106 - »Schwarz-Rot-Mostrich«
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Der paradiesische Frieden der Welt von Lensahn schloß die Eltern nicht mit ein. Die möglicherweise ein wenig branchenfremden Auffassungen meines Vaters über den speziellen Charakter seiner Pflichten wären von seinem herzoglichen Dienstherrn vielleicht hingenommen worden. Mit diesem jedoch hatte er es bei der Erledigung seiner täglichen Aufgaben gar nicht zu tun. Der Großherzog war kein Finanzgenie. Er war aber klug genug gewesen, zur Verwaltung seines über Krieg und Inflation hinübergeretteten — da vor allem aus großen Ländereien bestehenden — Vermögens Männer zu engagieren, die auf diesem Felde mit allen Wassern gewaschen waren. In deren Kreis hatte mein Vater sich zu behaupten. Und dabei zog er im Laufe weniger Jahre den kürzeren.
Von Anfang an hatte er gegen den Geruch des Außenseiters zu kämpfen, der nicht wegen einschlägiger Erfahrungen berufen worden war, sondern lediglich aufgrund einer nostalgischen Regung seines ehemaligen Kommandeurs. Den Männern, auf deren Ablehnung er stieß (und deren Ablehnung er seinerseits von Herzen erwiderte), waren die von allerlei Ehrenstandpunkten bestimmten Grenzen unbekannt, die meinem Vater unsichtbar die Hände banden.
Er versuchte wohl, den Großherzog, mit dem er persönlich gut auskam, als Vermittler anzurufen. Dieser aber zeigte sich entschlossen, die Querelen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Seine Finanzbeamten bewältigten die an sie delegierte Aufgabe zu seiner Zufriedenheit. Sein Vermögen mehrte sich von Jahr zu Jahr. Warum hätte er die Laune dieser Männer trüben sollen aus Gründen, die neben der Sache lagen?
So nahm die Auseinandersetzung, hinter der Fassade korrekter Kollegialität mit Hilfe permanenter kleiner Intrigen verbissen geführt, rasch Formen an, die meinem Vater widerlich und schließlich unerträglich erschienen. Im Spätsommer 1927 »warf er das Handtuch«, kündigte und saß jetzt mit seiner inzwischen auf fünf Köpfe angewachsenen Familie — 1925 war eine zweite Schwester geboren worden — auf der Straße.
Auch in dieser Situation fand sich eine Lösung, welche wenigstens uns Kindern die vollen Auswirkungen der Misere ersparte. Meine Eltern nahmen das Opfer auf sich, sich zu trennen. Wir zogen mit meiner Mutter nach Bückeburg, in das Elternhaus meines Vaters, zu meiner dort noch lebenden Großmutter (»Tante Martha«). Mein Vater überwand sich und kehrte nach Berlin, in die von ihm aufrichtig gehaßte Großstadt, zurück, nahm sich dort ein winziges Zimmer und begann mit der Suche nach Arbeit.
Für uns Kinder fügte sich abermals alles zum besten — wenn man einmal davon absieht, daß wir unseren Vater jetzt nur noch höchstens einmal im Monat für ein kurzes Wochenende zu sehen bekamen. (Häufigere Reisen scheiterten an den Kosten.) Ich vermißte den einzigen Gesprächspartner, der auf meine Fragen ernsthaft einzugehen pflegte. Immer, wenn er wieder abgereist war, verfiel ich für mehrere Tage in regelrechte Depressionen, während deren ich schlecht schlief und kaum etwas aß.
Auch in der übrigen Zeit führten wir mit unserer Mutter verständlicherweise immer von neuem Gespräche über die Gründe der väterlichen Abwesenheit, deren Abnormität wir stark empfanden und deren vorübergehende Natur wir uns fast täglich bestätigen ließen. Immerhin währte die Trennung länger als drei Jahre. Sonst fehlte es uns Kindern an nichts. An nichts von alledem jedenfalls, was Kinder unseres Alters zum Glücklichsein brauchten. Geld war nicht vorhanden, oder doch nur so viel, daß es mit Mühe und Not für das tägliche Brot reichte. Schuhe und Kleidung »erbten« wir von älteren Vettern und Cousinen. Süßigkeiten vermißt man nicht, wenn man sie nicht gewohnt ist.
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Ich erinnere mich noch, wie mir meine Schwester einmal erzählte, die Mutter einer Schulfreundin habe sie zu einem »Eis« eingeladen, und welche Schwierigkeiten es meiner Schwester bereitete, mir zu erklären, worum es sich dabei handelte.
Es gab nur zwei Dinge, deren Unerreichbarkeit ich in den Bückeburger Jahren schmerzlich empfunden habe: Das eine war ein großer roter Dampfer mit Aufziehmotor und abnehmbaren (!) Rettungsbooten, den ich hinter der Schaufensterscheibe des Spielwarenladens Hespe entdeckt hatte und wochenlang bewunderte, bis er eines Tages verschwunden war. Das zweite war ein Kinderfahrrad.
