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Wir sind Wesen des Übergangs

Einführung von Dieter Zilligen

im Juni 1990

 

9-31

Die Nachricht erreichte mich an einem sonnigen Herbsttag im Urlaub auf Sylt. Hoimar v. Ditfurth hatte in der Redaktion in Hamburg angerufen und ließ mir ausrichten, er sei gerade aus der Klinik entlassen worden, habe seine während der Behandlung zeitweise ziemlich angekratzte Stimme wiedergewonnen, und wenn ich das verabredete Fernsehinterview mit ihm noch machen wolle, dann sollte ich bald kommen.

Sein Ton am Telefon, so berichtete mir später die Kollegin, die mit ihm gesprochen hatte, war leicht, fast scherzend. Aber da war das Wörtchen »noch«, und ich wußte, von Scherzen konnte keine Rede sein.

Vier Tage später kam ich nachts in Staufen an, wo Hoimar v. Ditfurth seit 1976 lebte. Die Innenstadt ist für den Autoverkehr gesperrt. Ich verfuhr mich, stellte schließlich den Wagen irgendwo ab und ging, fast krank vor Erwartung, zu Fuß weiter durch die menschenleere, seltsam unwirkliche Mond­scheinidylle dieser mittel­alter­lichen Stadt: heimelige alte Fachwerkhäuser, an einem die Tafel, daß hier anno 1539 Dr. Faustus nach seinem Pakt mit dem Teufel zur Hölle gefahren sei, plätschernde Brunnen, ein im Nachtwind flatterndes Transparent über der Straße mit einem Begrüßungsspruch für die Besucher der baden-württembergischen Literaturtage und, alles überragend, der Schloßberg mit der Ruine der Burg Staufen.

Gleich unterhalb des Schloßbergs, das wußte ich noch, in einem Haus, das direkt in den Hang eines ehemaligen Weinbergs hineingebaut worden war, wohnte Hoimar v. Ditfurth. Ein erstaunlich entrücktes, welt­fernes Domizil für den mitten im politischen Leben stehenden Wissenschaftler, streitbaren Umwelt­schützer und Kämpfer gegen den atomaren Holocaust.

Was für Fragen sollte ich ihm stellen?
»Meine Bilanz« hatte er im Untertitel sein Buch »Innenansichten eines Artgenossen« genannt.
Welche Hybris, ein solches Leben
auch nur annäherungsweise in einem fünfzehnminütigen Fernsehinterview ausloten zu wollen.
Und vor allem, wie vermeidet man all diese schrecklichen »letzten Fragen«?
Selten habe ich meinen Beruf so verflucht wie in jener Nacht in Staufen.

Dabei hatte er mir fünf Jahre vorher, bei unserer ersten Begegnung, anläßlich eines Gesprächs über sein damals gerade erschienenes Buch »So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen«, die Angst vor dem eigenen Tod genommen, die mich damals stark beschäftigte. Mir war, ausgelöst durch eine Krankheit, der kindliche Glaube, daß nur die anderen sterben könnten, urplötzlich abhanden gekommen.

Hoimar v. Ditfurth, der in seinem Denken auf unnachahmliche Weise Philosophie und Dichtung mit seinem natur­wissenschaftlichen Weltbild verschmolz — von Platons Höhlengleichnis bis zu Hölderlins »Hyperion« und Schopenhauers »Parerga und Paralipomena« —, hatte in seinem Buch Jean Paul zitiert: »Auf jeden Menschen wird im Augenblick seiner Geburt ein Pfeil abgeschossen. Er fliegt und fliegt und erreicht ihn in der Todesminute.«

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Wir sprachen darüber, und er erklärte mir, was er im letzten Kapitel von »So laßt uns denn ein Apfel­bäumchen pflanzen« über die biologische Notwendigkeit unseres Sterbens geschrieben hatte:

