302 - Gespräche über Bäume
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Unser Haus stand unbeschädigt, und wie durch ein Wunder hatten auch Eltern und Geschwister den russischen Einmarsch und die anschließenden turbulenten Wochen unbeschadet überlebt. Zwar hatten sich in Potsdam in der ersten Zeit der Besetzung fürchterliche Szenen abgespielt (fürchterlich genug, um einen dienstuntauglich zu Hause gebliebenen Klassenkameraden zu veranlassen, sich mit seiner Familie umzubringen).
Jedoch erreichte die Vergeltung auch hier nicht die apokalyptische Totalität, mit der mein Vater fest gerechnet hatte und die er in der Überzeugung, daß unser Volk es nicht anders verdient habe, zwar sicher verzweifelt und mit aller unvermeidbaren Todesangst, aber ebenso gewiß ohne inneren Protest hingenommen hätte.
Ich wußte das seit einem nächtlichen Gespräch, das wir bei meinem letzten Potsdambesuch Weihnachten 1943 geführt hatten. Während die übrige Familie schlief, redeten wir eine ganze Nacht miteinander. Nie davor und, leider, nie wieder danach habe ich mit meinem Vater in so vorbehaltloser Offenheit reden können, nie wieder habe ich mich ihm so nahe gefühlt.
Mit unendlicher Erleichterung stellte er damals fest, daß sein Sohn endlich begriffen hatte, was ihn seit Jahren mit Verzweiflung erfüllte: die Tatsache, daß wir von Verbrechern regiert wurden, unter deren Führung wir in den von uns Überfallenen Ländern Entsetzliches anrichteten. »Sie werden, wenn das endlich zu Ende ist, von allen Seiten über uns herfallen und uns mit Zaunlatten totschlagen«, lautete seine Prognose wörtlich.
Unsere historisch unüberbietbare Schuld würde sich aber auch durch ein solches gerechtes Ende um kein Jota verringern, dessen war er genauso gewiß. Irgendwelche entlastenden Argumente vermochte er nirgends zu entdecken.
Seiner unerbittlichen Meinung nach waren wir alle schuldig, ausnahmslos mitverantwortlich für die Verbrechen, die in den Jahren nach 1933 geschehen waren und bis zur unabwendbaren Katastrophe noch begangen werden würden. Die nur kurze Zeit später einsetzende, subtil zwischen abgestuften Graden der Schuld differenzierende Nachkriegsdiskussion, die bekanntlich zu der »Einsicht« führte, daß es sich um die Verbrechen einer kleinen Minderheit gehandelt habe, der ein ganzes Volk verführter Mitläufer in blinder Dummerhaftigkeit nachgetrottet sei, erfüllte ihn nur mit Verachtung.
Seiner ohne ausweichendes Wenn und Aber operierenden, schmerzhaft harten und dabei höchst simplen Argumentation fand ich nichts entgegenzusetzen. Ich begriff, daß es keinen überzeugenden Einwand gab. Es gab nicht einmal mildernde Umstände. Seit diesem Gespräch im Dezember 1943 ist mir mit unwiderlegbarer Gewißheit klar, daß wir alle, die wir die Zeit der Naziherrschaft überlebt haben, uneingeschränkt mitschuldig geworden sind. Auszunehmen davon ist einzig und allein das winzige Häufchen derer, die aktiv Widerstand geleistet haben. Schuldig sind wir, weil wir unser Leben nicht riskiert haben.
Mein Vater artikulierte den schlichten Tatbestand mit aller Deutlichkeit: Wir wußten, daß die Nazis gegen alle geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des Rechts und der Humanität verstießen. Wir wußten, daß Deutsche ungeheuerliche Verbrechen begingen, Tag für Tag, und daß sie das fortsetzen würden, »solange diese Verbrecher am Ruder sind«. Aus diesem Wissen resultierte unser Dilemma: Es lag auf der Hand, daß Widerstand, zumindest vernehmlicher Protest, moralisch unausweichlich geboten war. Ebenso klar auf der Hand lag aber auch, daß unser individueller Protest nichts ändern würde und wahrscheinlich nur die Folge haben würde, daß wir in irgendeinem Gestapokeller verschwanden, um dort auf qualvolle Weise zu Tode zu kommen.
Das war unsere Wahl: Wir konnten trotz aller voraussehbaren Ergebnislosigkeit protestieren und uns damit, vermutlich um den Preis unseres Lebens, aller Mitschuld entledigen. Oder wir entschieden uns, weiterzuleben (weil wir, wie jeder Mensch, weiterleben wollten und weil, wie wir uns sagten, unser Opfer ohnehin nichts ändern würde), und schlugen uns damit zu der Menge derer, die das öffentliche Verbrechen passiv geschehen ließen, es somit durch schweigende Duldung ermöglichten und daher indirekt an ihm teilhatten.
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In dem klaren Bewußtsein dieser Alternative haben mein Vater und ich es vorgezogen, uns nicht der Gestapo ans Messer zu liefern, sondern weiterzuleben. Im klaren, offen ausgesprochenen Bewußtsein der Tatsache, daß wir damit eine Mitschuld auf uns luden, die uns niemand jemals wieder würde abnehmen können. Keine Schuld selbstredend, die man juristisch fassen — und sühnen — könnte. Keine Schuld, die wir uns von einem anderen würden vorhalten lassen müssen. Aber eine moralische Last, die wir von da ab zu tragen hätten und die unser Leben, sollten wir jemals der Versuchung erliegen, sie zu vergessen oder zu verdrängen, zu einer realitätsfernen, verlogenen Existenz machen würde.
Der einzige Ausweg aus dieser Zwickmühle hätte in einem Zustand völliger Ahnungslosigkeit hinsichtlich der von unserem Volk damals begangenen oder geduldeten Untaten bestanden. Das ist ohne jeden Zweifel die simple Erklärung dafür, daß die Behauptung: »Aber ich habe von alldem doch überhaupt nichts gewußt« in der Schulddiskussion nach 1945 die Rolle einer Standardentlastungsformel gespielt hat. Die Millionen, die sich dieser jämmerlichen Ausrede damals bedienten (und das heute noch tun), räumen damit indirekt selbst ein, daß sie sich mitschuldig gemacht hätten, wenn sie »es« gewußt hätten. Das aber, so behaupten sie, sei nicht der Fall gewesen.