Meine Großmutter wohnte mit einer unverheirateten Schwester allein in der Villa, die mein Großvater noch vor dem Ersten Weltkrieg gebaut hatte — zusammen mit einer auf dem Nachbargrundstück gelegenen Villa für eine seiner Schwägerinnen — und die viel zu groß war für die beiden alten Damen. Ein riesiger Dachboden und unbenutzte Zimmer mit geheimnisvoll riechenden alten Schränken und Kommoden, in denen es verstaubte »Klamotten« gab, mit denen man sich kostümieren konnte, und eine Fülle uns zum Teil rätselhafter Gegenstände — darunter exotische Souvenirs von einer Weltreise, die ein Großonkel um die Jahrhundertwende unternommen hatte — machten das Haus für uns zu einer Art Märchenschloß.
Man male sich die Faszination aus, die mich ergriff, als ich eines Tages auf dem Dachboden in einer sicher seit Wilhelminischen Zeiten nicht mehr geöffneten Kiste ein Stereoskop entdeckte!
Zunächst wußte ich mit dem braunen, polierten Holzkasten nichts anzufangen. Die beiden mit Linsen bewehrten Okulare und ein dicker Packen vergilbter Zwillingsphotos, die man durch einen Schlitz an der Rückseite in das Gerät schieben konnte, ließen mich schnell hinter sein Geheimnis kommen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft des überwältigenden Gefühls, das ich empfand, als die auf den Photos dargestellten Szenen plötzlich plastisch vor meinen Augen frei im Raum zu schweben schienen: Reiter auf Elefanten, Negerinnen mit Lasten auf dem Kopf, eine öffentliche Hinrichtung in einer chinesischen Stadt (der Kopf des einen Delinquenten lag schon auf dem Straßenpflaster, gegen den zweiten holte der Scharfrichter gerade mit einem gewaltigen Schwert aus) und andere Motive, die der längst verstorbene Großonkel während seiner Reise eigenhändig photographiert hatte, um sie nach seiner Rückkehr den staunenden Angehörigen vorführen zu können.
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Mit gesteigerter Ungeduld sah ich dem nächsten Besuch meines Vaters entgegen, beseelt von dem Wunsch, mir das optische Wunder erklären zu lassen. Als es endlich soweit war, wurde mir jedoch nicht nur der Gewinn entsprechender Informationen zuteil. Mir widerfuhr bei dieser so sehr herbeigesehnten Gelegenheit auch der schmerzlich empfundene Verlust eines nicht kleinen Teils der mir zur stereoskopischen Betrachtung verfügbaren Photographien. Der väterlichen Zensur nämlich fiel nicht nur die chinesische Hinrichtung zum Opfer, sondern zu meinem Kummer auch eine Reihe weiterer Aufnahmen, die mir recht attraktiv erschienen waren. Im Rückblick muß ich allerdings einräumen, daß es sich dabei um Motive handelte, die zu betrachten zwar auch dem Großonkel sicher kein geringes Vergnügen bereitet hatte, deren Vorführung im Familienkreise er allerdings kaum ernstlich erwogen haben dürfte.
Unter dem Einfluß der Kreise, in denen Großmutter und Eltern verkehrten, wurde in diesen Jahren auch mein Bild von der empörenden Lage des Vaterlandes geprägt. Zu seiner Entstehung trugen vor allem die nicht enden wollenden Gespräche der Erwachsenen bei über die entwürdigenden Folgen des Friedensvertrags oder vielmehr des »Schanddiktats von Versailles«.
Das Schändliche dieses Vertragswerks bestand in ihren Augen schon in der Art und Weise seines Zustandekommens: Es handele sich um das Resultat eines schnöden Betrugs, bei dem die wie immer viel zu gutgläubigen Deutschen von ihren Feinden hinterlistig hereingelegt worden seien. Erst habe der amerikanische Präsident Wilson dem Deutschen Reich zu Anfang des Jahres 1918 nämlich indirekt eine Art Friedensvorschlag unterbreitet, indem er seine Vorstellungen über eine gerechte Nachkriegsordnung in einer vierzehn Punkte* umfassenden Erklärung vor aller Welt bekanntgegeben habe.
* Hier einige der Punkte, die meine Verwandtschaft übersah: Woodrow Wilson hatte seine in den deutschnationalen Kreisen der Weimarer Republik ständig voller Empörung zitierten »Vierzehn Punkte« keineswegs als Offerte an das kaiserliche Deutschland adressiert, sondern als eine ihm für spätere Friedensverhandlungen wünschenswert erscheinende Orientierung unverbindlich bekanntgegeben. (Übrigens forderte auch diese Proklamation schon die Rückkehr von Elsaß-Lothringen zu Frankreich sowie den »Zugang zum Meer« für ein wiederzuerrichtendes Polen.) Ferner hatte das Reich auf die Initiative des amerikanischen Präsidenten im Januar 1918 noch nicht reagieren zu müssen geglaubt, da eine Frühjahrsoffensive vorbereitet wurde, von der man sich einen entscheidenden Erfolg versprach. Als man sich nach dessen Ausbleiben eines Besseren besann, versuchte Wilson (wenn auch erfolglos), seine »Punkte« bei den Friedensverhandlungen durchzusetzen.
