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    205  Vom <Recht des Stärkeren>: Darwin und der <Darwinismus>  

  206  Glanz und Kratzer

 

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Der deutsche Nobelpreisträger Manfred Eigen hat darauf aufmerksam gemacht, wie falsch und irreführend der — auch von Biologen gedankenlos gebrauchte — Terminus »Darwinismus« ist, wenn von Darwins Theorie der Artentstehung die Rede sein soll: Wir sprächen ja auch nicht von »Einsteinismus«, wenn wir die Relativitätstheorie meinten, oder von »Kopernikanismus« im Falle des heliozentrischen, von der Sonne als Mittelpunkt beherrschten Planetensystems. Ein Ismus ist immer eine Ideologie, das Gegenteil einer wissenschaftlichen Theorie, die natürlich ebenfalls falsch (oder richtig) sein kann, jedoch in keinem Falle primär auf Überzeugungen aufbaut, sondern — in der Intention ihrer Urheber zumindest — auf Beobachtungs­daten.

Wer von »Darwinismus« redet — anstatt von Darwins Theorie —, benutzt also entweder ein irreführendes Wort, oder er meint eine sich auf Darwins Lehre (zu Recht oder zu Unrecht) berufende Ideologie. Das gibt es natürlich auch, und dann paßt der Ismus. Da beides in der Literatur bedauerlicherweise nur selten auseinandergehalten wird — ich bin mir keineswegs sicher, ob ich den Fehler aus Gedankenlosigkeit bei früheren Gelegenheiten nicht selbst schon begangen habe —, ist die Verwirrung beträchtlich. Deshalb müssen hier einige Erläuterungen gegeben werden. Denn die Nationalsozialisten haben sich bekanntlich zwar auf Darwin berufen.

Aber das, was sie seiner Theorie an Argumenten entnehmen zu können glaubten, waren in Wirklichkeit Schlagworte. Da die Pseudophilosophen vom Schlage eines Alfred Rosenberg (»Der Mythus des 20. Jahr­hunderts«*), die sich berufen fühlten, der nationalsozialistischen »Bewegung« zu dem Anschein eines ideologischen Überbaus zu verhelfen, Darwin nicht begriffen hatten, wurde daraus nur eine grausliche Mixtur halbverstandener Begriffe.

Im Biologieunterricht wurden uns in diesen Jahren Lehrfilme gezeigt, die uns vor Augen führen sollten, wie es in der Natur angeblich zuging, welche Lebensgesetze die Welt beherrschten. Im nachhinein kann ich über die Verdrehungen, mit denen sie aufwarteten, und das Ausmaß an Ignoranz, das sich in ihnen ausdrückte, nur mit dem Kopf schütteln. Ich erinnere mich noch anschaulich zweier Szenen. Die erste zeigte ein schlichtes Haushuhn, das mit erkennbarem Appetit Regenwürmer fraß, die jemand ihm in größeren Mengen vor den Schnabel geschüttet hatte. Der zugehörige Kommentar besagte etwa: So sei es nun einmal, die Stärkeren fräßen die Schwachen, dieses Gesetz regiere die ganze belebte Natur und gelte selbstverständlich auch für die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Völkern und Rassen.

Die andere Szene, die mir im Gedächtnis geblieben ist, war etwas aufwendiger gestaltet, in ihrem Gehalt aber auch nicht intelligenter. In ihr erläuterte ein würdiger deutscher Professor — Typ Heinrich George in der Rolle von Robert Koch — einem naiven Blondchen die Auseinandersetzung zwischen zwei Hirschkäfern, die sich in einem Terrarium vor ihnen abspielte. In den Großeinstellungen nahm sich der Zweikampf höchst dramatisch aus. Mit Grabesstimme erklärte der »Professor«, daß es sich um ein typisches Beispiel für jenen »Kampf ums Dasein« handele, der sich in der Natur fortwährend abspiele und durch den dafür gesorgt werde, daß jeweils nur die Tüchtigsten überlebten.

 

* Mein Vater, zu dessen Steckenpferden die alten Sprachen gehörten, konnte sich königlich amüsieren über die in der Tat verräterische Schreibweise (Mythus statt Mythos), in welcher der braune »Hofphilosoph« das griechische Wort in den Titel seines Buches gesetzt hatte. [ wikipedia Manfred_Eigen 1927-2019]

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Als einer der beiden Käfer schließlich den Kampf abbrach und schlau genug war, von der Bildfläche zu verschwinden (weil er seinem Kontrahenten offen­sichtlich nicht standhalten konnte), fügte der würdige alte Herr seiner Erklärung mit deutlichem Bedauern in der Stimme noch den abschließenden Satz hinzu, daß der Verlierer »mit Sicherheit getötet worden wäre, wenn er nicht die Flucht ergriffen hätte«, ein Kommentar, mit dem der angebliche Wissenschaftler sich als nachweislich dümmer erwies als das Insekt, dessen Verhalten er kommentierte.