Ein erbärmlicherer Selbstbetrug läßt sich kaum denken. Wann immer man nachfragt, stellt sich regelmäßig heraus, daß mit dem »Nichts«, von dem man keine Ahnung gehabt habe, allein die Tatsache und die grauenhaften Details des administrativ organisierten Massenmords in den Vernichtungslagern gemeint sind. Nun ist sogar einzuräumen, daß die überwiegende Majorität unseres Volkes von diesen unausdenkbaren Greueln tatsächlich erst durch die entsetzten Berichte der alliierten Soldaten erfahren haben dürfte, die diese Lager befreiten.*
Von diesen wußten auch wir in Potsdam nichts, obwohl mein Vater bis zum Kriegsende mehrmals jährlich beruflich ins neutrale Ausland reiste. Selbst in Emigrantenkreisen in den USA scheint ausweislich einschlägiger Berichte das Wissen über diese extremen Greueltaten gering oder sogar nicht vorhanden gewesen zu sein.*
Siehe zum Beispiel den Bericht von Lotte Paepcke über die Erlebnisse ihres nach New York emigrierten Vaters (»Ein kleiner Händler, der mein Vater war«, Heilbronn 1972, S. 81): »(...) mit der Nachricht, daß seine Kinder lebten (...), kam auch Nachricht aus den geöffneten Toren von Auschwitz, Treblinka, Maidanek. Kam Bestätigung von Gerüchten, denen der Vater nicht geglaubt hatte.«
Oder Ralph Giordano in seiner erschütternden Dokumentation »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« (Hamburg 1987, S. 197): »Als sicher kann gelten, daß die Mehrheit der damaligen Deutschen weder vom Umfang noch von den Einzelheiten dieser Politik (gemeint ist die NS-Ausrottungs- und Vernichtungspolitik im Osten) eine deutliche Vorstellung hatte oder haben konnte.«
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Das ändert aber nicht das geringste an der abgründigen Verlogenheit der bis auf den heutigen Tag von den Unbelehrten und Unbelehrbaren wiedergekäuten Ausrede. Denn wollen diese etwa allen Ernstes behaupten, daß »nichts« an Schandtaten und Verbrechen übrigbliebe, wenn man von der Barbarei der Nazizeit die extremen Exzesse der Vernichtungslager abzieht?
Wer die Stirn hat, sich hinter dieser jämmerlichen Ausrede zu verkriechen, muß sich fragen lassen, ob ihm wirklich verborgen geblieben ist, daß jüdische Mitbürger nach 1933 menschenrechtswidrigen Schikanen ausgesetzt waren. Daß jüdische Mitschüler seiner Kinder von den Schulen verwiesen wurden. Wem von uns kann entgangen sein, daß man sozialdemokratische und kommunistische Politiker und im Verdacht der Nazigegnerschaft stehende Beamte nach der »Machtergreifung« aus ihren Posten verjagte, daß viele von ihnen in Gefängnissen und Lagern verschwanden, wo man sie ohne ordentliches Gerichtsverfahren in »Schutzhaft« festhielt?
Nie etwas gehört von der Zerstörung, der Plünderung, der »Arisierung« jüdischer Geschäfte? Ist die Vermutung aus der Luft gegriffen oder auch nur übertrieben, daß so mancher, der heute vorgibt, »von nichts gewußt zu haben«, diese Maßnahmen unter dem Einfluß antikommunistischer und antisemitischer Vorurteile damals sogar gebilligt hat, keineswegs nur klammheimlich, sondern auch am Stammtisch? Daß gewiß nicht wenige die Beseitigung unliebsamer Konkurrenz in allen gesellschaftlichen Bereichen in erster Linie als Vorteil für die eigene Karriere begriffen? Damals besetzte ein Heer gesinnungstreuer Mittelmäßigkeit über Nacht freigewordene Positionen, die zu erklimmen sie »in normalen Zeiten« nicht die geringste Chance gehabt hätten.
Wer die Behauptung aufstellt, er habe von »nichts« gewußt, müßte glaubhaft erklären können, warum er nicht mitbekommen hat, daß in seiner beruflichen und privaten Umgebung jüdische Mitbürger scharenweise aus dem Lande gejagt und in die Emigration getrieben wurden. »Aber denen ist doch gar nichts passiert«, sagen da welche, denen dieser Satz im Halse steckenbliebe, wenn sie selbst eines Tages gezwungen wären, ihr Haus oder ihre Wohnung mit allem Inventar stehen- und liegenzulassen und mit einem Koffer und zwanzig Mark im Portemonnaie — mehr ließen die Devisenbestimmungen nicht zu — außer Landes zu gehen, um sich und ihren Angehörigen das Schlimmste zu ersparen.
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Nie einen auf ein zerschlissenes Revers genähten Judenstern gesehen? Niemals von dem unmenschlichen Druck gehört, der auf die Partner von sogenannten Mischehen ausgeübt wurde? Niemals den besonderen Klang von Ortsnamen wie Oranienburg oder Dachau empfunden, in denen schon Jahre vor dem Kriege Konzentrationslager für »politische Feinde und Volksschädlinge« eingerichtet wurden? Die Unterstellung ist absurd. Wir alle haben das gewußt. Das alles und noch viel mehr. Jeder von uns. Warum haben wir denn alle, sobald der erste Freudentaumel über Deutschlands »Wiedererstarken« abflaute, Angst gehabt, der eine mehr, der andere weniger (oder weniger offen eingestanden), wenn wir daran dachten, was einem widerfahren konnte, wenn man es an uneingeschränkter Zustimmung fehlen ließ?
Nein, wir haben den Mund gehalten und weggesehen. Es fing mit kleinen Schönheitsfehlern an, die wir gern übersahen. »Wo gehobelt wird, da fallen Späne.« Und hatte das neue Regime, das da rigoros seinen Hobel ansetzte, es nicht tatsächlich innerhalb weniger Jahre fertiggebracht, dem geschmähten, geknechteten und von niemandem respektierten Vaterland Ansehen und Geltung bei den ehemaligen Feindmächten zu verschaffen? War 1936 nicht die ganze Welt zu den Olympischen Spielen nach Berlin gekommen und hatte gestaunt darüber, was aus diesem noch vor so kurzer Zeit am Boden liegenden Deutschland inzwischen für ein starker und selbstbewußter Staat geworden war?
