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   211 -  Die siegreichen Jahre  

    212 - Ehre

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Die Mehrzahl der männlichen Deutschen etwa in meinem Alter steckte längst in Uniform, während ich in Berlin studierte — Medizin, und nebenher, nicht ganz legal in den Augen der Obrigkeit, auch ein wenig Philosophie und Psychologie; unter anderem hörte ich Vorlesungen des berühmten Philosophen Nicolai Hartmann und nahm auch an einem Seminar über Thomas von Aquin teil.

Und die Wehrmacht siegte in Polen, danach in Dänemark und Norwegen und im Frühsommer 1940 dann sogar in Frankreich. Es war kaum zu glauben. Insbesondere der innerhalb weniger Wochen mit einem totalen Sieg endende Feldzug gegen Frankreich ließ viele Patrioten, die Hitler bis dahin immer noch mit einer gewissen Reserve gegenübergestanden hatten, als überzeugte Konvertiten in das Lager seiner gläubigen Anhänger überwechseln.

    wikipedia  Nicolai_Hartmann  1882-1950       wikipedia  Ferdinand_Foch 1851-1929     wikipedia  Westfeldzug 

Was die kaiserliche Armee in vier Jahren nicht geschafft hatte, das hatte Hitlers Wehrmacht in kaum mehr als vier Wochen fertiggebracht. Die seit 1918 schwärende Wunde konnte sich endlich schließen. Die Inszenier­ung des Waffenstillstandes von 1940 lieferte das Tüpfelchen auf dem i: Mit der unfehlbaren Instinkt­sicherheit des geborenen Demagogen ließ Hitler den Eisenbahnwaggon aus dem Museum wieder in den Wald von Compiegne bei Paris schaffen, in dem der französische Marschall Foch 1918 die Kapitulation Deutschlands am selben Ort entgegengenommen hatte.

Jetzt trafen sich die alten Kontrahenten zu der gleichen Zeremonie der Unterwerfung also vor derselben Kulisse wieder — mit vertauschten Rollen, und der Brust der deutschen Patrioten entrang sich ein millionenfacher Seufzer unsäglicher Erleichterung.

In kaum einer anderen Episode dieser Jahre zeigt sich die Tatsache sinnfälliger, daß Hitler keineswegs »aus heiterem Himmel«, wie eine wesensfremde Katastrophe, von außen in den Ablauf der deutschen Geschichte hereingebrochen ist. Ganz im Gegenteil. Sein Erfolg war allein deshalb so überwältigend groß, weil er sich mit nachtwandlerischer Sicherheit der nationalen Komplexe und heimlichen Sehnsüchte anzunehmen verstand, die seit dem Schock von 1918 in der deutschen Seele gärten. Und die notwendige Frage danach, warum dieser Schock so tief saß, daß seine psychischen Folgen auch nach Jahrzehnten noch nicht abgeklungen waren, verweist darauf, daß noch weiter zurück in der Vergangenheit suchen müßte, wer die eigentliche Wurzel der deutschen Anfälligkeit für die nationalsozialistische Verirrung aufspüren wollte.

Selbst mein Vater, der die Nationalsozialisten nach wie vor mit einer seiner Umgebung spleenig erscheinenden Hartnäckigkeit ablehnte, erwies sich gegen die bei diesem Anlaß allenthalben spürbare patriotische Genugtuung als nicht immun. Die für einen kaiserlichen Offizier erniedrigende Tatsache fünfjähriger Kriegsgefangenschaft in französischem Gewahrsam und die von ihm als demütigend erlebten Umstände seiner ersten Nachkriegsjahre als Zivilist in der »roten Republik« hatten ihre Narben auch bei ihm hinterlassen.

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Während der Anfangsphase des »Frankreichfeldzuges« verzog sich sein Gesicht jedesmal in bekümmerte Falten, wenn man ihn auf die raschen Fortschritte an der Westfront ansprach. »Ihr werdet schon noch sehen«, war sein ganzer Kommentar, wenn man eine Stellungnahme von ihm forderte. In der bedrückenden Erinnerung an das vierjährige vergebliche Anrennen der glorreichen kaiserlichen Armeen erschien ihm ein siegreicher Ausgang des abermaligen Waffenganges gegen den »Erbfeind« ausgeschlossen.

Aber nun war Frankreich geschlagen — nur wenige Wochen nach Beginn des Feldzuges. Die Genugtuung des ehemaligen Kriegsgefangenen war unverkennbar, wenn er auch sofort verstummte, sobald die Frage nach den Gründen zur Sprache kam. Denn daß Hitlers Wehrmacht »besser« sein könnte als die kaiserliche Armee, war für ihn undenkbar. Aber woran hatte es dann gelegen? Für die Mehrheit in seiner Umgebung lag die Antwort auf der Hand: Es war die »Härte« des neuen Deutschlands, der »unerschütterliche Glaube« an die eigene Überlegenheit, der seine Angehörigen »mit rücksichtsloser Entschlossen­heit« tun ließ, was den Erfolg verbürgte.

Daran war sogar ein Körnchen Wahrheit. Aber wohl keiner derer, die diese Diagnose damals stellten, rechnete ernstlich damit, daß diese Rücksichtslosigkeit so weit getrieben werden könnte, wie es dann geschah. Und gewiß niemand dachte rechtzeitig an die vernichtenden Konsequenzen, die es unweigerlich haben mußte, wenn dieser Glaube sich jemals zu der wahnhaften Zuversicht versteigen sollte, daß er, wenn er nur stark und blind genug sei, auch die Kraft haben werde, die Realität den eigenen Wünschen entsprechend zu verändern. 

Aber jetzt war Frankreich geschlagen. Der Führer ernannte neue Feldmarschälle im Dutzend und verkündete beiläufig, daß er Weisung gegeben habe, die Munitions­produktion zu drosseln. Die »verschworene Gemeinschaft« der deutschen Volksgenossen verstand die Anordnung als Signal, daß alles schon gelaufen sei. Wahrhaftig: Was hatte England denn jetzt noch für Gründe, den sinnlos gewordenen Krieg fortzusetzen! Soweit noch in Zivil, fuhr man mit siegesgeschwellter Brust in die Sommerferien. In den Restaurants und Cafes wurde das Tanzen wieder erlaubt, das die Behörden während des Westfeldzugs aus Takt gegenüber den an der Front kämpfenden Soldaten untersagt hatten.

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Bevor auch unsere Familie in diesem Sommer (1940) wieder nach Binz aufbrach, ergab sich die Gelegenheit, einen der heimgekehrten Kriegshelden zu begrüßen. Es handelte sich um Onkel Gerhard, den Bruder meiner Mutter. Onkel Gerhard, schon 1917 als Kriegsfreiwilliger dabei, hatte den Frankreichfeldzug als Kommandeur eines Artillerieregiments mitgemacht und war soeben voll frischer Eindrücke zurückgekehrt. Er genoß seine Rolle als Mittelpunkt einer Runde ihm andächtig lauschender Zivilisten.

