten Ausbruch von Feindseligkeiten nicht verhindern." (Zitiert nach H. Afheldt, Anm. 66/3, S. 242, Fußnote Nr. 490)

 

95)   Ich verkenne nicht den hohen moralischen Rang, den das Konzept der "zivilen Verteidigung" (einer Art solidarischen Generalstreiks eines ganzen, von einer fremden Armee unterdrückten Volkes gegenüber den Besetzern) allen bewaffneten Formen von Verteidigung gegenüber in der Theorie beanspruchen kann.

Wer jedoch Besetzungen und Besatzungssituationen unter kriegerischen Umständen selbst erlebt hat — also die gesamte ältere Generation, wenn die "Besatzer" des Jahres 1945 auch nicht als "Feinde" erlebt wurden —, wird sich über die Realisierbarkeit dieser "gewaltfreien Strategie der Verteidigung" keine Illusionen machen.

Ihre Protagonisten unterschätzen die Bereitschaft zur Kollaboration und die Korrumpierbarkeit von Menschen in Notsituationen (z.B. durch das Angebot ausreichender Nahrungsmittel für die eigenen Angehörigen) wirklichkeitsfremd und hoffnungslos. Sie überschätzen gleichzeitig mindestens ebensosehr die Bereitschaft zum Märtyrertum bei einer genügend großen Zahl derer, die ihren passiven Widerstand trotz der voraussehbaren Konsequenzen (Geiselnahmen, Verschleppungen, Erschießungen) aufrechterhalten müßten, wenn die Methode Erfolg haben soll. Es genügt wohl ein Blick auf die Situation in Polen, um den illusionären Charakter dieser von erstaunlich vielen Jugendlichen allzu optimistisch beurteilten "Verteidigungsmethode" zu durchschauen.

393


96)  Winfried Böttcher, "Abschreckung als untaugliches Prinzip der Kriegsverhütung", in: s. Anm.66/5, S. 25

97)  Ein ebenso deprimierender wie instruktiver Beleg für die obrigkeitliche Arroganz — man kann es anders nicht nennen —, mit der in unserer Republik Verantwortung tragende Politiker sich über alternative Vorschläge hinwegsetzen zu können glauben, ist eine Stellungnahme von Minister Heiner Geißler zum "Mainzer Appell", der als "Gastkommentar" am 9.7.1983 (also wenige Tage nach dem Naturwissenschaftlerkongreß) in der Mainzer "Allgemeinen Zeitung" erschien. 

Darin wird den Natur­wissenschaftlern unterstellt, sie hätten empfohlen, auf ein Gleichgewicht gegenüber der Sowjetunion zu verzichten. Nicht weniger als dreimal behauptet der Autor ferner, die versammelten Wissenschaftler hätten sich für einseitige Abrüstungsschritte ausgesprochen. Entweder hat Minister Geißler es nicht der Mühe wert befunden, den "Mainzer Appell" — in dem man beide "Empfehlungen" vergeblich suchen wird, ja, der einen unmittelbaren Übergang zu Abrüstungsschritten sogar als "grundsätzlich unmöglich" bezeichnet — überhaupt mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu lesen, oder er hat (wiederum muß diese unschöne Möglichkeit in Erwägung gezogen werden) mit manipulierten Zitaten versucht, den Unterzeichnern des Appells — darunter prominente und in rüstungstechnischen Fragen sachkundige Mitglieder der Max-Planck-Gesellschaft und die Institutsdirektoren zahlreicher deutscher Universitäten — prophylaktisch die Glaubwürdigkeit zu beschneiden. 

Außerdem drängt sich die Frage auf, woraus der Familienminister und Parteisekretär eigentlich die eigene Kompetenz zur Beurteilung der von einigen hundert Naturwissen­schaftlern in mehrtägigen Arbeitskreisen produzierten Ergebnisse ableitet und das Recht, sie in der (oberflächlichen) Form abzuqualifizieren, wie er es in seinem "Gastkommentar" tut.  

Genau diese obrigkeitliche Selbstüberschätzung, die gegen alle Kritik und alternative Anregungen "von außen" total immunisiert, trägt zu dem lebens­gefährlichen Kurs bei, den die offizielle Sicherheitspolitik eingeschlagen hat.

