Start   Weiter

Wir leben in zwei Welten zugleich - Wissenschaft und Glaube

Hoimar von Ditfurth 1977

 

  Artikel in PDF 

71-84

Ich glaube, daß man einen wesentlichen Aspekt unseres heutigen Lebensgefühls treffend dadurch beschreiben kann, daß man sagt, wir alle lebten, ohne uns darüber immer völlig klar zu sein, eigentlich in zwei verschiedenen und eindeutig voneinander unterscheidbaren Welten zugleich.

Da ist einmal die Welt, in der ich, wenn ich einen Lichtschalter bediene, absolut sicher bin, daß dann nicht irgend etwas Unvorhersehbares oder gar Rätselhaftes geschieht, sondern einzig das Aufleuchten oder Verlöschen eines Lichts, und in der ich genauso durch die Bedienung anderer Hebel oder Schalter oder ganz allgemein durch jede meiner Handlungen bestimmte andere Ereignis in ebenso vorhersehbarer Weise bewirken oder auch verhindern kann. Dies ist die von dem Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkungen bestimmte und von Naturgesetzen beherrschte Welt, die die Wissenschaftler beschreiben.

Es hat sie nicht immer gegeben, und sie ist nicht immer so selbstverständlich gewesen, wie sie uns heute aus Gewohnheit erscheint Es hat Jahrtausende gedauert, bis die Dämonen, vor denen unser Altvorderen sich fürchteten, aus ihr vertrieben waren. Die beruhigende Durchschaubarkeit ihrer Zusammenhänge, ihre "rationale Struktur", an die wir uns so sehr gewöhnt haben, ist das Ergebnis der Anstrengungen unzähliger Generationen von Wissenschaftlern, denen es Schritt für Schritt gelang, die Fülle der unverstandenen und daher angsteinflößend-unberechenbaren Naturerscheinungen auf einige wenige Gesetzlichkeiten zurückzuführen, die sie begreifbar machten und damit gleichsam domestizierten.

Der Dämon, der mit seinem Blitz auf uns zielte, wurde im Verlaufe diese Entwicklung auf ein Naturgesetz reduziert, das nichts von uns weiß. Wir Heutigen können die ungeheuere Bedeutung dieser angstauflösenden, vertrauenstiftenden Rolle, die der Naturwissenschaft in der Geschichte der Menschheit aufgrund dieser Zusammenhänge neben anderen, uns heute wichtiger erscheinenden Funktionen zugefallen ist, sicher nicht mehr angemessen abschätzen.

Allein schon deshalb nicht, weil unsere Generation soeben dabei ist, in der Fortsetzung der Geschichte die Kehrseite der Medaille zu erleben: Denn die Entdämonisierung der Welt durch Naturwissenschaft war ja gleichbedeutend mit ihrer Objektivierung, und diese hatte zur Folge, daß die Welt in immer größerem Umfang zum Objekt unserer Manipulationen werden konnte. Diese Möglichkeiten aber haben heute Ausmaße erreicht, die in der Gestalt von zerstörerischen Folgen für die Umwelt oder der Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln unvorstellbar mörderischen Ausmaßes erneut Unvorhergesehenes hervorzubringen beginnen.

Damit aber kommt die Angst, die wir mit den Dämonen durch wissenschaftlichen Fortschritt endgültig vertrieben zu haben glaubten, "von hinten" wieder in unsere Welt hinein. Aber dieses aktuelle Kapitel ist nicht mein Thema. Mir kommt es an dieser Stelle vielmehr darauf an, gerade an die heute kaum noch gesehene vertrauenstiftende Rolle zu erinnern, die der Naturwissenschaft ursprünglich und seit ihren bescheidensten Anfängen zufiel. Man kann sie sich indirekt vor Augen führen, wenn man etwa an die gewaltige steinzeitliche Anlage von Stonehenge in England denkt. Wie Sie wissen, ist es vor etwas mehr als zehn Jahren gelungen, ihre Funktion aufzuklären: Es handelt sich um ein steinzeitliches Observatorium, das mit bemerkenswerter Präzision unter anderem die Vorhersage von Sonnen- und Mondfinsternissen gestattet. Das allein aber kann die ungeheuren Ausmaße nicht erklären. Für die Beobachtungsaufgaben hätten weit bescheidenere Maße genügt. Dazu wäre es nicht notwendig gewesen, bis zu fünf Meter lange Monolithe über Hunderte von Kilometern heranzuschleppen.

