Bremsweg: Ein Jahrhundert
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Es wäre denkbar, daß Wasser und Seife die Welt endgültiger ruinieren könnten als Pest und Cholera oder alle bisherigen Kriege. Auf diesen seltsamen Gedanken könnte man kommen, wenn man sich die Ursachen näher ansieht, aus denen es in der Vergangenheit immer wieder zu beträchtlichen Schwankungen der Bevölkerungszahlen gekommen ist.
Hungersnöte, Seuchen und Kriege oder, umgekehrt, Zeiten relativer Sicherheit in politisch über längere Epochen hinweg stabilen Gemeinschaften waren es, die in der bisherigen Geschichte über Wachstum oder Abnahme der Menschenzahlen in einer bestimmten Weltregion entschieden. Im gegenwärtigen Augenblick läßt sich, rückblickend, die Vermutung äußern, daß die Folgen aller dieser Faktoren in den Schatten gestellt werden von der »Erfindung« simpler hygienischer Vorsichtsmaßnahmen: der noch vor 150 Jahren keineswegs selbstverständlichen Anwendung von Wasser und Seife auch »in der kleinsten Hütte«.
Über Jahrtausende hinweg blieb die Zahl der Menschen auf dem Globus unter allen praktischen Gesichtspunkten so gut wie konstant. Es gab, langfristig gesehen, zwar Wachstum, aber so langsam, daß es für die Zeitgenossen unmerklich blieb. Diese Stabilität war natürlich zu keiner Zeit statisch. Sie war vielmehr das Resultat eines »Fließgleichgewichts«: Menschen wurden geboren und starben, und beide Prozesse, Geburten sowie Sterbefälle, hielten sich im großen und ganzen die Waage. Die Fließgeschwindigkeit war, wie die Demographen mit eindeutigen Zahlen belegen, sehr hoch. Das äußere Gleichgewicht war das Produkt einer — für unsere heutigen Maßstäbe — sehr hohen Sterblichkeit, die durch eine entsprechend hohe Geburtenrate ausgeglichen wurde.107
In der Einteilung der Bevölkerungsstatistiker war das die »Phase I« der Entwicklung der Weltbevölkerung, die Epoche des »agrarischen Bevölkerungsprozesses«. Sie währte Jahrtausende. Viele Kinder zu haben bedeutete während dieser langen Zeit »viel Segen«, und das allein deshalb, weil die meisten von ihnen schon vor Erreichen des Erwachsenenalters starben. (In Indien, das noch heute in dieser »Phase I« verharrt, muß eine Familie im statistischen Durchschnitt mindestens sechs bis sieben Kinder haben, damit gewährleistet ist, daß der Vater nach seinem 65. Lebensjahr von wenigstens einem Sohn überlebt wird.)
Die bis dahin stabilen Verhältnisse änderten sich bei uns in Westeuropa etwa Anfang des vorigen Jahrhunderts, zunächst langsam, dann immer rascher, als in dieser Weltregion die frühindustrielle »Phase II« einsetzte. Mit dem Aufkommen industrieller Produktionsmethoden hob sich der allgemeine Wissens- und Informationsstand. Die ersten Ahnungen von einem Zusammenhang zwischen Verschmutzung und bestimmten Massenerkrankungen — etwa von dem Zusammenhang zwischen verunreinigtem Flußwasser und dem Auftreten von Choleraepidemien — erweckten bei Magistraten wie in privaten Haushalten Interesse an öffentlicher und persönlicher Sauberkeit. Als Louis Pasteur und Robert Koch bald darauf die Existenz unsichtbarer kleiner Krankheitserreger entdeckten, war das Anlaß zur Entwicklung konkreter hygienischer Empfehlungen, nach denen sich immer mehr Menschen richteten. Das Ergebnis war, lange vor der Erfindung von Sulfonamiden und Antibiotika, vor allem ein drastischer Rückgang der Kindersterblichkeit.
Damit aber geriet das bisherige Bevölkerungsgleichgewicht innerhalb weniger Jahrzehnte nachhaltig aus den Fugen. Die zivilisatorischen »Manipulationen«, vor allem eben die Einhaltung bestimmter Hygieneratschläge, mit denen die Menschen dieser frühindustriellen Epoche in das natürliche, sich bisher quasi selbsttätig ausregulierende Gleichgewicht eingriffen, ließen rasch eine kritische Situation entstehen.