Das Haushuhnexempel ist schwachsinnig und zugleich perfide. Schwachsinnig ist es, weil es den Unterschied zwischen intraspezifischer Aggression (Auseinandersetzung zwischen Lebewesen der gleichen Art) und interspezifischer Aggression (Auseinandersetzung zwischen Lebewesen verschiedener Arten) ignoriert. Dieser Unterschied ist jedoch von entscheidender Bedeutung — es handelt sich um völlig verschiedene Dinge. Das Regenwürmer fressende Huhn demonstriert in unübersehbarer Deutlichkeit einen Fall von interspezifischer Aggression, denn Regenwürmer und Hühner gehören bekanntlich verschiedenen Arten an.

Einer filmischen Erläuterung dieses Sachverhalts bedarf es natürlich nicht, denn er ist trivial. Daß in der Natur zwischen den Lebewesen verschiedener Arten kein Friede herrscht, weiß jedes Kind. Ausnahmslos alle Organismen spielen dort je nach ihrer Artzugehörigkeit in wechselnder Verteilung die Rollen von Jäger oder Beute (wobei es in der natürlichen Situation notabene nirgendwo so brutal zugeht wie bei den intraspezifischen Auseinandersetzungen innerhalb der Welt des Menschen). Wir selbst machen keine Ausnahme: Während wir mit der größten Selbstverständlichkeit (Vegetarier ausgenommen) das Fleisch von Hühnern, Schweinen und Rindern verzehren, haben wir uns damit abzufinden, daß große Raubkatzen oder (in der Zivilisationsgesellschaft aktueller) gewisse Parasiten und krank machende Bakterien uns ihrerseits als legitime Beute »betrachten«. Ganz andere Regeln gelten dagegen (wohlgemerkt: auch »von Natur aus«) für den Umgang mit Lebewesen, die der eigenen Art angehören.

Auf geradezu gespenstische Weise perfide ist das Hühnerbeispiel insofern, als es den (interspezifischen) Umgang des Huhns mit den Regenwürmern wie selbstverständlich als natürliche Analogie des (intraspezifischen) Umgangs zwischen verschiedenen Völkern und Menschenrassen hinstellt. Im Klartext impliziert das nichts anderes als die Behauptung, daß es nur natürlich sei, wenn ein »stärkeres« Volk (eine »überlegene« Rasse) mit einem schwächeren Volk so verfahre wie das Huhn mit den Würmern.

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Das ist die Aussage, die der Schulfilm in die Köpfe seiner jugendlichen Betrachter transportieren sollte. Es ist ein Stück nazistischer Welt- und Lebens­auffassung reinsten Wassers. Darum ist es auch nur konsequent, wenn die nationalsozialistische Propaganda unermüdlich bestrebt war, uns davon zu überzeugen, daß die Mitglieder nichtgermanischer Völker und Rassen, insbesondere Juden und Slawen, nicht in dem gleichen vollgültigen Sinne als »Menschen« angesehen werden könnten wie wir (sondern nur als »Untermenschen«, sozusagen als Mitglieder degenerierter Nebenlinien unserer Art). Denn selbst die braunen Fanatiker spürten intuitiv, daß der von ihnen vorgesehene rücksichtslose Umgang mit diesen anderen Völkern und Rassen nur dann als legitim ausgegeben werden konnte, wenn es gelang, sie in die Perspektive zu rücken, aus der ein Huhn einen Regenwurm betrachtet.

So fürchterlich das klingt, es läßt sich nicht bestreiten, daß es genauso gemeint war. Zu bestreiten ist aus vielerlei Gründen jedoch die Behauptung, daß eine solcherart inhumane Betrachtungsweise sich aus der Beobachtung der Verhältnisse in der Natur oder einer bestimmten biologischen Theorie (Stichwort: Darwins Theorie) ableiten lasse. Nicht wenige Menschen unterliegen diesem Irrtum bis auf den heutigen Tag, mit der psychologisch einleuchtenden Konsequenz, daß sie die Evolutionstheorie verdammen (ohne sie wirklich zur Kenntnis genommen zu haben), sofern ihr Irrtum sie nicht sogar in dem Vorurteil bestärkt, alle Naturwissenschaft sei letztlich menschenfeindlich. Diese noch heute wirksame Konsequenz des sozialdarwinistischen Unverständnisses stellt einen tragischen Fall dar, in dem eine der wichtigsten menschlichen Einsichten diskreditiert wird durch die Rückprojektion eines Vorurteils.*

So spukt in den Köpfen allzu vieler Menschen bis heute der Darwinsche Begriff vom »Kampf ums Dasein« herum als Bestätigung ihres Verdachts, daß in der belebten Natur ein unerbittlicher Kampf aller gegen alle stattfinde. Selbst überdurchschnittliche Köpfe — so Friedrich Nietzsche — sind diesem Irrtum erlegen.

* Der »Sozialdarwinist« projiziert seine Vorurteile (Chauvinismus, Überfremdungsängste, Abscheu gegenüber Behinderten usw.) auf die Natur, um seine Einstellung durch die in ihr angeblich herrschenden Gesetze vor seinem Gewissen rechtfertigen zu können. Sofern er seine Einstellung später korrigiert, unterliegt er der Gefahr, der Natur oder einer bestimmten naturwissenschaftlichen Lehre die nunmehr von ihm abgelehnten »Gesetze« anzukreiden, die er in Wirklichkeit zuvor selbst in sie hineinprojiziert hat (»Rückprojektion«).