Wir wissen nicht, warum die steinzeitlichen Konstrukteure Stonehenge so riesig gebaut haben. Aber wenn wir ihre Situation bedenken, dann liegt der Gedanke nahe, daß sie darauf aus gewesen sein könnten, ihrem Observatorium auch den Charakter eines seinem Anlaß gemäßen Denkmals zu geben. Es muß ein ungeheures, befreiendes Erlebnis gewesen sein, als Menschen erstmals die Entdeckung machten, daß sie in der Lage waren, so rätselhafte und beängstigende Erscheinungen am Firmament, wie es Verfinsterungen des Mondes oder gar der Sonne sind, vorherzusagen, ihre gesetzmäßigen Periodizität zu durchschauen und ihrer damit geistig Herr zu werden.

Vielleicht handelt es sich bei Stonehenge und zahlreichen ähnlichen Anlagen der Vorgeschichte also auch um Denkmäler, errichtet zur Erinnerung an einen geistigen Schritt, der so etwas wie eine erste kopernikanische Wende in der Geschichte der Menschheit darstellte. Das Beispiel Stonehenge ist schließlich auch geeignet, uns daran zu erinnern, wie lange es her ist, seit wir, die Angehörigen der sogenannten westlichen oder abendländischen Kultur, begonnen haben, uns in dieser rational strukturierten, von kausalen Naturgesetzen objektiv geordneten Welt einzurichten. Wir können sie uns längst nicht mehr anders vorstellen, ungeachtet der Tatsache, daß unsere Ethnologen und Kultursoziologen mannigfache andere Variationen in fremden Kulturkreisen entdeckt und beschrieben haben.

Längst erscheint es uns ebenso selbstverständlich, daß unsere Vorfahren seit dem Beginn der geschichtlichen Zeit dazu übergegangen sind, das Prinzip gesetzlicher, rational einsehbarer Ordnung das sie in der Natur entdeckten, schrittweise auf die eigene Gemeinschaft zu übertragen. Auch das ist ursprünglich keineswegs selbstverständlich. Und es ist, wie ein Vergleich mit anderen Kulturkreisen heute noch zeigen kann, keineswegs die einzige Möglichkeit. Es ist andererseits der eigentliche Grund dafür, daß wir unser Verhalten heute nicht mehr mit Hilfe mythologischer Vorschriften regeln, sondern durch Vereinbarungen, die durch willentlichen Beschluß zum Gesetz erhoben worden sind.

Deshalb wird unsere persönliche Sicherheit heute nicht mehr durch die Einhaltung bestimmter Rituale gewährleistet, sondern zum Beispiel durch die genaue Kenntnis und die Einhaltung von Verkehrsvorschriften und allgemeinen Gesetzen, die das Zusammenleben regeln. Dies ist ferner der Grund dafür, daß meine Gesundheit und mein Weiterleben in dieser Welt nicht mehr von de Beachtung von Opfervorschriften abhängt, sondern von den Fortschritten der Biochemie und den Möglichkeiten der Vorsorgemedizin. Wir können uns, wie gesagt, die von uns erlebte und wahrgenommene äußere Welt längst nicht mehr auf andere Weise geordnet vorstellen.

Unsere Fähigkeit, in ihr Vertrauen fassen und Geborgenheit erleben zu können, sind von der Vorhersehbarkeit und rationalen Einsichtigkeit aller in ihr ablaufenden Vorgänge und uns begegnenden Verhaltensweisen so abhängig geworden, daß wir überempfindlich reagieren, sobald diese Attribute nur im mindesten in Frage gestellt werden. Jedes Aus-dem-Rahmen-Fallen beunruhigt uns daher zutiefst. Schon die unfnisierte Mähne eines Halbstarken oder das bloße Reden von einer "Veränderung des Systems" können genügen, uns an die Möglichkeit eines Zusammenbruchs der Welt unserer Gewohnheit zu erinnern. (Ich sage nicht, daß diese Befürchtung immer gänzlich unbegründet sei. Ich stelle lediglich fest, daß unsere Gesellschaft aufgrund ihrer Besonderheit Symptome dieser Art weniger leicht erträgt, daß sie gerade in diesem Punkt weniger tolerant ist als andere Kulturen.)

Soviel zu der ersten Welt, in der wir leben, der wissenschaftlich erklärbaren, kausal determinierten Welt. So unentbehrlich sie für uns auch immer sein mag, sie allein kann niemandem von uns genügen. Niemandem bleibt die Erkenntnis erspart, daß es eine Fülle von Fragen gibt, die in ihr keine Antwort finden können. Das beginnt mit der Einsicht, daß keine noch so weit fortgeschnittene Medizin und keine noch so weit ausgedehnte medizinische Vorsorge jemals etwas daran werden ändern können, daß alle Menschen sterblich sind. Es ist nicht überflüssig, das ausdrücklich auszusprechen. Die seit einigen Jahren diskutierten fragwürdigen Folgen einer bis zur letzten einseitigen Konsequenz getriebenen Intensiv- und Reanimationsmedizin sind auch ein Symptom dafür, in welchem Maße diese elementare Tatsache verdrängt werden kann.

