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  Teil 1   Weimar, Hirnentwicklung  

101 - Ankunft aus dem »Nichts« 

 

 

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Am 15. Oktober 1921 hatte meine Mutter einen schweren Tag: Zu Beginn des Tages gab es mich noch nicht, am Abend des 15. aber war ich vorhanden, ein menschliches Individuum, dessen Existenz urkundlich bestätigt und mit den notwendigen bürgerlichen Identifikations­merkmalen ausgestattet worden war. 

In meiner Geburts­urkunde ist als Geburtsort Charlottenburg eingetragen, und behördliche Präzision hat dazu geführt, daß es heute noch in meinem Personal­ausweis heißt: »Geburtsort Charlottenburg, jetzt Berlin«. Am 15. Oktober 1921 also traf ich in Charlottenburg ein — aus dem Nichts kommend. Eine banale Feststellung? 

Die meisten Menschen nehmen das jedenfalls als selbstverständlich hin. Aber so selbst­verständlich es sein mag, so seltsam ist es doch auch. Die Tatsache, daß sich so wenige über diesen Umstand wundern, der für jeden einzelnen von uns gilt, erweist sich bei näherer Betrachtung als erstes und sogar besonders markantes Symptom unserer Naturvergessenheit.

Wir verstehen uns als Geistwesen. Und das sind wir unbestreitbar. Aber wir sind es nicht ausschließlich. Es liegt eine eigen­tümliche Paradoxie in der Unbeirrbarkeit, mit der jene, die nicht müde werden, auf die angeblich absolute Freiheit des menschlichen Geistes zu pochen, die offenkundigen Grenzen übersehen, die dieser Freiheit durch das biologische Fundament unserer Existenz gesetzt sind. 

Auch sie machen zwar alltäglich die Erfahrung, daß der Mensch von Zeit zu Zeit von Müdigkeit »überwältigt« wird, daß man im Zustand des Hungers oder einer fiebrigen Erkältung nicht konzentriert arbeiten kann, daß Alkohol oder starke Emotionen die geistige Aktivität unverkennbar beeinflussen. Das alles bringt sie aber nicht von der Überzeugung ab, daß es Grenzen für die geistige Freiheit des Menschen nicht gebe.

Wichtiger und in der Praxis bedeutsamer als diese simplen Einschränkungen sind die unbewußt wirkenden Einflüsse, die »angeborenen Vorurteile«, mit deren Hilfe unsere biologische Konstitution den Ablauf unserer geistigen Aktivität steuert. Die evolutionäre Erkenntnis­theorie hat den seit Jahrtausenden auf Indizien gestützten Verdacht in den letzten Jahrzehnten Schritt für Schritt bestätigt. Aber selbst diese Befunde hindern manche einseitig orientierte Denker bis heute nicht, etwa zu behaupten, daß der »menschliche Horizont absolut und unbegrenzt« sei oder daß der Mensch »durch seinen Erkenntnisapparat in das Absolute versetzt« werde.*

* So der Münchner Philosoph Günther Schiwy mir gegenüber 1986 in einer Diskussion nach einem Vortrag. Es gibt philosophische Schulen — ein repräsentatives Beispiel: Robert Spaemann und Mitarbeiter (ebenfalls München) —, die entschlossen an dieser einäugigen Sicht festhalten.


Als eine erste Heilmethode gegen diese Form der Überschätzung unserer Freiheit kann nun empfohlen werden, sich darauf zu besinnen, wie wir uns zu dem »Nichts« verhalten, aus dem heraus wir durch unsere Geburt kommen. Denn woran liegt es, daß der Gedanke, sich mit ihm näher zu beschäftigen, den meisten Menschen nicht in den Sinn kommt? 

Wie ist es, anders gesagt, zu erklären, daß wir uns zwar häufig und aus eigenem Antrieb mit der Frage herumschlagen, was mit uns nach unserem Tode sein wird, daß wir uns aber nicht dafür zu interessieren scheinen, wo wir vor unserer Geburt waren? Beide Fragen betreffen doch unleugbar den gleichen Sachverhalt. (»Nach deinem Tode wirst du seyn, was du vor deiner Geburt warst«, schreibt Arthur Schopenhauer.) Wie kommt es zu dieser eigentümlichen Asymmetrie unseres Interesses, das in aller Regel allein nach dem Wesen des »Nichts« fragt, das uns nach unserem Tode erwartet?