Wir sahen weg und schwiegen. Wir zogen die Köpfe ein, wenn die staatliche Willkür jemanden traf, und vermieden es, uns für die näheren Umstände allzusehr zu interessieren, froh darüber, wenn wir selbst ungeschoren blieben. Freude erfüllte uns auch, weil es mit uns allen wirtschaftlich bergauf ging. Wir hielten daher den Mund über die Untaten und zogen es vor, über alles andere zu sprechen. Darin besteht unsere Schuld. »Was sind das für Zeiten«, so hat Bert Brecht in seiner treffsicheren Sprache den Kern der Sache zusammengefaßt, »was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume schon ein Verbrechen darstellt, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!«
Wir ließen uns von derlei Skrupeln nicht anfechten und sprachen unbeirrt weiter über »Bäume«: über die neue Gründgens-Inszenierung in Berlin (»Kirschen für Rom«), über den nächsten Termin, an dem Furtwängler »die Philharmoniker« dirigieren sollte, wir machten Urlaubspläne und diskutierten darüber, ob es Max Schmeling gelingen werde, die Weltmeisterschaft zurückzugewinnen.
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Zwar konnte uns, wenn wir auf der Fahrt in die Ferien den Ort Oranienburg passierten, vorübergehend das unbehagliche Gefühl beschleichen, daß unsere Welt noch eine ganz andere Seite hatte. Wir ließen jedoch nicht von dem Entschluß ab, uns davon möglichst wenig stören zu lassen. Als die Entwicklung schließlich so weit gediehen war, daß alles Verdrängen nicht mehr genügte, um den Blick auf das ganze Ausmaß der eigenen Verstrickung zu verlegen, war es längst zu spät. Es ist schlimm genug, daß man an derartige Selbstverständlichkeiten heute mit Nachdruck erinnern muß.
Eine Gesellschaft, die solcher Nachhilfe bedarf, befindet sich psychisch in einer Verfassung, die zu Besorgnissen Anlaß gibt (und die jedenfalls nicht »normal« genannt werden kann). Denn es geht ja gar nicht darum — dies die nächste von den Unbelehrbaren vorgeschobene Form der Ablehnung —, »in Sack und Asche herumzulaufen« oder sich in dieser Aufmachung vor anderen Völkern in zerknirschter Selbstbezichtigung zu prostituieren. (Wer jemals mit Juden, Russen oder Polen in unbefangener Offenheit über das Thema hat sprechen können, weiß, daß er damit nur Verachtung ernten würde.)
Darum geht es nicht. Was bei Gesprächen über das Thema jedoch zu erwarten wäre — weil es für die Psyche eines gesunden Mitmenschen als »normale« Reaktion gelten muß —, das wäre ein noch spürbarer Nachhall von Entsetzen über das, was seinerzeit »vom eigenen Lager« begangen wurde. Wer zum Zeitgenossen unmenschlicher Greueltaten wurde — in die er auf diese oder jene Weise, und sei es durch duldende Passivität, auch selbst verstrickt ist — und dann hinterher glaubt, weitermachen zu können, als ob nichts geschehen wäre, der muß sich Zweifel an seiner Menschlichkeit gefallen lassen. Wer unberührt bleibt von der konkreten Erfahrung, daß aus den dunklen Untergründen der Seele des Menschen eine Hölle der Unmenschlichkeit freigesetzt werden kann, darf sich nicht wundern, wenn seine Humanitas ins Zwielicht gerät.
Daß von diesem Nachhall des Entsetzens in unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft so gut wie nichts zu spüren ist, daß jeder Hinweis auf das nachweislich Geschehene vielmehr fast zwanghaft eine Woge der Entrüstung, den Vorwurf nationaler Nestbeschmutzung und den relativierenden Fingerzeig auf das »von den anderen« begangene Unrecht auslöst, rechtfertigt daher ernste Zweifel an der Menschlichkeit unserer politischen Gemeinschaft insgesamt. Der Neandertaler, der, den Geboten der Steinzeit folgend, die Schuld der eigenen Gruppe mit einem anderen Maßstab mißt als alles selbst erlittene Unrecht, rührt sich in unseren Reihen noch immer.
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Die jährlich wiederkehrenden Pflichtrituale und Gedenkreden, etwa zum 20. Juli 1944, liefern kein Gegenargument. Man braucht sich nur daran zu erinnern, mit wie unverblümter Empörung konservative Kreise seinerzeit auf die Rede Richard von Weizsäckers reagierten, in welcher der Bundespräsident am 8. Mai 1985 anläßlich der vierzigsten Wiederkehr des Kriegsendes in wahrhaft befreiender Art aussprach, was über die Themen Verdrängung und Erinnerung, Schuld und Verantwortung in diesem Zusammenhang zu sagen war.
Der konservative Protest verstummte erst nach Wochen, als auch die Verbohrtesten erkennen mußten, wie groß der Respekt und die Anerkennung waren, mit denen das Ausland die angebliche Nestbeschmutzung durch den obersten Repräsentanten unseres Staates aufnahm. In konservativer Unbelehrbarkeit erklärte Franz Josef Strauß allerdings noch Ende 1986 markig, daß er es ablehne, »die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftspolitische Dauerbüßeraufgabe« mitzumachen. Denkbar, daß diese befremdliche Äußerung ein Bestandteil der Taktik war, mit der die CSU nach eigenem Bekunden die Wähler am äußersten rechten Rand an sich zu binden versucht. Auch das wäre, da es wieder einmal einen »Appell an den Neandertaler« darstellen würde, schlimm genug.
Die »Staatsverdrossenheit«, das oft geradezu feindselige Mißtrauen der Jüngeren dieser Gesellschaft gegenüber, von den Politikern mit — subjektiv wahrscheinlich ehrlicher — Verständnislosigkeit quittiert, ließe sich aus diesem Punkt unschwer erklären, wenn sicher auch nicht aus ihm allein. Sie empfänden unseren Staat zu Recht als nicht geheuer, wenn sich ihr Verdacht bestätigen sollte, daß die Mehrzahl seiner Bürger unberührt geblieben ist von dem Ungeheuerlichen, das sich aus unserer Mitte heraus ereignete. Wenn die unübersehbare Selbstgerechtigkeit der meisten unserer konservativen Regierungsvertreter als Ausdruck der Verstocktheit gedeutet werden müßte. Der Verdacht aber, daß es so sein könnte, drängt sich bei unzähligen Gelegenheiten auf. Ausgeräumt hat ihn bisher niemand.