394


98  Briten und Franzosen allein werden bis zum Anfang des kommenden Jahrzehnts über mehr als 1000 Sprengköpfe dieser Kategorie auf U-Booten verfügen (die Umrüstung hat bereits begonnen). Ferner sind der NATO von den USA schon vor Jahren drei Poseidon-U-Boote unterstellt worden. (Um auch daran nochmals zu erinnern: Kein einziger dieser Sprengköpfe ist bei der "Nach"-Rüstungsdiskussion mitgezählt worden — es handelte sich ja nicht "um landgestützte Mittelstreckenraketen" bzw. um englische und französische "nur der eigenen nationalen Verteidigung dienende" Abschreckungswaffen, von denen sich die Russen in Genf nach westlicher Auffassung nicht bedroht zu fühlen hatten.) Jedenfalls: Selbst dann, wenn man das gesamte US-amerikanische Vernichtungspotential unberücksichtigt läßt, stände zur Zerstörung Rußlands noch eine "Overkill"-Kapazität zur Verfügung.

 

99  Dies gilt jedenfalls für unsere, die westliche Seite. Aus östlicher Perspektive ließe sich das nicht mit der gleichen Bestimmtheit sagen. Hier kommt wieder die unvergleichlich größere technologische Innovationskraft der kapitalistischen Länder ins Spiel. Wenn die Russen einseitig auf Weiterrüstung verzichteten, wäre die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß sie sich innerhalb weniger Jahre in einer waffentechnisch hoffnungslos unterlegenen Position wiederfinden könnten. Auch diese Rahmen­bedingungen stellen daher eine Teilantwort auf die Frage dar, warum "ausgerechnet wir anfangen sollen, aufzuhören": Der Westen kann sich diesen Schritt aufgrund seiner technischen Überlegenheit sehr viel leichteren Herzens leisten als der östliche Kontrahent.

395


100)  S. Anm. 65

101  Ich stütze mich im folgenden vor allem auf die Veröffentlichungen der beiden Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Prosi: "Wachstumsorientierte Umweltpolitik in der Marktwirtschaft", Vortrag an der Universität Kiel am 1.6.1984, und Gerhard Scherhorn: "Ökonomie und Ökologie", Vortrag an der Universität Stuttgart am 22.11. 1984. Die besonders wichtige Publikation von Scherhorn enthält zahlreiche Angaben über weiterführende Literatur. Herangezogen habe ich ferner Publikationen der Biologen Hans Mohr: "Qualitatives Wachstum — eine Strategie für die Zukunft?", Vortrag an der Universität Stuttgart am 7.6. 1984, sowie Hubert Markl: "Untergang oder Übergang — Natur als Kulturaufgabe", Mannheimer Forum 1982/83, S. 61. (Die Veröffentlichungsreihe "Mannheimer Forum" ist im Handel nicht erhältlich, aber als Leihgabe über alle größeren Bibliotheken zu beziehen.)

102  Friedrich August von Hayek, "Die drei Quellen der menschlichen Werte", Tübingen 1979

103  So der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Christian Binswanger (zit. nach G. Scherhorn, s. Anm. 101)

104  G. Scherhorn (s. Anm. 101) schreibt, daß es im kapitalistischen Wirtschaftssystem zweifellos ökonomische Anreize gebe, Kosten abzuwälzen. Das gelte aber für sozialistische Systeme in gleichem Maße. Diese hätten ihre eigenen Schwierigkeiten, z. B. mit der Berücksichtigung der Seltenheit des Vorrats an naturgegebenen Gütern. "Sie haben die Arbeitswertlehre, die es ihnen erschwert, in den Wert eines Naturgutes nicht nur die Kosten der Bearbeitung einzubeziehen, sondern auch die Seltenheit des Vorrats. Sie haben die Unzulässigkeit von Privateigentum, die es ihnen erschwert, den einzelnen Betrieb dazu zu bringen, mit naturgegebenen Gütern haushälterisch umzugehen." Man sieht: Ökologische Belastung ist unabhängig von der jeweils ideologischen Position allein eine Frage extensiver wirtschaftlicher Produktivität, gekennzeichnet durch die Tendenz, "interne" Kosten soweit irgend möglich zu reduzieren.

