Ein asketischer Aspekt unserer Todesangst
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Vor etwa zwanzig Jahren entdeckte Leonard Hayflick, ein an der renommierten Stanton-Universität in Kalifornien arbeitender Mikrobiologe, an embryonalen menschlichen Lungengewebszellen ("Fibroblasten") ein Phänomen, dem die Wissenschaft bis dahin lediglich eine metaphorische Scheinexistenz in den Texten von Poeten und Theologen zugestanden hatte.
In den Petrischalen und Reagenzgläsern des Amerikaners gab sich die Wirksamkeit einer "Lebensuhr" zu erkennen, deren Ablauf den von ihm gezüchteten Zellen ihre Lebensdauer in objektiv ablesbaren Einheiten zumaß. Die nach Fehlgeburten den Lungen menschlicher Föten entnommenen Zellen teilten sich, wenn Hayflick sie in der üblichen Weise auf geeigneten Nährböden als Kulturen weiterzüchtete, etwa fünfzigmal. Sobald diese Zahl von Teilungen (oder, was auf dasselbe herauskommt, Generationenzahl) erreicht war, starben sie ab. Auch wenn der Experimentator sie noch so sorgfältig betreute und immer von neuem auf frische Nährböden verpflanzte — nach fünfzig Teilungen schien die Lebenskraft seiner Kulturen erloschen zu sein.(157)
Daß er es hier wirklich mit einem in den Zellen steckenden "Programm" zu tun hatte, das die Lebensdauer mit Hilfe des "Uhrwerks" einer bestimmten Zahl aufeinanderfolgender Teilungsschritte begrenzte, konnte Hayflick mit einer Reihe naheliegender Kontrolluntersuchungen überzeugend nachweisen.
Als erstes verglich er das an menschlichen Zellen festgestellte und deren Lebensdauer anscheinend begrenzende Maß ("50 Teilungsschritte") mit dem anderer Organismenarten abweichender durchschnittlicher Lebenserwartung. Bei Ratten, Meerschweinchen, Hühnern und Hamstern (Lebensspanne zwischen drei und zehn Jahren) fand er deutlich niedrigere Werte. In keinem Fall überlebten die von diesen Tieren stammenden Kulturen mehr als fünfzehn, höchstens zwanzig Teilungsschritte. Zellen, die aus den Körpern von Galapagos-Schildkröten stammten — die eine Lebenserwartung von gut 150 Jahren haben —, brachten es dagegen auf mehr als hundert Teilungen. In allen untersuchten Fällen entsprach das Resultat befriedigend den zwischen den Lebensspannen der verglichenen Arten bestehenden Unterschieden.
Wenn Hayflick die Teilungen unterbrach, indem er die Zellen tiefkühlte und die Kulturen erst nach längerer Zeit wieder auftaute, erfolgten anschließend genauso viele Teilungen, wie der betreffenden Art im Augenblick des Einfrierens noch "unverbraucht zugestanden" hatten. Es war, als ob die Zellen sich "erinnerten", schreibt der Autor wörtlich, wie viele Teilungen schon hinter ihnen lagen. Selbst nach mehrjährigem Einfrieren wurde diese Regel strikt eingehalten: Die Zellen teilten sich auch dann nach dem Auftauen nur noch genauso oft, daß insgesamt die Generationenzahl zusammenkam, die der Lebensdauer der Art entsprach, von der sie stammten.
Den endgültigen Beweis lieferte schließlich das Ergebnis der Untersuchung bei Menschen unterschiedlichen Alters. Auf fünfzig Teilungen brachten es nur die Zellen von Embryos oder Neugeborenen. Schon die Zellen von Zwanzigjährigen teilten sich nur noch etwa dreißigmal, und bei älteren Menschen ging die Zahl noch weiter zurück auf zwanzig oder nur noch zehn weitere Teilungsschritte.
Unsere Lebensdauer wird also offenbar ganz konkret von einer Art Uhrwerk bestimmt, mit dessen Ablauf auch "unsere Zeit" vergeht. Die alte Vermutung war mehr als bloß ein dichterisches Gleichnis.
Die wichtigste Schlußfolgerung aus der Existenz dieses nach seinem Entdecker "Hayflick-Phänomen" getauften zellulären Prozesses besteht nun in der Einsicht, daß der Tod aus biologischer Perspektive offensichtlich eine aktive Leistung darstellt.
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"Tod" ist also nicht die Folge von "Erschöpfung" — etwa des Verbrauchs eines im Augenblick der Geburt vorhandenen endlichen Quantums an "Lebensenergie", wie frühere Forschergenerationen spekulierten. Auch nicht allein die Folge einer zunehmenden Abnützung — von Zellen, Organen oder körperlichen Funktionen. Überhaupt in keinem Sinne ein rein passives Versagen und so auch nicht ein bloßes Aufhören der Lebendigkeit infolge der Unmöglichkeit, die unübersehbare Vielfalt der zum Betreiben eines lebenden Organismus unerläßlichen Körperfunktionen über einen beliebig langen Zeitraum hinweg aufrechtzuerhalten.
Das alles mag zu den konkreten Ursachen beitragen, die den Tod schließlich herbeiführen.158) Sein zentraler Grund sind sie nicht. Als zentraler Grund aller natürlichen Sterblichkeit muß vielmehr die Tatsache gelten, daß die Evolution den Tod gewollt hat. So sehr, daß ihr die naturgesetzlich, nämlich thermo-dynamisch ohnehin feststehende Unmöglichkeit, Prozesse von einer physiologischen Abläufen entsprechenden Komplexität zeitlich unbegrenzt störungsfrei ablaufen zu lassen, allein ganz offensichtlich nicht genügte.