3. Endlich am Anfang
Am 15. Oktober 1948 saß ich in aller Frühe im Treppenhaus der Universitätsnervenklinik Würzburg und wartete auf das Erscheinen des Chefs, um mich ihm als neuer Mitarbeiter vorzustellen.
Gefeiert wurde mein Geburtstag, von dem in der neuen Umgebung niemand etwas wußte, an diesem Tage nicht. Trotzdem empfand ich den Tag als herausgehobenes Datum. Es war für mich ein Geburtstag in einem besonderen, höheren Sinn: Kindheit und Schulzeit lagen hinter mir, ich hatte den Krieg überlebt und die Nazizeit, jetzt endlich begann für mich mein eigentliches, eigenes Leben mit einem Schritt, über den ich ganz allein, ohne den Einfluß irgendeiner Autorität oder höheren Gewalt, entschieden hatte. Nach endlosen Warte- und Vorbereitungsjahren konnte ich jetzt einen Entschluß realisieren, den ich schon während der letzten Schuljahre gefaßt hatte: eine Ausbildung und Spezialisierung als Psychiater.
In Potsdam und Berlin hatte ich in den beiden vorhergegangenen Jahren noch die vorgeschriebene Pflichtassistentenzeit absolviert, den kleineren Teil in der Chirurgie, den größeren in der Inneren Medizin. Beides war mehr oder weniger beiläufig, ohne volles Engagement geschehen. Es waren nicht »meine« Fächer. Jetzt, an meinem 27. Geburtstag in Würzburg, war es endlich soweit. Jetzt begann die ungeduldig herbeigewünschte Zeit, in der ich mich ohne Ablenkungen oder andere, störende Verpflichtungen in das Thema vertiefen konnte, das mir wichtiger war als alles andere. Man hatte mir zwar nur eine Volontärstelle — 180 Mark brutto monatlich — anbieten können. Aber das war ein Privileg in einer Zeit, in der die bezahlten Stellen knapp und die Schlangen der Anwärter so lang waren, daß sicher die Hälfte der ärztlichen Mitarbeiter ihren Klinikdienst ohne Bezahlung verrichtete, um ihre Facharztausbildung voranbringen zu können. Außerdem war mir die Frage des Verdienstes in den ersten Jahren völlig gleichgültig.
Mein Vater übrigens muß in dieser Zeit Ähnliches empfunden haben. Zu seinem kaum verhohlenen Entzücken demontierten die Russen Siemens-Plania in Berlin-Lichtenberg, das Werk, in dem er fast zwanzig Jahre lang pflichtgetreu einem ungeliebten Beruf nachgegangen war, wobei er es sogar zu einer bescheidenen Karriere gebracht hatte.
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Die chaotische Wirrnis der ersten Nachkriegsjahre enthob ihn auf diese Weise einer Berufspflicht, der er sich schon aus Rücksicht auf seine Familie aus eigenem Antrieb niemals entzogen hätte. Aber die Verhältnisse, von den meisten anderen als tief deprimierend erlebt, fügten sich auch für ihn jetzt zu einer als befreiend erlebten Situation, in der er endlich doch noch die Chance erhielt, das zu tun, wonach ihm sein Herz stand. Er schrieb sich, kaum daß sie wieder eröffnet war, als Student an der Berliner Universität ein und begann, inzwischen 53 Jahre alt, Griechisch und Latein zu studieren und im Nebenfach noch Englisch dazu. Meine Mutter fügte sich der neuen Situation verständnisvoll und einfallsreich. Sie übernahm ebenfalls eine neue Rolle: die einer »Studentenmutter«, die sich um Kost und Logis auswärtiger Studenten kümmerte, die in großer Zahl auch im elterlichen Hause wohnten und damit den Lebensunterhalt der Eltern sicherten, solange mein Vater studierte.
Nach der zulässigen Mindestzahl von Semestern legte er in Marburg, wohin meine Eltern 1947 übergesiedelt waren, das Staatsexamen ab. Anschließend übernahm er an der dortigen Universität einen Lehrauftrag, der ihm die Ausbildung von Theologen, Archäologen und Medizinern in den alten Sprachen anvertraute. Ich habe meinen Vater nie vorher so glücklich erlebt.
Wenn ich in diesen ersten Jahren meiner klinischen Ausbildung hätte erklären sollen, warum mich die Psychiatrie so mächtig anzog, hätte ich es vermutlich nicht überzeugend fertiggebracht. Heute, rückblickend, erscheinen mir die Zusammenhänge klar. Seit der frühen Schulzeit hatten mich die Naturwissenschaften gepackt. Nicht als Lehrfächer und ganz gewiß auch nicht unter einem technischen Anwendungsaspekt. Aber ich war, je älter ich wurde und je mehr ich darüber las, erfüllt von staunender Bewunderung für die rätselhafte Ordnung, die wir »die Welt« nennen (oder »die Natur« oder »den Kosmos«) und die den meisten Menschen selbstverständlich vorkommt, weil sie zuwenig darüber wissen und die Dinge einfach so nehmen, wie sie zu sein scheinen.
Die Blindheit dieser Majorität für das Wunder, in dem wir uns zwischen Geburt und Tod vorfinden — und von dem wir selbst ein lebendiger Teil sind —, hat mich zeit meines Lebens nicht zur Ruhe kommen lassen. Wann immer ich auf sie stieß, und dieser Gelegenheiten gab es deprimierend viele, spürte ich jene Art von Verzweiflung und Bedauern, die einen Musikliebhaber erfüllen, der Zeuge wird, wie Menschen bei einem Mozart-Quartett gelangweilt entschlummern.
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Da meldet sich nicht snobistische Anmaßung, die von jedermann verlangt, die eigenen Vorlieben zu teilen. Was sich in einem solchen Falle rührt, ist eher einem Schmerz vergleichbar. Dem schmerzlichen Bedauern über einen Verlust, der dem anderen widerfährt und der ihm, vermeidbar, nur deshalb zustößt, weil er gar nichts von ihm weiß. Ich habe nach meiner Zeit an der Universität zwanzig Jahre lang naturwissenschaftliche Fernsehsendungen gemacht, deren einziges Motiv der Versuch gewesen ist, diese die Seele der Menschen verarmende Barriere aus Gleichgültigkeit und Unkenntnis zu überwinden. Darüber, ob mir das, und sei es nur bei einer kleinen Minderheit von Zuschauern, gelungen ist, denke ich lieber nicht allzu häufig nach.