Meine Mutter hatte sich nicht lumpen lassen. Nichts war für den Ehrengast zu schade. In unserem Hause herr­sch­te Festtagsstimmung. Die nachmittägliche Szene ist mir lebendig in Erinnerung. Wir hatten uns im Musik­zimmer versammelt. Aus dunklen Quellen war Kaffee beschafft worden (damals für den »Normalverbraucher« längst ein rarer Genuß) und dazu sogar Schlagsahne. Onkel Gerhard saß, die Beine übergeschlagen, in voller Uniform zurückgelehnt im Sessel und sog genüßlich an einer der köstlich riechenden schwarzen Zigarren, die er aus Frankreich mitgebracht hatte. Meinem Vater gab er im Verlaufe des Nachmittags großmütig eine davon ab. (Meine stille Hoffnung, das seltene Kraut ebenfalls genießen zu können, blieb unerfüllt.) Onkel Gerhard erzählte vom Krieg. Lebhaft, voller anschaulicher Dramatik und aus der Perspektive des Siegers. Wir hingen andächtig an seinen Lippen.

Onkel Gerhard erzählte von der Einnahme einer Ortschaft, die er zuvor mit den Geschützen seines Regiments »beharkt« hatte. Sein Blick schweifte langsam über die Gesichter der ihm schweigend zuhörenden Runde und blieb an meinem Gesicht hängen.

»Weißt du, Hoimar«, sagte er, während er seine Zigarre mit kultivierter Sorgfalt über dem silbernen Aschenbecher an seiner Seite abklopfte, »das ist schon ein dolles Gefühl, wenn du in einen solchen Ort reinfährst, und da liegen die Trümmer, und alles raucht noch, und du sagst dir: Das warst du!«

In mir rührte sich in diesem Augenblick ganz leise ein Widerspruch, ein flüchtiger Impuls zum Protest, den ich jedoch mit Erfolg unterdrückte, da mir sofort bewußt wurde, wie unangebracht die Regung war.

Man sollte Onkel Gerhard Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er war kein Unmensch. Wenn man einmal davon absieht, daß er sich gern martialisch gab, war er ein umgänglicher Mann mit viel Mutterwitz und ein hervorragender Doppelkopfspieler. Ich jedenfalls habe nicht das Recht, ihn wegen seiner Äußerung zu verdammen, denn ich muß, mit nicht geringer Beschämung, hier den Bericht an einen Vorfall anschließen, bei dem ich, nur wenige Jahre später, eine um keinen Deut bessere Rolle gespielt habe.

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Es war Ende Juli 1943 in Hamburg. Nach einem schweren Bombenangriff half ich mit anderen Nachbarn den verzweifelten Bewohnern eines lichterloh brennenden Mietshauses, wenigstens einen Teil ihrer Habe zu retten. Der Brand fraß sich vom Dachstuhl aus unaufhaltsam nach unten. Das geschah nicht gleichmäßig, sondern in von längeren Pausen unterbrochenen donnernden Sprüngen. Während eine Etage in einer wahren Höllenglut ausbrannte, räumten wir in größter Hast die darunter gelegene aus, bis es in der Decke über uns vernehmlich zu knistern begann. Das war das Signal zur Flucht. Während wir in die nächsttiefere Etage stürzten, kam die Decke mit einem fürchterlichen Krach herunter, und so wiederholte sich das lebensgefährliche Spiel von einem Stockwerk zum nächsten, bis wir, Stunden später und völlig erschöpft, im Keller angekommen waren.

Bei der Räumungsaktion stand ich auf einmal allein in dem mit allen Accessoires spießbürgerlicher Behaglichkeit überladenen Wohnzimmer einer von den anderen Helfern bereits preisgegebenen Etage. Vom Vertiko mit den knallbunten Sammeltassen hinter staubschützenden Glasscheiben über die vom Sonnenuntergang rosig angehauchte Alpenlandschaft in klobigem Goldrahmen an der Wand bis zum Gummibaum — es fehlte keine der obligaten Zutaten. Vor lauter Nippes konnte man sich in dem Zimmer kaum rühren. Die Mitte des Raumes wurde von einer gewaltigen Stehlampe mit einem riesigen fransenbewehrten Schirm beherrscht, die in einen runden Tisch eingebaut war, auf dessen gläserner Platte allerlei Figurinen aus Majolika posierten. 

Das verrückteste: Die Lampe brannte noch. Die Szene erschien mir so gespenstisch wie grotesk. Draußen tobte der Feuersturm und schrien die Menschen durcheinander. Und da vor mir stand, als eine idyllische Oase inmitten des Weltuntergangs, die wohlaufgeräumte Inkarnation kleinbürgerlicher Sehnsucht nach Geborgenheit.

Das Knistern über meinem Kopf erinnerte mich daran, daß es Zeit wurde, das Zimmer zu verlassen. In diesem Moment kam mir der Gedanke wie ein Blitz. Die Gelegenheit war einmalig. Ich erlag der Versuchung fast in der gleichen Sekunde. Mit beiden Händen packte ich den Rand des abgetretenen Teppichs, der den Boden bedeckte, und zog an ihm mit einem einzigen kräftigen Ruck.

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Die mächtige Stehlampe begann zu taumeln und stürzte mit gewaltigem Getöse auf den Boden, wobei sie den Glastisch splitternd mit sich riß. Innerhalb eines einzigen Augenblicks hatte ich die mit Sorgfalt komponierte Idylle in eine chaotische Trümmerwüste verwandelt. Während ich die Treppe herunterstürzte und ein lautes Krachen hinter meinem Rücken den Einsturz der Etagendecke signalisierte, spürte ich in mir eine tiefe Befriedigung.

Ich kann die Frage bis heute nicht schlüssig beantworten, warum es für mich eine Versuchung bedeutet hat, die Ausnahmesituation als Gelegenheit zu benutzen, den wohlgeordneten Mikrokosmos dieses Wohnzimmers zu zertrümmern. Dem Neandertaler in mir kann ich diesen Antrieb ganz sicher nicht auch noch in die Schuhe schieben. (In seiner Welt wären derartigen Anwandlungen von Zerstörungslust keinerlei positive Anpassungsqualitäten zuzuerkennen gewesen.) Daß ich damals ebensowenig einem krankhaften Impuls erlegen bin, dessen glaube ich mir aber auch sicher zu sein.

Das Erlebnis in dem brennenden Etagenhaus, das mich noch nachträglich beunruhigt, verbindet mich mit dem von der Zerstörungskraft seines Regiments so überaus befriedigten Onkel. Aber nicht nur mit ihm. Wer bestreitet, daß diese Lust an der Zerstörung in den dunkleren Untergeschossen auch seiner Psyche lauert, frage sich doch einmal, worauf seiner Ansicht nach die kommerziell nutzbare Anziehungskraft von Kriminalfilmen beruht. Wie es zu erklären ist, daß das spezifische Genre des Katastrophenfilms in aller Welt riesige Kassenerfolge einspielt — vorausgesetzt, daß die vorgeführten Katastrophen realistisch und angsteinflößend inszeniert sind. Warum die Neugier ganz normaler Menschen (»wie du und ich«) von Brandkatastrophen, Unfällen auf der Autobahn oder Flugzeugabstürzen wie mit magischer Kraft angezogen wird.