396


105  Alle wesentlichen Fakten und Argumente enthält in knappster Zusammenfassung: "Hunger durch Überfluß?", Arbeitsheft zum Jahresthema "Brot für die Welt 1981/82", hrsg. v. d. Ev. Kirche. Darin auch (S. 36) der (auszugsweise) zitierte "Meditationstext" von B. Burkhardt.

106  Rupert Lay, "Credo. Wege zum Christentum in der modernen Gesellschaft", München 1981, S. 135

107  1981 trafen sich in Malente (Holstein) namhafte Demographen und Bevölkerungsstatistiker zu einem Symposion mit dem Titel "Dritte Welt — ganze Welt? Das Bevölkerungswachstum bedroht die Menschheit". Teilnehmer waren u.a. Hermann Schubnell (Univ. Mainz, ehem. Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung), Gabriele Wülker (Univ. Bochum, Vorsitzende des Deutschen Komitees der UNICEF), Heinz-Ulrich Thimm (Dir. d. Instituts für Welternährungswirtschaft, Univ. Gießen), Hans Jochen Diesfeld (Univ. Heidelberg) und Karl W. Deutsch (Harvard University, Wissenschaftszentrum Berlin). Im folgenden Text stütze ich mich u. a. auf die Referate und Diskussionen dieses Kongresses, dessen Ergebnisse unter dem angegebenen Titel als 5. Band der Dräger-Stiftung 1982 in Bonn erschienen sind. — Eine weitere wichtige Quelle (für die Umweltproblematik insgesamt, darin u. a. auch ein zusammenfassender Artikel zur Problematik des Bevölkerungswachstums) ist: Gerd Michelsen, Uwe Rühling, Fritz Kalberlah (Hrsg.), "Der Fischer Öko-Almanach", Öko-Institut Freiburg, Frankfurt/M. 1982. Neben enzyklopädisch konzipierten Spezialartikeln zu allen einschlägigen Grundproblemen eine Fülle von Literatur und eine Zusammenstellung der Anschriften aller staatlichen, politischen und privaten Institutionen und Organisationen aus dem Umweltbereich.

108  Beispiel: Im Jahre 1904 ließ ein General L. von Trotha den Stamm der Hereros, der sich zur Befreiung seiner von den Deutschen besetzten Heimat ("Deutsch-Südwest-Afrika") zu einem Aufstand hatte hinreißen lassen, in die wasserlose Omaheke-Steppe treiben. Von den etwa 80.000 Männern, Frauen und Kindern kamen fast alle um. (Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 17. Aufl., Wiesbaden 1969, Bd. 8, S. 395) 

Ich habe keine Hinweise darauf finden können, daß dieser Massenmord, verübt von einer Armee, die sich auf ihren Ehrenstandpunkt nicht wenig zugute tat, in der damaligen Gesellschaft eine dem Ausmaß der Tat entsprechende Entrüstung ausgelöst hätte.

397


109  Hermann Schubnell, "Die demographische Situation in Entwicklungsländern — Fakten, Trends, demographische Ursachen und Auswirkungen", in: s. Anm. 107/1, S. 15

 

110 Die Zahlen des vorhergehenden Absatzes sowie die folgenden Beispiele sind dem Beitrag von Hermann Graf Hatzfeld, "Dritte Welt: Entwicklung zur Unterentwicklung", in: s. Anm. 107/2, S. 308, entnommen.

111  Mit diesem Satz, dem niemand in der Runde der anwesenden renommierten Bevölkerungswissenschaftler widersprach, eröffnete H. J. Diesfeld auf der Malenter Konferenz des Jahres 1981 sein Referat: "Die Bedeutung des Gesundheitsdienstes für Maßnahmen der Familienplanung", in: s. Anm. 107/1, S. 177.