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Gemeint aber ist mit dem — zugegeben mißverständlich-martialischen — Terminus eine Form natürlicher Auslese, in welcher der »Tüchtigste« in aller Regel keineswegs deshalb »überlebt«, weil er seine Konkurrenten umbringt. Entscheidend ist auch gar nicht die Frage seines Überlebens als Individuum. Was die Artentwicklung vorantreibt, ist die Entscheidung darüber, wessen Erbanlagen mit der größeren Wahrscheinlichkeit an die nachfolgende Generation weitergegeben werden.

Dabei kann ein Lebewesen den kürzeren ziehen, das als Individuum womöglich unbehelligt steinalt wird, das aber seine »Erbanlagen« (in Gestalt einer entsprechenden Zahl direkter Nachkommen) nicht mit der gleichen Häufigkeit an die nächste Generation weitergeben kann wie seine Konkurrenten - vielleicht, weil es bei der Werbung um einen Sexualpartner nicht geschickt genug vorgeht oder nicht findig genug bei der Nahrungsbeschaffung für seinen Nachwuchs oder nicht wachsam genug bei dessen Sicherung gegen natürliche Feinde oder aus einem Dutzend anderer denkbarer Gründe. Das Übergewicht der Erbanlagen bestimmt in erster Linie die Eigenschaften der Nachkommengeneration, und das Erbgut der Konkurrenten hat sich in unserem Fall als das der »Tüchtigeren« im »Kampf ums Dasein« durchgesetzt, ohne daß in diesem »Kampf« ein einziger Tropfen Blut geflossen zu sein braucht. Das unterlegene Lebewesen aber ist der »natürlichen Auslese« als Träger seiner Gene zum Opfer gefallen, auch wenn es als konkretes Individuum möglicherweise alle »Sieger« überlebt.

Der »Kampf ums Dasein«, den wir als Motor der Artentstehung und -Weiterbildung anzusehen haben, spielt sich praktisch ausschließlich intraspezifisch, also unter den Angehörigen der Art ab, um deren sich weiterentwickelnde Anpassungsformen es geht. Insofern stimmt es wenigstens, wenn der anfangs beschriebene Hirschkäferfilm von einer Auseinandersetzung zwischen zwei Individuen derselben Art ausgeht. Das, was die Kamera zeigt, ist selbstverständlich ebenfalls »wahr«. Total blödsinnig ist aber auch in diesem Fall der Kommentar. Die Feststellung des »Professors«, daß der unterlegene Käfer sicher getötet worden wäre, wenn er nicht das Weite gesucht hätte, ist zunächst einmal von valentinischer Qualität: Aus keinem anderen Grunde als dem der Vermeidung einer Tötung befiehlt ihm sein angeborenes Verhaltensprogramm ja die Flucht, sobald seine relative Unterlegenheit sich herausgestellt hat — und verbietet das gleiche Verhaltensprogramm dem Sieger die Fortsetzung des Kampfes bis zum Tode seines Widersachers.

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Denn der Zweck des »Kampfes ums Dasein« ist mit der Flucht eines der beiden Konkurrenten erfüllt. Danach steht fest, wer »der Stärkere« ist (der das umkämpfte Weibchen für sich mit Beschlag belegen kann oder die umkämpfte Nahrungsquelle, das umstrittene Revier usw.). Eine zusätzliche Tötung ist überflüssig. So dumm ist die Natur nicht, daß sie Leben (und mit ihm unter anderen Verhältnissen, bei einem Wechsel der Überlebensbedingungen, vielleicht einmal nutzbringende Erbanlagen) mutwillig vergeudet, wenn sich das Ziel auch auf schonendere Weise erreichen läßt. Die Natur ist weiser, als ein Sozialdarwinist es sich träumen läßt. Aber das ist natürlich ein Gedanke, der in den Kopf eines Nationalsozialisten nicht hineingeht.

So bemühte man sich also auch am Viktoria-Gymnasium, uns die »allgemeingültigen« Lebensgesetze einzubleuen, die ich erst viele Jahre später als die Ausgeburten eines Sozialdarwinismus krudester Machart zu durchschauen lernte. In der Oberstufe erschien uns das einleuchtend. Nun ist dem allerdings hinzuzufügen, daß niemand von uns, unser Biologielehrer eingeschlossen, auch nur im Traum auf den Gedanken gekommen wäre, von diesem angeblich objektiv legitimierten »Recht des Stärkeren« etwa die Erlaubnis zum Umbringen anderer Menschen abzuleiten, und seien das nun Juden oder Slawen oder Angehörige anderer »nichtgermanischer« oder »nichtarischer« Völker oder Rassen. Konkrete Unmenschlichkeit solch kriminellen Kalibers war uns damals (und war den meisten von uns bis zum bitteren Ende) unvorstellbar.