»Ohne den Tod gäbe es keine Evolution. (...) Ohne Tod keine Generationenfolge. Ohne Generationen­folge keine Evolution. Wenn die Natur ihren Kreaturen jemals die Freiheit vom Tode beschert hätte, wegen deren Verweigerung wir sie so oft anklagen, dann wäre der evolutionäre Fortschritt augenblicklich zum Stillstand gekommen. (...) Wir existieren folglich unbezweifelbar kraft ebenjener Grundeigenschaft allen Lebens, die wir am meisten fürchten und beklagen: kraft seiner Sterblichkeit. So zugespitzt es klingen mag, biologisch ist der Beweis leicht zu führen: Der Tod ist der Preis, ohne den es höheres Leben nicht geben kann.«

Dieses Gespräch über den Tod, bei dem ich lernte, die »Lebensuhr« der Evolution zu akzeptieren, fand in den Weinbergen oberhalb Staufens statt. Ditfurth hatte uns nach den Fernsehaufnahmen zu einer Weinprobe bei einem befreundeten Bauern eingeladen, von dem er seinen ökologisch angebauten Wein bezog. Das war der Moment, in dem ich zum erstenmal den Menschen Hoimar v. Ditfurth unverstellt kennenlernte.

Denn einen Tag vorher, bei unserem ersten Sondierungsgespräch, hatte er mir demonstrativ die »Medien­persönlichkeit« vorgeführt: Selbstsicher, routiniert und mit nicht geringer Autoreneitelkeit stellte er den gefeierten Bestsellerautor aus, der sich seines Marktwertes voll bewußt war. 

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Gegen diesen Typus des »Großschriftstellers« bin ich in fünfundzwanzig Berufsjahren als Literatur­reporter allergisch geworden, und so registrierte ich mit zunehmender Kühle, wie Hoimar v. Ditfurth mit sonorer Stimme unter den kritischen Blicken seiner Frau die gewohnte Rolle des Erfolgsautors abspulte.

Ich revanchierte mich, indem ich kein Wort über sein Buch verlor, was ungefähr das Schlimmste ist, was man einem Autor antun kann, außer man spricht auch noch über den Erfolg eines Konkurrenten.

Beim gemeinsamen Abendessen in einem Gartenlokal kam es schließlich zur Explosion. »Sagen Sie mal«, herrschte Ditfurth mich an, »haben Sie mein Buch überhaupt gelesen?«

Heilwig v. Ditfurth, die ihren ungeduldigen Mann, wie immer, klug und unmerklich aus dem Hintergrund zügelte, rettete diesen ersten Abend mit der Bemerkung: »Nun warte doch bis morgen, Herr Zilligen wird dein Buch schon gelesen haben.«

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Am nächsten Tag erlebte ich dann vor der Kamera den ganz uneitlen Aufklärer und durch und durch rationalen Missionar der Wissenschaft Hoimar v. Ditfurth, der mit seinem Charisma und seiner Fähigkeit, selbst abstrakteste naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit größter sinnlicher Anschauungskraft und ohne unzulässige Vereinfachung darzustellen, Millionen von Fernsehzuschauern in seinen Bann geschlagen hatte.

Sein eigentliches Genie war das des Vermittlers. Es lag in seiner Fähigkeit, Brücken zu schlagen zwischen den menschen­fernen Eiseshöhen scheinbar moralisch wertfrei forschender Natur­wissenschaft und uns, den ahnungs­losen Endverbrauchern, die, hin und her gerissen zwischen Fortschritts­euphorie und Untergangs­ängsten, am Ende die Konsequenzen dieses Erkenntnis­hungers auszubaden haben.

Hoimar v. Ditfurth hat immer wieder nachdrücklich und höchst unbequem daran erinnert, daß Wissenschafts­ethik ein integraler Bestandteil der Forschung ist.

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Er selbst ist der Frage nach der Verantwortlichkeit nie ausgewichen. Er war auch dann, wenn es um so heikle Probleme wie die Euthanasie oder die Übervölkerung in der Dritten Welt ging, ein tabuverletzender Aufklärer.

(Für ihn war daher klar, daß selbst die vereinte Kraft aller Hilfsorganisationen dieser Erde bestenfalls zur Linderung unseres schlechten Gewissens beitragen könnte. Um den Hungertod von täglich 40.000 Kindern in den Entwicklungsländern zu verhindern, bedürfte es, so Ditfurth, neben der Entwicklungshilfe einer drakonischen, weltweit durchgeführten Geburtenkontrolle. Diese Forderung trug ihm den Vorwurf eurozentrischer Arroganz ein.)

