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Teil 4  -  Der kosmische Hintergrund  -   Bilanz  

401 - Vor der letzten Grenze 

 

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Gelegentlich geht mir die Frage durch den Kopf, welcher Instanz (welchem Gesetz, welchen Zusammen­hängen) ich es wohl zuzuschreiben habe, daß der Augenblick meiner Existenz gerade in dieses Jahrhundert und in diese Region Westeuropas gefallen ist. Warum bin ich nicht zur Zeit Napoleons oder Karls des Großen »zur Welt gekommen« oder noch früher, womöglich im Athen der klassischen Antike oder gar in der Steinzeit? Und warum nicht erst in 500 Jahren?

Die Zeit, in der man »lebend« existiert, wird nur einmal gewährt und ist zudem (wenn nichts dazwischen­kommt) in aller Regel auf siebzig bis achtzig Jahre befristet. Es ist, wenn man den riesigen zeitlichen Raum bedenkt, der in Betracht kommt, nur ein verschwindend kurzer Augenblick, für den man seinen Kopf in die »Welt« genannte Szenerie hineinsteckt. 

Welcher Ursache verdanke ich es, daß es mir erspart geblieben ist, diese einmalige Frist als halbverhungerter Obdachloser in einem südamerikanischen Slum verbringen zu müssen, in Frankreich während des Hundertjährigen Krieges* oder in einer der anderen trostlosen Situationen, an denen die Historie so reich ist?

Warum gerade hier und heute?

Wenn ich den Fall nicht aus subjektiver Perspektive anvisiere (aus der er ein Geheimnis bleibt), sondern natur­wissenschaftlich, wenn ich also von mir als bewußt lebender Person abstrahiere und mich gleichsam »von außen« als objektiv existierenden Organismus betrachte, fällt die Antwort auf diese Fragen leicht.

Der Leib, den ich als den meinen erlebe, ist, wovon auf den ersten Seiten dieses Buches schon die Rede war, wie jeder biologische Organismus das Produkt einer absolut einmaligen Kombination von einigen hundert­tausend Erbmolekülen (Genen). Wann und wo diese besondere, aus rein statistischen Gründen unwieder­hol­bare Kombination von Genen, die ich als die körperliche Grundlage meiner individuellen Existenz anzusehen habe, im Ablauf der Erdgeschichte verwirklicht werden würde, war unvorhersehbar und blieb dem Zufall überlassen.

* Dessen chaotisch-deprimierende Alltagswirklichkeit die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman in ihrem berühmten Buch <Der ferne Spiegel: Das dramatische 14. Jahrhundert> (1980) mit beklemmender Anschaulichkeit beschrieben hat.


Wie übrigens auch die Frage, ob dieses spezielle Muster, dessen Wahrscheinlichkeit a priori fast gleich Null war, im Rahmen der kosmischen Zeit überhaupt entstehen würde. Wenn nicht, dann hätte ich, solange die Welt steht, niemals existiert. Der Zufall hat es anders gefügt. Auch in diesem Fall nicht der »reine« Zufall, Gott bewahre! Es mußten vielmehr ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit meine Existenz eine Chance bekam.

Die Möglichkeit der Entstehung gerade »meines« genetischen Zufallsmusters war abhängig vom Ergebnis aller vorangegangenen Schritte der letztlich dann zu »mir« führenden Erbgänge in der Vergangenheit. Damit dieses (mein) Muster entstehen konnte, und sei es »aus Zufall«, mußten die Elemente vorhanden sein, deren Kombination es ist. Deren Werdegang unterlag seinerseits den gleichen Zufallsprozessen, so daß auch hier bei jedem Schritt »Zufall und Notwendigkeit« (die zufallsbestimmte Auswahl aus dem jeweils vorliegenden limitierten Angebot) wieder Hand in Hand gingen. Irgendwann passierte es dann, und aus dem äonenlangen Lotteriespiel kam »mein« Muster heraus. In diesem Augenblick war über das Wann und Wo meiner Existenz ein für allemal entschieden. Aus objektiver Sicht also enthält der Fall keine Probleme.

Sobald man die Angelegenheit jedoch aus der uns eigentlich interessierenden subjektiven Perspektive betrachtet, entpuppt sich die statistische Antwort als unbefriedigend. Dann sind nicht mehr lediglich die konkreten Umstände der Existenz eines beliebigen objektiven (austauschbaren) Organismus zu erklären.

Dann frage vielmehr ich danach, warum ich hier und heute lebe. Die statistische Antwort darauf genügt mir nicht mehr, weil sich mir jetzt sofort die Nachfrage aufdrängt, was denn gerade diese eine individuelle Genmuster­kombination (und nicht jene oder irgendeine andere aus dem quantitativ nicht mehr überschaubaren historischen Angebot) unwiderruflich zu »meinem« Genom macht.

Anders gesagt: Aus subjektiver Perspektive stehe ich nunmehr vor der Frage nach dem Wesen des Zusammenhanges zwischen einem bestimmten Genmuster und dem Ich, als das sich sein Besitzer erlebt. Noch anders gefragt: Warum ist mein Ich-Erlebnis gerade an dieses eine, hier und jetzt realisierte Genmuster gebunden anstatt an irgendeines der unzähligen anderen historisch verwirklichten Muster? 