Was diese pädagogischen Anstrengungen im Rahmen des staatlichen Programms zur Eliminierung humaner Skrupel bei uns anrichteten, bleibt erschreckend genug. Ich kann mich nachträglich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie es immerhin vermochten, unsere Selbstsicherheit als moralische Personen zu beschädigen. Zwar wurden wir unter ihrem Einfluß nicht zu potentiellen Mördern. Davon kann mit Sicherheit nicht die Rede sein. Sie dürften uns jedoch, schlimm genug, im voraus einen mehr oder weniger großen Teil des Schneids abgekauft haben, den wir später in jenen Situationen gebraucht hätten, in denen es darauf angekommen wäre, der »Stimme des Gewissens« hörbar Geltung zu verschaffen.

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Wir schwiegen später bei all den Gelegenheiten, bei denen wir laut hätten protestieren müssen, daher nicht nur aus Angst vor der Geheimen Staatspolizei (deshalb natürlich auch), sondern das ist mein Verdacht zu einem gewissen Teil auch deswegen, weil man es fertiggebracht hatte, in uns den Zweifel zu säen an der unbefragbaren Authentizität moralischer Regungen. Vielleicht waren diese (»vor dem Richterstuhl der Geschichte«) wirklich nur Ausdruck der beginnenden Dekadenz einer Spätkultur? Kaum jemand von uns glaubte das wörtlich. Aber tief in den Unterschichten unseres Bewußtseins nagte der Zweifel. Das hatte man geschafft.

Eine Konsequenz, die wir aus den uns vorgetragenen »Lehren der Natur« dagegen ganz unbekümmert zogen, war die Überzeugung, daß Mäßigung und Vertragstreue sich im zwischenstaatlichen Umgang nicht auszahlten. Auf diesem Felde war der Stärkere letzten Endes unfehlbar und immer »im Recht«, und ebenso offensichtlich war es der Schwache, der ebenso regelmäßig auf der Strecke blieb. Alles Gefasel im Völkerbund diente, soviel hatten wir inzwischen begriffen, nur dem Zweck, dieses simple Gesetz zu verschleiern.

In dieser Hinsicht hatten die Nationalsozialisten dem ganzen Volk eine Lektion erteilt, die fast alle überzeugte. Während die »Erfüllungspolitik« des Weimarer »Systems« mit all ihren Beschwichtigungs­gesten an der Unterdrückung Deutschlands angeblich nicht das geringste hatte ändern können, hatte sich die Situation auch in diesem Bereich mit dem Antritt der Nationalsozialisten schlagartig zum Besseren gewendet. Statt berechtigte nationale Ansprüche in umständlichen Verhandlungen aus einer Position der Schwäche heraus unterwürfig zu reklamieren, hatten die neuen Herren sie, ohne groß herumzufackeln, im Namen Deutschlands kurzentschlossen durchgesetzt.

Und das Ergebnis war nicht der Einmarsch ausländischer Truppen oder gar der Ausbruch eines Krieges gewesen, wovor so viele »alte Hasen« im Außenministerium und in der Reichswehrführung gewarnt hatten (die jetzt blamiert als Hasenfüße dastanden). Im Gegenteil: Der neue außenpolitische Stil hatte nicht nur überwältigenden Erfolg gehabt, sondern dem neuen Deutschland auch die so lange herbeigesehnte Anerkennung des Auslands verschafft. So oder ähnlich dachten die meisten Deutschen in diesen Jahren.

Als die deutsche Regierung im Frühjahr 1935 die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht verkündete, womit sie erstmals unverhohlen und offiziell gegen eine wesentliche Bestimmung des »Versailler Diktats« verstieß, war ihr der Beifall nahezu des ganzen Volkes sicher. Das Ausland begnügte sich mit einem kraftlosen Protest.

Die anschließend zügig einsetzende deutsche Wiederaufrüstung löste bei allen Patrioten nationale Begeisterung aus. Im Widerspruch zu allen Befürchtungen bürgerlicher »Kritikaster« (ein Lieblings­ausdruck des neuen Propagandaministers Joseph Goebbels für alle, die an dem Genie des Führers immer noch zu zweifeln wagten) war das Ausland auch diesmal nicht marschiert, wie Hitler es wieder einmal richtig vorhergesagt hatte. England erklärte sich vielmehr in einem bereits 1935 vereinbarten Flottenabkommen damit einverstanden, daß Deutschland — dem im Versailler Vertrag U-Boote gänzlich verboten worden waren — seine U-Boot-Flotte bis zur Stärke der englischen wiederaufbaute.

Wenige in Deutschland hatten gegen diese Erfolge auf dem Wege zur Wiedererlangung der nationalen Ehre und Gleichberechtigung etwas einzuwenden. Daß niemand den Krieg wollte, niemand ihn als Gefahr ernstlich überhaupt in Erwägung zog — abermals mit der alleinigen Ausnahme einiger weniger »hasenfüßiger Kritikaster« —, widerspricht dem nicht. Denn auch Hitler sagte ja, daß er den Krieg nicht wolle, wie er mit Argumenten glaubhaft zu machen suchte, die ihm nicht nur die Deutschen bereitwillig abnahmen. »Wer in Europa die Brandfackel des Krieges erhebt, kann nur das Chaos wünschen«, erklärte er in öffentlicher Rede, und: »Fast alle Führer der nationalsozialistischen Bewegung waren Frontkämpfer. Ich möchte den Frontkämpfer sehen, der eine Wiederholung der Schrecken jener viereinhalb Jahre wünscht.«* Ist ein Grund erkennbar, aus dem wir ihm das weniger hätten glauben sollen, als Daladier oder — bis zuletzt — Chamberlain es taten?