Vor der Kamera besaß Hoimar v. Ditfurth ein geradezu charismatisches Fluidum. Nie habe ich einem größeren Zauberer gegen­übergesessen. Er konnte, sobald das Rotlicht brannte, noch ein zusätzliches Licht in sich anknipsen.

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Es war dann, als würde man von ihm in einem Raumschiff an den Anfang aller Zeiten mitgerissen — der Urknall, die Geheimnisse der Evolution, die steinzeitliche Instinktausstattung des Homo sapiens, die ungenutzte Kapazität unseres Gehirns, die allen Menschen eingeborene Tiefengrammatik der Sprache, Hölderlin und Schopenhauer — Hoimar v. Ditfurth war der universellste Geist, der mir je begegnet ist.

Wenn jemand von den zehn bis fünfzehn Milliarden Nervenzellen seines Gehirns Gebrauch machte, dann war er es.

Wer aber war eigentlich dieser Hoimar v. Ditfurth, der am 15. Oktober 1921, »aus dem Nichts kommend«, in Potsdam eintraf? Eigentlich jemand, der nach seiner Erziehung ein schrecklicher Reaktionär oder aber, im Widerspruch dazu, ein feuriger Rebell hätte werden können.

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Aber das Erstaunliche an Hoimar v. Ditfurth war, daß er diese beiden Seiten in sich nie verleugnete, sondern fruchtbar machte: Der »Rebell« in ihm verstand die Ängste des sich nach Anpassung und Unterordnung sehnenden Normalbürgers, und der »Reaktionär« wiederum befreite sich durch den tabu­verletzenden Rebellen.

Tabuverletzung ist immer auch ein Akt der Selbstbefreiung (das wissen wir spätestens seit Freud, dessen Tiefen­psychologie der sonst so rational argumentierende Psychiater Hoimar v. Ditfurth in seiner Lebens­bilanz höchst irrational und heftig als eine Irrlehre verdammt, die »seit über einem Jahrhundert die Köpfe der Menschen in der westlichen Welt vernebelt«).

 

Bei der Lektüre von »Innenansichten eines Artgenossen« habe ich mich gefragt, warum ist eigentlich aus diesem Jungen aus deutschnationalem Elternhaus, der Göring- und Horst-Wessel-Postkarten sammelte, kein glühender Pimpf geworden? 

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Warum ist der Gymnasiast, der sich an politisch heiklen Aufsatzthemen wie den Nürnberger Rassegesetzen vorbeimogelte und auf Kosten eines viel mutigeren Mitschülers sogar Jahrgangsbester im Abitur wurde, nicht in die Hitlerjugend oder auf die Napola* gegangen? Warum ist er nicht Offizier geworden? Und warum ist der »Adenauer-Fan« aus der ihm angebotenen Wirtschafts­wunderkarriere schon nach einem Probejahr wieder ausgestiegen?

Fragen, die er mir in dem hier abgedruckten Gespräch rückhaltlos beantwortete und die mir in jener Septembernacht in Staufen durch den Kopf schossen.

Sie vermischten sich mit Erinnerungen an meine Kindheit. Zum Beispiel an die beiden freundlichen alten Damen im Nachbarhaus, die mir oft Bonbons geschenkt haben. Eines Tages trugen sie merkwürdige gelbe Abzeichen am Kleid. Wenig später verschenkten sie ihren von mir geliebten Kanarienvogel an einen Nachbarjungen, was mich mit heftigem Neid erfüllte, und dann waren sie über Nacht verschwunden. Sie sind nach England ausgewandert, sagten meine Eltern.

* Napola = Nationalpolitische Erziehungsanstalt

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Bei Hoimar v. Ditfurth waren es jüdische Mitschüler und Lehrer, die fast unbemerkt und unbeachtet plötzlich aus dem Schulbetrieb verschwanden.