Mit dieser Frage stehen wir wieder da, wo wir waren. 
Wir sind keinen Schritt weitergekommen.

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Die Frage, warum meine Lebensspanne und die aller meiner Zeitgenossen ausgerechnet in diesen von uns gemeinsam erlebten Geschichtsausschnitt fällt, weshalb also gerade er zu unserer Gegenwart geworden ist (und nicht irgendein anderer in Vergangenheit oder Zukunft gelegener historischer Augenblick), erweist sich aus der — uns existentiell allein interessierenden — subjektiven Perspektive als unbeantwortbar. Sie zielt auf ein Geheimnis.

Wie auch immer: Ich hatte mich, wie jeder andere, abzufinden mit den konkreten Lebensumständen, in die ich mit dem Beginn meiner Existenz von Mächten und Zusammenhängen hineinversetzt worden bin, die ich nicht durchschaue und die sich nach meinen Wünschen nicht erkundigt haben. Was das Ergebnis ihres Wirkens anbetrifft, habe ich allerdings keinen Grund, mich zu beklagen. Ich tauchte an einem Oktobertag des Jahres 1921 in der Hauptstadt der Weimarer Republik aus dem »Nichts« auf, überstand eine barbarische Geschichtsepoche, während deren die Gemeinschaft, der ich qua Geburt angehöre, dem nazistischen Wahnsystem verfallen war, und einen mörderischen Krieg, der sie davon gewaltsam — und leider nicht durch Überzeugung — wieder befreite. Anschließend, also während des bei weitem größten Teils meiner Lebenszeit, bekam ich die Gelegenheit, mich den geistigen Aktivitäten hinzugeben, die genetische Mitgift und mitmenschliches Umfeld mir als unstillbare Passion eingepflanzt haben.

Ich bin mir darüber im klaren, daß ich mich im Vergleich zu einer bedrückend großen Mehrheit als bevorzugt anzusehen habe. Ich bin nicht, wie mehr als ein Drittel der gleichzeitig mit mir auf der Erde lebenden Menschen, chronisch unterernährt. Ich muß nicht, wie ein noch größerer Anteil der Weltbevölkerung, in Armut am Rande der Elendsgrenze vegetieren. Ich bin in eine Erdregion hineingeboren, in der die Gewährleistung der physischen Existenzgrundlagen als selbstverständlich gilt. Diese Tatsache und der Komfort der äußeren Lebensumstände in einem entwickelten Industrieland haben es meiner Frau und mir erlaubt, unseren Kindern eine für die Entfaltung ihrer Anlagen gedeihliche Kindheit zu verschaffen. Mir haben sie die Freiheit eröffnet, meine geistigen Bedürfnisse und Interessen in Muße und ohne nennens­werte Störungen pflegen zu können.

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Das alles ohne irgendeinen Anspruch darauf oder gar eigenes Verdienst. Wiederum lediglich als Zufallsresultat der großen Lotterie, deren Regeln niemand von uns durchschaut. Es sei, obwohl sich das eigentlich von selbst versteht, dennoch ausdrücklich hinzugefügt, daß auch mir die übliche gehörige Portion an Sorgen und Ängsten keineswegs vorenthalten (und dazu mehr als die übliche Portion an Krankheiten und körperlichen Schmerzen zugeteilt) worden ist, damit die Sache sich nicht rosiger ausnimmt, als sie es war. Alles in allem aber Gründe genug, dankbar und beschämt zu sein.

 

Kein Grund zur Klage auch ergibt sich aus der unabweisbaren Einsicht, daß ich die mir zugemessene Lebenszeit mit Sicherheit schon zum weitaus größten Teil »verbraucht« habe. Natürlich ist mir der Gedanke an deren bevorstehendes Ende so wenig lieb wie jedem anderen Menschen. Aber ich kann mich über diese Tatsache nicht in der Weise entrüsten wie über irgendwelche Schicksalsschläge. Diese wecken ja deshalb Empörung in uns, weil sie die Betroffenen aus der mitmenschlichen Gemeinschaft gleichsam herausgreifen und einer speziellen Behandlung aussetzen. Davon aber kann beim »natürlichen« Tod nicht die Rede sein. Das Problem der Privilegierung oder Benachteiligung existiert ihm gegenüber nicht. Jeder kommt an die Reihe. Natürlich ängstigt mich der Gedanke an mir vielleicht bevorstehende Umstände des Sterbens. Man kann einen leichten Tod haben oder auch nicht. Der Tod selbst, das Aufhören meiner bewußten Existenz, ist für mich jedoch nicht mit Angst verbunden. Die Gewißheit, daß ich in einem der kommenden Jahre in das »Nichts« werde zurückkehren müssen, aus dem ich 1921 plötzlich »in diese Welt kam«, enthält für mich weder Angst noch Schrecken. Auch deshalb nicht, weil über dieses besondere »Nichts« paradoxerweise noch einiges zu sagen sein wird.