Die meisten scheuen sich, diese abgründige Lust am Chaos sich selbst und anderen einzugestehen. Der italienische Filmregisseur Federico Fellini macht da eine Ausnahme. In seinen 1984 erschienenen Lebenserinnerungen schreibt er zum Thema Krieg: »Der Gedanke an den Krieg gibt mir auch ein vielleicht gesundes Gefühl der Nichtverantwortung (...), auch eine unverantwortliche Neugier: alles könnte kaputtgehen (...), und wenn du zufällig überlebst, dann kannst du was zu sehen kriegen

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Tief in uns gibt es einen Abgrund, das wußte schon der Kirchenvater Augustinus. Deshalb allein aber sind wir nicht schon alle »Faschisten« (wenn auch fehlbare Menschen). Weder Onkel Gerhard noch sein Neffe Hoimar, noch der Zuschauer am Geländer einer Autobahnbrücke, der — bewußt oder unbewußt — die Möglichkeit eines Unfalls einkalkuliert, den er gern »mitbekäme«, unterscheiden sich schon dieser Regungen wegen moralisch von ihren Mitmenschen. Das entscheidende Kriterium für die moralische Beurteilung ergibt sich erst aus der Frage, wie man sich zu diesen abgründigen Regungen verhält. Zum »Faschisten« droht man zu werden, wenn man sie bejaht, wenn man sich gar mit ihnen identifiziert. Zum Wesensmerkmal des Faschismus gehört es, sie als akzeptable, wenn nicht gar als beispielhafte Handlungsimpulse zu propagieren. Ein faschistisches Regime erkennt man daran, daß es die Freisetzung der in uns allen lauernden Bestie betreibt.

Den Nationalsozialisten ist diese Freisetzung seinerzeit bei fast einem ganzen Volk gelungen. Es lassen sich viele Gründe dafür anführen, warum gerade wir es gewesen sind, die der furchtbaren Versuchung erlagen. Einer von ihnen war die Wahnsinnsidee, daß eine alle moralischen Hemmungen abstreifende, im wertneutralen Wortsinn bestialische (nämlich natürliche, urwüchsige, germanische oder wie die Umschreibungen sonst lauteten) Rücksichtslosigkeit eine Kraft verleihen werde, der niemand auf dieser Erde würde widerstehen können — schon gar nicht die »verweichlichten« Nationen an unseren Grenzen. Für das von den Folgen wilhelminischen Übermuts und republikanischer Mißlichkeiten gebeutelte nationale Selbstbewußtsein der Deutschen war die von dieser Vorstellung ausgehende Versuchung übermächtig.

Unbestreitbar ist die Zahl derer, die sich bis zu konkreter Bestialität verführen ließen, bis zuletzt relativ klein geblieben. Aber daraus läßt sich nicht viel Trost schöpfen. Zum einen nicht, weil in den Augen der Dirigenten des Vernichtungsapparats das die Mordmaschinerie bedienende Personal ausreichte und es keinerlei Schwierigkeiten bereitet hätte, seine Zahl »bedarfsentsprechend« zu erhöhen. Und zum anderen nicht, weil der von uns Älteren, der behauptet, niemals Nazi gewesen zu sein, da er sich Folter, Mord oder Denunziation nicht vorzuwerfen habe, verdrängt, was sich abgespielt hat. Die Verstrickung in die Schuld begann lange vor dem juristisch faßbaren Exzeß.

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Weil die nach dem »Endsieg« zu erwartende Vergrößerung des Großdeutschen Reiches und der Wieder­gewinn der Kolonien eine größere Zahl an Ärzten erfordern würde, ließ man mich und viele meiner Altersgenossen vorerst noch Medizin studieren. 

So fuhr ich also täglich von Potsdam mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße, in dessen Nähe die Charite und die Institute der vorklinischen Fächer lagen. Die Strecke war weit und kostete — hin und zurück — jedesmal drei Stunden. Aber die Möglichkeit, wieder in Potsdam und im Elternhaus wohnen zu können, überwog in meinen Augen diesen Nachteil.

Anatomie hörten wir bei dem berühmten und gestrengen Professor Stieve (an der Berliner Universität lehrte damals grundsätzlich nur die akademische Creme). Der langaufgeschossene hagere Mann mit dem schmalen Gelehrtenschädel trug bei seiner Vorlesung nicht, wie alle anderen, den standesüblichen weißen Kittel. Stieve erschien zum Kolleg in einem langen, glänzendschwarzen Seidenmantel. Es ging die Rede, daß er »der Partei« nicht sonderlich nahestände. Aus erster Hand wußten wir über seine Einstellung nichts.

Immerhin kam es in seiner Vorlesung nicht zu den anbiedernden, etwa die damalige »Rassenbiologie« einbeziehenden Bemerkungen, wie sie bei einigen seiner Kollegen inzwischen an der Tagesordnung waren. Dabei hätte das gerade in seinem Kolleg nahegelegen, denn an den Proportionen der Schädelmaße (dem »Schädelindex«) ließ sich nach offizieller Ansicht zum Beispiel die rassische Zugehörigkeit eines Menschen unfehlbar erkennen.* 

Auch das von seinen Hörern sehr wohl registrierte säuerliche Gesicht, mit dem Stieve beim Betreten des Hörsaals den rechten Arm wie geistesabwesend hastig zum »Deutschen Gruß« hochriß, um der Vorschrift Genüge zu tun, sprach eher gegen eine tiefsitzende nationalsozialistische Überzeugung. Aber mit »Heil Hitler« grüßte er eben doch, wenn auch in einer nach Lage der Dinge halsbrecherisch zu nennenden Kümmerform des offizielle Rituals. (Der Hamburger Kinderarzt Rudolf Degkwitz, der selbst das konsequent ablehnte, verlor 1943 seinen Lehrstuhl und kam ins Zuchthaus. Er wurde nur aufgrund hartnäckiger Interventionen von Berufskollegen nicht zum Tode verurteilt.)

* Im Biologie-Unterricht am Viktoria-Gymnasium hatte man bei uns schon im Alter von vierzehn Jahren ganz offiziell die relevanten Schädelmaße abgenommen. Dabei wurde mir übrigens anerkennend eröffnet, daß ich »fast reinrassig nordisch« sei, was mich als schwarzhaarigen Jungen mit ausgeprägter Nase außerordentlich erfreute. Mein naiver Stolz über diese total alberne Mitteilung charakterisiert die damalige Atmosphäre auf seine Weise.

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Während des Präparierkurses, der an vier Nachmittagen der Woche stattfand, pendelte Stieve unermüdlich auf und ab in den langen Gängen zwischen den Stahltischen, auf deren Marmorplatten die nackten Leichen lagen, deren Anatomie wir mit Skalpell und Pinzette in monatelanger Kleinarbeit freizulegen hatten. Als erstes war die Haut zu entfernen, ohne die daruntergelegenen Muskeln zu verletzen. Dann kamen diese an die Reihe, einer nach dem anderen, am Hals beginnend über Brust und Bauch bis zu den Füßen. Jeder Muskel war bis zu seinen Knochenansätzen sauber zu präparieren und in seiner Situation zu den mit ihm kooperierenden (oder seine Wirkung antagonisierenden) Nachbarmuskeln darzustellen. 

Wir waren in diese Präzisionsarbeit meist so vertieft, daß es jedesmal einen kleinen Schreck auslöste, wenn Stieve plötzlich neben einem stand, um mit halblauter Stimme nach Namen, Funktionsweise und Innervation der gerade präparierten Muskeln zu fragen. Fiel die Antwort zu seiner Zufriedenheit aus, belohnte er einen mit einem freundlichen Lächeln. Andernfalls wurde man unwirsch auf seine Wissenslücken hingewiesen, bevor der ein wenig gefürchtete Mann sich mit einem hörbaren Seufzer abwandte und seine Wanderung durch die Gänge wieder aufnahm.