Wie sehr ihr daran gelegen gewesen sein muß, daß keine der von ihr hervorgebrachten Kreaturen das Maß einer bestimmten, grundsätzlich schon im Augenblick der Geburt festliegenden Lebensspanne zu überschreiten imstande sein würde, das läßt sich an dem Aufwand ablesen, den sie getrieben hat, um diese Möglichkeit auszuschließen. Man braucht sich nur an das Prinzip der "Ökonomie" der Evolution zu erinnern, um ermessen zu können, welcher Rang diesem Verbot unter den übrigen Selektionsfaktoren zukommen muß: Ein in der molekularen Struktur des Zellkerns neben allem übrigen untergebrachtes Zeitwerk zur Überwachung der Lebensdauer ist keine Kleinigkeit.
Damit aber stehen wir vor einer sehr eigentümlichen Situation. Mit dem Vollzug der in uns verkörperten biologischen Programme identifizieren wir uns in aller Regel vorbehaltlos und so weitgehend, daß wir ihn nicht einmal als den Freiheitsverlust zu erleben pflegen, den er objektiv ausnahmslos darstellt. Dies gilt, wenn wir unseren Hunger stillen oder unseren Durst.
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Es gilt ebenso, wenn wir uns von Müdigkeit "übermannt" dennoch willig dem Schlaf überlassen oder bei der Befriedigung geschlechtlicher Bedürfnisse. Als belastend empfinden wir in diesen Fällen allenfalls das Aufschieben des Vollzugs oder, wie etwa bei Schlaflosigkeit, sein unserem Einfluß entzogenes Ausbleiben. Anders, wenn es sich um unsere Sterblichkeit handelt. Objektiv, unter naturwissenschaftlichem Aspekt, zwingt die Entdeckung Hayflicks uns, auch die Unabwendbarkeit unseres natürlichen Endes den uns angeborenen Programmen zuzurechnen, die unsere biologische Existenz gewährleisten, indem sie unserer Freiheit Grenzen auferlegen.
Meine Natur läßt es nicht zu, daß ich beliebig lange hungere. Meine angeborene Natur untersagt es mir auch, beliebig lange wach zu bleiben. In beiden Fällen respektiere ich das Verbot nicht nur. Ich erlebe seine Durchsetzung vielmehr mit Befriedigung und uneingeschränkter Zustimmung. Meine angeborene Natur verbietet mir nun aber auch, beliebig lange am Leben zu bleiben. Und in diesem einen Falle ist es aus mit meiner Zustimmung. In diesem besonderen Falle ist meine Reaktion weder Einsicht noch gar zustimmende Identifikation, sondern bekanntlich unüberwindliche Angst und heftiges Widerstreben.
Diese seltsame Sonderstellung, welche unsere programmierte Sterblichkeit unter allen anderen angeborenen biologischen Determinanten in unserem Erleben einnimmt, ist bemerkenswert und wird uns noch genauer beschäftigen. Zuvor muß jedoch mit einigen Bemerkungen daran erinnert werden, in welcher Weise die Notwendigkeit der Sterblichkeit des Menschen schon von jeher begründet worden ist. Hayflick hat sie ja nicht etwa entdeckt. Er hat lediglich den physischen Mechanismus ihrer Realisierung aufgespürt und den individuellen Tod damit als aktive biologische Leistung erkennbar werden lassen.
Am einfachsten und handgreiflichsten ist der Beweis für die Unentbehrlichkeit des Todes biologisch zu führen: Es gäbe uns nicht ohne ihn. (Insofern ist es auch berechtigt, ihn den biologischen Programmen zuzurechnen, die unsere Existenz "gewährleisten", eine Behauptung, die einige Sätze zuvor ohne Erläuterung manchem noch paradox geklungen haben mag.)
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Ohne Tod gäbe es keine Evolution. Keine Entwicklung also, die von den ersten, rund vier Milliarden Jahre zurückliegenden Lebensansätzen in einem kontinuierlichen Prozeß immer neue Stufen erklomm, indem sie Lebewesen zunehmend höherer Organisation hervorbrachte, deren Möglichkeiten, sich zur Welt zu verhalten, immer differenzierter wurden bis hin zu der durch unsere eigene Art verwirklichten Möglichkeit der Selbstreflexion.
Das alles hätte sich nicht ereignen können, wenn es den Tod nicht gäbe. Denn die Evolution ist außerstande, auch nur ein einziges Lebewesen zu verändern. Jedes von ihnen stirbt mit derselben genetischen Ausstattung, mit der es auf die Welt kam. Evolution kann nur in der Abfolge einander ablösender Generationen stattfinden. Dergestalt, daß die Nachfolgegeneration jeweils aus Mitgliedern zusammengesetzt ist, deren Erbausstattung insgesamt sich statistisch geringfügig von der ihrer Vorgänger-Population unterscheidet. (Weil natürliche Auslese von den genetisch nie ganz identischen Nachkommen nach Maßgabe der jeweils vorliegenden Umweltbedingungen die einen bevorzugt und die anderen ins Hintertreffen geraten läßt.)