 

* Am 21. Mai 1935 vor dem Reichstag und am 19. Oktober 1933 in einem Interview für die »Daily Mail«; zitiert nach: Alan Bullock, a.a.O., S. 335 und 322.

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1936 fanden in Berlin die Olympischen Spiele statt. Meine alten Freunde in Bückeburg beneideten mich nicht wenig, weil ich so dicht am Ort des Geschehens wohnte. Ein ganzes Jahr lang hatten Zeitungen und Rundfunk unsere Erwartungen angeheizt. An allen Schulen waren »Reichsjugendwettkämpfe« durchgeführt worden, mit denen nach offizieller Version bisher unentdeckte sportliche Talente (»Olympiaverdächtige«) zur Verstärkung der deutschen Olympia­mannschaft aufgespürt werden sollten. »Olympiaverdächtig« wurde (neben »pfundig« und »knorke«) zum Ausdruck höchster Anerkennung unter uns Jugendlichen.

Der Neid der Bückeburger Freunde erwies sich als unbegründet. Ich bekam von dem Großereignis bis auf die fieberhaft verfolgten Rundfunkübertragungen (die in Bückeburg genauso empfangen werden konnten) so gut wie nichts mit. Die Eltern waren gänzlich desinteressiert. Und Onkel Gerhard, Bruder meiner Mutter, inzwischen von der Mindener Garnison als Waffenlehrer an die Potsdamer Kriegsschule versetzt, interessierte sich bloß fürs Reiten. In seiner Begleitung durfte ich daher mehrere Dressurwettbewerbe besuchen, bei denen ich mich, was ich selbstverständlich für mich behielt, unsäglich langweilte. Von den Leichtathletikwettbewerben, die mich in erster Linie interessierten, sah ich keinen.

Was ich bei den Fahrten ins neuerbaute, riesige Olympiastadion jedoch mitbekam, war die auch mich beeindruckende Atmosphäre in der Stadt. Berlin war damals — in einem für einen alten Berliner schmerzlichen Unterschied zu heute — wirklich eine »Metropole«, eine Weltstadt. Auch in den heute langsam verkommenden Nebenstraßen herrschte großstädtisches Leben, hatten die Läden einen gewissen »Pfiff«. Auf Ausländer stieß man in fast jedem Restaurant. Während der Olympiade beherrschten fremde Sprachen akustisch das Straßenbild. Und alle, ausnahmslos alle Besucher zeigten sich beeindruckt, ja sogar begeistert von dieser Hauptstadt des neuen Deutschlands, von seiner quirligen Lebendigkeit, seiner Eleganz und der phantastischen Organisation beim Ablauf der Spiele. Die täglichen Interviews legten dafür mit einer Einhelligkeit Zeugnis ab, die unsere vater­ländische Brust schwellen ließ.

Die Presse sorgte auch dafür, daß niemandem von uns die Photographien entgingen, auf denen die französische — die französische! — Olympiamannschaft bei der Eröffnungsfeier im Stadion mit zum Gruß ausgestrecktem rechten Arm an der Loge des »Führers« vorbeimarschierte. Und dann wurden wir von ihr (und vom Rundfunk) Tag um Tag von den Siegen unserer Sportler über die Elite der Welt unterrichtet. Zum Schluß stand Deutschland sogar als Siegernation fest mit fast doppelt so vielen Goldmedaillen, wie sie die USA mit ihren berühmten Athleten, darunter vielen Schwarzen, hatten gewinnen können. Der Star der Amerikaner übrigens, Jesse Owens, hatte die Herzen des Berliner Publikums gewonnen, und deren Jubel erfüllte das Stadion, als der schwarze Supersprinter von Adolf Hitler persönlich in der »Führerloge« empfangen wurde.

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Ich will es gar nicht entschuldigen, daß wir bei alledem so vieles übersahen und verdrängten, was uns hätte beunruhigen und empören müssen. Ich versuche hier bloß zu beschreiben, wie es in unseren Köpfen damals aussah. Daß unzählige Auslandskorrespondenten anläßlich der Olympischen Spiele anerkennende, ja mitunter begeisterte Berichte an ihre Heimatpresse schickten, bewiesen uns wörtliche Auszüge in unseren eigenen Zeitungen. Und was war denn, 1936, auch passiert?

Im September 1935 waren die »Nürnberger Gesetze« erlassen worden. Mit ihnen wurden Eheschließungen zwischen »Ariern« und Juden verboten und allen jüdischen Mitbürgern die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Für einige der Betroffenen möglicherweise unangenehm, so dachten wir, aber schließlich »kein Beinbruch«, wie mein Vater befand. Daß mit der Aberkennung der Staatsangehörigkeit der Schutz vor rechtlicher Willkür aufgehoben wurde und welche langfristigen Absichten unsere Obrigkeit mit diesem gesetzlichen Schritt verband, das wollte uns noch nicht in den Kopf. Niemandem konnte entgangen sein, daß das neue Gesetz einer bestimmten Gruppe von Mitbürgern ein Unrecht antat. Aber seine konkreten Auswirkungen erschienen uns nicht als Katastrophe.