Von Medizinstudenten kann man heute häufig die Klage hören, daß es für ihre Präparierkurse an Leichen mangele, so daß zu viele von ihnen sich mit demselben Arm oder demselben Halsmuskel beschäftigen müßten. Diese Kalamität kannten wir nicht. Leichen gab es in Stieves Institut in Hülle und Fülle. Es waren ganz überwiegend die Leichen junger, gesunder Männer. Und noch etwas war der Mehrzahl von ihnen gemeinsam: Ihnen fehlte der Kopf. Knapp über Schulterhöhe war ihr Hals säuberlich durchtrennt.

Der Grund war natürlich für keinen von uns ein Geheimnis. Die Obrigkeit war sogar darauf bedacht, daß auch die Öffentlichkeit außerhalb unseres Präpariersaals über die Zahl und die Ursache dieser Todesfälle nicht im ungewissen blieb. An allen Litfaßsäulen prangten die in auffälligem Signalrot gehaltenen kleinen Plakate, auf denen in trockenem Behördendeutsch mitgeteilt wurde, daß und zu welcher Stunde abermals die Hinrichtung eines Landesverräters, eines Staatsfeindes oder eines »Rassenschänders« vollstreckt worden sei, der dann, um jeden Zweifel an der Realität des Vorgangs auszuschließen, jedesmal mit vollem Namen und Geburtsdatum genannt wurde.

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Jedermann also wußte Bescheid — Stieve wußte, woher er die Leichen für sein Institut bezog, wir Studenten wußten, an wessen Überresten wir das für einen Arzt notwendige anatomische Wissen erwarben, und die Passanten draußen auf der Straße wußten, wie steil die Zahl der von Staats wegen getöteten Mitmenschen neuerdings in die Höhe geschnellt war.* 

Bedeutet dieses Mitwissen allein, wenn ihm keine Reaktion — weder hörbarer Protest noch gar konkretes Tun — folgte, schon Mitschuld? Es ist nicht leicht, über die Frage mit sich ins reine zu kommen. Ich neige heute dazu, sie zu bejahen.

Zwar erscheint es mir nicht prinzipiell verwerflich, wenn viele damals »gnadenlose Härte« in Kriegszeiten für gerechtfertigt hielten. Manchem geht das wohl auch nachträglich noch so. Aber entlastet dieses Argument auch im Falle eines Angriffskrieges? Andererseits: Der Begriff »Angriffskrieg« wurde erst nach 1945 geläufig. Und daß ein Krieg per se »verbrecherisch« sein kann, ist eine sehr junge Auffassung. Wieder andererseits: Zwar hatten wir keine zutreffende Vorstellung davon, was sich hinter den offiziell angegebenen Urteilsgründen Landesverrat, Wehrkraftzersetzung oder Plünderung im Einzelfall verbarg.

* »Rassenschande« im Sinne der Nürnberger Gesetze beging ein Jude, der mit einer »Person deutschen oder artverwandten Blutes« intim verkehrte. Mit der Todesstrafe hatten in diesem Fall aber auch die nichtjüdischen Angehörigen »minderwertiger« Bevölkerungsgruppen zu rechnen (wovon vor allem Polen und später die in der deutschen Rüstungsindustrie und Landwirtschaft als Hilfskräfte eingesetzten russischen Kriegsgefangenen bedroht waren).

Hingerichtet wurde außerdem wegen einer Fülle »kriegstypischer Verbrechen«, bei denen es sich oft genug um Bagatelldelikte handelte (etwa um den Diebstahl von Brot oder einer Schachtel Zigaretten durch Kriegsgefangene — wenn diese den sogenannten »Ostvölkern« angehörten!). Mit dem Tode »geahndet« wurden selbstverständlich auch die im weiteren Verlaufe des Krieges zunehmenden Fälle von »Landesverrat« und »Wehrkraftzersetzung«, also Kritik - auch im privatesten Kreis, wenn es ruchbar wurde - am Regime oder Äußerungen des Zweifels am »Endsieg«. 

Aktiver Widerstand — in welcher Form auch immer — galt vom ersten Tage nach der »Machtergreifung« an als todeswürdiges Verbrechen. Insgesamt sind von der deutschen Justiz von 1933 an bis zum Kriegsende etwa 32.000 Todesurteile gefällt worden, davon allein 30.000 vom Beginn des Rußlandfeldzuges im Frühjahr 1941 bis zum Kriegsende 1945. Die meisten davon wurden auch vollstreckt. (Quelle: Ralph Giordano, a.a.O., S. 157) Das bedeutet für die Zeit ab 1941 einen Durchschnitt von über zwanzig Hinrichtungen am Tag allein im Bereich der zivilen Gerichtsbarkeit. Fürwahr, das nationalsozialistische Regime hatte nicht übertrieben, als es den Volksgenossen ankündigte, es werde den »Fehler der Humanitätsduselei von 1918« nicht wiederholen, sondern »mit unerbittlicher Härte durchgreifen«. 

Im Reichsdurchschnitt täglich also zwanzig neue blutrote Zettelchen an allen Litfaßsäulen — ist es denkbar, daß das niemandem von denen aufgefallen sein sollte, die heute so nachdrücklich beteuern, sie hätten »von allem nichts gewußt« ?

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Wer aber hätte sich auf eine solche Unkenntnis in den Fällen berufen können, in denen die Hinrichtung ganz unverblümt mit »Blutschande« begründet wurde? Und hätte nicht in jedem Falle allein die erschreckende Zahl der Fälle uns mißtrauisch machen müssen? Heute zweifelt — von ein paar lernunwilligen Köpfen einmal abgesehen — niemand mehr daran, daß es sich damals um ein nur legalistisch verbrämtes staatliches Massenmorden gehandelt hat. Um das Wüten von Juristen, die das ihnen anvertraute Recht verrieten, indem sie ganz offen erklärten, daß sie ihre Aufgabe nicht darin sähen, Recht zu sprechen, sondern darin, »die Feinde des nationalsozialistischen Deutschland zu vernichten« (so Roland Freisler, Präsident des »Volksgerichtshofes«, in zahlreichen seiner Urteilsbegründungen). 

Die Frage ist, ob wir das nicht schon damals hätten erkennen müssen.

Man mag darüber heute unterschiedliche Auffassungen vertreten. Ich kreide mir mein damaliges Stillschweigen als schuldhaft an. Und sei es nur deswegen, weil die Existenz einer, wenn auch erbarmungswürdig kleinen, Zahl von Widerständlern bewiesen hat, daß wir es hätten wissen können, wenn wir es nur hätten wissen wollen. Wir haben aber weggesehen und uns das Nachdenken verboten, weil wir im Unterschied zu dieser mutigen Minorität Angst hatten vor den Konsequenzen, die es mit sich gebracht hätte, wenn wir den Gegebenheiten ins Auge gesehen hätten. Man mag das mit menschlicher Schwäche entschuldigen. Aber der Abstand, den wir damals aus dieser Schwäche heraus zu der Haltung des Widerstandes wahrten, ist unwiderruflich identisch mit dem moralischen Abstand, der uns heute von der Schuldlosigkeit dieser Männer und Frauen trennt, die sich als einzige nicht verstrickten und dafür einen Preis bezahlten, den zu entrichten wir nicht den Mut fanden.*

Das alles gilt uneingeschränkt, wobei hinzuzusetzen ist, daß das Überlegungen sind, die ich damals ebenso­wenig bewußt anstellte wie sicher die meisten meiner Kommilitonen. Wir waren im Krieg, und damit hatten sich, nicht nur für uns, die Maßstäbe geändert. Jetzt ging es in unseren Augen vor allem um die Pflicht dem Vaterland gegenüber und nicht um das Verhältnis zum Nationalsozialismus, ganz unabhängig davon, ob dieses im Einzelfall nun problematisch war oder, wie in meinem Falle, allenfalls lauwarm distanziert.