Aber ich muß jetzt wiederum den Versuch machen, die Faszination verständlich werden zu lassen, die von »der Welt« ausgeht, sobald man zu ahnen beginnt, was es mit ihr als unserer »Wirklichkeit« auf sich hat. Erst dann läßt sich auch überzeugend begründen, warum mich ausgerechnet die Psychiatrie schon vor dem Ende der Schulzeit zu beschäftigen begann.
4. Das Universum als Geschichte
Zu den herausragenden Entdeckungen der Naturwissenschaft unseres Jahrhunderts — es gibt nicht sehr viele vergleichbaren Ranges — gehört die von der Geschichtlichkeit des Kosmos. Das Universum ist nicht, wie der Mensch bis dahin geglaubt hatte, soweit er sich überhaupt sinnvolle Gedanken darüber machte, eine Art Gefäß. Sozusagen das größte existierende Behältnis für die Gesamtheit aller existierenden Dinge. Es ist ein alle andere Geschichte umgreifender und ermöglichender historischer Prozeß.
Das Universum hat einen Anfang gehabt (der inzwischen etwa dreizehn Milliarden Jahre zurückliegt), und es wird einmal einen »jüngsten Tag« erleben, in einer Zukunft, die nach bestem heutigem Wissen noch etwa achtzig Milliarden Jahre entfernt ist. (Der Vergleich der beiden Ziffern läßt darauf schließen, daß das Universum, gemessen an seiner Lebenserwartung, noch relativ jung ist, das heißt, daß alles, was bisher geschah, noch immer als eine Art Vorbereitung oder »Anlauf« verstanden werden könnte.)
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Vor etwa dreizehn Milliarden Jahren (die Zahlenangaben schwanken je nach den neuesten Beobachtungsdaten der Astrophysiker um einige Jahrmilliarden nach oben) wurde die Welt, in die wir durch unsere Geburt versetzt werden, in einer Art gigantischer Explosion geboren. Für das Ereignis, den dramatischen Beginn von allem, was »die Realität« ausmacht, hat sich bekanntlich der ein wenig saloppe Ausdruck »Urknall« (englisch »Big Bang«) eingebürgert. Auf den Wissenschaftsseiten der Tagespresse wird er bei gegebenem Anlaß wie selbstverständlich gebraucht, und jeder Zeitungsleser weiß ungefähr, was damit gemeint ist. Aber nur ungefähr. Denn die radikale Bedeutung, welche dem Wort »Anfang« in diesem einen, einzigen Fall zukommt, ist den wenigsten jemals aufgegangen.
Das zeigen unter anderem die nicht enden wollenden Zuschriften, in denen man die Frage vorgelegt bekommt, was denn nun »vor« dem Urknall eigentlich gewesen sei. Die Frage liegt so nahe, wie die Antwort schwierig ist. Nahe liegt sie, weil menschlicher Verstand eine zeitliche Grenze ebenso wenig denken kann wie eine Grenze im Raum (»Wie geht es hinter dem Ende des Universums weiter?«). Der erste Schritt der Beantwortung muß daher in dem Hinweis darauf bestehen, daß das »Unendliche« keineswegs eine logisch widerspruchsfreie Denkmöglichkeit darstellt*, geschweige denn eine in der Realität vorkommende Kategorie.
* Bei Schopenhauer gibt es eine hochinteressante Stelle, die das beispielhaft belegt. In seinen »Erläuterungen zur Kantischen Philosophie« (Parerga etc. 1/1, Zürich 1977) heißt es auf Seite 118ff.: »Die Zeit kann keinen Anfang haben, und keine Ursache kann die erste seyn. Beides ist a priori gewiß, also unbestreitbar.«
Und weiter: »Aber nun andererseits: wenn ein erster Anfang nicht gewesen wäre; so könnte die jetzige reale Gegenwart nicht erst jetzt seyn, sondern wäre schon längst gewesen: denn zwischen ihr und dem ersten Anfange müssen wir irgend einen, jedoch bestimmten und begrenzten Zeitraum annehmen, der nun aber, wenn wir den Anfang leugnen, d.h. ihn ins Unendliche hinaufrücken, mit hinaufrückt. (...) Dem widerstreitet nun aber, daß sie (die jetzige Gegenwart) doch jetzt ein Mal da ist und sogar unser einziges Datum zu der Rechnung ausmacht (...) weil nun aber doch die Zeit selbst durchaus keinen Anfang gehabt haben kann; so ist allemal bis zum gegenwärtigen Augenblick eine unendliche Zeit, eine Ewigkeit, abgelaufen: daher ist dann auch das Hinaufschieben des Weltanfangs ein endloses.«
(Hervorhebungen im Original) Der Ausweg aus diesem Labyrinth von Antinomien, in dem sich alle (weltlichen!) Philosophen bis vor wenigen Jahrzehnten unweigerlich verfangen mußten, wird noch zur Sprache kommen. Es waren, wie nicht unbeachtet bleiben sollte, zwei naturwissenschaftliche Lehren, die Relativitätstheorie und die evolutionäre Erkenntnistheorie, welche die Philosophen aus der jahrtausendealten Sackgasse befreiten!
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Dies ist einer der lehrreichen Fälle, bei denen wir darauf stoßen, daß die Welt (die Realität, die Wirklichkeit) nicht in allen ihren Eigenschaften deckungsgleich ist mit dem, was wir uns vorzustellen vermögen.
Die Auflösung des berühmten »Olbersschen Paradoxons« durch die moderne Astrophysik hat sogar zu der Erkenntnis geführt, daß die — räumliche und zeitliche — Endlichkeit der Welt für uns alle eine alltäglich erlebbare, sehr handgreifliche Konsequenz hat. Denn wäre die Welt unendlich groß und alt, dann könnte es nachts nicht dunkel werden. Der Bremer Arzt und geniale Amateurastronom, der dem Paradoxon seinen Namen gab, war Anfang des vorigen Jahrhunderts durch Berechnungen und theoretische Überlegungen zu dem Ergebnis gekommen, daß — eine etwa gleichmäßige Verteilung aller Sterne im Weltraum vorausgesetzt — in einem unendlich großen Weltall aus dem Blickwinkel des Betrachters an jedem Punkt der Himmelskugel eine unendlich große Zahl von Sternen hintereinander stehen würde. Dadurch aber müßte die durch zunehmende Entfernung bewirkte Helligkeitsabnahme dieser Sterne nicht nur ausgeglichen, sondern sogar »überkompensiert« werden. Das aber müßte, so folgerte Olbers unwiderlegbar weiter, zur Folge haben, daß jeder Punkt der Himmelskugel so hell strahlte wie die Sonne, so daß es auch nachts auf der Erde »taghell« bleiben würde.