Frei von Emotionen bin ich angesichts des Bevorstehenden aber auch nicht. Das Gefühl, das mich angesichts meines in nicht allzu ferner Zukunft zu erwartenden Todes erfüllt, ist eine Mischung aus Ärger und Zorn. Es ist der Zorn über die Zumutung, die ich darin sehe, daß ich in der kurzen mir gewährten Lebenszeit zwar Gelegenheit hatte, die Tiefe des Geheimnisses zu ahnen, das sich hinter der Existenz und der so staunenswert verlaufenden Geschichte des Universums verbirgt, daß ich aber nicht die geringste Chance habe, das jemals zu verstehen, was mich in den wenigen Jahrzehnten meiner Lebenszeit als »Welt« umgab. Es erbost mich mehr, als ich sagen kann, zu wissen, daß ich sterben werde, ohne eine Antwort bekommen zu haben auf meine Fragen nach dem Geheimnis des vor meinen Augen liegenden Kosmos und den Gründen meiner Existenz.

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Konrad Lorenz sagte im Verlaufe eines unserer zahlreichen Gespräche einmal, daß er Jahre seines Lebens dafür hergeben würde, um zu erfahren, wie die Lebewesen aussähen und organisiert seien, welche die Evolution auf den Planeten anderer Sonnen hervorgebracht habe. Er hat es bis zu seinem Tode nicht erfahren, was auch immer er für die Antwort einzusetzen bereit gewesen wäre. (Wäre er ein paar Jahrhunderte später auf die Welt gekommen, hätte die Sache vielleicht anders für ihn ausgesehen.) Albert Einsteins größter Wunsch war es nach eigenem Bekenntnis zu wissen, wie Gott die Welt erschaffen habe. »Ich bin nicht an diesem oder jenem Phänomen interessiert oder an dem Spektrum irgendeines chemischen Elements. Ich möchte Seine Gedanken wissen.« Er starb 1955, ohne daß jemand sie ihm offenbart hätte.

 

Wir haben eine nach Jahrmilliarden zählende Vergangenheit im Rücken, deren Geschichte die moderne Naturwissenschaft wenigstens in ihren wesentlichen Umrissen nachzuzeichnen vermocht hat. Das ist einer der Gründe, aus denen ich tief dankbar dafür bin, nicht schon vor Jahrhunderten auf die Welt gekommen zu sein. Es ist eine erschütternde Vorstellung für mich, daß Männer wie Plato, Galilei oder Kant bereit gewesen sein dürften, Lebensjahre für das Wissen herzugeben, das jedem von uns heute unverdient in den Schoß fällt und das die wenigsten richtig zu würdigen wissen (sofern sie es überhaupt zur Kenntnis nehmen). Ihnen gegenüber sind wir in einem geradezu unglaublichen Maße privilegiert. Aber vor uns liegt eine sich über noch viel größere zeitliche Räume erstreckende kosmische Zukunft, von der wir wissen, daß sie mit Bestimmtheit stattfinden wird, und über die wir dennoch in aller Zeit niemals auch nur das geringste erfahren werden.

Völlig trostlos erscheint mir unsere Lage andererseits aber auch wieder nicht. Vielleicht nämlich enthält der vorletzte Satz ungeachtet seines resignierenden Tenors zugleich auch einen Hinweis auf eine doch noch denkbare Lösung des Problems. Denn indem er die Endgültigkeit unserer Unwissenheit »für alle Zeit« konstatiert, öffnet er unserer Hoffnung ein winziges Schlupfloch. Wenn unsere Ignoranz für »alle Zeit« gilt, könnten wir dann das uns zugewiesene geistige Ghetto vielleicht nicht doch noch im letzten Augenblick verlassen, dann, wenn wir mit unserem Tode aus der Zeitlichkeit dieser Welt herausfallen?

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An diesem Punkt der Überlegungen erfolgt in den Köpfen vieler Menschen — zumal, wenn sie naturwissen­schaftlich geschult sind — eine Art geistige Notbremsung. Sie reagieren auf das Angebot, einem so spekulativen Gedankengang zu folgen, wie ein routinierter Autofahrer, dessen Fuß reflektorisch das Bremspedal bedient, sobald in seinem Blickfeld ein Verkehrsschild mit der Aufschrift »Einfahrt verboten« erscheint. Spekulationen gelten ihnen per se als wilde und ziellos, unweigerlich in den Morast der Unverbindlichkeit führende geistige Abenteuerreisen. Als von vornherein verfehlte Versuche, über Dinge zu reden, von denen man nichts wissen kann und über die man daher, der bekannten Empfehlung Ludwig Wittgensteins folgend, lieber schweigen sollte.*

Derselbe Wittgenstein aber schrieb auch: »Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.« Und kein Geringerer als Werner Heisenberg hat die Forderung, die Welt »einzuteilen in das, was man klar sagen kann, und das, worüber man schweigen muß», als »unsinnig« bezeichnet. Denn wenn man ihr konsequent gehorchte, dann wäre man nicht einmal mehr in der Lage, die moderne Physik zu verstehen, bei der man, etwa in der Quantentheorie, längst darauf angewiesen sei, in Bildern und Metaphern zu reden.**

Sosehr es im ersten Augenblick manchen überraschen mag: Die beiden einander widersprechenden Auffassungen lassen sich miteinander versöhnen. Wittgensteins Diktum untersagt uns nicht, über unsere »Lebensprobleme« zu reden. Nur dürfen wir dabei eben — und allein daran gemahnt uns sein berühmter Satz — keine endgültige (wissenschaftliche) Gewißheit erwarten. Und Heisenbergs Einspruch andererseits dürfen wir mitnichten als Lizenz zu beliebigem Gedankenflug mißverstehen. »Wilde« Spekulation ist wirklich nichts anderes als ein blinder Spurt in gedanklichen Morast. Ausdenken kann man sich ausnahmslos alles. Wer die beliebigen Resultate uferlosen geistigen Schwärmens kritiklos für eine wo auch immer angesiedelte Realität hält, gibt seine Vernunft (und mit ihr seine geistige Mündigkeit) aus freien Stücken an der Garderobe ab.