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Man hatte sozusagen den »Abfluß« verstopft — die bisherige hohe Sterberate drastisch gesenkt —, während der »Zufluß« — die hohe Geburtenrate — zunächst unverändert blieb. Die Konsequenz bestand in einem entsprechend rapiden Anstieg der Bevölkerungszahlen: dem Beginn jener Entwicklung, die wir »Bevölkerungsexplosion« zu nennen uns gewöhnt haben.
1850 gab es — vom Atlantik bis zum Ural — erst 260 Millionen Europäer. Im Jahre 1900 waren es schon mehr als 400 Millionen. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten schon 470 Millionen Menschen in demselben Gebiet, und heute sind es 623 Millionen.
Im damaligen Deutschen Reich schnellte die Einwohnerzahl zwischen den Jahren 1871 und 1913 von 41 auf 67 Millionen nach oben.
Glücklicherweise hielt diese zweite Phase nur kurze Zeit an. Bevor ihr charakteristisches Ungleichgewicht zwischen niedriger Sterberate und anhaltend hoher Geburtenrate die europäische Gesellschaft in ernste Probleme stürzen konnte, ging sie im Verlaufe von etwa fünfzig bis achtzig Jahren in eine neue Phase (die »Phase III« der Demographen) über, in der jetzt auch die Geburtenraten rasch fielen. Dies geschah ohne jeden bewußten Eingriff, ohne alle Manipulation von außen, ganz von allein aus Gründen, die angesichts der heutigen globalen Situation ebenso interessant wie wichtig sind.
Viele Faktoren kamen zusammen. Die fortschreitende Industrialisierung verlängerte die durchschnittlichen Ausbildungszeiten. Die Entstehung industrieller Ballungsräume erzwang durch den unausbleiblichen Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte eine erhöhte Mobilität der Bevölkerung. Beide Faktoren führten ganz automatisch zum Ansteigen des durchschnittlichen Heiratsalters. Von diesem aber hängt, wie die Bevölkerungsstatistiker festgestellt haben, die Kinderzahl in einer Ehe ganz entscheidend ab: je höher das Heiratsalter, um so geringer die Kinderzahl und umgekehrt. Noch etwas kommt dazu. Wenn, wie es in Indien oder Bangladesh noch heute traurige Regel ist, die Mädchen bereits mit zwölf oder spätestens mit fünfzehn Jahren verheiratet werden (und deren Töchter dann wiederum im gleichen Alter), kommt es in einem Jahrhundert zu sechs bis sieben Generationen.
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Wenn das Heiratsalter dagegen durchschnittlich 25 Jahre beträgt — wie China das bei seinen Töchtern inzwischen mit drakonischen Maßnahmen (s. S. 255) durchgesetzt hat —, sind es pro Jahrhundert nur noch vier Generationen, und das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich entsprechend.
Im Verlaufe dieses fünfzig bis achtzig Jahre währenden Übergangs von Phase II zu Phase III »lernten« die Menschen offensichtlich aber auch, daß es nicht mehr notwendig war, so viele Kinder wie bisher in die Welt zu setzen. Denn von den Kindern, die sie bekamen, blieben die meisten jetzt auch am Leben. (Dieser Zusammenhang ist der Grund für die im ersten Augenblick paradox wirkende Behauptung der Bevölkerungspolitiker, daß man, um das weitere Ansteigen einer Population zu verlangsamen, unbedingt auch die Säuglingssterblichkeit senken müsse.) Von da ab aber war es nur noch ein Schritt bis zu der Einsicht, daß eine kleinere Kinderzahl die Chancen des einzelnen Kindes vergrößerte: Jedem von ihnen konnte man jetzt eine bessere, und das heißt in der Regel kostspieligere, Ausbildung und auch sonst in jeder Hinsicht eine intensivere Zuwendung zuteil werden lassen.
Damit waren die Voraussetzungen zum Eintreten einer neuen Phase der Stabilität entstanden: der »Phase IV«, in der, auf einem höheren, aber immer noch vorkritischen Plateau die Bevölkerungszahl wieder ins Gleichgewicht kommen konnte. Sie blieb jetzt — annähernd — konstant, weil nicht nur die Sterbeziffern, sondern auch die Geburtenzahlen abgesunken waren und beide einander daher wiederum die Waage hielten. Die Welt schien wieder in Ordnung.
Wenn das schon das Ende der Geschichte wäre, brauchten wir uns in der Tat keine Sorgen zu machen. Dann hätte der selbstregulatorische Zusammenhang zwischen den sozialen Folgen der Industrialisierung einer Gesellschaft und dem Wachstum ihrer Bevölkerung alle Probleme auf denkbar befriedigende Weise gelöst. Aber leider galt das nur für den kleineren Teil der Welt, für den von den entwickelten Industrienationen besiedelten Teil. Der übrige Teil des Globus wurde dagegen in eine Katastrophe mit noch unabsehbaren Folgen gestürzt.