Eine Generation kann nun aber nur dann auf die andere folgen, wenn diese andere ihr durch ihr Verschwinden den Platz freimacht.159) Ohne Tod keine Generationenfolge. Ohne Generationenfolge keine Evolution. Wenn die Natur ihren Kreaturen jemals die Freiheit vom Tode beschert hätte, wegen deren Verweigerung wir sie so oft anklagen, dann wäre der evolutionäre Fortschritt augenblicklich zum Stillstand gekommen. Uns jedenfalls hätte er dann niemals hervorgebracht. Wir existieren folglich unbezweifelbar kraft eben jener Grundeigenschaft allen Lebens, die wir am meisten fürchten und beklagen: kraft seiner Sterblichkeit. So zugespitzt es klingen mag, biologisch ist der Beweis leicht zu führen: Der Tod ist der Preis, ohne den es höheres Leben nicht geben kann.
Unsere Todesfurcht findet objektiv also keine überzeugende Erklärung. Aber auch aus subjektiver Perspektive liegt ihre Begründung nicht so offen zutage, wie mancher glaubt.
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Die bloße Angst vor dem Aufhören des Daseins kann der eigentliche Grund nicht sein, so plausibel uns das ohne genaueres Nachdenken auch vorkommen mag. Denn damit würde uns ja nichts anderes zustoßen als das, was während des überwältigend größten Teils der gesamten kosmischen Zeit schon einmal unser Schicksal war, nämlich während der ganzen langen Zeit vor unserer Geburt. Schopenhauer fügt diesem Argument die einleuchtende Vermutung hinzu, daß es bei genauerer Betrachtung eigentlich nur der Übergang sein dürfte, den wir zu fürchten hätten. (S. Anm. 155, S. 291) Dazu allerdings besteht aller Anlaß. Sterben kann entsetzlich sein. Frühere Generationen pflegten denn auch, zumindest in diesem Punkt realistischer als wir, um einen "leichten Tod" zu beten.
Aber ohne alle Zweifel fürchten wir uns ja nicht allein vor dem Sterben, sondern auch vor dem Tode selbst. Er gilt uns, agnostisch und ungläubig wie wir heute zumeist sind, als der Inbegriff spurlosen "Verschwindens" aus der Welt. Als das bloße Negativum des Abbruchs aller Beziehungen zur Welt und zu den Menschen, die uns bis zu diesem letzten unserer Augenblicke nahestanden. Er bedeutet dem, für den diese Welt die einzige glaubhafte Realität darstellt, folglich den absoluten Realitätsverlust schlechthin. Es scheint keiner Begründung zu bedürfen, daß die Aussicht auf ein so totales Ende, auf die Totalität eines derartigen "subjektiven Weltuntergangs" Angst auslöst. Dennoch wäre es voreilig, wenn wir das Phänomen der Todesangst damit schon für hinreichend erklärt hielten. Denn wir dürfen nicht übersehen, daß diese Angst unvermindert auch die Menschen befällt, denen der Tod nicht als das absolute Ende erscheint, sondern als eine Grenze, die unsere Welt von etwas Unbekanntem trennt.
Diese andere Auffassung ist so alt wie der Mensch und weit vor aller religiösen Gläubigkeit auch in der agnostischen Ecke des philosophischen Lagers anzutreffen. Für sie ist die Perspektive einseitig, die uns das Ende unserer Existenz in dieser Welt als absolutes Ende erscheinen läßt. Der Eindruck eines "Verschwindens im absoluten Nichts" ist für sie lediglich die Folge davon, daß wir, als Lebende auf diesen Standort festgelegt, die Grenze des Todes nur von einer einzigen, der irdischen Seite aus zu erleben (und zu denken) in der Lage sind.
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Rationale Anstrengung vermag die perspektivische Einseitigkeit dieser Sichtweise vorübergehend zu durchschauen und uns die Nichtigkeit dieses Anlasses zur Angst für einen Augenblick abstrakt begreifbar zu machen.160 Schon im nächsten Augenblick allerdings fallen wir erschöpft zurück und fürchten uns von neuem.
Deutlicher wird das Argument, dem ich zusteuere, wenn wir bedenken, daß die Todesangst auch der Menschen, die von einem "Weiterleben nach dem Tode" aus religiösen Gründen überzeugt sind, nicht geringer ist als die jedes Atheisten. Auch der gläubige Christ hat es in dieser Hinsicht um kein Quentchen leichter.
Der große katholische Theologe Karl Rahner sagte wenige Wochen vor seinem Tode Ende 1984, daß er an seine Weiterexistenz nach dem Tode nicht nur fest glaube, sondern daß er sich sogar schon auf sie freue. Dennoch ist nicht anzunehmen, daß dieser Mann deshalb etwa frei gewesen wäre von Todesangst. Nicht einmal Jesus Christus selbst ist sie erspart geblieben: "Und es kam, daß er mit dem Tode rang", berichtet Lukas bei der Beschreibung des Wartens auf die Verhaftung. Und wie um keinen Zweifel daran zu lassen, fügt der Evangelist dieser Behauptung die konkrete Beobachtung hinzu, daß der Schweiß Jesu "wie Blutstropfen" zur Erde gefallen sei.