In einem Punkt schrieb das neue Gesetz ohnehin nur fest, was uns vorher schon als selbstverständlich gegolten hatte (wobei ich mit »uns« auch diesmal wieder nicht nur die eigene Familie, sondern auch den ganzen Stand, »unsere Kaste«, meine). Kein Offizier eines der kaiserlichen Garderegimenter hätte ernstlich erwogen, eine Tochter aus jüdischem Hause zu heiraten — es sei denn, sie wäre wirklich ungewöhnlich vermögend gewesen und seine Schulden exorbitant. Dann aber hätte er gut daran getan, zugleich um einen vorzeitigen Abschied aus der Armee einzukommen. In bürgerlichen und akademischen Kreisen waren die ungeschriebenen Gesetze nicht so streng. Die schriftliche Satzung des offiziellen Verbandes unserer eigenen Familie aber enthielt zum Beispiel auch nach dem Krieg noch einen Passus, der die Mitglieder »zur rechten Gattenwahl« anhielt, womit, wie ich eines Tages zu meiner Verblüffung herausfand, tatsächlich nichts anderes gemeint war, als vor der Heirat jüdischer Partner zu warnen.

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Einzelne unter den älteren Vettern fanden das übrigens auch in den fünfziger Jahren noch vernünftig und begründbar. Sie wurden ausgelacht, und der diskriminierende Paragraph wurde gelöscht. 1935 brachten die Rassen­gesetze für die meisten im Umfeld unserer Familie nichts wesentlich Neues. (Die Aberkennung der Staatsangehörigkeit erschien uns als rein formales Problem ohne nennenswerte praktische Bedeutung.)

 

Ganz anders reagierte mein Vater auf eine Rechtsverletzung, die nur einen Menschen betraf, aber einen herausragende Repräsentanten des eigenen Standes. Wobei allerdings hinzuzufügen ist, daß auch hier der Schaden sich mittelbar auf das ganze Volk auswirken sollte. Ich meine die sogenannte Fritsch-Affäre.

Im Januar 1938 mußte der Oberbefehlshaber der Wehrmacht und Reichskriegsminister, Generalfeld­marschall Werner von Blomberg, den Abschied nehmen, weil er nicht standesgemäß geheiratet hatte. Göring wollte seine Nachfolge antreten, aber dazu glaubte er sich zuerst seines wichtigsten Konkurrenten entledigen zu müssen, und dies war der Oberbefehlshaber des Heeres Werner Freiherr von Fritsch. Mit Hilfe eines falschen Zeugen wurde Fritsch der Homosexualität bezichtigt und sofort entlassen, bevor ein Ehrengericht sich von der Haltlosigkeit des Vorwurfs überzeugen konnte.

Als Fritsch schließlich von der Anklage freigesprochen werden mußte, konnte es ihm nichts mehr nützen: Hitler nahm die Chance wahr, die Göring ihm unwillentlich zugespielt hatte, und wurde nun auch noch Ober­befehlshaber der Wehrmacht. Binnen weniger Wochen hatte er sich zweier führender Militärs entledigen können, die seine wahnwitzigen Expansionspläne aus rein fachlichen Gründen kritisiert hatten. Als Heereschef setzte er Generaloberst von Brauchitsch ein, und Görings Eitelkeit wurde mit dem Titel eines Generalfeldmarschalls befriedigt. Fritsch wurde zwar offiziell rehabilitiert, aber er mußte sich die Demütigung gefallen lassen, zum Chef eines Artillerieregiments ernannt zu werden.

Die Fritsch-Affäre wurde unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgehandelt, um das Ehrgefühl des Offiziers­korps nicht unnötig zu strapazieren. Im Kreise der Kameraden, auch der ehemaligen, aber kursierten die wichtigsten Informationen, so daß mein Vater auf dem laufenden war. Ich erinnere mich noch, daß er mir den Auszug mit den wichtigsten Absätzen des entlastenden Ehrengerichtsurteils zeigte, und daran, daß dieses unter anderen die Unterschrift des Generalfeldmarschalls August von Mackensen trug (einer Hindenburg vergleichbaren Symbolgestalt aus kaiserlicher Zeit).

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Mein Vater kochte. Dies in erster Linie nicht deshalb, weil man Fritsch so übel mitgespielt hatte. Was seinen Zorn vor allem erregte, war die Tatsache, daß die Wehrmacht es schluckte, wie die Nazis mit einem ihrer obersten Chefs umgesprungen waren. Hinter den Kulissen gab es zwar wütende Beschwerden. Sonst aber geschah nichts. Hitler hatte seine Pappenheimer wieder einmal richtig eingeschätzt. Für meinen Vater jedoch war endgültig und unwiderruflich ein kritischer Punkt überschritten. Von da an hatte er mit dem neuen Staat, dem »Dritten Reich«, wie es hieß,* nichts mehr im Sinn.