Der erste, der die Erklärungsbedürftigkeit dieses Sachverhalts entdeckte, ist meines Wissens Erwin Straus gewesen, der ihn in den dreißiger Jahren in einer Publikation über das menschliche Zeiterleben erwähnt. (Eine systematische Suche würde vermutlich noch ältere Kronzeugen zutage fördern.) Erwin Straus war Psychiater. Das ist sicher kein Zufall. Ein Psychiater ist — anders als ein Psychologe oder Psychotherapeut (sofern diese nicht ebenfalls Medizin studiert haben) — aufgrund seiner Ausbildung dazu erzogen, die körperlichen, biologischen Bedingungen und Grundlagen psychischer Abläufe in die Betrachtung einzubeziehen.

Zu den elementarsten der Grundlagen psychischer Abläufe gehört der Umstand, daß wir aus Materie bestehen. Daß eine im Verlauf einer für uns unausdenkbar langen Entwicklungszeit entstandene materielle Struktur von einer uns ebenfalls unaus­denk­baren Komplexität die Voraussetzung darstellt für unsere konkrete Existenz. Nicht nur für unsere leibliche, physische, sondern auch für unsere geistige Existenz. Sowenig wir ohne unseren Leib leben könnten, sowenig wären wir ohne unser Gehirn imstande zu denken.  

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Das alles sind Trivialitäten. Aber auch sie müssen hier bedacht werden, weil schon die unmittelbaren Folgen dieser beiläufig als selbstverständlich akzeptierten Sachverhalte von fast allen Menschen ignoriert werden: Es ist nicht möglich, ein materielles System via biologische Evolution bis auf die Ebene der Denkfähigkeit zu hieven, ohne daß sich in dem ermöglichten Denken bestimmte Eigenheiten der seine Voraussetzung bildenden materiellen Strukturen widerspiegeln.

Hier muß nun ein Einwand betrachtet werden: Wenn man von biologischen Einflüssen auf psychisches Geschehen spricht, sieht man sich im Handumdrehen dem Vorwurf gegenüber, man argumentiere »biologistisch«. Wer den Vorwurf benutzt, geht davon aus, daß sich jedes weitere Argument erübrige, da die so etikettierte Aussage als ideologisch entlarvt sei. Das ist barer Unsinn. Er ist als modische Unsitte allerdings so verbreitet, daß er seinerseits hier kurz »entlarvt« werden muß.

Wer in dem angedeuteten Zusammenhang den Vorwurf des Biologismus erhebt, bezieht sich, obwohl er das offensichtlich nicht weiß, auf ein von dem Philosophen Nicolai Hartmann aus der realen Welt abstrahiertes Ordnungsschema.* Nach Hartmann lassen sich in der Welt mehrere einander übergeordnete ontologische (Seins-) Ebenen unterscheiden. Zuunterst existiert die materiell-anorganische Ebene. Auf ihr gründet sich die Schicht des Organisch-Biologischen, diese wiederum bildet das Fundament der über ihr gelegenen Schicht des Geistigen. Die Kategorien der unteren Schichten bilden den Seinsgrund für die darüberliegenden, von dem diese insofern abhängig sind und in ihrer Struktur mitgeprägt werden. Zugleich tauchen von Stufe zu Stufe in zunehmender Reichhaltigkeit auch neue Eigenschaften auf.

Gegen diesen Aufbau der realen Welt verstößt nun nach Hartmann ein Denken, das sich anheischig macht, das Wesen der Realität aus einer einzigen dieser Ebenen ableiten zu wollen. Wer mit den Kategorien der untersten Ebene allein die Wirklichkeit zu erklären versucht, denkt »materialistisch«, wer mit der organisch-biologischen Schicht als einziger Erklärungsgrundlage auskommen zu können glaubt, beschränkt sich auf eine »biologistische« Sicht, und wer sich allein auf die oberste, geistige Seinsebene bezieht, reduziert seinen Ansatz einseitig auf eine »idealistische« Position.

* Nicolai Hartmann, <Der Aufbau der realen Welt>, Berlin 1949.

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Die jeweiligen Ismen sind folglich das Resultat einer ideologischen Blickverengung, bei der die Erklärungs­grundlage verkürzt wird auf eine einzige, aus dem Kontext der Realität willkürlich herausgegriffene Seinsebene.