 

* »Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen«, heißt es im Vorwort des berühmten Hauptwerks Wittgensteins, des »Tractatus logico-philosophicus« (F/Main 1979).
** Werner Heisenberg, »Der Teil und das Ganze«, München 1972, S. 279fr.

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Die modische Woge von Para-, Psi- und allerlei anderen esoterischen Glaubenswelten erweckt den Eindruck, daß eine betrüblich große Zahl von Zeitgenossen diese Form der geistigen Selbstverstümmelung mit einem oft geradezu süchtig wirkenden Vergnügen zu betreiben scheint.

Nein, wir kommen zwar — und das ist es, woran der zitierte Satz von Heisenberg uns erinnert — bei der Beschreibung unserer Welt nicht ohne bildhafte Analogien und Metaphern aus. Der letzte Grund dafür ist die bereits erörterte, sich aus ihrer evolutionsbiologischen Entstehungsgeschichte ableitende Unzulänglichkeit unserer zerebralen Erkenntnisorgane gegenüber der überwältigenden Komplexität der Welt. Aber wir dürfen uns ihrer nicht in beliebigem Umfang und ohne eine möglichst enge Anlehnung an den von uns erkannten Bereich der Realität bedienen. Wenn metaphorisches Reden und dieser Redeweise sich bedienendes intellektuelles Spekulieren irgendeinen Sinn haben sollen (wenn uns daran gelegen ist, unsere Gedanken um den erwähnten Morast herumzusteuern), dann darf vor allem dem, was wir über diese Welt bisher immerhin in Erfahrung gebracht haben — so unzulänglich und vorläufig es auch sein mag —, in keinem Punkt widersprochen werden.

 

Noch eine andere Regel gibt es, die wir beherzigen müssen, wenn wir auf dem dünnen Eis der Spekulation nicht einbrechen wollen. Ein Psi-Gläubiger hat noch nie von ihr gehört (sonst wäre er keiner mehr), obwohl sie schon vor mehr als 600 Jahren als geistige Richtschnur formuliert wurde. Es handelt sich um »Occam's Razor«, das von dem aus England stammenden Franziskaner und Philosophen Wilhelm von Ockham (er verbrachte das letzte Drittel seines Lebens als Glaubensflüchtling in München, wo er um 1349 starb) aufgestellte »Rasiermesserprinzip«.

Es besagt, daß man bei der Suche nach Theorien, die ein bestimmtes Phänomen erklären sollen, alles »wegschneiden« müsse, was überflüssig sei, weil sich die gesuchte Erklärung auch mit weniger Aufwand, mit einfacheren Annahmen und plausibleren Gründen finden lasse. Man kann die Regel auch in den Satz pressen: »Von allen Erklärungen, die in einem bestimmten Falle denkbar sind, ist die einfachste immer die richtige.«

Zur Veranschaulichung ein drastisches Fallbeispiel: Wenn an einem schönen Sommertag unversehens ein Kolibri durch mein geöffnetes Fenster hereinflöge und sich auf meiner Schreibtischlampe niederließe, könnte ich mir auf diesen zweifellos ungewöhnlichen Vorfall auf verschiedene Weise einen Reim zu machen versuchen.

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Ich könnte zum Beispiel den Gedanken erwägen, daß im raumzeitlichen Kontinuum soeben eine »relativistische Verwerfung« erfolgt sei, die den unglücklichen Vogel vermittels einer Art quanten-physikalischer »Durchtunnelung« von einem Augenblick zum anderen aus seiner Urwaldheimat in mein Arbeitszimmer verschlagen habe — ein grundsätzlich durchaus statthafter erster Erklärungsversuch.

Allerdings würde ich mich intellektuell disqualifizieren, wenn ich an diese erste »Hypothese« nicht sofort Ockhams Rasiermesser anlegte und nach einfacheren Erklärungen suchte. Dabei würde ich schließlich zu der Annahme kommen, daß einer meiner Nachbarn vermutlich eine Voliere mit Tropenvögeln hat, deren Tür nicht fest genug verschlossen war. Wenn jemals ein Kolibri bei mir erscheinen sollte, würde ich das jedenfalls für die einfachste Erklärung halten — und hätte mit dieser »Theorie« dann auch mit überwältigender Wahrscheinlichkeit den tatsächlichen Sachverhalt getroffen. (Es mag sich jeder selbst ausmalen, was von all den UFO-Gespinsten, »Levitations-Phänomenen« und Gurukräften übrigbliebe, wenn die Fans den Objekten ihrer abergläubischen Verehrung nur einmal mit Ockhams nützlichem Werkzeug zu Leibe rücken würden.)