Die Angst vor dem Tode ist eben nicht identisch mit unserer Angst vor dem Abbruch jeglicher Weltbeziehung und mit ihr allein daher auch nicht hinreichend zu erklären. Gegen diese Möglichkeit spricht schließlich noch die Tatsache, daß selbst Tiere den Tod fürchten. Nicht ihre Sterblichkeit, selbstverständlich, von der sie im Unterschied zu uns nichts wissen. Aber auch sie weichen dem Tod aus — und höhere Tiere "erkennen" ihn womöglich gar —, sobald er ihnen konkret begegnet, und wie wir reagieren auch sie auf diese Begegnung mit Panik und Angst.
Daß unsere Todesangst psychologisch allein nicht ausreichend begründet werden kann, ergibt sich noch aus anderen Beobachtungen.
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Sosehr wir alle den Tod fürchten, niemand von uns würde sich ernstlich wünschen, "ewig" leben zu können. "Daß wir nicht sterben wollen, ist zwar wahr; unwahr dagegen, daß wir positiv weiter und immer weiter leben, also Abermillionen Jahre alt werden wollen ... Warum das so ist, warum unserem fundamentalsten Abwehrwunsch keine positive Vorstellung korrespondiert ... dem können wir hier nicht nachgehen."161 Die Philosophie, insbesondere die sogenannte Existenzphilosophie, hat die Erklärung für diese scheinbare Ungereimtheit aber wohl längst geliefert.
"Wäre nicht das Verschwinden, so wäre ich als Sein die endlose Dauer und existierte nicht" (Karl Jaspers). Ähnlich Martin Heidegger: "Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste ... Möglichkeit der Existenz."162 Ohne das Wissen von der Endlichkeit meines Daseins, das ist gemeint, würde ich mich nicht "aufschwingen können zur Eigentlichkeit meiner Existenz". Erst die unausweichliche Realität des Todes veranlaßt mich — jedenfalls dann, wenn ich mich ihr bewußt stelle, anstatt sie zu verdrängen und mich "zu zerstreuen" —, mein Leben fortwährend auf Verwirklichung des Wesentlichen und die Ausgefülltheit meines Tuns zu überprüfen. Man soll sich, zu dieser Quintessenz läßt sich die Heideggersche Deutung menschlicher Existenz als eines "Daseins zum Tode" zusammenfassen, die Angst vor dem Tode "zumuten", sich ihr bewußt stellen, das Faktum der eigenen Endlichkeit möglichst während jedes Lebensaugenblicks mitbedenken, "um seiner selbst mächtig zu werden".
Wem das zu artifiziell oder "elitär" formuliert scheint, der lese das Buch "Alle Menschen sind sterblich" von Simone de Beauvoir. Die Lebensgefährtin des Existentialisten Jean-Paul Sartre hat darin in der Art eines hintergründigen Science-fiction-Romans das Schicksal eines gebildeten Italieners der Renaissance geschildert, dem durch die Einnahme eines geheimnisvollen Elixiers Unsterblichkeit zuteil geworden ist und der bis auf unsere Tage überlebt hat (mit der Aussicht, auch in der fernsten Zukunft der Menschheit noch dabeizusein). Mit meisterhaftem psychologischem Einfühlungsvermögen schildert die Autorin die unendliche Qual und Frustration einer solchen Existenz.
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Unerträgliche Langeweile und apathische Gleichgültigkeit sind, wie die Autorin uns überzeugend vor Augen führt, das unabwendbare Schicksal des Romanhelden. Er kann sich noch so sehr bemühen (längst ist er jedoch in tiefe Resignation verfallen), was immer er tut oder unternimmt, es hat weder für ihn selbst noch für seine Mitmenschen noch irgendeine Bedeutung. Es kommt für ihn in Wirklichkeit ja nicht mehr darauf an: Er könnte Jahrhunderte tatenlos verstreichen lassen und dann immer noch der Meinung sein, ihm bliebe unendlich viel Zeit, einen Entschluß zu fassen. Seine Lebenszeit hat alle ihre Kostbarkeit verloren, weil sie ihm unbegrenzt zur Verfügung steht. Sein Einsatz, für was auch immer, ist ohne jeden Wert, denn er hat nichts, was er einzusetzen in der Lage wäre. Jeder Augenblick seines Lebens ist von der gleichen x-beliebigen Qualität wie jeder beliebige andere, denn eine zeitlich unbegrenzte Existenz verliert auch den Charakter der Geschichtlichkeit.
Erst ein festliegender Endpunkt gibt dem Augenblick auf einer Zeitstrecke den Charakter eines bestimmten, biographisch-historisch unaustauschbaren Moments. Erst die Endlichkeit einer Zeitstrecke läßt Begriffe wie den der Einmaligkeit, des Unwiederholbaren, des Dahinschwindens und viele weitere sinnvoll werden, die alle wesentliche Facetten menschlicher Existenz benennen. Die grundsätzlich vorauszusetzende Existenzfähigkeit eines jeden Menschen (verstanden als Fähigkeit zum "Ernstnehmen" des eigenen Daseins im Sinne der Existenzphilosophie) dokumentiert sich nun, wie es scheint, auch in einer vor aller Erfahrung, also gleichsam a priori in unserem Lebensgefühl enthaltenen Ahnung von diesen Zusammenhängen. Diese sind nicht psychologischer, sondern ontologischer* Natur. Sie entspringen nicht, heißt das, Besonderheiten unserer Psyche, sie sind vielmehr fundamentale Wesenseigentümlichkeiten menschlicher Existenz.163
Hier ist die Erklärung zu finden für die von Günther Anders aus psychologischem Blickwinkel zu Recht konstatierte Ungereimtheit, die darin besteht, daß wir, die wir nichts mehr fürchten als den Tod, uns dennoch nicht im Traum wünschen, unsterblich zu sein.