* Mit »wir« meine ich an dieser wie an anderen Stellen immer meine unmittelbare Umgebung, hier also die Kommilitonen und Kommilitoninnen, mit denen ich täglich Umgang hatte.

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Daß zwischen diesem Krieg und dem Nationalsozialismus in Wirklichkeit gar nicht unterschieden werden konnte — weil er eben nichts anderes darstellte als ein aus nationalsozialistischer Weltanschauung geborenes räuberisches Abenteuer —, war uns in keiner Weise einsichtig.

1940 stand für uns und unsere Eltern (mein Vater mit seiner »verqueren« Weltsicht wieder einmal ausgenommen) auch der neuerliche Krieg noch in der Linie, welche die Kriege von 1870/71 und 1914/18 in unserem Geschichtsverständnis miteinander verband: Der erste hatte die Gründung des Deutschen Reiches gebracht, und der zweite war erzwungen worden von der Notwendigkeit zur Verteidigung dieses neugegründeten Reiches gegen eine Welt mißgünstiger Feinde. Der 1939 ausgebrochene, »von den westlichen Demokratien auf Betreiben des Weltjudentums mutwillig vom Zaun gebrochene Krieg« (was niemand von uns glaubte, wiewohl die amtliche Propaganda und ausnahmslos jede Führerrede die Formel stereotyp wiederholten) setzte diese Linie fort. In unseren Augen war er eine Reaktion der Siegermächte von 1918 auf das unerwünschte Wiedererstarken des Deutschen Reiches.

Jawohl, wir hatten Polen angegriffen. Aber doch nur, weil die Polen es in böswilliger Uneinsichtigkeit abgelehnt hatten, unseren legitimen Anspruch auf die Wiederherstellung der vom »Versailler Diktat« unterbrochenen Landverbindung zu Ostpreußen anzuerkennen. Was, bitte schön, ging das Engländer und Franzosen an? Unter dem Einfluß der Neandertalermoral*, die schon lange vor 1933 in Deutschland grassierte und sich nach diesem Datum endgültig durchgesetzt hatte, hielten die meisten Deutschen es für selbstverständlich, auch auf der internationalen Bühne aus eigenem Blickwinkel darüber befinden zu können, was rechtens war und was nicht.

* Um daran zu erinnern: Mit dem Terminus »Neandertalermoral« ist hier ganz neutral, ohne alle disqualifizierende Absicht, der auf die altsteinzeitlichen Überlebens­bedingungen zugeschnittene Verhaltenskodex unserer frühmenschlichen Ahnen gemeint. Anrüchig wird die Sache erst, wenn wir Heutigen eine emotionale Haltung gewähren lassen oder gar fördern, die zu einer unreflektierten (unbewußten) Berufung auf diesen archaischen Kodex tendiert. Aus den angegebenen Gründen sind die ihm entsprechenden Handlungs­dispositionen in unserer genetischen Konstitution noch immer präsent. Die historischen Begründer unserer abendländischen Kultur haben daher die vier Gebote des archaischen Kodex mit den Zehn Geboten des mosaischen Sittengesetzes, wie die ganze menschliche Geschichte lehrt, nur höchst unvollkommen zudecken können. Eines dieser niemals gänzlich überwundenen archaischen Gebote wurde von den Nazis mit besonderem Nachdruck (und Erfolg) revitalisiert: das Gebot, demzufolge Rechte und Ansprüche der eigenen Gemeinschaft denen aller fremden Kollektive grundsätzlich (quasi naturrechtlich) übergeordnet sind.

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Selbst Nazigegner äußerten damals in vertraulichen Gesprächen mit meinem Vater die heute abstrus anmutende These, daß es erst einmal darauf ankomme, den Krieg zu gewinnen, und daß man die »Abrechnung mit den Nationalsozialisten« auf die Zeit danach zu verschieben habe.

Zwar war auch ich der Meinung, daß die politischen Kontroversen hinter die Erfordernisse des Krieges zurückzutreten hätten. Gleichzeitig aber spürte ich nicht die geringste Neigung, früher als unbedingt notwendig Soldat zu werden. Ich erinnere mich gut, wie peinlich es mir war, wenn Onkel oder Tanten, deren Söhne längst »im Felde standen«, sich ironisch bei mir erkundigten, wann denn auch ich an der Verteidigung des Vaterlandes teilzunehmen gedächte. Meine Kommilitonen kannten das Gefühl ebenfalls. Uns seiner durch eine vorzeitige Meldung zum Wehrdienst zu entledigen, kam trotzdem keinem von uns in den Sinn.

Das Problem erledigte sich im Frühjahr 1941 von selbst. Im März machte ich die ärztliche Vorprüfung, das Physikum. Die Prüfung war, jedenfalls in Berlin, nicht leicht, die Durchfallquote relativ hoch. Da ich mir eine Wiederholung nicht leisten durfte — weil es mehr als fraglich war, ob mich das zuständige Wehr­bezirks­kommando weiterhin zurückstellen würde —, hatte ich in den mir zur Verfügung stehenden eineinhalb Jahren von Anfang an konzentriert gearbeitet.

Die Konzentration auf das Studium wurde durch die Umstände sehr erleichtert. Alle Freunde waren längst eingezogen. Urlaub gab es praktisch nicht (während der jährlich auf drei bis vier Wochen verkürzten Semesterferien wurden wir zur Hilfe bei der Erntearbeit aufs Land geschickt). Öffentliches Tanzen war ebenso strikt verboten wie englische oder amerikanische »Negermusik« (womit Jazz gemeint war). In den Kinos gab es triviale Komödien und vaterländische Kriegsfilme, alles Ufa-Produktionen (die berühmten Chaplin-Filme, den Schneewittchenfilm von Disney oder auch »Vom Winde verweht« habe ich erst Jahre nach dem Kriege gesehen). Daher hatte ich mich »auf den Hosenboden setzen« können, ohne durch Ablenkungen versucht zu werden.

Es erwies sich als angebracht. Wir hatten alle sieben Fächer (außer den Hauptfächern Anatomie, Physiologie und Physiologische Chemie noch die Nebenfächer Physik, Chemie, Zoologie und Botanik) innerhalb von knapp zwei Wochen zu absolvieren, was praktisch keine Möglichkeit ließ, sich zwischen den einzelnen Prüfungen jeweils auf das nächstfolgende Fach vorzubereiten. Zu meiner großen Erleichterung bestand ich im ersten Anlauf, sogar mit einer anständigen Note. 

Eine Woche nach dem letzten Prüfungstermin fand ich mich als Rekrut in der Potsdamer Jägerkaserne wieder. Man hatte mich, was ungewöhnlich war, zu einem Infanterie-Ersatzbataillon in meiner Heimatstadt eingezogen. Jetzt lernte ich, als Neunzehnjähriger, Potsdam stilgerecht vom Kasernenhof aus kennen.