 

Was also läßt sich nun unter Respektierung dieser Gebote über das Wesen der »letzten Grenze« sagen, der wir alle von Tag zu Tag um 24 Stunden näherkommen und hinter der das »Nichts« auf uns wartet, aus dem wir, Schopenhauers vorläufiger Auskunft zufolge, mit unserer Geburt gekommen sind? (»Nach deinem Tode wirst du seyn was du vor deiner Geburt warst.«) Das Wichtigste, grundlegend für alle weiteren Überlegungen, zuerst.

Wer sich als »Realist« darauf zurückzuziehen gedenkt, daß für ihn nur existiere, was er sehen, fühlen und auf andere Weise wahrnehmen könne, erliegt einem radikalen Irrtum hinsichtlich der Natur dessen, was er sicher zu wissen glaubt. Die philosophische Erkenntnislehre und neuerdings, noch radikaler, der von der Naturwissenschaft, allen voran von Konrad Lorenz, aufgedeckte evolutionsgeschichtliche Hintergrund unserer Erkenntnismöglichkeiten machen nur eines sicher: die Einsicht, daß die objektiv existierende Welt nicht identisch ist mit dem, was wir als unsere Wirklichkeit erleben. Der »Realist« ist insofern naiv, als er nicht zur Kenntnis nimmt, daß wir alle nicht »in der Welt« leben, sondern nur in dem Bild, das wir uns von der Welt machen.

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Von dem ausschnitthaften Charakter und der äußerst mangelhaften Schärfe dieses Abbildes (und den Ursachen dieser Mängel) war in diesem Buch eingehend die Rede.

Die Gründe, aus denen wir an der objektiven Verläßlichkeit unserer Weltsicht zweifeln müssen, sind in der Tat so gravierend (die naturwissenschaftlichen, evolutionsbiologischen Gründe noch mehr als die klassischen Argumente der philosophischen Erkenntnislehre), daß die heutige Philosophie sich als Quintessenz aller ihrer Erfahrungen zu der Einsicht bequemen mußte, daß die Realität der sich in unserer menschlichen Wirklichkeit abbildenden Welt letztlich nur als Hypothese unterstellt werden kann (es könnte ja sein, daß wir sie nur träumen). Die »Realität« also, an der ein eingefleischter »Realist« festen Halt zu finden wähnt — und an der er die Plausibilität aller über diese Realität hinausgehenden Aussagen messen zu können glaubt! —, hat selbst nur hypothetischen Charakter.

Die moderne Erkenntnisforschung bezieht angesichts der Frage nach der objektiven Existenz einer realen Außenwelt (bis zu der selbst unsere Erkenntnis ohnehin nicht zu gelangen vermag) folglich die Position eines »hypothetischen Realismus«. Denn die objektive Existenz einer solchen Welt läßt sich auf keine denkbare Weise verifizieren, wenn es andererseits auch höchst vernünftig ist, von ihr auszugehen, weil für diese Annahme eine Fülle plausibler (nicht: »beweisender«) Gründe ins Feld geführt werden kann. (So etwa formulierte Karl R. Popper schon vor Jahrzehnten unseren heutigen Wissensstand.)

Damit wäre zunächst einmal der verbreitetsten Widerrede gegen die Möglichkeit der Existenz einer jenseits unserer Wirklichkeit gelegenen Realität der Boden entzogen. Der weiland so beliebte Vorhalt einer angeblichen Widervernünftigkeit jeglichen Gedankens an eine jenseitige Dimension ist auf das Maß eines bloßen Einschüchterungs­versuches geschrumpft. Die stammesgeschichtliche Betrachtung der Evolution unserer Erkenntnisfähigkeit führt zwingend zu dem Schluß, daß schon ein Teil der diesseitigen Welt (und zwar ein Teil, den für unvorstellbar groß zu halten wir gut beraten wären) jenseits unseres Erkenntnishorizonts liegt (daß er diesen Horizont also »transzendiert«). 

Hat eigentlich schon einer der Holzköpfe, die noch immer bestreiten, daß Naturwissenschaft zur Erhellung der menschlichen Existenz Wesentliches beitragen könne, hat eigentlich einer von ihnen schon Notiz davon genommen, daß die Naturwissenschaften auf dem hier skizzierten Wege neuerdings die Existenz einer jenseitigen Wirklichkeit bewiesen haben?

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Auch wenn einzuräumen ist, daß es sich bei diesem naturwissenschaftlich erschließbaren Jenseits nicht um den Himmel der Theologen handelt, so ist hier doch eine gedankliche Grenze definitiv überschritten (»transzendiert«) worden, die aller religionsfeindlichen Kritik seit je als unüberwindliches Bollwerk galt. Als eine Mauer, an der jegliches Reden über transzendente Wirklichkeiten angeblich zuschanden wurde, weil es sich angesichts ihrer Undurchdringlichkeit als sinnleerer Schnickschnack entlarvte. Nichts macht, wie mir scheint, die noch immer nicht überwundene panische Berührungsangst der Kirche (vor allem der katholischen) gegenüber den Naturwissenschaften augenfälliger als die nahezu unglaubliche Tatsache, daß sie die Überwindung dieses für unüberwindlich gehaltenen Hindernisses bisher ignoriert hat. Man hätte doch wirklich erwartet, daß sie diese Bresche im geistigen Mauerwerk ihrer Gegner mit freudiger Erleichterung begrüßen würde.