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Als Deutschland sich dann »einige Monate später« (Ende Oktober 1918) bei seinem Waffenstillstandsersuchen in gutem Glauben auf diesen Vorschlag berufen habe, seien aber statt dessen die schmachvollen Bestimmungen von Versailles auf den Verhandlungstisch gelegt worden.
Eine ihrer folgenschwersten Konsequenzen kam mir auf den Straßen Bückeburgs regelmäßig vor Augen. In der idyllischen ehemaligen Residenz der Fürsten von Schaumburg-Lippe (wenig mehr als 6000 Menschen lebten damals in dem verträumten Städtchen) hatten bis zum Kriegsende die durch ein damals vielgesungenes Soldatenlied bekannt gewordenen »Bückeburger Jäger« in Garnison gestanden. Jetzt lag ein Infanteriebataillon in dem roten Backsteinbau. Die Soldaten betrieben ihr Handwerk mit entsagungsvollem Fleiß. Von morgens bis abends (und oft genug auch noch während der Nacht) war aus allen Himmelsrichtungen das Knallen von Platzpatronen zu hören. Hinterher sah ich die Männer dann oft verschwitzt und erschöpft durch die Straßen in die Kaserne zurückmarschieren.
Bei diesen Gelegenheiten wurde ich nun wiederholt einer bizarren Konstruktion ansichtig, deren wahrhaft lächerlicher Kontrast zu dem martialischen Aussehen der mit Stahlhelm und Gewehr daherkommenden Männer die ihnen von unseren Kriegsgegnern zugefügte Erniedrigung augenfällig werden ließ: Einer aus ihren Reihen mußte hinter der Kolonne ein kastenartiges Gebilde aus Pappe und Sperrholz auf einem Fahrradgestell mitschieben, das mit Tarnfarben bemalt war und in dessen Vorderwand ein Papprohr steckte, das eine Kanone darstellen sollte. Es handelte sich um die Attrappe eines »Tanks« (wie man Panzer damals noch nannte). Ich schämte mich für den Bedauernswerten, dem diese genierliche Aufgabe zufiel, so sehr, daß ich jedesmal kaum hinzusehen wagte.
Aber so war es eben: Unsere Feinde — deren niederträchtigster Frankreich war, soviel hatte ich inzwischen begriffen — hatten »uns« den Besitz echter Tanks verboten, so daß unsere Soldaten mit derartig kindischem Ersatz üben mußten. Und das war keineswegs alles. Auch Kriegsflugzeuge waren den Deutschen nicht erlaubt, keine U-Boote und keine »Linienschiffe«.
Nicht, daß irgend jemand in meiner Umgebung sich dieses Mangels wegen bedroht gefühlt hätte. Davon war meiner Erinnerung nach niemals die Rede. Nicht zum Schutz fehlten uns Flugzeuge, U-Boote und Tanks. Sie fehlten uns als vorzeigbare Symbole unserer nationalen Ehre.
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Ich hätte diese Interpretation im Volksschulalter selbstverständlich nicht formulieren können. Die tiefe Scham, die man mich als »deutsches Kind« angesichts dieser Fakten zu empfinden lehrte, speiste sich aber aus dieser Wurzel. Unseren Feinden war es gelungen, uns zum Gespött der Welt zu machen, das war das einen echten Patrioten damals bis in den Schlaf verfolgende Gefühl. Das Ganze war um so schändlicher, als unsere Soldaten mit einem Heldenmut gekämpft hatten, zu dem Franzosen oder Engländer nicht fähig gewesen wären.
Natürlich wurde nicht nur darüber gesprochen. Insbesondere wir Kinder tobten mit unseren Freunden im Garten oder auf dem damals noch an ihn angrenzenden freien Gelände. Wir spielten Indianer und Verstecken, prügelten uns und heckten mehr oder weniger törichte Streiche aus, wie Kinder das immer getan haben. Es ist aber nicht übertrieben zu sagen, daß die »nationale Schmach« das Leitthema dieser Jahre bildete und daß das Gefühl einer »Erniedrigung des Vaterlandes« (Formulierungen dieser Art wurden mit der größten Selbstverständlichkeit gebraucht) die alltägliche Atmosphäre beherrschte. Jedenfalls »in unseren Kreisen« war das so. Und was man außerhalb dieser Kreise dachte, zählte, soweit es nationale Fragen betraf, ohnehin nicht.