* OD: Ontologie: eine phil. Lehre vom Erkenntnisvorgang
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Wieder ist anzumerken, daß die individuelle Intelligenz einzelner Philosophen auch hier in angestrengter Rede nur hat wiederholen können, was die überindividuelle Intelligenz unserer kulturellen Tradition schon seit Jahrtausenden weiß und in eine Sprache gefaßt hat, die jeder mühelos versteht. "Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen", betete Moses vor mehr als 3000 Jahren, und er begründete seinen Wunsch mit dem bemerkenswerten Zusatz: "... auf daß wir klug werden" (womit er in gewissem Sinne in einem einzigen Satz die ganze Existenzphilosophie vorwegnahm).164
Um das bisher Gesagte zusammenzufassen: Weder objektiv noch auf psychologischer Ebene läßt sich ein Grund finden, der die Macht hinreichend erklären könnte, mit der die Angst vor dem Tode uns überfallen kann. Objektiv ist die Begrenztheit der Lebensdauer aller Organismen unerläßliche Vorbedingung jeglicher individuellen Existenz jenseits der ersten primitiven Ursprungszelle. Und auf psychologisch-anthropologischer Ebene entspricht dieser objektiven Notwendigkeit eine Struktur unseres Daseins, in der alle Möglichkeiten, diesem Dasein einen Wert an sich zu verleihen, unmittelbar von seiner Endlichkeit abhängig sind. All diesen Feststellungen und Phänomenen aber korrespondiert ("antwortet") eine materielle Basis aller Lebensprozesse, die deren zeitliche Begrenztheit mit Hilfe eines nicht unbeträchtlichen funktionellen Aufwands als aktive Leistung sicherstellt.
Hier darf kein Mißverständnis entstehen: Niemand wird bestreiten, daß das alles mit einer Fülle der verschiedensten Ängste im Einklang sein kann. Sie alle lassen sich auch psychologisch zwanglos erklären: als Angst vor dem Sterben, vor der möglichen Qual der letzten Lebensphase, selbstverständlich auch als Angst vor dem absolut Unbekannten und ebenso als Angst vor dem Abbruch aller Beziehungen zur Welt und den in ihr weiterlebenden Nächsten. Das alles gibt es ganz unbestreitbar.
Dennoch: Hinter all diesen Ängsten und Befürchtungen können wir noch eine ganz andere, sehr viel tiefer sitzende und radikalere Angst entdecken, die sich bei dem Gedanken an den Tod in uns rührt.
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Im Gegensatz zu allen anderen im Umfelde des Todes auftretenden Ängsten erweist sie sich als grundsätzlich unbeeinflußbar von unserer Einstellung zu ihrem Anlaß. Sie bezieht sich auch nicht auf irgendeine angebbare Qualität dieses Anlasses, unseres Todes — wir kennen keine. So bleibt sie auf eigentümliche Weise ohne Inhalt. Sie ist, in jedem Sinne des Wortes, bodenlos. Diese Angst, die wir als die "eigentliche" Todesangst anzusehen haben, ist nicht das Ergebnis irgendeiner psychologischen Reaktion. Sie wurzelt in einer tieferen Schicht.
Sie ist schon deshalb auch nicht mit anthropologischen Kategorien zu fassen (wenn sie ihrerseits selbstverständlich auch bestimmte anthropologische Strukturen, Besonderheiten menschlicher Wesensart also, entstehen läßt und somit auch erklärt), weil sie älter ist als der Mensch. Es ist eine aller lebenden Kreatur eingepflanzte Angst, die sich schon in dem "verzweifelten" Winden eines verletzten Wurms äußert und ebenso in der mit schreckhafter Plötzlichkeit erfolgenden Ausweichreaktion eines Einzellers. Sie ist anzusehen als eine Art "ontologischen Radikals": eine aller Möglichkeit zum Philosophieren oder Psychologisieren vorangehende fundamentale Besonderheit aller organismischen Existenz. Der pure, allen intellektuellen "Raisonnements" entkleidete Kern unserer eigentlichen Todesangst ist eine Angst, die wir mit den übrigen Lebewesen teilen. Sie ist eine animalische, kreatürliche Angst.
Jetzt endlich sind wir an dem Punkt angelangt, an dem erkennbar wird, welchen Zweck dieser Exkurs verfolgte. Diese Deutung unserer eigentlichen Todesangst konfrontiert uns nämlich mit einem schon kurz erwähnten, paradox erscheinenden Sachverhalt, dessen nähere Betrachtung uns einen wichtigen Schritt weiterhelfen kann. Wenn unsere Todesangst in ihrem eigentlichen Kern weder psychologisch verständliche noch philosophisch überzeugende Gründe hat, wenn sie vielmehr animalischer Natur ist, dann stehen wir nunmehr vor dem seltsamen Faktum, daß hier zwei von der Evolution hervorgebrachte biologische Leistungen offensichtlich einander widersprechen:
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Hier hat, so scheint es, ein und dieselbe biologische Entwicklung sowohl ein Programm entstehen lassen, mit dessen Hilfe sie die Lebensspannen ihrer Kreaturen aktiv begrenzen kann, als auch, gleichzeitig, ein Programm, das dafür sorgt, daß alle diese Kreaturen sich dem Wirksamwerden dieses — aus objektiver Notwendigkeit unverzichtbaren — "Lebensbegrenzungsprogramms" nach Kräften widersetzen. Das durch den Terminus "Hayflick-Phänomen" bezeichnete Programm und das in der animalischen Form der Todesangst zum Ausdruck kommende Verhaltensprogramm verfolgen nicht lediglich verschiedene Funktionen, sie dienen — unmittelbar — einander genau entgegengesetzten Zwecken.