Sosehr die Astronomen damals auch rechneten, sie fanden keine Lücke in der Argumentationskette des Bremer Sternliebhabers. Auf der anderen Seite aber war ebensowenig zu bestreiten, daß es an jedem Abend dunkel wurde, sobald die Sonne unter dem Horizont verschwand. Wie war der Widerspruch aufzulösen? Olbers selbst behalf sich schließlich mit der Annahme, daß es im Weltall riesige Dunkelwolken geben müsse, die das Licht sehr entfernter Sterne abdeckten.
Solche Dunkelwolken wurden später tatsächlich auch nachgewiesen. Sehr schnell aber stellte sich heraus, daß auch ihre Existenz keineswegs genügte, das von Olbers entdeckte Problem aufzulösen. Denn wenn die Welt nicht nur unendlich groß, sondern auch unendlich alt war — was vor Einstein jedermann für selbstverständlich hielt —, dann mußte das Licht auch der entferntesten Sterne diese Dunkelwolken im Ablauf unendlich langer Zeiträume längst so stark aufgeheizt haben, daß auch sie nicht mehr »dunkel« sein konnten, sondern selbst so hell strahlen mußten wie die Sterne hinter ihnen. Die Auflösung des Rätsels gelang erst der modernen Astrophysik.
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Ihre Antwort auf die Frage von Olbers lautet: Die Welt ist nicht unendlich groß, und sie ist nicht unendlich alt. (Es gibt eine ganze Reihe astrophysikalischer Beobachtungsdaten, auf die sich diese Aussage stützen kann.*) An jedem Abend, wenn es dunkel wird (und wir in äonenlanger Anpassung an die stete Wiederholung des Tag-Nacht-Rhythmus müde werden und ins Bett gehen), erleben wir folglich — auch wenn die wenigsten von uns davon jemals erfahren — den handgreiflichen Beweis dafür, daß unsere Welt einen Anfang gehabt haben muß.
In den letzten Jahren haben die Experten — nicht zuletzt mit Hilfe der modernen Großrechner, die ihnen erst eine leidlich verläßliche Auswahl unter der unübersehbaren Vielzahl der verschiedenen in Frage kommenden Modellannahmen ermöglichten — ein erstaunlich detailliertes Bild der Kette von Ereignissen rekonstruieren können, mit denen unsere Welt »aus dem Nichts« in die Erscheinung trat und die im weiteren Verlauf alles aus sich hervorgehen ließen, was es heute gibt.**
»Aus dem Nichts« — auch wenn sich das kein Mensch jemals wird vorstellen können: Vorher gab es nichts. Es gab, wenn man es genau betrachtet, nicht einmal ein Vorher, denn auch die Kategorie Zeit entstand erst in diesem Augenblick. Alles in allem also eine empirische Konvergenz von verblüffender Exaktheit mit der von den Weltreligionen seit Jahrtausenden behaupteten »Creatio ex nihilo«. Und nicht zuletzt die einzig sinnvolle (wenn unserem Verstand auch unvorstellbare) Antwort auf die Frage, was vor dem Anfang der Welt war: nichts.
Und zu alledem ein erster Hinweis auf den Ausweg aus dem von Schopenhauer so anschaulich geschilderten logischen Irrgarten: Es gab doch, allen »a priori feststehenden Einsichten« zum Trotz, auch einen »Anfang der Zeit«. Vorstellbarkeit und »gesunder Menschenverstand« sind eben keine wegweisende Kriterien bei der Suche nach der wahren Natur der Welt — das ist eine in aller Schärfe erst von der modernen Naturwissenschaft formulierte Einsicht. Wäre es anders, wäre das Wesen der Welt identisch mit dem Bild, das sich unser Kopf von ihr zu machen pflegt, dann könnten wir auf alle naturwissenschaftliche Forschung getrost verzichten.
* Wer sich für Einzelheiten interessiert, findet sie unter anderem (die Literatur ist riesig) in dem Buch von Rudolf Kippenhahn: »Licht vom Rande der Welt. Das Universum und sein Anfang« (Stuttgart 1984).
** Für Interessierte: Steven Weinberg, »Die ersten drei Minuten. Der Ursprung des Universums«, München 1977
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Wie es vom Augenblick der Weltentstehung an weiterging, hat sich mit Hilfe der modernen Großrechner bereits skizzenhaft rekonstruieren lassen. Mit diesen Geräten ist es möglich, unzählige alternative Ausgangs-»Modelle« — mit probeweise eingesetzten Anfangstemperaturen, Reaktionshäufigkeiten zwischen den verschiedenen aus dem »Urplasma« hervorgehenden subatomaren Partikeln usw. — durchzurechnen und ihre Ergebnisse mit heutigen Beobachtungsdaten zu vergleichen. Zu erklären war zum Beispiel, warum rund sieben Prozent aller heute im Weltall existierenden Atome Heliumatome sind, während fast der ganze Rest aus Wasserstoff besteht, der lediglich in geringem Grade mit schwereren Elementen (Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Eisen, Blei bis zum Uran) durchsetzt, man möchte fast sagen, »verschmutzt« ist.
Wir glauben heute zu wissen, wie es dazu kam.
Wenige Sekunden nach dem Anfang der Welt muß in dem sich mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnenden (und entsprechend schnell abkühlenden) Feuerball ein mehrere Minuten anhaltender thermischer Gleichgewichtszustand entstanden sein, während dessen sich Abkühlung und Aufheizung (durch die jetzt einsetzenden Teilchenprozesse: Umwandlungen von Elektronen, Positronen und anderen Elementarteilchen ineinander oder zurück in Photonenstrahlung) etwa die Waage hielten. Die Temperatur betrug dabei etwas weniger als eine Milliarde Grad. Das war genau die »richtige« Temperatur, bei der Protonen und Neutronen zu Heliumkernen »fusionieren«. Schon einige Minuten später aber war die für derartige Verschmelzungsvorgänge erforderliche Temperatur unter die kritische Grenze auf »nur« noch einige Millionen Grad gefallen. Die Phase hatte, wie die Computer ausrechneten, gerade so lange gedauert, daß etwa sieben Prozent der vorhandenen Protonen sich durch ihre Verbindung mit Neutronen in Heliumkerne umwandeln konnten, während alle übrigen Protonen unverändert blieben und im weiteren Verlauf Elektronen einfingen, was sie zu Wasserstoffatomen werden ließ.