Es verging längere Zeit, bevor ich überhaupt darauf gestoßen wurde, daß es außerhalb der Welt, in der ich aufwuchs, noch eine andere Welt gab. Eine Welt mit Menschen, die, obwohl auch sie Deutsche waren, die Dinge auf eine sehr irritierende Weise anders sahen. Ein Erlebnis während des Schulunterrichts gab den Anstoß. Ein Lehrer, den wir sehr mochten — schon deshalb, weil er nicht, wie sein weniger geschätzter Kollege, ständig mit dem schlagbereiten Rohrstock durch die Bankreihen lief —, hatte uns die Aufgabe gestellt, eine Burg zu malen und deren Turm »mit der deutschen Fahne« zu schmücken. Es muß im zweiten Volksschuljahr gewesen sein, denn wir machten uns mit Buntstiften an die Arbeit (und nicht, wie während des ersten Jahres, mit Griffeln auf unseren Schiefertafeln).
Als ich das Ergebnis nicht ohne Stolz und in der sicheren Erwartung auf ein Lob vorwies, wurde zu meiner größten Überraschung meine Fahne kritisiert. Das sei nicht die deutsche Fahne, behauptete der Lehrer. Dabei hatte ich doch nach bestem Wissen und Gewissen eine schwarzweißrote Fahne auf den Turm meiner Burg gepflanzt. Die deutschen Farben seien aber »Schwarz-Rot-Gold«, ob ich das denn nicht wüßte. Ich wußte es nicht.
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Zwar war mir nicht verborgen geblieben, daß an manchen Tagen vor der Kaserne, am Rathaus und sogar aus den Fenstern einiger Privathäuser gelegentlich Fahnen in den von meinem Lehrer genannten Farben hingen. Das war aber, soweit ich das zu Hause mitbekommen hatte, nur die Fahne »der Republik«, beileibe nicht die des Vaterlandes. Und die republikanischen Farben wurden, wenn überhaupt, nur als »Schwarz-Rot-Mostrich« zitiert, wobei das Wort »Mostrich« mit erkennbarer Verachtung auszusprechen war.
Als mich der Lehrer behutsam aufzuklären versuchte, kamen wir gleich noch zu einem zweiten kritischen Punkt — ganz unvermeidlich bei der Natur des Geländes, das wir da unversehens betreten hatten. In Wirklichkeit, nämlich militärisch gesehen, hätten wir den Krieg doch überhaupt nicht verloren, erwähnte ich. Das war für den Mann denn doch zuviel. Aber auf dem Bückeburger Gefallenendenkmal, an dem wir so oft der schönsten Militärmusik zuhören durften, stand doch auch: »Im Felde unbesiegt!« Wir hätten den Krieg verloren, beharrte der Lehrer kopfschüttelnd, und einige Klassenkameraden pflichteten ihm sogar noch bei. Es waren alles Kinder, mit denen ich noch nie gespielt hatte.
Einigermaßen konsterniert, brachte ich die Angelegenheit zu Hause zur Sprache. Dort fiel es den für mich maßgeblichen Autoritäten glücklicherweise nicht schwer, mein für den Augenblick doch etwas ins Wanken geratenes Weltbild alsbald wieder zu stabilisieren. Bei dem Lehrer, um dessen geradezu unerhörte Äußerungen es ging, handele es sich um einen »Sozi«, erfuhr ich als erstes. (In Bückeburg wußte jeder über jeden Bescheid.) Damit war in den Augen meiner Angehörigen im Grunde schon alles gesagt. Denn die »Roten« — und zu diesem »Gesindel« gehörten eben auch die Sozialdemokraten — waren es ja gewesen, die 1918 die Revolution angezettelt hatten, mit der man unseren tief in Feindesland kämpfenden Armeen feige in den Rücken gefallen war.
Die »Roten« waren es gewesen, die den Kaiser aus dem Lande getrieben, die Republik eingeführt und das »Schanddiktat von Versailles« unterschrieben hatten. Und rote »Verzichtspolitiker« biederten sich jetzt bei »unseren Feinden« mit unpatriotischen Zugeständnissen an in dem würdelosen Versuch, durch die Preisgabe nationaler Interessen »um gut Wetter zu bitten«.
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Wenn ich die wahre Natur der hinter diesen Anschauungen steckenden nationalistischen, friedensunfähigen Wahnwelt hätte erkennen können, hätte mich schon damals die blanke Angst packen müssen. So aber beruhigten mich diese Auskünfte ungemein. Denn nur die Wahrheit macht angst. Dagegen gibt es fast nichts auf der Welt, was einen Menschen so sehr zu beruhigen imstande ist wie eine möglichst eindringliche Bestätigung seiner Vorurteile.
Wie sehr das Gift meinen Kinderkopf durchtränkt hatte, läßt sich an einem Tagtraum ablesen, dessen ich mich heute nur noch betroffen und mit Widerwillen erinnere, den ich damals jedoch ganz und gar als Wunschtraum auskostete. Kinder des Alters, in dem ich mich befand — sieben oder acht Jahre alt —, träumen sich gelegentlich in Rollen hinein, die ihnen in der Erwachsenenwelt Bedeutung verschaffen würden: als berühmte Fußballspieler, internationale Schlagerstars oder auch — wenn es sich um Mädchen handelt — als umschwärmte Filmschauspielerinnen.
