208 - Das Ende der Illusionen
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Einen kurzen, schrecklichen Augenblick hatte es gegeben, in dem mich die ungeschminkte Erkenntnis dessen, was vor mir lag, ohne Vorwarnung überfallen hatte wie ein Blitz. Kurz vor dem Abitur wachte ich eines Nachts auf und wurde, aufrecht im Bett sitzend, von Panik körperlich buchstäblich durchgeschüttelt. Von einer Sekunde zur anderen, mitten aus dem Schlaf heraus, stand mir plötzlich klar und in unverhüllter Deutlichkeit vor Augen, daß es in wenigen Wochen unwiderruflich vorbei sein würde mit aller fröhlichen Unbeschwertheit. Daß ich binnen kurzem ohne all die freundlich gewährten Annehmlichkeiten und Privilegien würde auskommen müssen, die ich bislang als »höherer Schüler« im Schutz eines bürgerlichen Elternhauses wie selbstverständlich genossen hatte.
Der nächtliche Angstanfall übertrieb keineswegs den Schock, der mir bevorstand. Zum Verständnis ist daran zu erinnern, daß Schulentlassung damals nicht, wie heute, gleichbedeutend war mit größerer individueller Freiheit, mit der Erlösung von schulischen Leistungszwängen und der Entlassung aus der Aufsicht der Erwachsenen. Nach dem Abitur hatte man vor allem anderen zunächst seine Arbeitsdienstpflicht abzuleisten. Sie dauerte zwar nur sechs Monate — ein Faktum, an das einen alle Welt »zum Mutmachen« immer von neuem erinnerte —, die aber hatten es in sich. Die lebhaften Schilderungen älterer Leidensgenossen, die die Sache schon hinter sich gebracht hatten, ließen daran keinen Zweifel.
Und außerdem erwartete einen nach der Entlassung aus dem Arbeitsdienst noch der zweijährige Wehrdienst. Das Ende der Schulzeit war folglich gleichbedeutend mit dem Anfang eines Lebensabschnitts, in dem man mindestens zweieinhalb Jahre lang uneingeschränkt der Herrschaft einer von Befehl und Gehorsam reglementierten Welt unterworfen sein würde — aus der Sicht eines Siebzehnjährigen eine schier endlose Zeitspanne.
Was den Arbeitsdienst betraf, zu dem ich mich am 1. April 1939 im RAD*-Lager Lanke bei Bernau im Norden Berlins weisungsgemäß einfand, wurden meine Befürchtungen denn auch keineswegs enttäuscht. Die Begrüßungsansprache enthielt die Aufforderung, den das Lager umgebenden Stacheldrahtzaun so zu respektieren, »als ob er elektrisch geladen sei«.
* RAD: Reichsarbeitsdienst
In den ersten vier Wochen durfte keiner von uns das Lager verlassen. Die zwischen uns »Arbeitsmännern« und den Vorgesetzten herrschende Atmosphäre war nicht bloß unfreundlich, sie war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unverhohlen und, wie mir schien, bewußt feindselig.
Kein Wunder: Sie war das unausbleibliche Resultat der sozialen Extreme, die in diesem wie von einem elektrischen Zaun eingegrenzten Lager aufeinanderprallten. Alles, was sich auch nur im entferntesten zum militärischen Vorgesetzten eignete, war von der sich explosionsartig aufblähenden Wehrmacht längst vereinnahmt worden. Für den Arbeitsdienst blieb nur noch der soziale Bodensatz. Die meisten unserer Truppführer waren in ihren Berufen gescheiterte Existenzen, einige wegen kleinerer Delikte vorbestrafte Kriminelle. Innerhalb des Lagers verfügten sie über eine praktisch unbegrenzte Macht. Diese gedachten sie während der wenigen Monate, die wir ihnen ausgeliefert waren, gebührend auszukosten. Denn uns gegenüber — nicht nur uns Abiturienten gegenüber, wenn dies auch mit besonderer Inbrunst — empfanden sie vor allem Neid und den Haß der Zukurzgekommenen.
Auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden: Ich gewann in dieser Zeit den Eindruck — und ich halte ihn noch heute nicht für falsch —, daß mit diesen Sätzen auch die psychologische Ausgangssituation in den damals neu entstehenden Konzentrationslagern zutreffend charakterisiert ist. Sie war dort von Anfang an auch deshalb weitaus gemeiner und unvergleichlich gefährlicher, weil die sozialen Kontraste noch extremer waren. In den neuen »Schutzhaftlagern«, wie sie anfangs hießen, stießen ja nicht bloß »verwöhnte dumme Schnösel«, wie wir es waren, auf verkrachte Existenzen (denen man, so grotesk es klingt, offiziell die Aufgabe überantwortet hatte, uns zu »nützlichen Mitgliedern der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu erziehen«). In den KZs waren es in aller Regel ja sozial erfolgreiche Persönlichkeiten, die sich plötzlich rechtlos und unbefristet dem Mob ausgeliefert sahen.
Ich will mit alldem nur die Vermutung begründen, daß in den Schutzhaftlagern der Anfangsjahre des SS-Staates die Hölle »ganz von selbst« ausbrechen mußte, ohne daß es dazu einer ausdrücklichen Anweisung von oben bedurft hätte. Sie entsprang mit tödlicher Unausweichlichkeit einer a priori unheilträchtigen psychosozialen Konstellation.
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Und selbstverständlich auch dem prinzipiellen Unterschied, daß ein KZ-Wächter im Gegensatz zu einem noch so sadistischen Arbeitsdienstführer seinen Haß bis zum Totschlag ausleben konnte, ohne befürchten zu müssen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Aber diesen und anderen unüberschätzbaren Unterschieden zum Trotz war die Mentalität, darauf will ich mit dieser Abschweifung hinaus, in beiden Lagerkategorien wesensverwandt. In beiden versteckte sie sich hinter der Maske einer unsinnig überzogenen und pseudomilitärischen Härte, die darauf angelegt war, ein strafbares Verhalten aufzuspüren, das zu Schikanen Anlaß geben konnte. (In Lanke riskierten wir zum Beispiel bereits einen »Strafdienst«, wenn wir uns im Lager anders als im Laufschritt bewegten.)
Diese Mentalität darf als Markenzeichen einer totalitär und militaristisch organisierten Gesellschaft gelten.
Die ersten Monate im RAD-Lager Lanke belasteten mich psychisch bis an die Toleranzgrenze. Zugegeben, deren Schwelle dürfte in meinem Falle, dem eines verwöhnten Musterschülers, niedrig gewesen sein. Aber der Kontrast zwischen der von zu Hause gewohnten Welt und der, in die mich der Arbeitsdienst verschlug, hätte genügt, auch anderen einen Schock zu versetzen.
Ich kam aus einem Hause, das kultiviert genannt werden konnte. Unter dem Einfluß meines Vaters pflegten sich die Tischgespräche um Themen aus der Geschichte (meist) oder der Wissenschaft zu drehen. Meine Jugenderinnerungen sind von allem Anfang an mitgeprägt von den von meinen Eltern — Vater am Flügel, die Mutter mit der Geige — und deren musikalischen Freunden veranstalteten Hauskonzerten. Von den Sonaten, Trios und Streichquartetten Haydns und Mozarts, Beethovens und Schuberts, zu deren Melodien ich schon in meinem Kinderbett an so vielen Abenden einschlief. (Auch in die Dreieinhalbzimmerwohnung der ersten ärmlichen Jahre am Böttcherberg war noch ein alter Flügel aus Bückeburg hineingequetscht worden.)
Bei unseren kleinen Festen nach der Tanzstundenzeit wurden Obstsäfte gereicht. Was sich zwischen uns und unseren Freundinnen damals alles nicht abgespielt hat, wage ich meinen Kindern gar nicht zu erzählen, weil sie mich vermutlich auslachen würden. Wir machten damals, als Siebzehnjährige, noch keine »Erfahrungen«. Wir hatten Herzklopfen. Auch nachträglich noch erscheint mir diese heute meist ungeduldig überschlagene Phase als besonders kostbar.
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Und jetzt, im April des Jahres 1939, sah ich mich unvermittelt in eine Welt versetzt, in der man erotische Themen in einem Jargon abhandelte, dessen bewußt herausgekehrte Vulgarität mich anekelte. In eine Welt, in der die, denen ich als meinen Vorgesetzten Gehorsam schuldete, ein schadenfrohes Vergnügen daran fanden, mich nach Kräften zu demütigen und zu schikanieren. In der man auf Argumente bestenfalls höhnisches Gelächter erntete und Prügel riskierte, wenn man auf ihnen beharrte.