112  Worldwatch Paper 29: "Ressource Trends and Population Policy", Washington 1979, S. 13

113  Wenn sich die Zwei-Kinder-Familie statistisch weltweit als Obergrenze einführen. ließe, würde die Weltbevölkerung innerhalb weniger Generationen heilsam schrumpfen. Zwei Kinder würden nicht ausreichen, ihre Eltern in der Nachfolge­generation zu ersetzen, weil nicht alle von ihnen das heiratsfähige Alter erreichen würden (z. B. durch Unfalltod), weil nicht alle von ihnen heiraten würden und weil selbst von diesen nicht alle wiederum zwei Kinder haben würden (sondern vielleicht nur eins) und manche sogar kinderlos blieben. In der Konsequenz bedeutet das u. a., daß niemand auf Kinder zu verzichten brauchte, wenn man zu dieser Lösung griffe.

114)  Bericht auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft, November 1974, zit. nach: s. Anm. 107/1, S. 80

398


115)  Siehe z.B. den Beitrag von Robert Hepp in der Welt vom 28.2.1984: "Die Deutschen — ein Volk in der Todesspirale?" oder das Streitgespräch: "Sterben die Deutschen aus?" in GEO, Nr. 12 (1980), S. 160. In diesem Gespräch vertritt Theodor Schmidt-Kaler u.a. die verblüffende These, der Zustrom ausländischer Asylanten in die Bundesrepublik sei die Folge eines "Bevölkerungsdrucks", der durch die zu geringe Geburtenzahl in unserer Bevölkerung wirksam werde. Auch diese Behauptung ist rational nicht zu erklären: Wenn es so wäre (und das Phänomen nicht durch Besonderheiten der Asyl-Gesetzgebung eine viel einfachere Erklärung fände), würden die Asylbewerber gewiß eher in das nur halb so dicht besiedelte Frankreich "drängen".

116  In einer Rede auf dem Bezirksparteitag der oberfränkischen CSU 1983

 

117  Karl Schwarz vom Statistischen Bundesamt hat prognostiziert, daß es schon in 30 Jahren mehr Personen im Rentenalter als Kinder geben werde. Daraus dürfe man jedoch nicht unmittelbar auf die weitere Wirtschaftsentwicklung schließen, stellt Hilde Wander (Institut für Weltwirtschaft, Kiel) fest, denn: "Je komplizierter die Produktions- und Verteilungsmechanismen werden und je höher die Leistungs- und Wohlstandsansprüche steigen, um so geringere Bedeutung haben bloße demographische Bestands­veränderungen. Neben der Zahl der Arbeitskräfte wird dann deren Produktivität, neben der Zahl der Verbraucher deren Kaufkraft für den Ablauf der Wirtschaft immer wichtiger. Wenn beständiges Bevölkerungswachstum im vergangenen Jahrhundert eine unerläßliche Voraussetzung für hohe Investitionstätigkeit und rasche Industrialisierung war, so darf man daraus also nicht einfach schließen, das gelte für alle Zeiten. Heute werden viel weniger Arbeitskräfte je Produktionseinheit benötigt, und diese Relation wird noch weiter sinken." (Zitiert aus: Lutz Franke, "Brauchen wir mehr Kinder?", in: Lutz Franke u. Hans W. Jürgens [Hrsg.], "Keine Kinder — keine Zukunft?", Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Bd. 4, 2. Aufl., Wiesbaden 1978, S.116/ 117)

Bei einem unabhängig von der Beschäftigungszahl ansteigenden Sozialprodukt aber lassen sich auch die Renten unabhängig von der Relation zwischen der Zahl der "Personen im Erwerbsalter" und der Rentner finanzieren. Tatsächlich wird die in diesem Zusammenhang immer wieder beschworene "Rentenfrage" bezeichnenderweise selbst von den extremen Kritikern des Bevölkerungsrückgangs als grundsätzlich lösbar betrachtet (so z. B. von dem Mitunterzeichner des "Heidelberger Manifests" Th. Schmidt-Kaler in dem unter Anm. 115 zitierten GEO-Streitgespräch).