In einem von mir damals ausgesponnenen Tagtraum erlebte ich mich nun als der von ganz Deutschland bejubelte Retter des Vaterlandes. Diese Heldenrolle schusterte ich mir in meiner Phantasie auf folgende skurrile Weise zu: Ich lag in unserem Kinderzimmer auf dem Bauch, mit einem auf die geöffnete Tür gerichteten Gewehr im Anschlag. Draußen auf dem Flur paradierte die ganze französische Armee im Gänsemarsch, ein Soldat nach dem anderen, an der Tür vorbei, und jedesmal, wenn einer von ihnen in der Öffnung auftauchte, drückte ich ab und schoß ihn tot. So würde ich selbst als Kind in der Lage sein, die gesamte französische Militärmacht zu besiegen — wenn immer nur hübsch ein Franzose nach dem anderen vor meiner Kinderzimmertür vorbeidefilierte. Ein Wunschtraum, wie gesagt.
Man kann diese Kindheitsphantasie albern finden. Über sie lachen kann man nicht. Wenn ein Junge im Alter von acht Jahren die Gelegenheit herbeiträumt, Menschen in Serie totschießen zu können, bloß weil sie in der Uniform »des Erbfeindes« stecken, besteht aller Grund, an der psychischen Gesundheit der Umgebung zu zweifeln, in der er aufwächst. Wie aber hätte ich, von meiner kindlichen Unreife einmal abgesehen, jemals zu dieser Einsicht kommen können? Angesichts der liebevollen Zuneigung meiner Mutter, von der ich mit Haut und Haaren abhing? Angesichts der erdrückenden Autorität eines Vaters, der nicht nur wußte, wie ein Zeppelinluftschiff funktioniert oder ein Telephon, sondern der aus der Erfahrung einer mit Erbitterung ertragenen mehrjährigen Kriegsgefangenschaft, also aus erster Hand, auch mit beliebigen Beispielen für die Perfidie und Minderwertigkeit des französischen Volkscharakters aufwarten konnte?
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Ein kleines Detail meines Wunschtraumes scheint mir noch erwähnenswert: Die Franzosen, die totschießen zu können ich mir so sehr wünschte, steckten nicht etwa in den feldgrauen Uniformen des zurückliegenden Weltkrieges. Ich stellte sie mir vielmehr in den blauen Waffenröcken und den roten Hosen vor, die sie während des Krieges von 1870/71 getragen hatten. Dafür gab es, wie ich nachträglich weiß, konkrete Gründe. Die Bilderbücher nämlich, mit denen man mich versorgte und aus denen ich meine Anschauungen bezog, waren nicht nur überwiegend kriegerischen Inhalts. Sie stellten auch ausschließlich Szenen aus Kriegen dar, die wir eindeutig, mit »Glanz und Gloria«, gewonnen hatten. Und deshalb kam der Krieg von 1914/18 in ihnen nicht vor. Den hatten wir zwar nicht wirklich verloren, aber richtig gewonnen hatten wir ihn auch nicht.
Meine Großmutter und die Eltern, Tante Margret Wedel und Tante Lene, Onkel Hans in Dankersen und Onkel Wilhelm in Lemmie (den beiden einzigen Gütern, die noch in Familienbesitz waren), Tante Elisabeth oder Onkel Gerhard, der als aktiver Offizier im benachbarten Minden diente und mir zum Geburtstag ein Jahresabonnement der fesselnden Zeitschrift »Kriegskunst in Wort und Bild« schenkte, und wie sie noch hießen, alle jene, die in dieser Phase meiner Kindheit um mich waren: sie alle waren Menschen mit gutem Herzen und ausgezeichneten Manieren. Sie gingen an jedem Sonntag in die Kirche und versuchten aufrichtig, nach Gottes Geboten zu leben. Sie waren freundlich zu mir und bemühten sich nach Kräften, mich für die Welt so gut zu erziehen, wie es ihnen nur möglich war.
Die Welt aber, die sie dabei im Sinn hatten, war nicht die reale Welt. Sie alle lebten in einer schwarzweißroten Wahnwelt. Niemand von ihnen wußte das. Bewohner von Wahnwelten wissen das nie. Sie alle sind sich ihrer Sache stets völlig sicher, denn sie teilen alle die gleichen Vorurteile. Ich konnte es auch nicht wissen, denn ihrer aller Übereinstimmung ließ keinerlei Raum für irgendwelche Zweifel. In dieser Atmosphäre bereitete sich der Nährboden vor für die kommenden Katastrophen, in aller Öffentlichkeit und dennoch von den meisten unbemerkt.