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Wir haben, wie nachträglich feststeht, den Fehler begangen — wie aber hätte er sich denn vermeiden lassen? —, in die Entwicklungsländer »einen Industrialisierungseffekt ohne die Industrialisierung« zu exportieren (Hermann Schubnell, s. Anm. 109). Man darf diesen Fehler tragisch nennen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, man wolle mit dem Wort nur von unserer Verantwortung ablenken. Denn letztlich folgte man, indem man ihn beging, lediglich dem Gebot »christlicher Barmherzigkeit« (wie man das damals mit noch ganz ungebrochener Selbstgerechtigkeit nannte).
Die »armen Heiden«, auf die man in den von unserer Zivilisation im letzten Jahrhundert überschwemmten Ländern der farbigen Welt stieß, hatten sichtlich Anspruch auf Barmherzigkeit. Als Angehörige einer der unseren offenkundig unterlegenen Art von »Menschen« waren sie der Obhut unserer, der »weißen« Rasse anvertraut — jedenfalls hielt die westliche Welt das für selbstverständlich. Diese Überzeugung schloß das Recht der »Herren« ein, sie als Kulis, als »Boys«, als Sklaven oder unter welchen anderen Bezeichnungen auch immer in ihren Dienst zu nehmen. Daraus leitete man ohne Skrupel, sozusagen naturrechtlich, auch die Pflicht zu bedingungsloser Unterwürfigkeit, ja Loyalität dem weißen Mann gegenüber ab. Wahrhaftig: In Fällen mangelnden Gehorsams oder gar offener Unbotmäßigkeit machten die Herrschenden ungeachtet ihres christlichen Selbstverständnisses nicht viel Federlesen.108
Andererseits aber ergaben sich aus diesem Selbstverständnis auch bestimmte Fürsorgepflichten. Den Kolonisatoren folgten Missionare auf dem Fuße. Ihre Aufgabe war es, die »armen Heiden« von dem ihre Köpfe verwirrenden Aberglauben ihrer überlieferten Religionen zu befreien und sie durch Bekehrung zum christlichen Glauben vor der ewigen Verdammnis zu bewahren. Die christlichen Missionare kümmerten sich jedoch nicht allein um das geistliche, sondern in ganz natürlicher Weise auch um das leibliche Wohl ihrer Schutzbefohlenen.
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Sie waren die ersten, die bestimmte, kostenlos transferierbare Errungenschaften der westlichen Zivilisation in das letzte afrikanische Dorf, bis in die Einsamkeit des Hindukusch exportierten: die ebenso einfachen wie lebensrettenden Grundregeln der Hygiene — von der Wochenpflege bis zu den uns längst selbstverständlich erscheinenden Vorsichtsmaßnahmen (Verwendung abgekochten Wassers) bei der Zubereitung von Säuglingsnahrung.
Wenn man weiß, daß einfache Durchfallerkrankungen in den Entwicklungsländern bis auf den heutigen Tag die häufigste Ursache aller Todesfälle im Säuglings- und Kleinkindalter bilden (H.J. Diesfeld, s. Anm. 107/1, S. 179), ist es leicht, sich die Folgen auszumalen: Das Auftreten des weißen Mannes hatte neben weniger unumstrittenen Begleiterscheinungen auch einen deutlichen Rückgang der Sterbefälle unter der kolonial betreuten Bevölkerung zur Folge.
Diese Tendenz hat sich in den letzten Jahrzehnten noch potenziert. Von der Weltgesundheitsorganisation zentral gesteuerte Programme zur Malariabekämpfung, mit Entwicklungshilfe aufgebaute nationale Gesundheitsorganisationen, lokale Mütterberatungsstellen, Impfaktionen und ein ständig dichter werdendes Netz von Polikliniken sorgen heute in fast allen Entwicklungsländern für einen Standard der medizinischen Versorgung und Vorbeugung, der den der frühindustriellen Gesellschaft Europas im vorigen Jahrhundert weit übertrifft. Damit katapultierte der weltweite Export unserer medizinischen Errungenschaften die Länder der farbigen Welt in jene »Phase II« der Bevölkerungsentwicklung, in die wir seinerzeit sehr viel allmählicher hineingerieten (und aus der wir im Verlaufe von zwei bis drei Generationen alsbald auch wieder herausgefunden haben).