Wer die Einbeziehung biologischer Rahmenbedingungen in die Diskussion über menschliches Verhalten oder psychische Abläufe als »bio-logistisch« ablehnen zu können glaubt, bedient sich daher einer Terminologie, die er nicht verstanden hat. Denn eine solche Betrachtungsweise ist weit davon entfernt, die Erklärung nur aus den Gesetzen einer einzigen ontologischen Ebene ableiten zu wollen. Sie versucht ganz im Gegenteil, das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen zuzurechnenden Kategorien in den Blick zu bekommen.

Damit zurück zu den Gründen für die seltsame Asymmetrie unseres Interesses an dem von unserer Lebens­spanne unterbrochenen »Nichts«, je nachdem, um welches ihrer Enden — Geburt oder Tod — es sich handelt. Wir können jetzt konkret danach fragen, welche der einer untergeordneten Ebene angehörenden Kategorien sich hier bemerkbar macht. Antwort: Es ist der asymmetrische Charakter des Zeitablaufs selbst, die einseitige Richtung aller zeitlichen Abläufe, die sich in unserer Aufmerksamkeits­richtung ausdrückt. Dieser »Zeitpfeil« ist ohne jeden Zweifel eine fundamentale Kategorie, wie schon daran erkennbar wird, daß er bereits in der untersten, der materiell-anorganischen Seinsschicht alles Geschehen beherrscht.

Nach allem, was wir wissen, ist »die Zeit« seit dem Beginn des Kosmos immer nur in einer Richtung abgelaufen, auch während der unausdenkbar langen Äonen, in denen es lediglich physikalische und chemische Prozesse gab, von Lebensprozessen oder gar psychischen Phänomenen ganz zu schweigen.*

Und als diese dann endlich, nach mühsam-langwierigen Evolutionsschritten, in der Welt auftauchten, waren sie ebenfalls von der fundamentalen Asymmetrie des Zeitpfeils gezeichnet, unter dessen Herrschaft sie entstanden waren — wen dürfte das wundern? Schon in der noch toten, anorganischen Zeit des Kosmos gab es die Unumkehrbarkeit von Vergangenheit und Zukunft, und darum geriet diese auch in unseren Kopf. Deshalb können wir nur älter werden und niemals jünger.

Und deshalb interessiert uns das, was zeitlich »vor« uns liegt, mehr als das, was wir schon hinter uns haben.

* Wer sich für die physikalische Begründung der »Gerichtetheit« der zeitlichen Abläufe näher interessiert, findet alles Wissenswerte in verständlicher Form in dem Buch von Reinhard Breuer, <Die Pfeile der Zeit: Über das Fundamentale in der Natur>, 1984.

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Das alles mag für trivial halten, wer will. Alltäglich und insofern »selbstverständlich« ist es ohne Frage. Aber es ist auch ein unwiderlegbarer Beweis gegen die kühne Annahme — die so viele ebenfalls für selbstverständlich halten —, daß unser Geist, insofern dem Geiste Gottes vergleichbar, souverän über den Wassern schwebe. Das ist nichts als eine weitverbreitete und im Grunde nicht einmal erfreuliche Illusion. Das »Wasser« der Materie, über dem unser, der menschliche Geist schwebt, hat diesen kräftig benetzt und bis in seine feinsten Verästelungen durchtränkt. Es fällt uns nur seiner Alltäglichkeit wegen nicht auf, ebensowenig wie wir etwa den Umstand, daß wir im Unterschied zu vielen niederen Tieren nach hinten nichts sehen können, als das zu erleben pflegen, was er objektiv ist: eine handfeste Lücke in unserem Gesichtsfeld.