Ich habe mit alldem in keinem Punkt dem bis heute vorliegenden naturwissenschaftlichen Kenntnisstand widersprochen. Mehr noch: Dieser Kenntnisstand hat die hier vorgetragenen Auffassungen provoziert, hat sie in einem bislang nicht für möglich gehaltenen Maße plausibel werden lassen. Niemand hat heute mehr ein Argument in der Hand, mit dem er einem von uns verbieten könnte, sich legitim Gedanken zu machen über eine jenseits unserer Welt gelegene Wirklichkeit. »Es mag seltsam erscheinen, aber meiner Auffassung nach bietet die Naturwissenschaft einen verläßlicheren Weg zu Gott als die Religion«, schreibt der englische Kernphysiker und Kosmologe Paul Davies im Vorwort seines Buches »Gott und die moderne Physik« (München 1986). Ich zögere, dem — in dieser Formulierung — vorbehaltlos zuzustimmen. Ich könnte es, wenn Davies »verläßlicher als die Theologie« geschrieben hätte, anstatt »als die Religion«, denn der »Weg zu Gott« ist in jedem Falle Religion, gleich, aus welcher Richtung er kommt. Aber ich weiß, was der Autor sagen will, und ich verstehe ihn gut.

Je eingehender man sich mit den Ergebnissen moderner naturwissenschaftlicher Forschung befaßt, um so klarer wird die Einsicht, daß das, was wir unsere »Welt« nennen, auf einem undurchdringlichen Geheimnis beruht. Daß sie aus sich selbst heraus nicht erklärbar ist. Daß es »hinter« ihr (also: jenseits von ihr) eine uns verborgene Wirklichkeit gibt, von der wir nur etwas ahnen, aber nichts wissen können. Wird hier durch moderne Forschung etwa nicht bestätigt, was der religiösen Deutung der Welt schon seit je als selbstverständlich galt?

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»Wir sehen jetzt wie in einem Spiegel in einem dunklen Wort« — eine jenseitige Wirklichkeit nämlich, die in der biblischen Überlieferung als »das Reich Gottes« bezeichnet wird und die wir erst »dann« (nach unserem Tode nämlich) »von Angesicht zu Angesicht« schauen werden. Mir scheint zwar, daß wir den archaischen Text dieser Aussage nicht wörtlich verstehen dürfen, nicht im Sinne der Bedeutungen, die wir heute mit den Wörtern verbinden, aus denen er besteht. (Was etwa unter dem »Reich Gottes« heute zu verstehen sein könnte, bedürfte einer weit ausholenden Erörterung. Das Gesamtregister der dreißigbändigen katholischen Enzyklopädie »Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft« enthält zu dem Stichwort eine ganze Seite mit Verweisen auf spezielle Beiträge.) Daß aber die sich in dem zitierten Wort dokumentierende religiöse Einstellung der Welt gegenüber — die in ihrer allgemeinsten Form mit der Überzeugung identisch ist, daß die von uns erlebte Welt nicht »das letzte Wort« sein kann — heute eine Stütze in den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Forschung findet, das erscheint mir aufregend und bemerkenswert. Von den meisten übrigens ist auch dieses empirische Indiz für die Berechtigung religiösen Jenseitsglaubens übersehen worden (und von der Kirche allemal).

Insbesondere in der Quantenphysik wird eine Sprache gesprochen, deren Wörter für unseren Verstand dunkel bleiben und in denen wir dennoch »wie in einem Spiegel« den Widerschein einer hinter unserer Welt gelegenen Realität zu erkennen vermögen. In der Welt der Elementarteilchen — die gar keine »Teilchen« in dem uns geläufigen Sinne mehr sind — geht es seltsam zu. Wer den Versuch macht, sie geistig zu betreten, kommt sich rasch vor wie »Alice in Wonderland«. Die »Teilchen«, die diese Welt tief unterhalb unserer Wirklichkeitsebene bevölkern — und deren Fundament sie bilden! —, führen eine Art Schattendasein, aus dem sie erst zu konkreter Existenz auftauchen, wenn ein Physiker sie mit seinem Instrumentarium zu beobachten beginnt.

Die Quantenphysiker haben sich allen Ernstes zu der Ansicht durchgerungen, daß ein Elektron (oder Photon oder Meson oder jedes andere Elementarteilchen) erst in dem Augenblick zu existieren beginnt, in dem ein menschlicher Beobachter nach ihm sucht.