Diese beiden Elemente also waren die einzigen, die aus dem Feuerball des Anfangs hervorgingen. Nach ihrer Entstehung gab es keine Temperaturen mehr, die weitere, schwerere Elemente durch Verschmelzung hätten entstehen lassen können: sieben Prozent Helium, sonst nur Wasserstoff, das war das ganze Material, das für die Erbauung der Welt zur Verfügung stand.
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Das waren die beiden Elemente, aus denen alles hervorgehen sollte, was es heute gibt. Es gehört zu den größten und ganz und gar unerklärbaren Wundern unserer Existenz, daß das möglich war. Daß ein so unüberbietbar bescheiden wirkendes Ausgangsmaterial genügte, um — unter dem Einfluß der ebenfalls mit dem Urknall wirksam gewordenen Naturgesetze — eine ganze Welt aufzubauen. Aber im weiteren Ablauf des Geschehens zeigte sich, daß die Möglichkeiten, die in der Struktur dieses so simpel erscheinenden Wasserstoffatoms steckten, schier unerschöpflich waren.*
Bis dahin vergingen allerdings gewaltige Zeiträume, während derer sich der Zustand des neugeborenen Kosmos nicht entscheidend änderte, wenn man einmal davon absieht, daß er sich selbstverständlich permanent weiter ausdehnte. Im Laufe der Jahrmilliarden aber wurde diese Expansionsbewegung allmählich langsamer, bis sie schließlich ein Tempo angenommen hatte, das eine andere Naturkraft zur Wirkung kommen ließ: die Schwerkraft. Unter deren Einfluß begannen sich die turbulenten Wasserstoffwolken, von denen der expandierende Kosmos erfüllt war, infolge ihres Gewichts langsam zusammenzuziehen.
Dabei gerieten sie auch noch in zunehmend rasche Rotation (da sie ihres unregelmäßigen Baus wegen nicht auf einen allen ihren Teilen gemeinsamen Schwerpunkt zustürzten). Diese Kreiselbewegung wiederum hatte zur Folge, daß sie sich abflachten, bis zuletzt rotierende flache Scheiben entstanden waren — die Keimzellen der heute im Weltall verstreuten Galaxien (»Milchstraßensysteme«). Noch immer bestanden sie aus reinem Wasserstoffgas, dem der erwähnte geringe Anteil an Helium beigemischt war.
Dann aber bewirkten lokale Schwerkraftzentren in ihrem Inneren die Bildung von immer zahlreicheren »Tochterwolken«, die sich — wiederum unter der Einwirkung ihres Gewichts — so stark zusammenzogen und dabei verdichteten, daß in ihrem Zentrum Drücke von 200 und mehr Milliarden Tonnen und Temperaturen von 15 Millionen Grad auftraten (diese beiden Werte wurden für das Zentrum unserer Sonne berechnet).
* In meinem Buch »Im Anfang war der Wasserstoff« (Hamburg 1972) habe ich diese Geschichte in allen Einzelheiten erzählt.
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So, nimmt man heute an, entstanden die Sterne der ersten kosmischen Generation: noch immer Gebilde aus reinem Wasserstoff. Die extremen Bedingungen im Zentrum dieser Protosterne setzten jetzt aber erneut Kern Verschmelzungsprozesse in Gang. Sterne sind nicht nur lebenspendende Zentralgestirne (wenn sie von Planeten umkreist werden), ihre erste und noch wichtigere Rolle ist die von »Elementenfabriken«. In der atomar glühenden Hölle ihres Zentrums werden Wasserstoffkerne zu den Atomkernen der übrigen, schwereren Elemente »zusammengebacken« (fusioniert): Hier, und nur hier, konnten die übrigen einundneunzig Elemente entstehen, aus denen die Welt, wie wir sie kennen, sich zusammensetzt.
Dazu aber mußten die in den Zentren dieser frühen Sonnen produzierten Elemente zuerst einmal wieder freigesetzt werden. Dies geschah (und geschieht heute noch) infolge gewaltiger Sternexplosionen (Nova- und Supernovaexplosionen), die sich unter bestimmten Bedingungen ereignen, wenn der Wasserstoffvorrat im Zentrum des Sterns erschöpft ist und das atomare Feuer erlischt. Damit nämlich entfällt der von innen nach außen drängende Druck der atomaren Glut, das Schicksal des Sterns wird jetzt nur noch von der inneren Gravitation seiner gewaltigen Masse bestimmt, und es kommt »implosionsartig« zum »Gravitationskollaps«. Ein Stern kann dabei bis zu zehn Prozent seiner Masse als Explosionswolke an den freien Weltraum verlieren.
Diese Wolken, deren Kontraktion früher oder später zu der Entstehung neuer Sterne (und Planeten) führen kann, enthält nun jene bisher im Kosmos nicht vorhandenen Elemente, die wir in der uns bekannten Welt nachweisen können. Es ist ein seltsamer Gedanke: Alle Materie, die wir um uns vorfinden, alle Objekte, mit denen wir alltäglich umgehen, die Materie unserer eigenen Leiber nicht ausgenommen, besteht aus Atomen, die einst im Zentrum von Sonnen »zusammengebacken« worden sind, die einer Sterngeneration angehörten, die vor unausdenkbar langer Zeit zugrunde gegangen ist. Genauer gesagt: Ohne deren Untergang nichts von alledem hätte entstehen können, was uns täglich umgibt. In der Tat, der Aufwand, den der Kosmos getrieben hat, um die Voraussetzungen unserer Existenz zu schaffen und der unserer Alltagswelt, übersteigt alles unserer Vorstellung zugängliche Maß.
Noch immer aber ist die Zahl der Wunder und ungelösten Rätsel nicht vollständig genannt, welche wir heute, Äonen später, als unabdingbare Voraussetzungen unserer Welt zu entdecken beginnen.