In der wir bei schwerer körperlicher Arbeit (»im Moor«, wie das Klischee es verlangte) mittags mit einer rosa gefärbten Buttermilchsuppe und einem Kanten Brot abgespeist wurden, während unsere Vorgesetzten auf der Baustelle und im Lager getrennt von uns aßen (weil ihre Suppe, wie wir ironisch kommentierten, wohl eine andere Farbe hatte). Körperlich konnten sie mich nicht fertigmachen. Dazu war ich sportlich zu gut durchtrainiert. Aber seelisch hätten sie es fast geschafft. Bis auch ich dann im Laufe der Monate schließlich doch die notwendige psychische Robustheit erwarb, deren es in dem neuen Milieu bedurfte.
Natürlich ließe sich hier anmerken, daß ich eben zu dünnhäutig gewesen sei und daß die während der Monate in Lanke erfolgte Abhärtung mir nicht geschadet habe. Ich würde dem nicht einmal widersprechen, diesem Zugeständnis allerdings die Vermutung hinzusetzen, daß auch weniger widerwärtige Formen einer seelischen Abhärtung das wünschenswerte Ergebnis hätten herbeiführen können. Daß mir die Zeit blieb, den Gewöhnungsprozeß überhaupt durchstehen zu können, verdankte ich der Solidarität einiger Kameraden.
In Erinnerung geblieben ist mir von ihnen insbesondere Erich Stahl. Er war mindestens zehn Jahre älter als ich, stammte aus dem Arbeiternorden Berlins und hatte bereits eine Schlosserlehre hinter sich. Hinsichtlich Alter und sozialer Herkunft hätten die Unterschiede zwischen uns kaum größer sein können. Sie wurden auch niemals überbrückt. Ich war mit Stahl auch keineswegs etwa befreundet. Er imponierte mir, ohne daß ich ihm das jemals gesagt hätte, durch seine Reife und Selbstsicherheit, die so spürbar waren, daß selbst unsere Vorgesetzten nie auf den Gedanken gekommen wären, sich mit ihm anzulegen. Auch in seinen Augen war ich nur das verwöhnte Muttersöhnchen aus »gutem Hause«, das nicht für voll zu nehmen war und dessen Ungeschicklichkeit bei den Arbeitseinsätzen und beim »Stubendienst« gen Himmel schrie.
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Auch er registrierte mein häufiges Versagen angesichts der mir ungewohnten Anforderungen schonungslos. Aber anstatt mich bloß hämisch zu verspotten, worauf die meisten anderen sich beschränkten, gab er mir Tips und zeigte mir, wie ich es anstellen mußte. Dabei ging es nicht immer ohne einen kräftigen Anpfiff ab. Aber ich spürte, innerlich voller Dankbarkeit, daß da jemand war, der mir auf seine Weise beistand. Die anderen spürten es auch, mit der Folge, daß sie mich weniger drangsalierten.
Allmählich stellte sich bei mir das Gefühl ein dazuzugehören. Ich war nicht länger bloß der Außenseiter, der den Lagerbetrieb verbiestert über sich ergehen ließ. Zum erstenmal in meinem Leben erfuhr ich, was es bedeutet, in die Solidarität einer Gemeinschaft einbezogen zu sein, die von einem übergeordneten Interesse zusammengehalten wird. Viel war es nicht, was uns im Lager menschlich miteinander verband. Uns allen gemeinsam aber war das Interesse, uns »nicht unterkriegen zu lassen«, und das nicht minder große Bestreben, die von allen gehaßten Vorgesetzten bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ärgern.
Eine beliebte — ihrer Gefährlichkeit wegen gleichwohl nur selten praktizierte — Methode bestand darin, sich nachts in das Zimmer eines Truppführers zu schleichen und ihn mit Tinte zu übergießen. Um in dem anschließend unweigerlich anhebenden Tumult — der Betroffene schrie natürlich Zeter und Mordio — unerkannt entkommen zu können, waren einige Regeln zu beachten. So durfte der Attentäter auf keinen Fall direkt in seine eigene Stube zurückflüchten, weil das seine Identifizierung erleichtert und die ganze Stubenbelegschaft in Gefahr gebracht hätte.