Daran, daß dessen Herren in Wirklichkeit »skrupellose Burschen« waren, hatte er zwar schon seit den Vorfällen vom 30. Juni 1934 nicht mehr gezweifelt. Diese »Schweinerei« hatte sich aber, womit er sich bis dahin zu beruhigen suchte, wenigstens auf den engeren Kreis der »braunen Proleten« beschränkt, die er, wie das ganze Offizierskorps es tat, ohnehin aus tiefstem Herzen verachtete. Die Ehre der Armee jedoch war weitgehend unberührt geblieben, das war für ihn der entscheidende Punkt gewesen.**

Die Armee konnte daher, erhaben über das schmutzige Geschäft der Politik, weiterhin als verläßliche Kraft zur Bewahrung gesitteter Verhältnisse und staatlicher Ehrenhaftigkeit gelten. Wenn es tatsächlich einmal »dicke kommen« sollte und die Nazis den Bogen überspannten, gab es immer noch sie, die dann für den Fall der Fälle bereitstand, mit eiserner Faust auf den Tisch zu hauen und »Remedur zu schaffen«. Ihre bloße Existenz bedeutete für meinen Vater die Gewähr, daß man sich — trotz einiger unbestreitbar skandalöser Vorkommnisse — noch immer keine großen Sorgen zu machen brauchte. Nun aber war dieses Bollwerk wie ein Kartenhaus zusammengeklappt. Die Enttäuschung meines Vaters war abgrundtief. »Jetzt haben die Kerle ihnen das Genick gebrochen«, klagte er in bitterem Zorn.

 *  Das erste Reich war in der Zählweise der Nationalsozialisten das auf die Karolinger zurückgehende »Heilige Römische Reich Deutscher Nation«, das offiziell bis 1806 existierte, das zweite Reich das Bismarcksche und das dritte das von ihnen begründete. Die dazwischenliegenden Zeiten, so die der Weimarer Republik, zählten in ihren Augen nicht.

**  Daß auch der General von Schleicher ermordet worden war, ging die Armee in gewissem Sinne nichts an, denn Schleicher war lange davor in das Lager der Berufspolitiker hinübergewechselt und gehörte daher nicht mehr wirklich »dazu«.

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»Die Kerle« waren die Nazis, und den moralischen Genickbruch hatte die deutsche Generalität davon­getragen, deren Mitglieder in seinem Weltbild bis dahin die Rolle makelloser Übermenschen gespielt hatten. Seine Erschütterung war total und seine Schlußfolgerung kompromißlos. Diese Armee, die es sich hatte gefallen lassen, daß die politische Führung einen ihrer obersten Chefs mit einer ehrabschneidenden Verleumdung »in die Wüste schickte«, verfiel ab sofort seiner bodenlosen Verachtung. Deutschlands Zukunft präsentierte sich ihm von da an hoffnungslos und rabenschwarz. Denn nun gab es niemanden mehr, der Hitler und seinen »Kumpanen« hätte Paroli bieten können.

Wer sich von der Aussicht auf eine rasche Karriere wegen beschleunigter Aufrüstung so weit korrumpieren ließ, daß er seine Offiziersehre darüber vergaß, der steckte seinen Hals freiwillig in eine Schlinge, die andere zuziehen konnten. Das stand für meinen Vater fest, und von dieser Überzeugung ließ er sich auch in seiner sonnabendlichen Gesprächsrunde kein Jota abhandeln. Dabei erlebte er dann gleich die nächste Erschütterung: Er mußte feststellen, daß er mit seiner Auffassung mutterseelenallein dastand. Nach einigen hitzigen Auseinandersetzungen fanden die gewohnten Zusammenkünfte daher ein abruptes Ende. Mein Vater konnte seine kunstvoll gebrauten Bowlen nun meist alleine trinken. Nur wenige waren es, die ihm weiterhin die Treue hielten.

Die nächste Verwandtschaft gehörte - mit nur zwei Ausnahmen - nicht dazu. Über »Hans-Ottos pessimistische Ansichten« schüttelte man in der ganzen Familie den Kopf. Mit mitleidiger Herablassung sprach man von der seltsam negativen Einstellung dieses Vetters, der offensichtlich nicht mitbekommen hatte, wie groß die Zeiten waren, deren Zeuge man sein durfte. Und der nicht einsehen wollte, daß hier andere Maßstäbe anzulegen waren als in der Vergangenheit. Immerhin aber hat niemand aus dem Kreise der Verwandten und Bekannten meinen Vater angezeigt, bis zum Kriegsende nicht, obwohl sein Temperament es ihm in all den Jahren unmöglich machte, doch »endlich zu lernen, etwas vorsichtiger zu sein«, wie man es ihm allseits gönnerhaft nahelegte.

Daß er — wenn man von ein paar Verhören absieht — ungeschoren davonkam, stellt der Familie ein schönes Zeugnis aus. Das war nämlich unter den Verhältnissen, die noch kommen sollten, insbesondere während des Krieges, nicht so selbstverständlich, wie mancher heute vielleicht glaubt.

Später stellte sich dann übrigens heraus, daß alles sowieso nur ein gewaltiges Mißverständnis gewesen war. Denn nach dem Kriege klärte die Verwandtschaft meinen Vater darüber auf, daß man immer schon seiner Ansicht gewesen sei.