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107 - Schwere Zeiten
Wie arm meine Eltern tatsächlich waren, das bekamen wir Kinder, so paradox es klingt, erst zu spüren, als es meinem Vater etwas besser zu gehen begann. Um soviel besser wenigstens, daß die Familie nach jahrelanger Trennung endlich wieder zusammenziehen konnte, weil es für eine bescheidene Miete reichte und der Unterhalt ohne die Ressourcen des ansehnlichen großmütterlichen Obst- und Gemüsegartens (und vermutlich auch diskrete Abzweigungen von der großmütterlichen Pension) möglich erschien.
Wir zogen, es muß Ende 1930 gewesen sein, abermals um. Diesmal ging es an den Böttcherberg in Klein-Glienicke bei Potsdam. Mein Vater hatte bis dahin als Vertreter für Siemens Telephonanlagen verkauft. Eine Tätigkeit, die er als erniedrigend empfand, der er trotzdem aber, wie bei ihm nicht anders denkbar, mit größter Gewissenhaftigkeit nachging. Die Belohnung war nach drei Jahren eine Festanstellung als kaufmännischer Angestellter im Innendienst des Unternehmens. Sie ging mit einer bescheidenen Einkommensverbesserung einher und machte es so möglich, die Familie zusammenzuführen.
Der Wechsel versetzte uns aus der altmodisch-üppigen Atmosphäre einer weitläufigen Gründerzeitvilla in die ärmlich ausgestatteten dreieinhalb Zimmer des Erdgeschosses eines Arbeiterhauses. Ich erinnere mich noch daran, daß ich bei der ersten Inspektion des uns (immerhin) zur Verfügung stehenden Badezimmers angesichts der frei in dem engen Raum stehenden Badewanne mit angeschlossenem Kohleofen und der in häßlicher dunkelgrüner Ölfarbe gestrichenen Wände kategorisch erklärte: »Hier werde ich nie baden!« Meine Mutter, spürbar betroffen von dieser Reaktion auf die neuen Umstände, versuchte mich zu beschwichtigen, wobei ich ihr anmerkte, wie sehr sie mich verstand.
Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Kinder gewöhnen sich rasch. Natürlich badete ich dann doch einmal wöchentlich in dem Raum, dessen erster Anblick mich so erschreckt hatte. An den übrigen Tagen wuschen wir uns kalt. Im Winter bedeutete das nicht selten, daß in der Waschschüssel morgens erst eine dünne Eisschicht zerbrochen werden mußte. Die Öfen — in Bückeburg hatte es Zentralheizung gegeben — wurden spät angeheizt, um Kohlen zu sparen.
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Uns Kindern machte das nichts aus. Wir empfanden es nicht als unzumutbar. Auch diesmal hatten die Eltern das Kunststück fertiggebracht, ein Domizil zu finden, das ungeachtet unvermeidlicher Einschränkungen alle Kinderwünsche erfüllte. Das Haus war häßlich und ärmlich wie die proletarische Nachbarschaft auch. Aber es stand inmitten eines großen Gartens mit einer Wiese zum Ballspielen. Daneben lag »die Wüste«: ein gänzlich verwildertes unbebautes Grundstück, auf dem wir mit offizieller elterlicher Erlaubnis machen durften, was wir wollten, solange es nicht lebensgefährlich war. Von mir dort mit Hilfe von Bierflaschen (die damals noch einen fest verriegelbaren Verschluß hatten), Karbid und Wasser angestellte Sprengversuche mußten unter diesen Umständen als inoffizielle Unternehmungen gelten, die deshalb auch nur in Abwesenheit der Eltern stattfanden.
Mein Vater hätte es nicht über sich gebracht, uns in die Enge eines Berliner Mietshauses zu pferchen. Auch ihn grauste es bei der Vorstellung, in dem »Sündenbabel« der Millionenstadt zu wohnen, in der er, schlimm genug, arbeiten mußte. Daher kam nur eine Randgemeinde, »ganz weit draußen«, in Betracht, wo die Häuser auch der kleinen Leute noch Gärten hatten und die Mieten niedrig waren. Warum er ausgerechnet auf Klein-Glienicke verfiel, weiß ich nicht. Von seiner Arbeitsstätte in Lichtenberg aus gesehen, lag der Ort denkbar ungünstig, genau auf der anderen Seite von Berlin, so daß er, um zu Siemens zu gelangen, zu Fuß, mit dem Bus und dann mit der Stadtbahn eine Reise von fast zwei Stunden quer durch die ganze Metropole zu absolvieren hatte. Zweimal am Tag und sechsmal in der Woche, denn damals wurde auch am Sonnabend noch bis mittags gearbeitet.