Um den Verfolgern andererseits die Möglichkeit zu nehmen, dem Übeltäter durch eine sofortige Stubenkontrolle mit der Suche nach einem unbelegten Bett auf die Spur zu kommen, mußten möglichst viele Kameraden eingeweiht sein. Ihre Aufgabe war es, sofort nach dem Einsetzen des nächtlichen Lärms auf die Flure zu stürzen und unter dem unwiderlegbaren Vorwand, sie hätten lediglich versucht, die Ursache der Ruhestörung herauszufinden, das Durcheinander entstehen zu lassen, in dem der Täter untertauchen konnte.
In unserem Lager wurde die riskante Aktion zweimal durchgeführt. Beide Male entkam der Täter. Es wäre ihm schlimm ergangen. Denn unter Lagerbedingungen galt das nicht als Dummejungenstreich, sondern als »tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten«.
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So aber endeten die Versuche, seiner habhaft zu werden, mit dem von uns voller Spannung erwarteten Abschlußritual: Beim Morgenappell trat der diensthabende Obertruppführer vor die Front und forderte mit markiger Stimme dazu auf, »den Schuldigen zu melden«. Die Antwort war ein mühsam gedämpftes Hohngelächter der angetretenen Belegschaft, das durch wütend gebrüllte Befehle erstickt werden mußte — für uns der eigentliche Höhepunkt der Aktion.
Noch wenige Monate zuvor hatte ich keine Ahnung gehabt, wie erhebend es sein kann, mit einzustimmen in ein solches Hohngelächter, das mehr als hundert junge Rabauken, die sonst fast nichts gemeinsam haben, für einen kurzen hochgemuten Augenblick miteinander verbindet. Das ließ sogar die unweigerlich folgende Kollektivstrafe verschmerzen (die erwartungsgemäß in einer Urlaubssperre für das nachfolgende Wochenende bestand).
Ende August kam es erneut zu einem nächtlichen Tumult. Diesmal wurde er jedoch nicht von uns ausgelöst, sondern von den Vorgesetzten. Nicht in unserem Lager, vielmehr »von höherer Stelle« im nahe gelegenen Berlin. Es muß am 26. August 1939 gewesen sein, als uns die sattsam bekannten Trillerpfeifen nicht erst morgens um fünf Uhr, sondern mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf rissen. Noch im Nachthemd erhielten wir den Befehl, Kleidung und Ausrüstung zusammenzupacken und uns abmarschfertig zu machen. Während wir, kaum eine Stunde später, zum nächstgelegenen Bahnhof marschierten, waren die meisten von uns immer noch nicht richtig wach. Was eigentlich los war, wußten wir nicht. Uns zu informieren hielt niemand für notwendig. Es kursierten vage Gerüchte über ein Manöver, an dem wir teilnehmen sollten. Das tägliche Einerlei des Lagerlebens war jedenfalls unterbrochen, soviel stand fest. Unsere Stimmung war daher ausgezeichnet.
Nach einer nächtlichen Bahnfahrt in überfüllten Waggons stiegen wir schließlich in Oberschlesien in einem Nest mit dem ulkigen Namen Gogolin wieder aus. Von dort wurden wir in kleinen Gruppen auf die Scheunen und Stallungen der benachbarten Dörfer verteilt. Was wir dort zu suchen hatten, blieb, wie in den folgenden Jahren noch so oft, unerklärt. Es interessierte uns in Wirklichkeit auch überhaupt nicht. Selbständiges Nachdenken hatten wir uns bereits weitgehend abgewöhnt. Es brachte einen doch nicht weiter. Eine Ecke zu finden, in der man unbehelligt ein paar Stunden pennen konnte, sich »unsichtbar« zu machen, wenn lästige Arbeiten anstanden, dafür aber rechtzeitig zur Stelle zu sein, wenn Post, Zigaretten oder Brot ausgegeben wurden, vor allem aber die Einhaltung der Grundregel »Niemals auffallen« — das war es, worauf man sich zu konzentrieren hatte. Alles andere blieb dem eigenen Einfluß ohnehin entzogen.
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Die Möglichkeit, den Gedanken fassen zu können, daß es nur noch wenige Tage dauern würde, bis ein Weltkrieg ausbrach, lag jenseits dieses Horizonts. Die Welt außerhalb des Lagerzauns hatte für uns längst eine eigentümlich blasse, unwirkliche Qualität angenommen. Potsdam und das Viktoria-Gymnasium schienen in einer fernen Vergangenheit und auf einem anderen Planeten zu liegen. Ich wußte, daß Eltern und Geschwister auch in diesem Sommer wieder an die Ostsee gefahren waren, nach Binz. Ich bekam von dort selbstverständlich auch Post. Sie hätte genausogut vom Mond kommen können.