Oder September 1939: Am Himmel ist ein einsamer Kondensstreifen zu sehen. In der Ferne zieht heulend ein vereinzeltes Jagdflugzeug vorbei, begleitet vom stockenden Motorengeräusch eines Fieseler Storchs. Alle blicken erwartungsvoll nach oben. Es ist Krieg. Hoimar v. Ditfurth muß damals zum Reichsarbeitsdienst. Ein Jahr später bricht er als junger Soldat wie zu einem Abenteuerurlaub nach Norwegen auf.

Oder 1940: Mein Vater befestigt im Wohnzimmer eine Karte von Frankreich an der Wand, auf der er den täglich schneller werdenden Siegeszug der deutschen Truppen mit bunten Nadeln markiert. Aus dem Radio dringt die Fanfare der Sondermeldungen. 

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Alle sind siegesfroh. Da klingelt es eines Abends an der Tür. Heftiges Tuscheln. Dann schleusen meine Eltern einen Kollegen meines Vaters und seinen verstörten Sohn an mir vorbei. Zwei Nächte darf er bei uns bleiben, dann muß er weg. Erst nach dem Krieg erfahre ich, daß der Junge aus der Wehrmacht desertiert war. Kein Reichsminister wie Treviranus, der bei den Ditfurths Unterschlupf gefunden hatte, aber Zuchthaus oder gar den Kopf hätte es auch gekostet, wenn das jemand gemeldet hätte.

Was für seltsame Volksgenossen waren das damals, unsere Eltern — regimetreue Volksverräter oder einfach nur Menschen?

Oder die »asiatischen Untermenschen«, von denen Hoimar v. Ditfurth berichtet — und denen auch ich als Kind begegnete: 1942, im zweiten Volksschuljahr, sind im Park hinter unserer Schule plötzlich Erdbunker ausgehoben.

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Nachdem wir lange genug gewartet und uns von der Bewachungsmannschaft nicht haben verscheuchen lassen, sehen wir endlich verschreckte braune Gestalten mit kahlgeschorenen Köpfen auftauchen: russische Kriegsgefangene, die um Brot betteln. Eines Tages reißt einer von ihnen einem Mitschüler das Schulbrot aus der Hand — ein »Bolschewik«, ein »Untermensch«, alle Erwachsenen sind empört. Kurz darauf sind die Erdbunker geräumt. Ich erinnere mich an die runden, ängstlichen Gesichter.

Kriegsgefangene und deportierte Zwangsarbeiter, die vor Hunger Brot stahlen — auch daher kamen die frisch enthaupteten Leichen für den Präparierkurs in der Anatomie der Berliner Universität, von denen Hoimar v. Ditfurth schreibt.

Seltsam, was alles aus der Erinnerung aufsteigt. Ditfurths Buch und seine Erzählungen im Gespräch sind wie ein Schlüssel zu den verschütteten Türen der eigenen Vergangenheit. Erinnerungsfetzen: »Feind hört mit«, Todesurteile an den Litfaßsäulen, »Gefolgschaftstreue«, »Wo gehobelt wird ...«, »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, »Wenn das der Führer wüßte«, »Nach dem Krieg dann wird aufgeräumt«.

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Da ist zum Beispiel unser Blockwart, ein strammer Parteigenosse, der uns ständig schikaniert, weil wir nicht ordnungsgemäß verdunkelt oder an Nazifeiertagen die Hakenkreuzfahne nicht rechtzeitig rausgehängt haben. Zur Strafe holt er sich am Sonntag die Zigarettenration meiner Eltern ab.

Dafür darf ich mit seinem ältesten Sohn ins Kino, zu den Parteivorstellungen. Bei heroischen Klamotten wie »Kadetten«, »Der alte und der junge König« und »Stukas« wird mir regelmäßig schlecht.

Auf der Straße spielen wir mit dem jüngeren Sohn des Blockwarts, einem immer fröhlich lachenden Kind. Eines Tages ist er weg. In einem Pflegeheim, heißt es. Vier Wochen später macht flüsternd die Nachricht von seinem plötzlichen Tod die Rede. Lungenentzündung. Der Blockwart, ein gläubiger Katholik und Hitler-Verehrer, schrumpft zum grauen Männchen. Alle können nun die Fahnen raushängen, wann sie wollen.