Er hat das fünfzehn Jahre lang durchgehalten, bis zum Ende des letzten Krieges. Wurde er von Bekannten darauf angesprochen, so stellte er es als Gewinn, ja geradezu als Privileg dar. »Wer hat denn Tag für Tag so viel Zeit zum Lesen wie ich«, pflegte er zu sagen. Das war mehr als eine bloße Beschönigung. Denn er hatte tatsächlich systematisch und mit eiserner Konsequenz während dieser Fahrten zu lesen begonnen. Mit Geschichte fing er an, dann kam die griechische Sprache an die Reihe, Altgriechisch selbstverständlich, »die Sprache Homers«, und nebenher auch noch Latein. Am Ende dieser langen Jahre stellte sich zur allgemeinen Überraschung der Familie — und vielleicht ein bißchen auch zu seiner eigenen — heraus, daß die tägliche Reiselektüre offensichtlich mehr gewesen war als nur der Zeitvertreib eines Amateurs. Denn ihre Folgen sollten das Leben meines Vaters, als er schon mehr als fünfzig Jahre alt war, noch einmal von Grund auf ändern.
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Soviel zu den Gründen, die uns nach Klein-Glienicke verschlugen. Wir Kinder hatten abermals den besseren Teil erwischt (und so war es ohne jede Frage auch beabsichtigt). Allerdings bekamen hier erstmals auch wir die wirtschaftliche Misere unübersehbar zu spüren. Daß an Urlaubsreisen während der Ferien nicht zu denken war, störte uns noch am wenigsten. Das hatte es auch in den Jahren zuvor nicht gegeben, und den Nachbarkindern, mit denen wir spielten, ging es nicht anders.
Ärgerlicher war es schon, daß jetzt gegen unseren anfänglichen Protest zum Frühstück das Prinzip »Butter oder Marmelade« eingeführt wurde. Die Zeiten, in denen wir Großmutters herrliche Zwetschgen- oder Himbeermarmelade nach Belieben auf mit Butter bestrichene Brötchen auftragen durften, waren endgültig vorbei. »Entweder Butter oder Marmelade« hieß es nun, und statt Butter gab es sehr bald Margarine, und diese wurde auch nicht mehr auf Brötchen, sondern auf gewöhnliches Schwarzbrot geschmiert. Bei Schulausflügen sahen wir anderen Kindern doch ein wenig neidisch zu, wenn die sich von mitgegebenen Groschen Bonbons kaufen und giftgrüne oder knallrote Brause trinken konnten. »Wenn ihr wirklich Durst habt, könnt ihr ja Wasser trinken«, hieß es bei uns.
Aber das alles war nicht wirklich schlimm. Als schlimm empfanden wir ganz andere Dinge, Kleinigkeiten meist. So spüre ich in der Erinnerung immer noch das tiefe Erschrecken, das sich mir auf den Magen legte, wenn ich so ungeschickt gewesen war, etwas kaputtzumachen: ein Stück Geschirr, eine Fensterscheibe. Eines Tages kam ich glücklich und erschöpft von einem Rodelnachmittag auf dem »Plateau« (so hieß der kleine Hang wirklich) des Böttcherbergs nach Hause. Glücksgefühl und gute Laune machten abrupt tiefer Niedergeschlagenheit und Schuldgefühlen Platz, als meine Mutter mich erschrocken auf einen langen Riß in meiner Hose hinwies, den ich mir an irgendeinem Ast geholt hatte, ohne es zu merken. Wir wußten, was wir unseren Eltern mit derartigen Vorfällen antaten, und konnten ihre Wiederholung, Kinder, die wir waren, trotz aller guten Vorsätze und Versprechungen niemals vermeiden.
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Am unangenehmsten aus dieser Zeit ist die Erinnerung an abgetragene schwarze Lackschuhe, die mit einer schmalen Knopfspange zu schließen waren, was den Spielkameraden ihren Charakter als Damenstiefel unübersehbar signalisierte. Eine Großtante hatte sie abgelegt — ihr Lack begann bereits in scharfkantigen Schuppen abzublättern —, und ich mußte sie wohl oder übel auftragen und konnte nicht umhin, mich auch in der Schule mit ihnen zu zeigen. Es liegt auf der Hand, was das mit sich brachte.
Die Zeiten waren schwer, selbst einem Kind blieb das nicht mehr verborgen. Ich lernte aber bald, daß es Leute gab, denen es noch viel schlechter ging als uns. Mein Freund Heinz Lehmann wohnte unter dem Dach eines Mietshauses in derselben Straße in zwei dunklen, nur behelfsmäßig ausgebauten Bodenräumen mit Eltern, Großmutter und mehreren Geschwistern. Der Vater war arbeitslos, wie die meisten Väter am Böttcherberg. Heinz führte mir seine Weihnachtsgeschenke vor: zwei Haveldampfer, von seinem Vater aus Schuhkartons gebastelt. Mit ungläubigem Staunen ging mir auf, daß Heinz mich und unsere Familie für reich hielt.