In dem Augenblick aber, in dem ich die Unabänderlichkeit des eigenen Todes zur Kenntnis nehme und akzeptiere, stellt sich unabweislich die Frage, ob mit ihm für mich "alles aus" sein wird. Ob ich diese Frage als Heide und Materialist oder als gläubiger Christ beantworte, ändert nichts daran, daß sie existiert und daß sie auf eine Welt hinweist, die nicht identisch ist mit der Welt, von der bisher die Rede war. Dieser Behauptung kann nicht einmal der überzeugteste Matenialist widersprechen. Denn so überzeugt ist er nun auch wieder nicht, daß er es für überflüssig hielte, die Frage ausdrücklich zu verneinen.

Es mag Menschen geben, die ihrer materialistische Überzeugung so sicher sind, daß sich ihnen die Frage nach der Möglichkeit einer Weiterexistenz nach ihrem Tode gar nicht stellt. Getroffen habe ich bisher noch keinen von ihnen. Auf die Frage nach der Möglichkeit des Weiterlebens nach der Tode gibt es innerhalb der eingangs geschilderten "rationalen" Welt keine Antwort. Sie läßt sich im Rahmen der wissenschaftlich erklärbaren Welt nicht einmal sinnvoll diskutieren. Trotzdem existiert sie, und zwar nicht als Hirngespinst oder willkürlich erdachte Konstruktion, sondern, wie Geschichte, Mythologie un transkultureller Vergleich lehren, als spezifischer Bestandteil des menschlichen Selbstverständnisses.

Damit ist noch nichts entschieden über die Art ihrer Beantwortung. Damit ist diese Frage jedoch sozusagen legitimiert und abgegrenzt von Aberglauben oder Ideelogie. Das Christentum hat zu ihr bekanntlich eindeutig Stellung genommen. Ich gehe darauf nicht weiter ein. Als Naturwissenschaftler habe ich dazu nichts zu sagen. Vor allem aber kommt es mir au etwas ganz anderes an. Ich habe das Problem des Todes deshalb angesprochen, um darau hinweisen zu können, daß die sich aus ihm ergebende Frage nach einem Weiterleben unvereinbar ist mit den in der eingangs geschilderten Welt herrschenden Regeln und Gesetzen. Wenn ich also recht habe mit der Behauptung, daß es zu den spezifischen Wesensmerkmalen des Menschen gehört, diese Frage zu stellen, dann wäre damit bewiesen, daß wir tatsächlich in zwei grundsätzlich voneinander verschiedenen "Welten" zugleich existieren. Man braucht aber gar nicht bis zum Extrem der Sterblichkeit zu gehen, um auf den janusartigen Charakter unseres Welterlebens zu stoßen. Wir alle praktizieren ihn alltäglich. Dadurch zum Beispiel daß wir unsere Handlungen an einem moralischen Wertmaßstal orientieren, der ebenfalls sozusagen "nicht von dieser Welt" ist.

Denn die Normen und Vorschriften des juristisch geltenden, positiven Rechts definieren ja, wie wir alle wissen, lediglich ein "moralisches Minimum".

Die Verhaltensregeln, die sich aus Erfahrung und Vernunft ableiten lassen, genügen allenfalls, den Zusammenbruch unserer gesellschaftlichen Ordnung zu verhindern, und auch das, wie uns mitunter scheinen will, manchmal nur mit Mühe und Not. Wer gegen diese gesetzlich festgelegten Regeln nicht verstößt, ist nicht allein schon deshalb ein ehrenwerter Mensch, der unsere Achtung verdient. Unsere moralischen Ansprüche gehen weit darüber hinaus und orientieren sich an einem Maßstab, der aus Einsicht und Vernunft nicht abgeleitet werden kann. Er ist am ehesten als der Reflex eines Gefühls der Verantwortlichkeit zu beschreiben, die wir gegenüber einer Instanz empfinden, die wiederum außerhalb der wissenschaftlich beschreibbaren, rational geordneten Welt zu suchen ist. Dabei ist es wieder ohne Belang, ob es sich im konkreten Fall um einen gläubigen Christen handelt oder nicht.

Alles, was ich sage, bezieht sich allein auf unseren eigenen, abendländischen Kulturkreis. Wer aber in ihm aufgewachsen ist, dem gelten nach einer zweitausendjährigen Geschichte die ethischen Prinzipien des Christentums auch dann als verbindliche Normen, wenn er sich über ihre Herkunft gar keine Rechenschaft mehr gibt und selbst der Kirche womöglich fern oder sogar feindlich gegenübersteht.