Objektiv, vom individuellen Bewußtsein einmal abgesehen, läßt sich dem »Nichts«, aus dem heraus wir alle geboren werden, bekanntlich noch eine gehörige Zeitspanne abgewinnen. Objektiv hat, wie biologische Forschung herausfand, die eigene Individualität schon rund neun Monate vor der Geburt begonnen in dem Augenblick, in dem eine väterliche und eine mütterliche Zelle miteinander verschmolzen. Beide enthielten eine von vorangehenden wiederholten Zufallsschritten willkürlich vorgenommene Teilauswahl mütterlicher und väterlicher Erbanlagen. Die im Akt der Zell Verschmelzung erfolgende Kombination potenzierte den Zufallscharakter des Endergebnisses. Wenn sich rund 50.000 einzelne Strukturgene und dazu mindestens 500.000 Regulatorgene unter solchen Umständen zu einem Genom zusammenfinden, ist dessen individuelle Zusammensetzung statistisch gesehen von weit überastronomischer Unwahrscheinlichkeit.* Das aus der Verschmelzung hervorgehende individuelle Erbmuster stellt ein im wahrsten Wortsinn historisches Ereignis dar: Es ist einmalig, unwiederholbar und von unwiderruflicher Endgültigkeit.

* Strukturgene nennt der Genetiker die den Bauplan eines bestimmten Organismus festlegenden Erbmoleküle. Die Beziehungen zwischen ihnen (vereinfacht: die Regeln, nach denen der von ihnen gespeicherte Bauplan abzulesen ist) werden durch Regulatorgene festgelegt. Das aus all dem hervorgehende, unendlich komplizierte molekulare Raummuster ist das Genom, die »Erbanlage«, eines bestimmten Individuums.

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Seit der Entstehung der ersten zur Vermehrung durch Teilung befähigten Urzelle vor drei oder vier Milliarden Jahren hat es noch niemals auch nur eines dieser Muster zweimal gegeben. Solange die Erde sich dreht, wird es nicht dazu kommen. Dafür ist die Zahl der beteiligten Erbmoleküle und der von ihnen ermöglichten Zufallskombinationen um ein unvorstellbares Vielfaches zu groß. Dieser von dem materiell-molekularen Fundament unserer persönlichen Veranlagung verursachte und mathematisch-statistisch beweisbare Sachverhalt begründet die Einzigartigkeit der individuellen Existenz eines jeden von uns. Er berechtigt jeden von uns, sich für einzigartig zu halten, sich als einmaliges, unaustauschbares und in seiner persönlichen Besonderheit unverwechselbares Individuum anzusehen.

Er begründet zugleich die — von so vielen unbelehrbar bestrittene — Tatsache, daß sich alle Menschen voneinander unterscheiden. (Das alles gilt, einzige Ausnahme, selbstredend nicht für »echte«, also eineiige Zwillinge, weil diese aus ein und derselben befruchteten Zelle hervorgegangen sind und identische Genome haben.) Auch die Tatsache, daß die Menschen untereinander nicht gleich sind, ergibt sich aus demselben genetisch-statistischen Argument wie ihre Individualität: Das eine ist — und das ist nun wirklich trivial — nichts als die Kehrseite des anderen.

Diese individuelle Einzigartigkeit schließt Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Menschen keineswegs aus. Total beziehungslos, ohne jeglichen wechsel­seitigen Zusammenhang, werden die Myriaden einzelner Erbmoleküle bei der Entstehung eines neuen Individuums nicht durcheinandergewürfelt. Das Auftreten von Ähnlichkeiten, nicht nur im Körperbau (Gesicht!), sondern auch hinsichtlich typischer Haltungen und Gesten, ja sogar hinsichtlich einzelner Charakterzüge und Begabungen, läßt uns auch ohne Elektronenmikroskop und diffizile molekularbiologische Analysemethoden erkennen, daß bestimmte Gengruppierungen bei der Zufallsgenese des neuen Genoms erhalten bleiben, daß sie gewissermaßen en bloc weitergegeben werden.

Eine kurze Überlegung erinnert daran, daß das sogar für die weitaus meisten Teile des molekularen Bauplans gelten muß. In einer ganz groben Schätzung (lediglich der Anschaulichkeit halber vorgenommen, nicht etwa wissenschaftlich präzise ableitbar) wird man sagen dürfen, daß unsere individuelle Einzigartigkeit sich lediglich auf etwa 5 Prozent unserer genetischen Veranlagung bezieht.

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Die übrigen 95 Prozent haben wir mit allen übrigen Mitgliedern der Spezies Homo gemeinsam: den Bau und die Funktion unserer Augen, das komplizierte Geflecht unseres Leberstoffwechsels, den zellulären Aufbau unserer Muskulatur, Gestalt und Funktion von Händen und Beinen, überhaupt das ganze anatomische Grundgerüst und die endlose Liste aller für die Lebensfähigkeit unseres Körpers unentbehrlichen physiologischen Funktionen. 