Dieser Sachverhalt bedarf einer Erklärung. Bisher hatten wir uns gleichsam nur theoretisch gewundert. Aufgefallen war uns, daß es sich beim Tod im Unterschied zu allen anderen uns bekannten "angeborenen Anweisungen" — wie den von uns als Hunger oder Durst bezeichneten Trieben — um den Ausnahmefall eines Programms handelt, auf dessen Realisierung wir nicht mit Zustimmung, sondern im Gegenteil mit heftigem Widerstreben reagieren. Der Sachverhalt hätte noch die Möglichkeit offengelassen, zu seiner Erläuterung die Frage nach der "Vernünftigkeit" unserer abwehrenden Reaktion zu stellen. Inzwischen haben wir uns jedoch davon überzeugt, daß es sich bei ihr um ein Phänomen handelt, dessen Ursachen "vor aller Vernunft" zu suchen sind.
Was der Erklärung bedarf, das ist das konkrete Vorliegen eines in der Gestalt eines molekularen Musters (genetische Codierung des "Hayflick-Phänomens") sowie eines in archaischen Teilen unseres Gehirns existierenden neuralen Schaltmusters (als körperlicher Grundlage einer angeborenen Reaktionstendenz) materiell realisierten Widerspruchs. Dieser läßt sich weder durch psychologische noch durch existential-philosophische Argumente auflösen. Bei unserem Versuch, sein Zustandekommen zu erklären und seine Zweckmäßigkeit zu verstehen, können uns allein die Prinzipien weiterhelfen, auf die wir auch sonst in allen Teilbereichen der Evolution stoßen und die uns die Gesetze, denen die biologische Entwicklung folgt, zu einem befriedigenden Teil haben erkennen lassen.
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Wie also könnte es zu verstehen sein, daß die Evolution einen so diametralen Widerspruch buchstäblich realisiert hat? Jener Entwicklungsprozeß also, von dessen Ökonomie und (im nachhinein) unübersehbarer Zielstrebigkeit schon wiederholt die Rede war? Worin könnte der Zweck einer Strategie zu sehen sein, bei der ein bestimmtes sehr altes (von der evolutionären Auslese also fraglos als besonders wichtig beurteiltes) Verhaltensprogramm ("Angst") keinem anderen Funktionsziel dienen kann (und offensichtlich auch dienen soll) als dem, ein in dem gleichen Organismus steckendes zweites, nicht minder fundamentales Programm möglichst wirkungsvoll zu blockieren?
Im ersten Augenblick scheint der Fall aller sonst so überzeugenden Logik biologischer Entwicklung Hohn zu sprechen. Es scheint aber nur so. Der Ansatz einer denkbaren, ja der einzig plausiblen Antwort steckt in der Formulierung von einer "möglichst wirkungsvollen" Blockade. Der Widerspruch ist nicht absolut. Wir dürfen uns nicht überrumpeln lassen: Der Tod wird durch die Angst ja nur hinausgeschoben, nicht etwa aufgehoben. (Und das im Zellkern steckende Begrenzungsprogramm bleibt von dieser Angst ohnehin unberührt.)
Jetzt wird eine erste Antwort sichtbar, wird ein Zweck der scheinbar widersprüchlichen Art und Weise erkennbar, in der wir in diesem Punkt von der Natur programmiert worden sind. Er besteht darin, uns davon abzuhalten, den Tod vorzeitig als "Ausweg" aus dieser Welt zu benutzen. Die Antwort ist, wie bei diesem Themenfeld nicht anders zu erwarten, uralt.165 Manchem mag sie im ersten Augenblick sogar trivial erscheinen. Neu aber ist immerhin, daß wir einen Fortschritt in ihrer Begründung zu verzeichnen haben. Was bisher Vermutung bleiben mußte, ist durch die Entdeckung Hayflicks in die Nähe des Bewiesenen gerückt. Die Aussage, die sich bisher nur mit psychologischen und philosophischen Indizien plausibel machen ließ, bezieht sich seit dem Nachweis eines sie begründenden biologisch-genetischen Sachverhalts auf eine objektiv zu konstatierende Besonderheit unserer Lebenswirklichkeit.
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Die Entdeckung des natürlichen Todes als einer "Absicht der Natur" — anstelle bloßen Unvermögens, unbegrenzte Lebensfunktionen zu gewährleisten — oder, präzise und objektiver formuliert: als einer aktiven biologischen Leistung, ermöglicht die Einsicht, daß unsere Todesangst formal ein asketisches Moment enthält. Das ist der entscheidende Punkt, an dem wir anknüpfen können.