 

118)   wikipedia  Heidelberger_Manifest 

Ein besonders lehrreiches — und beklemmendes — Dokument der Wirksamkeit des beschriebenen archaischen Vorurteils stellt das sogenannte <Heidelberger Manifest> dar, ein Anfang 1982 von 15 Hochschullehrern unterschriebener Aufruf "zur Gründung eines parteipolitisch und ideologisch (!) unabhängigen Bundes ... dessen Aufgabe die Erhaltung des deutschen Volkes und seiner geistigen Identität auf der Grundlage unseres christlich-abendländischen Erbes ist"

Der Aufruf beginnt mit dem die proklamierte "ideologische Unabhängigkeit" der Unterzeichner gleich eingangs in Frage stellenden Satz: "Mit großer Sorge beobachten wir die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums... Bereits jetzt sind viele Deutsche in ihren Wohnbezirken und an ihren Arbeitsstätten Fremdlinge in der eigenen Heimat." 

Mir kommt es hier — wie ich hinzufügen möchte, um psychologische Widerstände über das in diesem Zusammenhang allein gemeinte Argument hinaus aus sozusagen "ökonomisch-didaktischen Gründen" zu vermeiden — nicht auf die Berechtigung der mit diesen Sätzen formulierten Sorge an, auch nicht auf die naheliegende Kritik an dem Volkstums-Vokabular, in das sie sich kleidet. Aufmerksam machen möchte ich vielmehr auf eine von den Unterzeichnern eher beiläufig erwähnte angebliche Mitursache des Problems. 

Zwar klagen sie auch "die jetzt praktizierte Ausländerpolitik [an], welche die Entwicklung zu einer multirassischen Gesellschaft fördert". Einen Absatz später aber lautet eine weitere Forderung: "Allein lebensvolle und intakte deutsche Familien können unser Volk für die Zukunft erhalten. Nur eigene Kinder sind die alleinige Grundlage der deutschen und europäischen Zukunft."  

Von dem miserablen Deutsch einmal abgesehen, in dem hier für die Erhaltung deutscher Kultur plädiert wird: Hier äußert sich unverkennbar wieder jene archaische Phobie, die uns einflüstert, daß "Überfremdung" die Folge unzureichender "Lebensfülle" in den "deutschen Familien" sei — als ob man den Zustrom von Ausländern durch deren "Hinausgebären" steuern müsse anstatt durch gesetzgeberische Entscheidung. 

(Das "Heidelberger Manifest" erschien seinerzeit als Anzeige, aber auch im redaktionellen Teil mehrerer großer Zeitungen, so z.B. in der <Zeit> vom 5.2.1982.)

  

 

119)  "Alarmierender Geburtenrückgang", Meldung der Katholischen Nachrichtenagentur z.B. in: Badische Zeitung vom 11.3.1983

120)  Diese Auskunft bekam ich wiederholt von Vertretern der katholischen Kirche anläßlich von Diskussionen über das Thema. Auf Nachfrage wurde mir mehrfach auch versichert, daß man "selbstverständlich über alle heute bekannten Methoden der Empfängnisverhütung" mit den betroffenen Frauen rede. Dies geschieht allerdings, wie sich bei weiteren Fragen regelmäßig herausstellte, in der Form, daß vor der Anwendung von "Pille", Intrauterin-Pessar und anderen Methoden einer "künstlichen" Konzeptionsverhütung ausdrücklich gewarnt wird und an ihrer Stelle "natürliche Methoden" (Ausnutzung der empfängnisfreien Tage, Temperaturmessung, evtl. Abstrichverfahren) oder sexuelle Enthaltsamkeit empfohlen werden.

121)  Das Zitat stammt aus einem Minderheitsgutachten der Päpstlichen Kommission zur Frage der Geburtenregelung (Quelle: Anton Antweiler, "Ehe und Geburtenregelung. Zur Enzyklika Pauls VI. ›Humanae Vitae‹", Münster 1969, S. 139).

122)  Die zum Prinzip erhobene Unterscheidung zwischen "künstlichen" und "natürlichen" Methoden der Empfängnisverhütung wirkt bei näherer Betrachtung äußerst willkürlich. Was ist denn noch "natürlich" an einer Situation, in der ein Paar die Spontaneität der sexuellen Umarmung zu zerstören gezwungen ist, weil es zunächst den Kalender zu Rate zu ziehen, eine rektale Temperaturmessung durchzuführen oder zwecks Erhaltung eines Abstrichs gar eine Art gynäkologischen Eingriffs bei der Frau vorzunehmen hat?