In diesen (mindestens) 95 Prozent unserer erblichen Anlagen, bei denen nicht individuell variiert wird, zeigt sich die eigentliche, die entscheidende biologische Rolle der Vererbung. Sie besteht darin, es der Natur zu ersparen, mit jeder neuen Generation alle die Strukturen und Funktionen in ihrer unabsehbaren Vielfalt von neuem »erfinden« zu müssen, die für den Betrieb eines biologischen Organismus unentbehrlich sind. Das Leben hätte sich auf dieser Erde nicht bis zur Entstehung von Menschen entwickeln können, wenn der Vorgang der Vererbung dieses Problem nicht erledigt hätte durch die Weitergabe aller einmal gefundenen Lösungen.

Deshalb kam auch ich, wie jeder meiner Mitmenschen, an jenem fernen Oktobertag in Charlottenburg mit zwei Armen und zwei Beinen auf die Welt, ausgestattet mit einer Lunge zum Atmen, mit Herz und Kreislauf und all den anderen Organen, ohne deren Besitz ich den Tag meiner Geburt nicht hätte überleben können. Deshalb brauchte ich auch die Methode des Nahrungserwerbs an seiner natürlichen ersten Quelle nicht erst zu lernen und ebensowenig die Notwendigkeit, zwischen Schlucken und Atmen in zweckmäßigen Abständen zu wechseln. Alle diese Lektionen beherrschte ich vom ersten Augenblick an, weil auch sie, die zu lernen mir keine Zeit geblieben wäre, in mein persönliches Genom Eingang gefunden hatten.

Die Liste der in meinen individuellen Bauplan geratenen Ähnlichkeiten mit anderen Lebewesen ist damit nicht annähernd vollständig skizziert. Die Fakten, um die sie hier zu ergänzen wäre, liegen sichtbar auf der Hand. Dennoch müssen sie wenigstens genannt werden, denn die Zahl der Augen, die das, was offen vor ihnen liegt, nicht sehen können oder wollen, ist überraschend groß. Die nur durch genetische Verwandtschaft, nur durch die Zugehörigkeit zum gleichen Stammbaum zu erklärenden Ähnlichkeiten beschränken sich nicht auf Gemeinsamkeiten zwischen meinem mimischen Ausdruck und dem meines Vaters und anderer Vorfahren auf vergilbten Porträtphotos. Auch nicht auf die unübersehbaren Entsprechungen zwischen meinem Körperbau und dem aller übrigen Mitglieder des menschlichen Geschlechts. Sie reichen vielmehr weit über die Grenzen der eigenen Art hinaus.

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Wir sollten das, was uns eben noch selbstverständlich schien, nicht sofort wieder vergessen, wenn wir auf ebensolche Ähnlichkeiten stoßen, die wir mit Lebewesen gemein haben, die nicht unserer Art angehören. Wie denn, wenn nicht durch genetische Verwandtschaft, könnte es erklärt werden, daß nicht nur wir Menschen, sondern auch Affen, Hunde und Katzen, ja allem äußeren Anschein zum Trotz selbst der scheinbar halslose Maulwurf und die Giraffe und alle anderen Säugetiere sieben Halswirbel haben, keinen mehr und keinen weniger?

Oder daß die anatomische Gliederung der vorderen Extremität eines Säugetiers (also auch die eines menschlichen Arms) bis in die Einzelheiten der eines Vogelflügels gleicht oder der einer Eidechsenpfote? Daß sich diese strukturellen Entsprechungen — oder Homologien, wie der Biologe das Phänomen bezeichnet — selbst am Skelett der Vorderflosse eines Fischs noch nachweisen lassen? Wie sonst als dadurch, daß alle diese Wirbeltiere (und der Mensch) miteinander verwandt sein müssen, daß es, anders gesagt, in einer freilich sehr fernen Vergangenheit ein Lebewesen gegeben haben muß, das ihr gemeinsamer Urahn war?