Die erste Mahnung, daß die Vorgänge in der Welt dort draußen auch uns betrafen, erging am Abend nach unserem Ankunftstag. »Unser« Bauer — kaum mehr als ein Tagelöhner mit zwei oder drei Schweinen und ein paar Hühnern — lud uns nach dem Abendessen in seine ärmliche Wohnküche ein. Dort lief ein Volksempfänger mit Nachrichten in deutscher Sprache. Der Tenor des vom Sprecher verlesenen Textes erschien uns seltsam, bis wir kapierten, daß es sich um eine polnische Propagandasendung handelte. Von da ab hörten wir aufmerksam zu. Zuerst aus purer Neugier, bald aber mit zunehmender Betroffenheit.
Selbstverständlich wußten wir, daß es seit Monaten Spannungen mit Polen gab — wegen Danzig und weil, wie unsere Zeitungen behaupteten, Volksdeutsche im Nachbarland verfolgt würden. Das kannten wir aber nun schon zur Genüge. Die Sudetenkrise war schließlich nach dem gleichen Schema abgelaufen. Ebenso die Besetzung der »Rest-Tschechei« und der »Anschluß« Österreichs. Immer war auch bei diesen Gelegenheiten zunächst von »drohender Kriegsgefahr« die Rede gewesen. Und noch jedesmal hatte die andere Seite zu guter Letzt eingelenkt und sich den deutschen Forderungen gefugt, weil diese berechtigt und moralisch legitimiert waren, wie man uns versicherte und wie wir nur allzugern glaubten. Schließlich handelte es sich immer noch darum, die letzten Überreste des »Versailler Diktats« zu tilgen. In diesem Fall ging es vor allem um die Existenz des »Korridors«, der Polen mit der Ostsee verband und dadurch Ostpreußen vom übrigen Reich trennte. Ein Reich, das in zwei Teile zerfiel — eine wahrhaft groteske Zumutung. Wann hatte es jemals in der Geschichte dergleichen gegeben?
Aber als wir da an einem der letzten Augustabende des Jahres 1939 in einer oberschlesischen Wohnküche der Stimme des polnischen Sprechers lauschten, beschlichen uns Zweifel, ob auch die polnische Regierung sich nach einigem Zieren der deutschen Betrachtungsweise anschließen würde. Der unsichtbare Redner versicherte mit nachdrücklichem Ernst das Gegenteil. Die Polen seien ein stolzes Volk, bekamen wir zu hören, das sich in seiner langen Geschichte wiederholt für seine Rechte geschlagen habe. Die Polen dächten auch jetzt nicht daran, sich äußerem Druck zu beugen. Wenn Hitler nicht einlenke, dann werde es eben Krieg geben. England und Frankreich, Polen durch Verträge zum Beistand verpflichtet, würden Deutschland dann ebenfalls den Krieg erklären.
»Wollt ihr wirklich« — an diese nicht ohne beschwörendes Pathos vorgetragene Frage erinnere ich mich noch wörtlich —, »daß eure Frauen wieder um ihre Männer weinen müssen und eure Mütter um ihre gefallenen Söhne?«
Nachdenklich und schweigend verkrochen wir uns anschließend zum Schlafen in unser Stroh. So ernst hatte uns bis dahin niemand die Situation vor Augen gehalten. Wir versuchten, uns mit dem Hinweis darauf zu beruhigen, daß es sich schließlich um eine Propagandasendung gehandelt habe. Aber es blieben doch nagende Zweifel.
Drei Tage später wurden wir kurz nach Sonnenaufgang von einem gewaltigen Dröhnen aufgeweckt, das die Luft erfüllte. Als wir die Köpfe aus der Stalltür steckten, sahen wir am klaren Himmel — es versprach, ein strahlender Spätsommertag zu werden — eine Bomberstaffel nach der anderen über uns hinweg nach Osten ziehen.
Es war ein großartiger Anblick. Uns aber flößte er Angst ein. Denn seine Bedeutung brauchte uns niemand zu erklären. Ich war siebzehn Jahre alt und dachte zum erstenmal daran, daß ich totgeschossen werden könnte in dem Krieg, der sich da hoch über unseren Köpfen so unüberhörbar ankündigte.
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