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2.12  Das »Feld der Ehre«

 

 

Es war nicht annähernd so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Meine Erinnerungen an den Reichsarbeits­dienst ließen mich auf alles gefaßt sein. In kurzer Zeit stellte sich heraus, daß die Bedingungen von Grund auf andere waren. Zwar wurden wir nach allen Regeln der Kunst »geschliffen«. Aber man legte Wert darauf, uns wissen zu lassen, daß das seinen Sinn hatte. Unser Kompaniechef persönlich machte sich die Mühe, uns ausein­ander­zusetzen, daß man auf diese Weise nur versuche, uns auf die Realität der Front vorzubereiten, um damit unsere Überlebenschancen zu erhöhen. »In der Heimat müssen die Ausbilder den Feind ersetzen«, erklärte er und kündigte offen an: »Wir werden Sie bewußt bis zur Verzweiflung treiben.«

Das beim Arbeitsdienst mit seinen sinnlosen täglichen Schikanen erworbene dicke Fell ließ es so weit, jedenfalls bei mir, dann doch nicht kommen. Aber »herangenommen« wurden wir erbarmungslos, Tag für Tag, bis zur totalen Erschöpfung. Es half, daß uns gesagt worden war, warum das geschah. Es half vor allem die Erfahrung, daß es Schikanen um der Schikane willen nicht gab. Die Atmosphäre sportlichen Wetteifers unter uns jungen Burschen tat ein übriges. Hinzu kam, daß der »formale Ordnungsdienst« (Exerzieren) auf ein Minimum reduziert war. Der größte Teil der Zeit entfiel auf Waffenkunde und Gefechtsübungen auf dem Bornstedter Feld und dem Truppenübungsplatz Döberitz. Ich gestehe, daß uns das Spaß machte.

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Die Frage, warum man sich eigentlich so sehr beeilte, uns »frontreif« zu machen, obwohl der Krieg im Augenblick gerade eine Atempause einlegte, stellten wir uns nicht. Zehn Wochen nach meiner Einberufung bekam ich die Antwort. Es war am Morgen des 22. Juni 1941, eines Sonntags. Ich lag gemütlich lesend zu Hause in meinem Bett und genoß einen der ersten Wochenendurlaube, die man uns gewährte, seit die Ausbilder uns endlich für fähig hielten, uns als Uniformierte in der Öffentlichkeit »einigermaßen wie Menschen zu bewegen«. Plötzlich verstummte die Musik in dem Volksempfänger auf meinem Nachttisch.

Nach feierlichem Fanfarengeschmetter — wie es den häufigen »Sondermeldungen« voranzugehen pflegte — verkündete eine kernige Männerstimme, daß die Wehrmacht am frühen Morgen »auf breitester Front«, unterstützt von starken Verbänden der Luftwaffe, in die Sowjetunion einmarschiert sei. Obwohl der Angriff erst wenige Stunden alt war, gab es bereits die ersten Erfolgsmeldungen: Von großen Gefangenenzahlen war die Rede und von Hunderten bei Luftangriffen zerstörten Panzern und Flugzeugen des Feindes. Es folgte eine von Motorendröhnen, dem Gerassel von Panzerketten und Geschützdonner dramatisch untermalte Reportage »direkt von der Front«.

Ich war elektrisiert. Bewunderung erfüllte mich für die Kühnheit der deutschen Heeresführung und Stolz über die Unwiderstehlichkeit der deutschen Wehrmacht. Jetzt würden wir es den Sowjetrussen zeigen, die mit ihrer verschlagenen, asiatisch-kommunistischen Mentalität eine permanente Bedrohung unserer Ostgrenze dargestellt hatten. (Ich bildete mir ein, kein Nationalsozialist zu sein, an die russische Bedrohung glaubte aber auch ich.) Damit wurde jetzt Schluß gemacht, was meinen ungeteilten Beifall fand.

Es hielt mich nicht länger im Bett. Ich lief zum Badezimmer, in dem, wie lautes Geplätscher verriet, mein Vater gerade unter der Dusche stand. Ich klopfte. »Was ist los?« kam seine Stimme unwirsch durch die Tür. Ich schrie gegen das Plätschergeräusch an ein paar Stichworte. Im Badezimmer wurde das Wasser abgestellt. »Sag das noch mal«, hieß es dann. Ich wiederholte die Radiomeldung in Kurzfassung. Es folgten einige Sekunden Stille. Danach hörte ich wieder die Stimme meines Vaters, jetzt leise, im Tonfall tiefer Trostlosigkeit: "Das ist das Ende!"

Dann wurde das Wasser wieder angestellt. Verärgert von dieser wieder einmal enttäuschend negativen Reaktion — zu Beginn des »Frankreichfeldzuges« hatte der Mann auch schon so getönt —, kehrte ich in mein Zimmer zurück.

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Beim späten Sonntagsfrühstück stellte ich meinen Vater und fragte ihn, ob er etwa nicht zugeben wolle, daß ein Sieg über Rußland, an dem ja nicht zu zweifeln sei, das von uns allen erhoffte Ende des Krieges bringen werde, weil die Engländer dann ihren letzten Bundesgenossen auf dem Kontinent verloren hätten. Er hörte mich schweigend an. Als ich fertig war, stellte er mit einer vor verhaltenem Zorn gepreßt klingenden Stimme fest: »Weißt du, wann der Krieg zu Ende sein wird? Erst dann, wenn die letzte Berliner Frau auf dem Dach ihres Hauses steht und hinter ihr ein SS-Mann, der sie mit der Pistole in der Hand zwingt, mit Dachziegeln auf die einmarschierenden Russen zu werfen. Dann ist der Krieg zu Ende und keinen Tag früher!« Da gab ich es auf, kopfschüttelnd über eine so irrwitzige Vision.

Sechs Wochen nach diesem Sonntagsgespräch war ich unterwegs an die Ostfront. Mit einem Dutzend anderer Medizinstudenten fuhr ich durch Dänemark, Südschweden* und dann von Süden nach Norden durch ganz Norwegen. Von da ging es über die norwegisch-finnische Grenze und dann wieder in Richtung Süden, nach Helsinki. Da unsere Gruppe lächerlich klein war, wurde unser alter Personenwagen an den verschiedenen Zwischenstationen einfach an irgendeinen gerade in der richtigen Richtung fahrenden Güterzug angehängt. So bummelten wir mit mehrtägigen Zwischenstopps bei herrlichem Sommerwetter zwei Wochen lang durch Skandinavien und Finnland und genossen Sonne und Landschaft.

Unsere Stimmung war blendend. Vor uns lagen sechs Monate »Frontbewährung«, die alle Mediziner abzu­leisten hatten, bevor sie zur Sanitätstruppe versetzt wurden. Wir freuten uns auf die Front. Das klingt nicht nur idiotisch, das war es auch. Aber wir wußten einfach nicht, was sich hinter diesem für uns romantisch verklärten Wort verbarg. So freuten wir uns also. Nicht auf das Töten, selbstverständlich, und erst recht nicht auf die Möglichkeit, getötet zu werden. Aber auf ein Kriegerdasein weit weg vom Kasernenhof, auf stimmungsvolle Abende am Biwakfeuer, auf spannungsreiche Spähtruppunternehmen und herzhafte Männerkameradschaft. Von der Frontleitstelle Helsinki aus wurden wir zu unserer neuen Einheit in Marsch gesetzt.

* Dänemark und Norwegen waren besetzt, Finnland mit uns verbündet. Das neutrale Schweden mußte die Durchfahrt deutscher Truppen dulden. Wir hatten während der Fahrt durch Schweden unsere Waffen abzugeben und durften den plombierten Waggon nicht verlassen.