So kam ich also »zur Welt«, damals in Charlottenburg, als Nachkomme nicht nur meiner Eltern und Großeltern und auch nicht nur der langen, ihnen voran­gegangenen Reihe menschlicher Ahnen. Ich kam, wie wir alle, zur Welt auch als später Nachfahre der vormenschlichen Lebewesen unserer Stammeslinie, und diese reicht zurück bis zur ersten lebenden Urzelle. Es gäbe uns nicht, wäre sie ein einziges Mal abgerissen. Die Zeit, die die Natur sich genommen hat, um die Voraussetzungen meiner Existenz zu schaffen, sprengen den Rahmen menschlichen Vorstellungsvermögens. Und der Aufwand, den sie dabei getrieben hat, übersteigt jedes dieser Vorstellung noch vernünftig erscheinende Maß. Schon im Augenblick meiner Geburt stand fest, daß ich nicht die geringste Chance haben würde, ihn zeit meines Lebens auf irgendeine Weise zu rechtfertigen.

Von alldem hatte ich damals so wenig Ahnung wie jeder beliebige andere menschliche Säugling (und daran sollte sich auch in den folgenden Jahrzehnten erst einmal so gut wie nichts ändern). Aber bevor ich zu dem an meine Geburt anschließenden Lebensabschnitt übergehe, muß ich noch etwas zu der Bewußt­losigkeit sagen, in der ich die Monate verbrachte, die zwischen dem Augenblick der Entstehung meines Genoms durch Verschmelzung der elterlichen Zellen und dem 15. Oktober 1921 lagen.

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Daß mein Bewußtsein in dieser Zeit »geschlafen« hätte, wie es manchmal heißt, ist eine poetische Metapher, die nicht unbedenklich ist, weil sie irreführende Assoziationen weckt. Schlafen kann nur ein Bewußtsein, das davor wach gewesen ist oder das wenigstens grundsätzlich schon zur Wachheit befähigt ist. Davon aber war für lange Monate keine Rede. Die neuralen Strukturen meines erst allmählich nach Maßgabe des erwähnten genetischen Bauplans entstehenden Zentral­nervensystems waren zu einer solchen Leistung noch nicht herangereift. Sie waren es aus guten Gründen — davon im nächsten Kapitel mehr — auch in den auf meine Geburt folgenden Monaten noch nicht.

Aus meiner subjektiven Perspektive gab es mich in dieser meiner menschlichen Existenz vorangehenden - sie quasi vorbereitenden - Phase noch nicht. Von außen, aus objektivem Blickwinkel betrachtet, ist das eine Frage der Definition. Daß die am Anfang meiner individuellen Entwicklung stehende befruchtete Zelle sozusagen das Potential meiner Existenz darstellte, ist unbestreitbar. Daß sie selbst schon als menschliches Wesen anzusehen gewesen wäre, dürfte kaum jemandem in den Sinn kommen. Der Hypothese gar, daß sie, aufgrund welcher Konstruktion auch immer, als mit mir identisch zu gelten hätte, würde ich entschieden widersprechen. Irgendwann zwischen diesem Stadium vor dem ersten Teilungsschritt und der Geburt (vor der Geburt, das allerdings ist unstreitig) war das Entwicklungsstadium erreicht, von dem ab die »Menschlichkeit« des selbständig noch immer nicht lebensfähigen Kindes vorauszusetzen war (auch wenn dieses Kind noch kein Bewußtsein, geschweige denn ein Bewußtsein seiner selbst hatte). Eine scharfe, eindeutig bestimmbare Grenze gab es nicht. Der Übergang war fließend. 

Man sieht, worauf ich hinauswill: Wenn irgend jemand die Entwicklung an einem Punkt unterbrochen hätte, der eindeutig vor diesem Übergang lag, dann hätte er damit zwar die Möglichkeit meiner personalen Existenz vernichtet, aber nicht diese selbst (die es noch gar nicht gab). Er hätte - noch deutlicher - nicht einen Menschen getötet, sondern die Voraussetzung seiner noch in der Zukunft liegenden Existenz beseitigt.

Wohlgemerkt, ich behaupte keineswegs, daß das eine Handlung ohne Belang gewesen wäre. Ich behaupte jedoch, daß es eine unzulässige polemische Aufbauschung ist, die Unterbrechung in dieser frühen Phase allen Ernstes als »Mord« hinzustellen, und ein Beispiel abstoßender Demagogie, ihre unstreitig problematische Verbreitung in unserer Gesellschaft in die Nähe des Grauens von Auschwitz zu rücken.