Askese bedeutet Triebverzicht. Ein Asket im engeren Sinne ist ein Mensch, der seinen Willen dazu benutzt, die Erfüllung eines ihm von seiner leiblichen Natur oktroyierten Wunsches möglichst lange hinauszuschieben: Er hungert oder durstet oder verzichtet auf sexuelle Befriedigung. (Es gibt darüber hinaus selbstverständlich weitere Möglichkeiten einer asketisch zu nennenden Lebensführung.) Zu allen Zeiten und in allen Kulturen hat die freiwillige, von keiner äußeren Instanz erzwungene Entscheidung zu einer asketischen Haltung hohes Ansehen genossen. Daß unsere gegenwärtige Gesellschaft verständnislos auf sie reagiert, wenn nicht gar mit Spott, stellt ihr kein gutes Zeugnis aus. Sie erweist sich mit dieser negativen Reaktion als blind für die Tatsache, daß eine asketische Einstellung — unbeachtet ihres extremen Charakters, der sie untauglich macht, etwa als allgemein verbindliches Vorbild zu dienen — in einem strengen Sinne als äußerster Erweis einer Verhaltensmöglichkeit zu gelten hat, die spezifisch menschlich ist.
Ein Tier ist seinen Stimmungen, Affekten und Antrieben bedingungslos unterworfen. Es identifiziert sich gleichsam mit ihnen. Oder, wie man genauer eigentlich sagen muß: Seine Triebe machen es unwiderstehlich mit den Verhaltensweisen identisch, die ihre Befriedigung auf dem kürzesten Wege erwarten lassen. Widerstehen kann ihnen — in Grenzen — von allen Lebewesen allein der Mensch. Nur er kann sich "zu ihnen verhalten". Auch er ist außerstande, seine Triebe oder Affekte aufzuheben, ihrem Kommen und Gehen zu befehlen. Aber er kann ihnen seinen Willen entgegensetzen, indem er sich darum bemüht, sie "zu beherrschen". Der menschliche Rang einer Persönlichkeit hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit das gelingt. Dafür immerhin gibt es auch in unserer Gesellschaft noch ein gleichsam intuitives Verständnis.
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Nun beruht die moralische Qualität dieser Fähigkeit, angeborenen Verhaltenstendenzen willentlich Widerstand leisten zu können, in allen Fällen — von dem des Menschen, der seinen Zorn zu beherrschen sucht, bis zu ihrer äußersten Zuspitzung in der Askese — auf der Freiwilligkeit des Triebaufschubs. Davon kann im Falle der Todesangst, welche uns veranlaßt, die Erfüllung der Endlichkeit unseres Daseins möglichst lange hinauszuschieben, ganz gewiß nicht die Rede sein. Sie ist keine Leistung, die wir uns selbst gutschreiben könnten. Sie stellt, obwohl in uns selbst wirksam werdend, dennoch eine äußere — da aus den Tiefen unserer stammesgeschichtlichen Vergangenheit genetisch auf uns überkommene — Instanz dar, womit die Anwendung moralischer Maßstäbe hier entfällt.
Eine formale Analogie aber ist unübersehbar. Auch das Hinausschieben des Todes als eines "angeborenen Programms" folgt in allen anderen Details dem Schema eines Triebaufschubs. Die heuristische Bedeutung dieser Analogie beruht auf der sich aus ihr ergebenden Möglichkeit, aus der Stärke des zum Aufschub notwendigen Widerstands auf die Intensität des aufzuschiebenden Bestrebens zu schließen.
Zum freiwilligen Ertragen von Durst bedarf es einer größeren Willensanstrengung als zum Ertragen von Hunger. Dem Unterschied der willentlichen Anstrengung, die notwendig ist, um die Erfüllung des angeborenen Strebens wirksam aufzuschieben, entsprechen Unterschiede in der Intensität der angeborenen Regung. Durst ist, wie jeder aus eigener Erfahrung weiß (und wofür jedes Lehrbuch der Physiologie die Erklärung bereithält), objektiv und subjektiv von weitaus größerer Dringlichkeit als Hunger. Gewiß ist es nicht unproblematisch, das genetisch in allen unseren Zellen steckende Todesprogramm ohne weiteres den übrigen uns beherrschenden "Trieben" zuzuschlagen. Es scheint ihm zunächst die subjektive Erlebniskomponente zu fehlen, die sich in allen anderen Fällen so aufdringlich bemerkbar macht. Ein Psychoanalytiker allerdings, dem die Existenz eines unter unser aller Bewußtseinsebene wirksamen Todestriebes eine vertraute Vorstellung ist, würde darüber schon anders urteilen.
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Wie auch immer. Ich sehe keinen Grund, der uns hindern könnte, die bodenlose, grundsätzlich durch keinerlei religiöse oder philosophische Einstellung zu beeinflussende, weder objektiv begründete noch psychologisch ausreichend erklärbare Todesangst, die uns von der Evolution angezüchtet worden ist, als Maßstab der Wahrscheinlichkeit anzusehen, mit welcher der Eintritt des Todes in Wahrheit nicht als Katastrophe, sondern als ein Gut zu beurteilen ist. Wir haben den Tod von vornherein und mit solcher Entschiedenheit zum absoluten Bösen erklärt und alles, was mit ihm auch nur mittelbar zusammenhängt, mit solcher Konsequenz aus unserem Gesichtsfeld verbannt, daß es der umständlichen Analyse der uns trotz aller Verdrängungsbemühungen nach wie vor beherrschenden Todesangst bedurfte, um auf diesen Gedanken überhaupt kommen zu können.