Die Folgen der westlichen Fürsorglichkeit sind furchteinflößend.
Die Sterblichkeit ist in allen von dieser Entwicklung betroffenen Ländern noch sehr viel rascher gesunken als damals bei uns. Tragisch daran ist, daß man das nur als Zyniker beklagen dürfte, obwohl sich nicht übersehen läßt, daß die daraus erwachsenden Probleme wiederum tödlich sein könnten. Denn die Faktoren, die uns in der westlichen Welt aus dieser Phase II — »explosionsartiges Bevölkerungswachstum infolge Absinkens der Sterbeziffern bei unverändert hohen Geburtenzahlen« — nach relativ kurzer Zeit, bevor die Folgen bedrohliche Ausmaße annahmen, wieder herausgeholfen haben, sie lassen sich nicht, oder jedenfalls nicht mit der gleichen Leichtigkeit und Schnelligkeit, ebenfalls exportieren.
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Wer würde bestreiten, daß es unsere moralische Pflicht gewesen ist, durch die Vermittlung der uns zugefallenen medizinischen und hygienischen Kenntnisse das Sterben von Menschen, vor allem das Massensterben der Kinder in der Dritten Welt wirksam zu bekämpfen? Wer brächte den traurigen Mut zu dem Ratschlag auf, wir hätten sie, im Besitz der Mittel, ihnen zu helfen, sich selbst überlassen und ihrem Sterben untätig zusehen sollen? Dabei ist der Beweis leicht zu führen, daß die Folgen unserer Hilfeleistung auf lange Sicht ein Vielfaches der Opfer fordern könnten, die wir gerettet haben.
Zu Hilfe kam uns in Europa in unserer »Phase II« seinerzeit auch die Möglichkeit der Auswanderung. Allein die USA nahmen zwischen 1800 und 1930 vierzig Millionen Einwanderer auf. Leere Räume dieser Größenordnung gibt es heute nicht mehr. Wir sind einer Katastrophe damals vor allem aber deshalb entgangen, weil der Anstieg unserer Bevölkerung begleitet wurde von einer ebenso rasch ablaufenden industriellen Entwicklung und einer diese begleitenden allgemeinen Anhebung des Lebensstandards. Damit aber kamen die schon beschriebenen Faktoren zum Zuge, welche quasi selbstregulatorisch auch die Geburtenziffern sinken ließen und dadurch den Übergang zu erneuter Stabilität ermöglichten.
Alle diese Chancen sind den Ländern der Dritten Welt versagt. Wohin sollten ihre Einwohner auswandern? Woher sollen sie die Kraft nehmen zu einem dem unsrigen vergleichbaren industriellen Aufschwung in einer inzwischen »geschlossen« organisierten Welt, die beherrscht wird von einer Wirtschaftsordnung, in der nur profitieren kann, wer ohnehin schon stark ist? Woher soll dann aber jene Anhebung des Lebensstandards kommen, jene Zunahme des Wohlstands, die nach der begründeten Auffassung der Bevölkerungsexperten die Vorbedingung ist für ein »selbsttätig« erfolgendes Absinken auch der Geburtenziffern? Wie soll diesen Ländern, in denen heute schon drei Viertel aller Erdbewohner leben, unter diesen Umständen ohne kritische Erschütterungen der Übergang in eine neue Phase der Stabilität gelingen?
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Immerhin, die hier auf uns alle lauernde Gefahr hat sich seit einiger Zeit weltweit herumgesprochen. Die Einsicht ist allerdings erstaunlich jungen Datums. Noch Mao Tse-tung, der Große Vorsitzende, lehrte selbstbewußt, daß der Geburtenüberschuß eines Volkes »sein Ellenbogen« sei. Die heutigen Herrscher Chinas wissen es besser. Sie haben erkannt, wie töricht die kernige Phrase ist, wie grundverkehrt. Sie formuliert nichts als ein von jahrhundertelanger Gewöhnung tabuisiertes Mißverständnis, das überholte Relikt vergangener geschichtlicher Epochen.
In der heutigen Welt entscheidet nicht mehr die schiere Zahl seiner Bewohner über die Kraft eines Staates. Nicht mehr die Zahl der Arme, die ein Schwert führen können, so daß ein Zuwachs unter allen Umständen gleichbedeutend sein muß mit einer Zunahme an politischem Gewicht. Heute entscheidet das Bildungsniveau, die Einsicht in die Bedingungen einer komplexen Zivilisation, die Zahl der Gehirne, in denen das Wissen darüber gespeichert ist, wann welcher Schalter zu bedienen ist.