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Es handelte sich um die 168. Infanteriedivision. Sie lag am Swir, einem Flüßchen am Ufer des Ladogasees. Der Empfang entsprach nicht ganz unseren Erwartungen. Man werde uns »die Hammelbeine schon lang ziehen«, hieß es zur Begrüßung. Ich kam zu einer Maschinengewehrkompanie und wurde sofort als »Schütze 3« eingeteilt. Den unverhohlen schadenfrohen Kommentaren meiner neuen Kameraden durfte ich entnehmen, daß mir damit die allgemein verhaßte Aufgabe zufiel, neben der eigenen Ausrüstung auch noch zwei mit Patronengurten vollgepackte Metallkästen mitzuschleppen, die zusammen einen halben Zentner wogen. Ich habe diese Kästen in den anschließenden Monaten, in denen ich sie auf stundenlangen Märschen durch Wälder und Sümpfe und über schneeverwehte Knüppeldämme zu tragen hatte, buchstäblich hassen gelernt. Kilometer um Kilometer wuchs mein Verständnis für die Leidensgenossen, die einen von ihnen (oder auch alle beide) auf derartigen Märschen »verloren« hatten (womit sie Kriegsgericht riskierten, wenn ihre Ausrede nicht überdurch­schnittlich gut ausfiel).

Eine Woche später marschierten wir an den Swir, dessen Ufer die Frontlinie bildete. Das Ganze war ein Neben­kriegs­schauplatz, ohne Panzer oder schwere Artillerie, auf finnischer wie auf russischer Seite abenteuerlich dünn besetzt. Um so größer war die — nur allzu berechtigte — Sorge vor dem Eindringen russischer Spähtrupps. Im Zusammenhang mit einer entsprechenden Vorsichtsmaßnahme erlebte ich meine »Feuertaufe«. 

Eine Einheit mit Fünf-Zentimeter-Panzerabwehrkanonen (Pak) sollte im Morgengrauen einige am anderen Ufer liegende Fischerboote zerstören, und wir sollten »Feuerschutz« geben. Morgens um vier lagen wir im Ufergebüsch auf dem Bauch, Schütze 1 und Schütze 2 mit dem schweren MG, ich daneben mit meinen Kästen, in der Hand den Karabiner. Uns gegenüber war außer den Booten, um die es ging, nichts zu sehen. Wie auf unserer Seite begann dort gleich hinter dem etwa fünfzig Meter entfernten anderen Ufer dichter Wald. Pünktlich beim ersten Sonnenstrahl fing die Pak irgendwo rechts von uns an zu feuern. Augenblicke später wurde es im Wald drüben lebendig. Zu sehen war weiterhin nichts, aber wir hörten gebrüllte Befehle und dann den uns schon bekannten Mündungsknall von Granatwerfern. Sekunden später schlug es um uns herum ein, zu weit, um uns zu beeindrucken.

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Prompt aber begann unser MG sein Dauerfeuer, und ich knallte mit meinem Karabiner in Richtung auf den Wald gegenüber. Ich hatte mir Leuchtspur­munition »organisiert« und verfolgte mit Spannung, wie meine Kugeln einen anmutigen Bogen über die Wasserfläche beschrieben, bevor sie zwischen den Bäumen verschwanden. 

So etwa hatte ich mir den Krieg vorgestellt.

Kurz darauf war alles vorüber. Die Pak-Bedienung hielt die Boote für hinreichend zerstört und stellte das Feuer ein. Minuten später herrschte wieder morgendliche Stille am Swir. Nach kurzer Vorsichtspause krochen wir aus unserer Deckung. Auf dem Rückweg in unsere Stellung stießen wir auf eine Gruppe Soldaten einer anderen Einheit, die sich um einen auf dem Waldboden liegenden Kameraden bemühte. Wir traten neugierig näher und verschafften uns damit einen gräßlichen Anblick. Dem Mann auf der Erde hatte ein Granatsplitter den Kehlkopf aus dem Hals gerissen. Die blutige Höhle sah entsetzlich aus, noch schlimmer aber war, daß der Mann, mit Armen und Beinen strampelnd, gerade dabei war, zu ersticken, ohne daß irgendeiner von uns ihm helfen konnte. 

Er hätte sich gerade, neben seinem Erdloch stehend, rasiert, erzählten uns seine Kameraden wütend, als ohne jede Vorwarnung eines der russischen Granatwerfer­geschosse neben ihm einschlug. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Einheit vorsorglich von unserer Aktion zu informieren. Schuldbewußt zogen wir weiter. Für mich bedeutete das Erlebnis einen Schock. 

So hatte ich mir den Krieg nicht vorgestellt.

In den anschließenden Wochen zerstoben alle romantisch zusammenphantasierten Kriegsabenteuer-Illusionen im Handumdrehen. Der Wirklichkeit des Kriegs­alltags hielt keine von ihnen stand. Die Monate vergingen in einem zermürbenden Wechsel von Hunger und Langeweile, totaler Erschöpfung bei immer­währendem Kampf gegen die Kälte und Augenblicken von Todesangst. Einzelheiten zu schildern erübrigt sich. Sie sind unzählige Male beschrieben worden. 

Sicher, auch in unserem Falle hatte die Obrigkeit versäumt, daran zu denken, daß es im Winter kalt wird. Winterausrüstung gab es bis in den Dezember hinein nicht. Wir tauschten das Notwendigste bei den Finnen ein. Sie waren glücklicherweise so versessen auf Alkohol, daß sie gelegentlich für eine Flasche billigen Fusels sogar ihre von uns heißbegehrten, bis über die Knie reichenden fellgefütterten Stiefel an Ort und Stelle auszogen, um, die Flasche unter den Arm geklemmt, auf Strümpfen durch den Schnee wieder nach Hause zu marschieren.

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Da wir natürlich auch keine einem Winterkrieg angemessene Tarnkleidung bekamen, enthielt der Divisions­befehl eines Tages die Anweisung, die Stahlhelme mit Zahnpasta einzuschmieren. Einer aus unserer Gruppe lief von da ab mit einem rosa gefärbten Stahlhelm durch die Schneelandschaft, da er eine Zahnpasta­marke bevorzugte, die diese Farbe hatte. Niemand nahm daran Anstoß. Der Befehl hatte keine bestimmte Farbe genannt.

Unsere Stellung bestand aus extrem niedrigen Holzbunkern. (Zum Ausheben von Unterständen war der Boden viel zu tief gefroren.) Wir konnten in ihnen zwar nicht einmal aufrecht sitzen. Aber alles andere wurde von der russischen Pak früher oder später »weggeputzt«. Immerhin ließen sich diese »Unterkünfte« mit selbstgebastelten kleinen Öfen ausreichend heizen. Unversehene Stellungswechsel zwangen uns mitunter aber auch, bei zwanzig und mehr Grad Kälte in winzigen Viermannzelten zu übernachten, eng aneinandergepreßt und gegen den Frost des Bodens durch Reisig notdürftig geschützt. An solchen Tagen gab es dann meist nicht einmal eine warme Mahlzeit, weil unsere Feldküche nicht alle im karelischen Wald weit auseinandergezogenen Teile unserer MG-Kompanie immer gleich fand.

Aber all diesen und anderen Unbilden zum Trotz erging es uns — was damals freilich niemand von uns so recht zu würdigen vermochte — vergleichsweise gut. Wir standen bloß im Stellungskrieg auf einer beiderseits äußerst dünn besetzten Nebenfront. Was sich zur selben Zeit im Mittelabschnitt der Ostfront abspielte, der sich ja in voller (Rückzugs-)Bewegung befand, muß alles überboten haben, was wir zu erleiden hatten. Verluste waren bei uns nur zu verzeichnen, wenn in unserem Hinterland wieder einmal ein unbemerkt durchgesickerter russischer Spähtrupp gestellt worden war und »ausgeräuchert« werden sollte.