Aber Heinz und seine Angehörigen verkörperten ihrerseits bei weitem noch nicht die unterste Stufe der damaligen Gesellschaft. Diese wurde von den täglich oft mehrmals an unserer Haustür auftauchenden Bettlern repräsentiert, abgehärmten Gestalten in zerschlissener Kleidung, die bescheiden, oft geradezu peinlich unterwürfig, nur um eines baten: etwas zu essen. Sie bekamen von meiner Mutter immer etwas zugesteckt, und wenn es nur ein Margarinebrot war, für das sie sich wortreich bedankten.
Es klingt zunächst absurd, aber wir bekamen in dieser Zeit ein leibhaftiges »Hausmädchen«. In Wirklichkeit liefert der Umstand aber nur ein weiteres Beispiel für die Not dieser Jahre. Hertha Mehling — sie stammte aus Schwiebus, ein Name, der uns Kinder seiner Fremdartigkeit wegen sehr beeindruckte — kam im Alter von etwa sechzehn Jahren zu uns, schüchtern, ärmlich und ohne ein Lächeln im Gesicht. Ihre Eltern konnten sie nicht mehr unterhalten, und Arbeit hatte sie nicht finden können. Ich habe keine Ahnung mehr, wie der Kontakt zu uns zustande kam. Jedenfalls war Hertha eines Tages plötzlich da. Sie wurde in einem winzigen, muffig riechenden Kellerraum notdürftig untergebracht. Etwas anderes konnten meine Eltern ihr nicht anbieten, und Hertha war es zufrieden.
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Was meine Eltern ihr aber zu bieten hatten, das ließ Hertha innerhalb weniger Wochen aufleben. Sie aß mit uns bei Tisch und wurde von nun an regelmäßig satt. Sie wurde völlig in die Familie integriert, wenn sie auch — so sehr waren die Sitten denn trotz aller Armut doch noch nicht ramponiert — meinen Vater selbstverständlich mit »Herr Rittmeister« anredete und meine Mutter mit »gnädige Frau«. Aber sie gehörte dazu, eine Rolle, die sie sichtlich glücklich machte. Sie ging mit uns spazieren, begleitete uns bei den von den Eltern erbettelten — und ihrer Seltenheit wegen als festliche Unternehmungen genossenen — Kinobesuchen und lernte, nachdem meine Mutter ihr einen gelben Badeanzug gekauft hatte, bei unseren sommerlichen Badeausflügen zum Griebnitzsee unter Anleitung meines Vaters sogar schwimmen.
Natürlich hatten beide Seiten ihren Vorteil davon. Hertha half meiner Mutter von morgens bis abends bei allem, was anfiel. Und außer Kost und Logis bekam sie nur ein höchst bescheidenes Taschengeld (und zu Weihnachten Bettwäsche für ihre Aussteuer). In meinen Augen wäre es jedoch eine totale Verkennung der Situation, wollte jemand heute behaupten, Hertha sei von meinen Eltern »ausgebeutet« worden. Sie hatte eine Zuflucht gefunden, in der sie sich geborgen fühlte. In kurzer Zeit schloß sie die ganze Familie in ihr Herz, und wir hingen an ihr wie an einer zweiten Mutter.
So blieb sie auch bei uns, als die Zeiten sich zu bessern begannen, was ihr zu Erlebnissen verhalf, von denen sie ihren ungläubig staunenden Eltern in überschwenglichen Briefen nach Schwiebus berichtete: Sie verbrachte einen Sommerurlaub an der Ostsee mit uns (»am Meer«, schrieb Hertha nach Hause). Sie erlebte ihren ersten Theaterbesuch (und heulte nächtelang, weil es »etwas Trauriges« gegeben hatte), und sie begleitete uns bei Wochenendausflügen mit dem Auto. Als Hertha uns kurz vor dem letzten Krieg dann doch verließ — weil sie heiratete und mit dem Mann in ihre Heimatstadt zurückging —, flossen die Tränen auf beiden Seiten. Brieflich blieb die Verbindung bis Ende 1944 erhalten. Dann riß sie ab, und wir haben nie wieder etwas von Hertha gehört. Ich fürchte, daß sie mit ihrer Familie umgekommen ist, als der Krieg über Schwiebus hinwegzog.
1930 aber schien uns am Böttcherberg schon ein Tiefpunkt erreicht. Keine Besserung war in Sicht. Wir waren vergleichsweise noch gut dran, weil mein Vater wenigstens nicht arbeitslos war. Bisher jedenfalls nicht. Aber wer konnte wissen, wie lange das so bleiben würde? Hiobsbotschaften, die uns in der Schule über das Schicksal der Familien von Klassenkameraden zu Ohren kamen, sorgten dafür, daß auch wir Kinder nicht im unklaren blieben über die Ungewißheit der allgemeinen Situation. Die bedrückte Stimmung der Eltern tat ein übriges. »Wie soll das nur weitergehen?« fragte mein Vater immer häufiger, wenn er sonntags die Zeitung las. Er schüttelte dabei den Kopf und erwartete von niemandem eine Antwort.
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