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Oder wenn Hoimar v. Ditfurth von dem Ausflug berichtet, der ihn mit der Mutter am KZ Oranienburg vorbeiführt, und dazu bemerkt: »Sie haben es alle gewußt.«

1945 bin ich im KLV*-Lager an der Ostsee. Am 3. Mai gibt es schwere britische Luftangriffe auf vier deutsche Schiffe in der Lübecker Bucht, darunter die »Cap Arcona«. Am nächsten Tag ist der Strand voll von angeschwemmten Leichen. Viele in Sträflingskleidung. Alles Verbrecher, sagen unsere HJ-Betreuer. (Tatsächlich hatten die Nazis mehr als 10.000 KZ-Häftlinge auf diesen Schiffen zusammengepfercht, mehr als 7500 davon starben, als sie von der ahnungslosen Royal Air Force, die diese Schiffe für Truppentransporter der Marine hielt, bombardiert wurden. Ein tragischer Irrtum.)

* KLV = Kinderlandverschickung

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Warum ich das alles erzähle? Weil Hoimar v. Ditfurth mit seinen Erinnerungen, den geschriebenen wie den erzählten, wohl nicht nur in mir, der ich damals noch ein Kind war, lange Verdrängtes freigesetzt hat, ganz ohne erhobenen Zeigefinger.

Eine merkwürdige Mischung aus Schuld, Mitschuld, Weggucken, Verblendung, Heuchelei und tatsächlicher Ahnungslosigkeit steigt da plötzlich in Lesern auf, die dieses Dritte Reich noch selber erlebt haben.

Wenn man in der Zukunft eine historische Primärquelle sucht, die Auskunft gibt über den Bewußtseins­zustand des deutschen Bürgertums in der Weimarer Zeit und im Dritten Reich, hier ist sie, ohne nachträgliche Selbststilisierung und heroische Legendenbildung — einfach nur schrecklich normal und prototypisch, in all ihren Schwächen und Stärken.

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»Schuldig, weil wir unser Leben nicht riskiert haben«, schreibt Hoimar v. Ditfurth. — Aber würden wir das heute tun?

Als ich nach dieser ruhelosen Septembernacht in Staufen am nächsten Morgen mit dem Kamerateam zu Hoimar v. Ditfurth komme, tritt er mir mit einer stützenden Halskrause entgegen. Er sieht sehr blaß aus, angegriffen und dennoch auf unbeschreibbare Weise heiter.

In der Nacht hatte er so unerträgliche Schmerzen gehabt, erzählt er mir fast beiläufig, daß er die Aufnahmen absagen wollte. Das war zu dem Zeitpunkt, als ich mit meinen Selbstzweifeln durch das nächtliche Staufen irrte. Deshalb konnte er mich nicht erreichen. Jetzt, wo das Kamerateam da war, wollte er uns nicht mehr wegschicken. Dieses unausrottbare Pflichtbewußtsein. Der Arzt hatte ihn seit dem frühen Morgen mit Spritzen verhältnis­mäßig schmerzfrei gemacht. Und nun wollte er sprechen.

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Eigentlich hätte er mich als Frager dazu fast gar nicht gebraucht. Denn dies war das leichteste und zugleich schwerste Gespräch meiner Laufbahn. Nach zehn Minuten warf ich alle Pläne für ein Viertelstunden­interview über den Haufen.

Die Fragen ergaben sich wie von selbst. Sobald ich ihn etwas fragte, sah ich in seinen Augen schon die Antworten kommen.

Nie werde ich das tief von innen aufsteigende Leuchten vergessen, als wir über Lensahn, das Paradies seiner Kindheit, sprachen, und nie das strahlende Lächeln, als die Rede kam auf jenen unvergeßlich schönen Sommer 1945 in Hamburg, der für ihn, den jungen Medizinstudenten, Befreiung, Aufbruch in die Zukunft und die Entdeckung der Literatur von Thomas Mann bis Ernest Hemingway bedeutete, für mich aber, das Kind, die Heimkehr nach Hamburg, in eine blühende Trümmerwüste, die fortan mein Spielplatz wurde, mit geheimnis­vollen Zeichen an jenen verschütteten Kellereingängen, unter denen noch die Opfer der Bomben­angriffe lagen.