Unsere Versuche, das zu tun, endeten regelmäßig mit einem schmählichen Fiasko. Wie immer wir es anstellten, jedesmal machten wir die einen »großdeutschen Soldaten« ernüchternde Erfahrung, daß die Russen uns in puncto Nahkampf unter den obwaltenden Bedingungen hoffnungslos überlegen waren. Jede dieser Unternehmungen kostete mehreren von uns das Leben, während wir die perfekt getarnten gegnerischen Scharfschützen zwar meist zu hören, aber in keinem einzigen Falle zu sehen bekamen.

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Das Ende vom Lied war stets eine kalkulierte Öffnung unseres »Einkesselungsrings« und das tatenlose Abwarten der Nacht in der unrühmlichen Hoffnung, daß der Feind die Dunkelheit benutzen und still und heimlich verschwinden würde. Natürlich tat er das in aller Regel auch, und wir hatten dann, letzter Akt, noch die kurze Helligkeit des nordischen Wintertages abzuwarten, um unsere Toten und Verwundeten abtransportieren zu können.

Aber sonst hatten wir Glück. Das galt sogar hinsichtlich unseres obersten Vorgesetzten, des General­leutnants Engelbrecht, Kommandeur der 168. Infanterie­division. Dieser ließ sich, was niemanden betrübte, nur selten bei uns sehen. Wenn er kam, genoß er seine Auftritte sichtlich. Die hochgewachsene, sehnige Gestalt in einen elegant geschnittenen Winterpelz gehüllt, die stets brennende Zigarette in einer Silberspitze steckend, mit der er seine Ansprachen energisch gestikulierend zu unterstreichen pflegte, richtete er bei diesen Gelegenheiten Worte an uns: kurze, markig gebellte Sätze, die er aus Begriffen wie »Vaterland«, »preußische Tradition«, »heimtückischer Gegner«, »Soldatenehre« und ähnlichen uns sattsam bekannten Vokabeln mühelos zusammenfügte.

Auch liebte er es, dann und wann die Anrede »Kerls!« einfließen zu lassen. Offiziell war diese zwar nicht vorgesehen. Sie schien ihm aber für erhebende Augenblicke das Gefühl einzuflößen, in der unmittelbaren Tradition Friedrichs des Großen zu stehen. Und uns tat es nicht weh. Wir betrachteten derweil mit tiefer Befriedigung das im sorgfältig geöffneten Pelzausschnitt des Generalmantels prangende Ritterkreuz, das kurz zuvor vom Führer zusätzlich sogar noch mit dem Eichenlaub garniert worden war (für Heldentaten, die so manchem in der Division das Leben gekostet hatten). In der Tat, auch damit hatten wir Glück: Der Mann war saturiert. Er litt nicht mehr an »Halsschmerzen«, wie das bei uns hieß. Kommandeure, die in dieser Hinsicht von noch unerfüllten Sehnsüchten geplagt wurden, neigten mitunter zu halsbrecherischen Einsatzbefehlen.

Die Stimmung in unserer Einheit war desungeachtet schlecht. Der schier endlose Rhythmus von einer Stunde Wachestehen draußen am MG (mehr hielten selbst unsere gar nicht zimperlichen Vorgesetzten unter den subarktischen Bedingungen nicht für zumutbar), gefolgt von vier Stunden Schlaf in unseren engen Holzkästen (in voller Montur, mit den Stiefeln an den Füßen, weil wir sonst im Alarmfall zu lange gebraucht hätten, wobei tagsüber während der Wachpausen natürlich gar nicht geschlafen werden durfte), hatte einen chronischen Schlafmangel zur Folge, der Stimmung und Nerven strapazierte.

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Der Verkehrston war gereizt. Der Umgang unter den »Kameraden« wurde von Mißgunst und rücksichts­losem Egoismus beherrscht. Streitigkeiten und Prügeleien waren an der Tagesordnung. Die Zeit schien während der endlosen Winternächte stillzustehen. Uns war, als hätte man uns dazu verurteilt, bis an das Ende unserer Tage in der karelischen Schneewüste auszuharren.

Dann aber geschah ein Wunder. 

Eines Abends, Ende Februar 1942, wurde ich in unseren weiter hinten liegenden Kompaniegefechtsstand befohlen. Ich war schon in meine hölzerne Ruhestätte gekrochen, um die knappe Schlafzeit zu nutzen, und der Melder hatte einige Mühe, mich wachzurütteln. Noch immer schlaftrunken, torkelte ich über den Schnee nach hinten. An Ort und Stelle stieß ich zu einem halben Dutzend Kameraden, die man ebenso wie mich herbefohlen hatte. Niemand wußte, was los war. Schweigend harrten wir der Dinge, die da kommen sollten. Als ich mich in dem Kreis umsah, fiel mir auf, daß alle seinerzeit zusammen mit mir zur selben Einheit versetzten Medizinstudenten dabei waren, die hier ihre halbjährige »Frontbewährung« absolvieren sollten, und ebenso alle Offiziersanwärter, für die das gleiche galt.

In mir glomm eine aberwitzige Hoffnung auf, die ich jedoch sofort unterdrückte, weil es mir einfach undenkbar erschien, daß in der Welt, in die es mich verschlagen hatte, noch irgendwelche langfristigen Planungen der Militäradministration ihre Gültigkeit hätten behalten können. Augenblicke später aber wurden meine kühnsten Hoffnungen übertroffen. Aus dem Holzbunker des Gefechtsstandes trat unser »Spieß«, gefolgt vom Kompaniechef. Beide starrten uns schweigend an, als seien wir Wundertiere. Dann sagte der Spieß mit vor Wut gepreßter Stimme: »Ihr habt ein Schwein, das ihr gar nicht verdient!« Pause. Keiner muckste sich. Dann: »Eure Frontbewährung ist beendet. Ihr seid alle nach Deutschland zurückversetzt.«

Wir brachten es fertig, keinen Laut von uns zu geben. Im nächsten Augenblick ließ militärische Regie die Szene in die übliche Hektik umschlagen. Innerhalb einer Stunde hatten wir Waffen und Munition abzugeben und abmarschfertig anzutreten. Niemand brauchte uns zur Eile anzutreiben. Als ich in der Enge unseres Holzbunkers hastig meine Siebensachen zusammenpackte, erntete ich zum Abschied noch ein paar Fußtritte von meinen »Kameraden«, die ich beim Schlafen störte. Ich hütete mich wohlweislich, sie über den Grund meiner nächtlichen Aktivität aufzuklären, und empfahl mich »auf französisch«.

Erst später, auf unserem einsamen Marsch durch die nächtliche Winterlandschaft, entlud sich unser Glücksgefühl. Der frostklare Himmel beleuchtete unseren Weg mit einem der häufigen Nordlichter. Plötzlich mischte sich in dessen ruhiges Licht das heftige Flackern weißer und roter Blitze, gefolgt vom prasselnden Geknatter von Leuchtmunition und den Feuerstößen eines MG. 

An der schon einige Kilometer hinter uns liegenden Front kam es zu einem der sporadischen Feuerüberfälle. Da brüllten wir unisono in den Winterwald: »Ohne uns!« und klopften uns ausgelassen auf die Schultern.

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