Wer von uns denkt schon noch daran, daß er mit einer Einstellung, die dem Tod die Rolle eines absoluten, eines sozusagen unverzeihlichen, durch nichts zu rechtfertigenden Übels zuweist, auch seinem Leben von vornherein jeden denkbaren Sinn abspricht? Denn wie ließe sich ein Leben, das, wie erläutert, nur als ein "Dasein zum Tode" begriffen werden kann, noch angemessen interpretieren, wenn man den Angelpunkt dieser existenzphilosophischen Bestimmung seines eigentlichen Wesens durch seine Verdrängung wie durch den Akt einer geistigen Amputation zuvor entfernt? Schon in dem Augenblick, in dem wir geboren werden, sind wir zum Sterben alt genug. "Auf jeden Menschen wird im Augenblick seiner Geburt ein Pfeil abgeschossen", hat Jean Paul diesen Sachverhalt dichterisch gekennzeichnet. "Er fliegt und fliegt und erreicht ihn in der Todesminute."166 Wie ließe sich der Sinn unserer Lebensspanne denn bei einer Betrachtung entdecken, die blind ist für den Flug dieses Pfeils?
Es könnte manchem als unangemessen handgreifliches Verfahren erscheinen, wenn ich hier die Erinnerung an diesen Pfeil durch den Hinweis auf das molekularbiologisch dingfest zu machende Hayflick-Phänomen herbeizuzwingen versucht habe. Die unbestreitbare Krudität dieser Methode spiegelt aber nur die nicht weniger ungeistigen, nicht weniger handgreiflichen Barrikaden wider, hinter denen wir uns vor seinem Anblick versteckt haben.
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Totaler Machbarkeitsglaube und ein vor allem in der Werbung bis zur Lächerlichkeit forcierter Jugendlichkeitswahn sind verräterische Kehrseiten unserer vorsätzlichen Todesvergessenheit. Gewiß haben wir allen Grund, über die Fortschritte der medizinisch-technischen Behandlungsmöglichkeiten erfreut zu sein. Wer von uns möchte sich schon in eine Epoche ohne Anästhesie oder ohne Pockenimpfung zurückversetzt sehen. Aber haben wir nicht auch allen Grund, uns vor der heute verfügbaren Möglichkeit zu fürchten, einen hirntoten menschlichen Körper beliebig lange, über Monate oder auch Jahre hinweg, in einem Zustand funktionstüchtig zu erhalten, der nach ausschließlich medizinischen Kriterien noch nicht eindeutig als "tot" angesehen werden kann? Und ist diese monströse Offerte der heutigen medizinischen Technik etwa nicht als Antwort zu verstehen auf unser unausgesprochenes Verlangen nach einem Leben ohne Tod?
Zu denken wäre in diesem Zusammenhang ferner an das allseits mit berechtigter Sorge konstatierte Phänomen, daß sich in unserer Gesellschaft, insbesondere unter ihren jüngeren Mitgliedern, das Gefühl der Sinnleere, der Inhaltslosigkeit des eigenen Lebens breitmacht, ungeachtet seiner im globalen Vergleich aus rein diesseitigem Aspekt noch immer unbestreitbaren Annehmlichkeit. Auch mit diesem nihilistischen Unbehagen quittieren wir doch wohl für die Borniertheit, mit der wir uns auf den als einzig rational anerkannten Versuch versteift haben, unser Leben unter möglichst totaler Ausklammerung seines zentralen Wesensmerkmals zu definieren und zu führen.
Ich bin mir durchaus im klaren darüber, wie leicht sich alle diese Aussagen "im Munde herumdrehen" lassen. Wer sie mißverstehen will, den kann ich daran nicht hindern. Selbstverständlich bewahren auch diese Überlegungen nicht etwa vor der uns eingeborenen Todesangst. Und ebenso selbstverständlich ist mit ihnen nicht etwa die Behauptung verbunden, der Tod könne der Schrecken entkleidet werden, die er für uns bereithält. Als Lebende fürchten wir ihn mit Recht. Die Frage ist nur, ob das absolut gilt, abgelöst vom Zustand der "Lebendigkeit", also auch dann noch, wenn wir aus diesem Zustand herausfallen.
Die Frage ist demnach, ob der Tod als das unausweichlich eintretende Ende unseres Lebens dieses Leben rückwirkend sinnlos werden läßt oder ob er, wie Mythos, Religion und bestimmte philosophische Lehren es seit je überliefern, als eine Grenze, als ein Übergang anzusehen ist, hinter dem uns etwas anderes erwartet als das absolute Nichts.
Dem Trost der bekannten religiösen Verheißung können wir uns heute mehrheitlich nicht mehr vertrauensvoll überlassen, da wir es zu unserem intellektuellen Ehrenstandpunkt gemacht haben, lieber trostlose Verzweiflung zu ertragen als den Verdacht, wir könnten uns womöglich mit bloßem Wunschdenken zufriedengegeben haben.
Wir müssen auch in diesem Fall folglich wieder den kruderen Weg einschlagen, so umständlich er ist. Die Auffassung, religiöse Überlieferung könnte auch in diesem Punkt als die Quintessenz einer überindividuellen Einsicht unserer geistigen Geschichte gelten, ist für uns noch nicht wieder ohne Umschweife annehmbar. Wir müssen uns ihr daher abermals auf indirektem Wege zu nähern suchen.
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