Dem entspricht die Beobachtung erfahrener Entwicklungshelfer, daß der Versuch einer Durchsetzung "natürlicher" Methoden zur Geburtenbeschränkung nicht selten eine Neurotisierung der beteiligten Frauen zur Folge hat (so der deutsche Arzt und Entwicklungshelfer Rupert Neudeck, Mitglied der Cap-Anamur-Crew, in einer Fernsehdiskussion bei Radio Bremen am 5.10.1984). 

Das gelegentlich zu hörende Argument, "künstliche" Methoden der Empfängnis­verhütung seien insbesondere deshalb als "widernatürlich" abzulehnen, weil sie Manipulationen innerhalb der schutzbedürftigen menschlichen Intimsphäre darstellten, kann, jedenfalls so weit es zugunsten der sog. "natürlichen" Methoden ins Feld geführt wird, daher nicht als stichhaltig gelten. 

Wenn man die Beweisführung konsequent durchdenkt, kommt man früher oder später zu der Vermutung, daß die "natürlichen" Methoden den kirchlichen Entscheidungs­trägern vielleicht nur deshalb in einem relativ milden Licht erscheinen mögen, weil sie die Empfängnis in aller Regel eben nicht effektiv zu verhüten imstande sind. 
Als letztes Argument in der ganzen Diskussion stößt man dann schließlich auf die als Warnung gemeinte Äußerung Pauls VI., daß Geburtenkontrolle (die der Papst im selben Kontext als "irrational" bezeichnete) "das Eintreffen neuer Münder am Tische des Herrn" verhindere. Damit ist wenigstens unmißverständlich ausgesprochen, daß es nicht die Frage der "Künstlichkeit" oder "Natürlichkeit" dieser oder jener Methode ist, die in den Augen der Kirche den Ausschlag gibt, sondern ausschließlich und allein die Sorge vor einem Rückgang der Geburtenzahlen.
Warum aber "das Eintreffen neuer Münder am Tische des Herrn" ein unbefragbar wünschenswertes Ziel sein soll, bleibt unbeantwortet und ist einer rationalen Analyse nicht mehr zugänglich.

 

123)  1978 führte die WHO in sechs Entwicklungsländern "kontrollierte" Projekte einer Familienplanung mit "natürlichen" Methoden der Empfängnisverhütung (Beschränkung des Verkehrs auf "empfängnisfreie Tage", Temperaturmessung) durch ("Natural Methods Relatively Ineffective", People, Vol. 4, No.4, Winter 1978, S.125). 
In dem Bericht wird betont, daß die Untersuchung auf in der Beratung erfahrene Gesundheitszentren und "motivierte Freiwillige" beschränkt war. Trotzdem wurden rund 20 Prozent der beteiligten Frauen bereits im ersten Jahr der Beobachtung schwanger. Eine zwei Jahre später unter der Mitwirkung von mehr als 800 freiwilligen Paaren in Los Angeles durchgeführte gleiche Untersuchung hatte fast exakt das gleiche Ergebnis ("High Pregnancy, Dropout Rates for Two Natural Family Planning Methods", People, Vol. 6, No.1, March 1980, S. 39).

 

124)  So berechtigt und notwendig es auch ist, die katholische Argumentation gegen die lebensnotwendige Geburtenkontrolle als Ausdruck eines Vorurteils zu erkennen und einzustufen, so sollte man, umgekehrt, gerade deshalb auch darauf verzichten, die Repräsentanten dieser Kirche zu tadeln oder gar zu schelten. Angesichts der im Text skizzierten psychologischen Mechanismen, die hinter ihren Entscheidungen und "offiziellen" Urteilen verborgen sind, wäre das ungerecht. 
Sie haben aus demselben Grunde Anspruch auf Verschonung mit persönlichen Vorwürfen, den Karl Marx für die von ihm in der Sache unbarmherzig kritisierten Kapitalisten geltend machte: "Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind... Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt... den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt." 
(Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin [DDR], S. 16)

 

125)  Karl W. Deutsch, "Die politischen Auswirkungen der demographischen Verschiebungen", in: s. Anm. 107/1, S.213
126)  Hans Jonas, "Das Prinzip Verantwortung", 2. Aufl., Frankfurt/M. 1980,5.252 

403

#

 

 

www.detopia.de    ^^^^