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Die vatikanische Sprachregelung geht inzwischen darüber noch hinaus: Selbst die bloße Verhütung des Eintritts einer Schwangerschaft wird neuerdings schon einer mörderischen Handlung gleichgesetzt. Ende 1988 erklärte der Leiter des päpstlichen »Instituts für Studien über Ehe und Familie«, Monsignore Caffara: »Wer Verhütungsmittel benutzt, will nicht, daß neues Leben entsteht, weil er ein solches Leben als Übel betrachtet. Das ist dieselbe Einstellung wie die eines Mörders, der es als ein Übel ansieht, daß sein Opfer existiert.« 

Wer sich zu solch maßlosen Begriffskonstruktionen hinreißen läßt, weckt Zweifel an seinen Motiven. Er muß sich fragen lassen, ob es ihm wirklich allein um eine verantwortungsvolle Klärung des Problems geht. Oder ob sich hinter dieser Tendenz zu hemmungsloser Emotionalisierung nicht vielleicht die listige Absicht verbirgt, die Gesellschaft durch die Mobilisierung kollektiver Schuldgefühle dem eigenen Führungsanspruch gegenüber willfähriger zu machen. Den Schwangeren wird auf diese Weise jedenfalls nicht geholfen, und dem Schutz der Ungeborenen (dem die ganze Kampagne angeblich gilt) ist unter den obwaltenden Bedingungen der sozialen Realität auf diese Weise nicht gedient.

 

Ein letztes Wort noch zu diesem moralischen Problem. 

Es steht mir nicht zu, und ich bin auch in keiner Weise qualifiziert, Vorschläge zu seiner Lösung zu machen (wenn es denn eine Lösung gibt, die allen Beteiligten gerecht würde, was mir keineswegs sicher zu sein scheint). Ich erlaube mir jedoch, zu dieser Diskussion wiederum aus eigener, durchaus subjektiver Perspektive einen Gedanken beizusteuern, der dem einen oder anderen vielleicht hilfreich erscheinen könnte: Ich versichere mit Nachdruck und aufgrund reiflicher Überlegung, daß ich aus eigener Sicht, auch nachträglich, keinerlei Interesse am Schutz der vorgeburtlichen Voraussetzungen meiner bürgerlichen Existenz zu erkennen vermag. (Daß ich andererseits ohnehin nicht die Möglichkeit gehabt hätte, ein solches Interesse gegebenenfalls geltend zu machen, kann unberücksichtigt bleiben, da es mir hier um das prinzipielle Argument geht.)

Ich möchte nicht mißverstanden werden: 

Selbstverständlich bestreite ich nicht im mindesten die Schutz­bedürftigkeit einer jeden embryonalen Existenz (nicht nur einer menschlichen im übrigen, wenn in diesem Falle auch mit dem größeren Nachdruck). Dieser Anspruch auf Schutz hat viele auf keine Weise wegzudiskutierende objektive Gründe. (Einer von vielen als Beispiel: Eine Gesellschaft, die für diesen Schutzanspruch blind wäre, befände sich in einer Bewußtseinsverfassung, vor der wir uns zu fürchten hätten.)

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Subjektive Gründe jedoch kann ich nicht erkennen. Sosehr mir der Gedanke an eine vorzeitige Beendigung meiner bewußten Existenz zuwider sein mag, sowenig erschrecke ich bei dem Gedanken an die Möglichkeit, nicht geboren zu sein. Das »Nichts« gar nicht erst zu verlassen, in das man ohnehin zurückkehren muß, dieser Gedanke enthält für mich weder Schrecken noch ein Bedauern.

Wem das nicht selbstverständlich vorkommen will, der führe sich in einer ruhigen Stunde vor Augen, wie unendlich viele Möglichkeiten seines Lebens unverwirklicht geblieben sind, wie — relativ — winzig die Auswahl der seine Lebenswirklichkeit ausmachenden Erfahrungen ist, wenn man sie an der Zahl der Möglichkeiten mißt, die unrealisiert geblieben sind. Mit vollem Recht verschwenden wir auf sie in aller Regel keinen Gedanken. Es kommt uns nicht in den Sinn, das Nichtvorhandensein von Freundschaften zu bedauern, die wir niemals geschlossen haben, oder das Fehlen von Erinnerungen an berufliche Tätigkeiten, die wir nie ausgeübt haben, weil wir uns für andere Interessen entschieden haben (oder weil eine bestimmte Lebenssituation uns keine andere Wahl ließ). Grundsätzlich anders kann unsere Einstellung auch nicht ausfallen angesichts des völlig irrealen Konzepts eines »nicht gelebten Lebens«.