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Die Fritsch-Affäre blieb nicht der einzige Warnschuß. Als wir an einem Novembermorgen desselben Jahres auf dem Wilhelmplatz in Potsdam aus unserem Schulbus stiegen, stellten wir fest, daß es in der Synagoge gebrannt hatte. Die bunten Scherben ihrer zersplitterten Fenster waren über das Pflaster verstreut. Aus den Öffnungen rauchte es noch. Vor der Fassade standen einige Polizisten und SA-Leute und einige Gruppen von Passanten. Obwohl Brände uns, wie alle Sensationen, sehr interessierten, konnten wir nicht stehenbleiben, sondern mußten zusehen, daß wir rechtzeitig in die Schule kamen. Erst während der Pausen auf dem Schulhof erfuhren wir nach und nach, daß in der Nacht etwas »losgewesen« sein mußte. Bei Wertheim waren Scheiben eingeworfen worden. Vor den Schaufenstern anderer jüdischer Geschäfte hingen Plakate mit der Aufschrift »Juda verrecke« und ähnlichen Parolen. Wir waren beklommen.

Ich muß, wenn ich meine Erinnerung präzise befrage, gestehen, daß ich in diesem Augenblick nicht an das Schicksal und die Angst der verfolgten Menschen dachte. Mein Unbehagen hatte einen unbestimmteren und viel mehr ichbezogenen Ursprung. Ich hätte ihn damals nicht beschreiben können. Heute würde ich sagen, daß ich zum erstenmal einen Hauch von Chaos spürte.

Daß es sich um eine »spontane« antijüdische Aktion gehandelt habe, die in dieser Nacht gleichzeitig in ganz Deutschland abgelaufen sei, lasen wir dann erst in der Zeitung. Es habe sich um einen »Racheakt des Volkes« gehandelt, stand da, ausgelöst durch den »heimtückischen Mord« eines Juden an einem deutschen Botschaftsangestellten in Paris einige Tage zuvor. Unsere Zeitungen schäumten über vor Entrüstung und erklärten das Ganze als den Beginn einer »haßerfüllten Kampagne des Weltjudentums« gegen Deutschland.

Wir glaubten davon kein Wort. »Wie die Kerle logen« und wie wenig man das für bare Münze nehmen durfte, was in den Zeitungen stand, das hatte sich inzwischen herumgesprochen. Wir beruhigten unser Gewissen notdürftig mit der hanebüchenen Theorie, daß es sich um eine Entgleisung »niederer Dienststellen« gehandelt haben müsse, und vertrauten in unüberbietbarer Naivität darauf, daß die preußische Polizei, durch die Vorkommnisse gewarnt, schon dafür sorgen werde, daß sich so etwas nicht wiederholte.

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Es ist mir auch nachträglich gänzlich unmöglich zu unterscheiden, wo unsere Dummheit (die man sich allerdings als atemberaubend vorzustellen hat) aufhörte und in die vom Gefühl eines schlechten Gewissens (das sich anläßlich dieser »Reichskristallnacht« bei uns Schülern erstmals regte) motivierte Verdrängungs­bereitschaft überging. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich damals zum erstenmal die abwiegelnd-entschuldigende Redensart gehört: »Wenn das der Führer wüßte!«

Natürlich wußte er. Wir wollten es nur nicht wahrhaben.

Von diesem »Wir« ist von jetzt an mein Vater allerdings auszunehmen. Er hielt inzwischen das Schlimmste für möglich (und unterschätzte doch das Ausmaß der Katastrophe, wie im Laufe der Jahre in quälendem Maße offenbar wurde). Wenn ich versuchte, ihn an die vielen positiven Erscheinungen zu erinnern, die er in den Anfangsjahren noch begrüßt hatte, schüttelte er nur abwehrend den Kopf. Wenn ich in ihn drang, schwieg er mit düsterer Miene.

Damals machte mich das wütend. Nachträglich muß ich ihm Abbitte leisten: Er wußte im voraus mit deprimierender Gewißheit, daß seine Argumente keine Chancen hatten, meine naiv-optimistische Gläubigkeit zu erschüttern.

So trug uns vorerst noch der nationale Rausch. Wir waren jetzt, nach dem Anschluß Österreichs im Frühjahr 1938, Angehörige eines »Großdeutschen Reiches«, das von aller Welt respektiert wurde. Wir gingen weiter zur Schule, genossen einen meist hervorragenden Unterricht bei Lehrern, die es verstanden, uns unreife Bürschchen für den Stoff zu interessieren, und erfreuten uns im übrigen ebenso sorgen- wie gedankenlos der unbestreitbaren Vorzüge, die es mit sich bringt, wenn man jung ist.

In der reichlichen Freizeit spielten wir Tennis, segelten wir auf der Havel oder trafen uns, während des Winters, mit unseren Freundinnen zum Schlittschuh­laufen auf dem Heiligensee. An seinem nördlichen Ufer liegt das Schloß Cäcilienhof. Wenn uns damals jemand erzählt hätte, daß dort wenige Jahre später der amerikanische Präsident zusammen mit dem britischen Premierminister und dem sowjetischen Parteichef über die Zukunft Deutschlands entscheiden würde, wir hätten ihn für verrückt erklärt.

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