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Aber der Beobachter entscheidet nicht nur über die »wirkliche« Existenz des Elementarteilchens. Er entscheidet durch die Art seiner Beobachtung auch über die Form, in der es in der realen Welt auftaucht, solange er es im Auge behält. (Entzieht er ihm seine Aufmerksamkeit, so fällt es wieder zurück in ein geheimnisvolles, nur noch mathematisch beschreibbares Zwischenreich, in dem unsere Begriffe von Realität nicht mehr gelten.) Wenn der Beobachter sich eines Instrumentariums bedient, das zur Aufspürung von Wellen (»Interferenzmustern«) dient, treten die Partikel als »Wellen« in Erscheinung: als ohne angebbaren festen Ort nach Wahrscheinlichkeitsregeln im Raum verteilte Schwingungsmuster. Wenn man dagegen mit Methoden nach ihnen fahndet, die zum Nachweis konkreter Korpuskeln geeignet sind, treten sie als solche auf. Den Gipfel der quantenphysikalischen Dunkelheit (für unseren Verstand!) bilden Experimente, in denen die besagten »Teilchen« beide Rollen gleichzeitig übernehmen: in denen sie also sowohl als feste Partikel als auch als immaterielle Wellen in Erscheinung treten.* In der Tat: Das Fundament unserer Wirklichkeit ist aus einem seltsam unwirklichen Stoff gefügt. Armer Realist!

Man kann die Spekulation (ausgehend von empirischen Daten physikalischer Forschung und unter steter Anwendung von »Occam's Razor«!) auch darüber noch hinaustreiben. Einige bekannte Physiker (die sich vor Spekulationen dieser Art längst nicht mehr fürchten) haben das getan. Sie sind dabei zu faszinierenden Denkmöglichkeiten gelangt. Der hochangesehene John Wheeler beschrieb in einem 1979 anläßlich des 100. Geburtstages von Albert Einstein in Princeton gehaltenen Festvortrag ein kernphysikalisches Experiment, bei dem es möglich ist, den über die Frage »Welle« oder »Korpuskel« entscheidenden Meßvorgang erst nach dem Durchgang eines Photons durch einen Lochfilter vorzunehmen.**

Das würde auf eine nachträgliche Beeinflussung physikalischer Abläufe durch Beobachtung hinauslaufen.

 

* »Sowohl als auch« (Hamburg 1987) lautet denn auch der Titel eines Buches von Ernst Peter Fischer, das den Nichtfachmann fundiert und didaktisch geschickt in die geheimnisvolle Welt der Quantenphysik einführt, in der die klassischen Regeln unserer (zweiwertigen) Logik außer Kraft gesetzt sind. 

** Eine genauere Beschreibung der experimentellen Anordnungen findet sich im achten Kapitel (»Der Quantenbegriff«) des bereits erwähnten Buches von Paul Davies.

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Wenn man dann noch die Möglichkeit einbezieht, daß die Abhängigkeit der Realität eines beobachteten Objekts von der Tatsache seiner Beobachtung auch auf makrophysikalischer Ebene gelten könnte, werden die Perspektiven endgültig schwindelerregend. John Wheeler entwickelte daraus ein hypothetisches Konzept des Universums als eines sich selbst beobachtenden Systems: Danach hätten die wissenschaftlichen Aktivitäten heutiger Beobachter (auf der Erde — oder sonstwo im Weltraum) erst die bis zum Urknall zurückreichende Vergangenheit des Universums als konkrete Wirklichkeit entstehen lassen, während diese Beobachter dieser (von ihnen selbst »erschaffenen«) kosmischen Geschichte ihre Existenz verdanken. Ein wahrhaft atemberaubendes Konzept wechselseitig-rückbezüglicher Daseinsgarantien.*

 

Von hier aus ergibt sich nun eine weitere bedenkenswerte Beziehung zur religiösen Dimension. Der Zusammenhang ging mir vor einigen Jahren auf angesichts der Bilder des Fra Angelico im Kloster San Marco in Florenz. Ich hatte gerade Ecos »Der Name der Rose« gelesen und war durch die Lektüre auf deprimierende Weise an die unchristlich mörderischen Einzelheiten der römischen Kirchengeschichte erinnert worden. »Wenn aber das Salz taub wird, womit soll man's salzen?«

Wenn die Kirche selbst tief in die Irrtümer und Verbrechen der menschlichen Geschichte verstrickt ist, wenn einen die Erinnerung daran überfällt, daß ihre obersten Repräsentanten es über die Jahrhunderte hinweg für Christenpflicht gehalten haben, Hekatomben von Andersgläubigen mit Feuer, Schwert und Folter zu bekämpfen und notfalls abzuschlachten, dann kann man als religiöser Mensch den Mut verlieren. (In vielen süd- und mittelamerikanischen Städten zählen neben den oft großartigen Kathedralen die palastartigen Residenzen der »Heiligen Inquisition« zu den prachtvollsten architektonischen Zeugnissen der spanisch-katholischen Kolonialepoche.)

Aber als ich da vor den Bildern des florentinischen Dominikanermönches stand, verflog meine Resignation im Nu.

* Eine Warnung für Psi-Anfällige: Diese kühne Spekulation berechtigt niemanden zu platt vordergründigen Folgerungen. Die Möbel in meinem Zimmer existieren selbstverständlich weiter, auch wenn ich das Haus hinter mir abgeschlossen habe. Denn auch meine Existenz ist von ihnen ja nicht in der Weise abhängig wie von dem Vorhandensein von Elementar­teilchen oder der Realität der kosmischen Geschichte. Auch wäre es unsinnig, angesichts der quantenphysikalischen Erfahrungen die Möglichkeit einer »Materialisierung« beliebiger Objekte durch bloße Aufmerksamkeits­zuwendung (»Willenskraft«) zu erwägen. Denn rückbezügliche Abhängigkeiten der von Wheeler diskutierten Art sind nur zwischen ontologisch gleichrangigen Ebenen denkbar.