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Das Kamerateam war während der Aufnahmen von Hoimar v. Ditfurths Bericht schließlich so mitgerissen, daß es vergaß, rechtzeitig die Kassetten zu wechseln. Schon gab es einen energischen Rüffel von Hoimar v. Ditfurth, dem Fernsehprofi, der auch noch da war und mich besorgt fragte: »Sagen Sie mal, Zilligen, ich kenne doch das Fernsehen, nehmen wir das etwa alles für den Papierkorb auf?«

Aber zu diesem Zeitpunkt war für mich die Frage der Sendelänge längst hinfällig geworden. Nichts sollte und konnte ihn mehr aufhalten.

Als er dann am Ende auf die unendlich lange, scheinbar zufällige und doch unglaublich folgerichtige Geschichte der Evolution kam, sein Gedankenflug immer schneller und weiter wurde, der ausdrucksvolle Kopf immer mehr auf die stützende Halskrause sank und die Stimme brüchig wurde, da war dies ein Moment von bewegender, kaum noch zu ertragender Intensität: Ein strahlender Geist, der noch einmal über den gebrechlichen Körper triumphierte.

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»Wir sind ein Teil dieser Geschichte. Und weil diese Geschichte ein ungeheures Geheimnis ist, weil hinter ihr ein ungeheures Geheimnis steht, das diese Ordnung verbirgt und in immer neuen und höheren Formen realisiert, weil wir ein Teil dieser Geschichte sind, haben wir auch Anteil an ihrem Sinn. Wir können ihn nicht angeben, wir erkennen ihn nicht, wir sind ja gerade erst aufgewacht, wir reiben uns ja gerade erst die Augen, wir verstehen ja noch fast nichts von dem, was wir um uns herum sehen und entdecken. Es muß uns genügen, daß es diesen Sinn gibt.«

Als Moses mit den Gesetzestafeln für das Volk Israel vom Berg Sinai herabstieg, war ein Leuchten der Gewißheit um ihn. Denn dort oben in den Wolken war ihm Gott wie ein verzehrendes Feuer erschienen. Hoimar v. Ditfurth erhielt diese Gewißheit nie.

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Traurig und zornig war er am Ende, daß er keine Antwort erhielt auf die lebenslange Frage nach dem letzten Geheimnis der Evolution. »Vielleicht, vielleicht bekomme ich sie ja nach meinem Tode.« Das war, mit einem Lächeln, das Ende unseres Gesprächs.

Was diesen strahlenden Geist aus der Bahn warf, waren ein paar winzige Zellen, entgleiste Irrläufer des genetischen Codes, die sich selbständig gemacht hatten — fehlgesteuertes Leben, das den Tod bedeutet.

Wie verabschiedet man sich? Wie reist man ab, packt die Kameras und die Scheinwerfer ein und geht? Von manchen Menschen verabschiedet man sich nie, solange man lebt und sich erinnert.

»Wir sind Wesen des Übergangs«, diese Botschaft gab Hoimar v. Ditfurth mir mit auf den Weg und einen seltsam tröstlichen Gedanken:

»Alle Materie, die wir um uns vorfinden, alle Objekte, mit denen wir alltäglich umgehen, die Materie unserer eigenen Leiber nicht ausgenommen, besteht aus Atomen, die einst im Zentrum von Sonnen <zusammengebacken> worden sind, die einer Stern­generation angehörten, die vor unausdenkbar langer Zeit zugrunde gegangen ist. Genauer gesagt: Ohne deren Untergang nichts von alledem hätte entstehen können, was uns täglich umgibt. In der Tat, der Aufwand, den der Kosmos getrieben hat, um die Voraussetzungen unserer Existenz zu schaffen und die unserer Alltagswelt, übersteigt alles unserer Vorstellung zugängliche Maß.«

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Dieter Zilligen, 
Hamburg, im Juni 1990

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