Man bedenke nur für einen Augenblick die Konsequenzen, die sich andernfalls ergäben, dann nämlich, wenn wir das legitime Interesse von Nichtgeborenen daran zu unterstellen hätten, »auf die Welt zu kommen«. Für uns alle ergäbe sich daraus die moralische Verpflichtung, so viele Kinder wie irgend möglich in die Welt zu setzen, unaufhörlich, mit allen Mitteln, auch mit denen, die die medizinische Technik neuerdings zu diesem Zweck anbietet. Jede andere Aktivität hätten wir dieser Pflicht zuliebe zurückzustellen. Das wäre das — auch in diesem Falle unerfüllbare — moralische Postulat.

Zu den vielen Skrupeln unseres Gewissens würde sich die permanente Sorge, ach was: die quälende Gewißheit gesellen, daß es uns ungeachtet aller noch so großen Anstrengungen niemals möglich wäre, allen Ungeborenen, die danach verlangten und Anspruch darauf hätten, zum Leben zu verhelfen. Dies wären, unwiderlegbar, die abstrusen Konsequenzen, wenn es sich bei der Annahme eines legitimen Anspruchs Ungeborener auf »Geborenwerden« nicht um ein in jeder — logischen, existentiellen und moralischen — Hinsicht fiktives Konstrukt handelte.*

* Wie hätten wir uns deren Existenz in einem solchen Falle eigentlich vorzustellen? Wie groß wäre ihre Zahl zu veranschlagen?

Man muß es der Verdeutlichung halber in so zugespitzter Form ausmalen. Der vehementen Polemik mancher, vor allem katholischer, Kreise gegen jegliche Form einer »Familienplanung« scheint dieses irreale und gewaltsame Konstrukt nämlich zugrunde zu liegen. Denn diese streiten gegen die Zulässigkeit der Empfäng­nis­verhütung mit denselben Argumenten, mit der gleichen Unerbittlichkeit wie gegen die Unter­brechung einer Schwangerschaft.

Ich kann aber beides nur dann im selben Atemzug, mit denselben Gründen zur Todsünde erklären, wenn ich — ob explizit oder stillschweigend — davon ausgehe, daß es ein Unglück ist, nicht geboren zu werden. Offensichtlich sogar ein durch keine andere Form des Elends überbietbares Unglück. Wie sonst wäre es zu begreifen, daß die aus derselben Ecke zu vernehmenden Bekundungen der Entrüstung soviel leiser ausfallen, wenn es um die Tatsache geht, daß infolge der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Weltordnung, also von uns mitzuverantwortenden, in den Armutsregionen der sogenannten Dritten Welt Tag für Tag 40.000 Kinder elendiglich an Hunger sterben (und vierzig Millionen Menschen jährlich insgesamt)?

Ist also das Unglück, nicht geboren zu werden, soviel größer, daß unsere Verantwortung den Nichtgeborenen gegenüber noch schwerer wiegt, als sie es gegenüber den Geborenen ist, die, nicht ohne unsere schuldhafte Mitbeteiligung, millionenfach an Hunger zugrunde gehen?

Es wäre hilfreich — nicht zuletzt auch für sie selbst —, wenn die Gegner einer Empfängnisverhütung oder »Geburtenkontrolle« diese ihre unausgesprochene Hypothese als eine der logisch unvermeidlichen Voraussetzungen ihres Widerstandes einmal aus dem Dämmer des Unbewußten emporholten und kritisch betrachteten. (Sie sollten dabei auch auf keinen Fall versäumen, uns darüber aufzuklären, wie wir uns die Wesenheit eigentlich genauer zu denken haben, die im Falle der Verhütung einer Schwangerschaft von diesem Unglück betroffen ist.)

Hier gibt es, scheint mir, wahre Berge an archaischen, magisch-mythischen Vorstellungen, die abzutragen wären, bevor das — ich wiederhole: ohne jeden Zweifel gravierende — Problem sinnvoll durchdacht und diskutiert werden könnte.

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