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Über den Abstand von sechs Jahrhunderten hinweg vermittelten sie mir die Gewißheit, daß es auch damals in einem Meer psychischer Finsternis und alptraumhafter Verirrungen* Menschen gegeben hat, die von einem über alle Zweifel erhabenen, wahrhaftig religiösen Glauben beseelt waren. Die Ausstrahlung dieser Bilder läßt das geradezu körperlich spürbar werden.

* Man braucht sich nur einmal ein Herz zu fassen und einen Blick in die von Karlheinz Deschner mit akribischem (verzweifeltem!) Fleiß zusammengetragene Dokumentation »Kriminal­geschichte des Christentums« (Reinbek 1986-88) zu werfen, um mit blankem Entsetzen zu begreifen, wie höllisch sich auch die Bewahrer der »Botschaft der Liebe« über die Jahrhunderte hinweg immer wieder in abgründigem Haß und mörderischer Intoleranz verloren haben. Keinem einzigen der von Deschner reportierten historischen Fakten ist kirchlicher­seits bisher widersprochen worden!

Mir scheint, daß das in besonderem Maße für diesen (von seinen Mitbrüdern bezeichnenderweise auch »Fra Beato« genannten) Maler gilt. Seine Vorgänger waren während der »gotischen Epoche« darauf bedacht gewesen, dem spirituellen Aspekt des Dargestellten in mehr oder minder streng ritualisiertem Formalismus gerecht zu werden. Die schon zu Angelicos Lebzeiten sich ankündigende Malerei der Renaissance konzentrierte sich demgegenüber mehr und mehr auf eine realistische, nicht zufällig gerade das Portrait konkreter Individuen favorisierende (und die Details historischer Ereignisse penibel rekonstruierende) Darstellung. Die Malerei des Fra Angelico bildet so etwas wie eine Brücke, einen diese beiden Möglichkeiten in sich vereinenden Höhepunkt. Auch Angelico malt schon »natürlich-realistisch«, und zwar in faszinierender Schönheit. Aber seine Gläubigen und seine Engel strahlen den sie und ihren Maler erfüllenden »göttlichen Geist« immer noch sichtbar aus. Aus diesem Grunde belegen sie auf so überwältigende Weise die Menschenmöglichkeit religiösen Glaubens.

Besonders bemerkenswert ist dabei die Tatsache, daß der Charakter dieser Bilder als unbezweifelbare Zeugnisse religiöser Gläubigkeit auch für uns Heutige nicht im mindesten beeinträchtigt wird von der anrührend kindlich-naiven Darstellung mancher Details, daß diese Eigentümlichkeit vieler Bilder zu diesem Charakter vielmehr noch beiträgt. Ich maße mir nicht an, ein Urteil darüber abzugeben, ob Fra Angelico an die auf der linken Seite seines »Jüngsten Gerichts« dargestellten Szenen von der Freude erlöster Wiederauferstandener über das endliche Treffen mit »ihren« persönlichen Schutzengeln in dieser naturalistisch realen Form geglaubt hat. Ich habe nur nicht den geringsten Zweifel daran, daß für diesen Mann der Himmel wirklich existierte, ganz unabhängig davon, wie er sich ihn in seinem Glauben ausgemalt haben mag.

Wir modernen Agnostiker ziehen es vor, »heroisch« bodenlose Trostlosigkeit auszuhalten, als das zu jeder Hoffnung stets gehörende Quentchen Vertrauen aufzubringen. Wir sind schnell bei der Hand mit dem herablassenden Kommentar, daß dieser mittelalterliche Mönch von San Marco eben das Opfer einer gigantischen Illusion, einer ihn beherrschenden Wunschvorstellung geworden ist. Beneidenswert, gewiß, aber nicht geeignet als Vorbild für kritisch rationale Gemüter. Hier sollten wir vielleicht ein wenig vorsichtiger urteilen. Denn gerade in Würdigung der erwähnten naturwissenschaftlichen Einsichten ist noch eine andere Möglichkeit zu bedenken.

Wenn schon die Wirklichkeit der materiellen Bausteine unserer Welt sich als abhängig erweist von der Frage, ob wir sie bewußt zur Kenntnis nehmen, müssen wir dann nicht damit rechnen, daß es einen ähnlichen Zusammenhang »rückbezüglicher Daseinsgarantie« auch in anderen existentiellen Bereichen geben könnte? Womit wir vor der Denkmöglichkeit ständen, daß es den »Himmel« für Fra Angelico deshalb wirklich gab, weil er so fest an ihn geglaubt hat. Oder, auf uns selbst gemünzt: Müssen wir dann nicht auch die beunruhigende Möglichkeit in Betracht ziehen, daß wir den »Himmel« deshalb verspielen könnten, weil wir es nicht fertigbringen, an ihn mit der gleichen Kraft zu glauben?

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