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In den letzten zehn Jahren fielen den Kosmologen eigenartige Beziehungen auf, die zwischen bestimmten mit dem Urknall verwirklichten »Naturkonstanten« bestehen und der Evolutionspotenz des mit ihnen anhebenden Prozesses der Weltentstehung.
Als erstes stießen sie auf eine bemerkenswerte Besonderheit der »Gravitationskonstante«. Die Schwerkraft wirkt zwar über kosmische Entfernungen hinweg und bündelt ganze Milchstraßenensembles zu Haufen, die sich um ihren gemeinsamen Schwerpunkt drehen. Andererseits aber ist sie im Vergleich zu den das atomare Feuer im Sternzentrum in Gang haltenden — und nur über atomare Distanzen hinweg wirkenden — Kernbindungskräften erstaunlich schwach — etwa um den Faktor 1040 (das ist eine Zehn mit vierzig Nullen!) schwächer. Diese Relation erwies sich nun bei näherer Betrachtung als von wahrhaft existentieller Bedeutung für die Lebensdauer eines Sterns und damit für den Kurs, den die weitere kosmische Entwicklung einschlug: Sterne sind letzten Endes frei im Raum schwebende Kernfusionsreaktoren, die von dem Gewicht ihrer Masse zusammengehalten werden. Der im Inneren eines Sterns entstehende Strahlungsdruck würde ihn sofort in einer gewaltigen Explosion auseinanderfliegen lassen, wenn zwischen diesem Druck und der Sternmasse kein Gleichgewicht bestände.
Das in unserem Universum herrschende, durch den Faktor 1040 ausgedrückte Verhältnis zwischen Kernbindungskräften und Schwerkraft hat nun zur Folge, daß die Masse eines Sterns vergleichsweise riesig sein muß, damit dieses Gleichgewicht gewährleistet ist. Damit aber ist auch der als atomarer Brennstoff verfügbare Wasserstoffvorrat im Sternzentrum riesig, groß genug jedenfalls, um dem ganzen Gebilde eine nach Jahrmilliarden zählende Lebensdauer zu verleihen. Nur im Lichte von Sonnen aber, deren Strahlung über Zeitspannen dieser Größenordnung konstant bleibt, kann sich die weitere Entwicklung vollziehen: über die Entstehung bewohnbarer Planetenoberflächen bis zum Einsetzen erst einer chemischen und danach einer biologischen Evolution.
Wäre die Gravitation nicht um den Faktor 1040, sondern etwa »nur« um den Faktor 1030 schwächer ausgefallen (immer noch ein riesiger Betrag), dann hätte ein typischer Stern nur noch ein Billiardstel (10-15) der Masse unserer Sonne (weil sein Gesamtgewicht schon dann den von innen drängenden Strahlungsdruck ausbalancieren würde).
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Ein solcher kosmischer Winzling wäre schon nach einem Jahr am Ende seines Wasserstoffvorrats und damit seiner Lebenszeit angelangt. Daß in einem Universum mit Sonnen dieser Charakteristik niemals Leben hätte entstehen können, bedarf keiner Erläuterung. Aber die Relation beträgt eben nicht 1030, sondern 1040 — just der Betrag, der unserem Universum die Fähigkeit verlieh, sich im Laufe langer Zeiträume mit Leben erfüllen zu können. Zufall?
Man beginnt an der Möglichkeit bloßen Zufalls zu zweifeln, wenn man erfährt, daß die Experten in den letzten Jahren einige weitere Koinzidenzen dieser Art entdeckt haben. Beispiele: Auch die Expansionsbewegung des Kosmos (der »Schwung« sozusagen, den er bei der Urexplosion mitbekam, aus der er hervorging) durfte keineswegs beliebig ausfallen. Bei einer geringeren Ausdehnungsgeschwindigkeit als der von den Astronomen heute gemessenen hätte die Gravitation schon früh die Oberhand gewonnen und das Universum kollabieren lassen, bevor sich Nennenswertes in ihm hätte ereignen können. Und eine deutlich schneller ablaufende Expansionsbewegung hätte die Gravitationskräfte überspielt und verhindert, daß sich unter ihrem Einfluß die chaotischen Wasserstoffwolken des Anfangs zu den Keimen von Galaxien und Protosternen zusammenzogen.
Weiter: Würden die Kernbindungskräfte innerhalb des Atoms nur geringfügig neben dem Wert liegen (oberhalb oder unterhalb von ihm), den unsere Physiker heute als feststehende »Naturkonstante« registrieren, niemals hätten die Fusionsprozesse in Gang kommen können, vermittels derer die uns bekannten Elemente in den Zentren der Sonnen produziert wurden. Bis auf den heutigen Tag und bis in alle Zukunft gäbe es dann im Universum nur Wasserstoff und sieben Prozent Helium — zuwenig für eine der tatsächlich abgelaufenen kosmischen Geschichte vergleichbare Entwicklung.
Wie sind alle diese (und noch einige weitere) »Zufälligkeiten« zu erklären, die den Verlauf einer Entwicklung geprägt haben, die bis zu uns führte und zu der Tatsache, daß wir uns über ihre tieferen Gründe heute den Kopf zerbrechen können? Bedingungen, die sich im nachhinein als unerläßliche Voraussetzungen zur Entstehung unserer Welt und unserer Existenz erweisen und die zu diesem Zweck auch noch innerhalb sehr enger Grenzen erfüllt sein mußten? Dem Gläubigen fällt die Antwort leicht: Gott hat es so gefügt. Ein Wissenschaftler aber muß hier passen. Die Frage zielt ja auf die Bedingungen und Regeln, unter denen der Anfang der Welt sich vollzog. Auf sie aber kann kein Mensch eine rationale Antwort geben. Denn menschlicher Verstand ist auf die Analyse der Realität beschränkt, die aus dieser. Anfangsbedingungen hervorging.
Der berühmte Physiker Freeman Dyson hat trotzdem versuchsweise eine wunderschöne Antwort formuliert, die aber natürlich nicht wissenschaftlichen Charakter beansprucht, sondern eher poetisch zu verstehen ist. (Aber auch die Poesie enthält mitunter ja tiefe Einsichten). Dyson sagte: »Es ist fast so, als ob das Universum gewußt hätte, daß es uns eines Tages geben würde.«
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