In China hat man das gelernt, und man hat mit einer Rigorosität und Schnelligkeit, wie sie nur ein diktatorisch gelenktes Gemeinwesen an den Tag legen kann, das Ruder auf Gegenkurs herumgeworfen. Das Riesenreich hat es, wie jeder Zeitungsleser weiß, mit drakonischen sozialen Strafandrohungen (Wohnungs- und Arbeitsplatzverlust, Steuerstrafen, gesellschaftlicher Ächtung, Entzug von Privilegien) fertiggebracht, den Geburtenüberschuß seiner Bevölkerung so drastisch zu reduzieren, daß deren Konstanz (»Nullwachstum«) zeitlich in greifbare Nähe gerückt ist.
Bei einer Milliarde Chinesen wirkt sich das auf die globale Statistik bereits spürbar aus. Die frohlockenden Meldungen darüber, daß der Anstieg der Weltbevölkerung in den letzten Jahren hinter den ursprünglichen Prognosen zurückgeblieben ist (anstatt 7,5 Milliarden, wie ursprünglich befürchtet, werden es im Jahre 2000 »nur« 6,1 Milliarden sein), gehen daher weitgehend auf das Konto der Chinesen. In den meisten übrigen Entwicklungsländern sind die Zahlen allen optimistisch getönten »Erfolgsmeldungen« unserer Medien zum Trotz nach wie vor furchteinflößend.
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Die Schätzungen und Prognosen, wie es weitergehen wird, differieren naturgemäß. Es gibt, wie stets, auch in diesem Falle optimistische und pessimistische Propheten. Lassen wir die Pessimisten einmal beiseite und betrachten wir nur das, was die »Optimisten« uns über das voraussehbare weitere Wachstum der Weltbevölkerung zu sagen haben. Ihre Zahlen — die jeweils auf den günstigsten noch als realistisch vertretbaren Annahmen beruhen — sind schlimm genug.
Sie gehen bei ihren Schätzungen zum Beispiel davon aus, daß die im letzten Jahrzehnt registrierte Wachstumsverlangsamung anhält. Das aber ist insofern höchst optimistisch, als damit der hauptsächlich auf die chinesischen Repressionsmaßnahmen zurückzuführende Trend als auch in Zukunft weltweit anhaltende Tendenz zugrunde gelegt wird, eine Annahme, die manchem Beobachter eher unwahrscheinlich vorkommen dürfte.
Sie gehen weiter davon aus, daß die in vielen Ländern inzwischen mühsam angelaufenen Programme zur Familienplanung (»Geburtenkontrolle«) energisch vorangetrieben und in immer mehr Ländern greifen werden. Auch diese Annahme muß angesichts der Widerstände, mit denen diese Programme fast überall zu kämpfen haben, als äußerst optimistisch gelten.
Bei dieser Ausgangslage kommen die Statistiker zu der Voraussage, daß sich das weitere Wachstum der Erdbevölkerung im günstigsten Falle innerhalb der nächsten hundert Jahre auf den Wert »Null« abbremsen läßt. Die demographische »Phase IV«, das Eintreten erneuter Stabilität in globalem Rahmen, ist mit anderen Worten vor dem Jahre 2080 unter den augenblicklichen Bedingungen nicht zu erreichen. Und auch dieser ferne Termin wird nur dann eingehalten werden können, wenn es gelingt, den Lebensstandard in den betroffenen Erdregionen wirklich spürbar zu heben. Nur dann besteht überhaupt eine Aussicht darauf, daß es gelingen könnte, die Einsicht in die Notwendigkeit einer Verringerung der Kinderzahl und die zu diesem Zweck verfügbaren Verhütungsmethoden weltweit zu verbreiten.(109)
Warum ist der Bremsweg so lang?
Einer der Gründe:
Vierzig Prozent der in den Entwicklungsländern lebenden Menschen — und bei ihnen handelt es sich, wie wir uns erinnern, um nicht weniger als drei Viertel der Weltbevölkerung — sind heute erst 14 Jahre alt oder jünger. Die Eltern des nächsten Generationensprungs wachsen also bereits heran.
Der einzige Punkt, der unter diesen Umständen heute noch zur Diskussion steht, ist daher die Frage, ob der Bremsweg ausreicht. Im Jahr 2080 wird es mindestens elf Milliarden Menschen geben, möglicherweise sogar 15 Milliarden. Das sind mehr als doppelt, vielleicht sogar mehr als dreimal so viele Menschen wie es heute auf der Erde gibt.
Was bedeutet das?
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