Lassen Sie mich das Gemeinte noch mit einem letzten Beispiel verdeutlichen, und zwar mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz. Auch die Frage danach, ob es diesen Sinn gibt und worin er bestehen könnte, entspringt dem innersten Kern menschlichen Selbstverständnisses. Niemand, der sich die Frage nicht stellte. Auch diese Antwort aber ist, wie nicht weiter begründet zu werden braucht, im Rahmen der rational erfaßbaren, wissenschaftlich beschreibbaren Welt nicht zu finden.

(Die Scheinantworten, die primitiver Aberglaube oder Ideologie bereithalten, können hier außer Betracht bleiben.) Auch dann, wenn es sich nicht um eine spezifisch religiöse Antwort handelt, kann die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz nur im Rahmen eines Horizonts beantwortet werden, dessen Weite die Grenzen des wissenschaftlich Faßbaren überschreiten (etwa in der Gestalt einer metaphysischen Hypothese).

Es ist, alles in allem, also nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, wir lebten in zwei Welten zugleich. Wir haben uns an diese objektiv unbestreitbar sehr eigenartige Situation zwar so gewöhnt, daß eine Beweisführung wie der hier vorgetragenen bedarf, um sie uns vor Augen zu führen. Es ist jedoch der Mühe wert, diese Versuch einmal zu machen und die Lage zu bedenken, denn wir sind die Zeitgenossen einer Epoche, in der die beiden Welten, vo denen hier die ganze Zeit die Rede ist, zu kollidieren beginnen. Das war, wie wir uns kurz erinnern wollen, nicht immer so. Für das mythische Erleben sind die rationale und die transzendental Interpretation der Welt noch eins. Aber auch nach dem Einsetzen der Trennung zwischen beiden Möglichkeiten im Verlauf der Entwicklung der Naturwissenschaften hat es erstaunlich lange gedauert, bis sich Probleme ergaben.

Bis in die Neuzeit hinein schützt vor dieser Möglichkeit eine Art räumliche Trennung der jeweilige Zuständigkeiten. Die Entmythisierung der Welt erfolgte gewissermaßen innerhalb geographisch vorgegebener Zonen. Da gab es die sublunare Region, welche die Erde und alles enthielt, was auf ihrer Oberfläche existiert. Hier, "unter dem Monde", war die Welt dem menschlichen Verstand zugänglich. Hier widersprach ihre naturwissenschaftliche Erforschbarkeit nicht dem Geheimnis göttlicher Macht. Jenseits der Bahn des Mondes erst begann die himmlische Welt, bevölkert von Sternen, Engeln und den Seelen der Erlösten, die Wohnstatt Gottes. Dieses Weltbild läßt verstehen, warum es vor allen Naturwissenschaftlern gerade die Astronomen gewesen sind, die ernstlich mit der Kirche in Konflikt gerieten. Die Erforschung der sublunaren Welt schaffte keine Probleme.

Erst als sich die Wissenschaftler dem Himmel selbst zuzuwenden begannen, drangen sie in den Augen der Theologen in den Herrschaftsbereich Gottes ein. Das ist der Grund dafür, daß es nicht die Mediziner oder Biologen gewesen sind, die vor das Inquisitionsgericht kamen, auch nicht die Alchimisten und nicht einmal die Magier, sondern die Astronomen. Dies ist der historische Ausgangspunkt der bis in unsere Gegenwart nachwirkenden Auffassung, nach der die wissenschaftlich und die religiöse Interpretation der Welt sich gegenseitig ausschließen. Dieses Mißverständnis - daß das "Reich Gottes" im engeren Sinne erst jenseits des Mondes beginnt und vom sublunaren, irdischen Bereich konkret räumlich getrennt ist - wurde in den folgenden Jahrhunderten insbesondere zum Anlaß für eine theologische Argumentation, deren Folgen verheerend gewesen sind. Gegenüber der Naturwissenschaft zog sich die Theologie jetzt nämlich auf das Argument zurück, daß die grundsätzliche Unerforschlichkeit weiter Bereiche der Welt - vom Rätsel der Lebensentstehung bis zu den im Kosmos herrschenden Gesetzen - den unwiderleglichen Beweis für die Realität einer übernatürlichen, "über der sublunaren Region" existierenden Welt, also für die Möglichkeit des Gottesreiches bilde.

Verheerend war diese Argumentation bekanntlich deshalb, weil sich im Verlauf des langsamen Vordringens der Naturwissenschaften der für grundsätzlich unerforschbar gehaltene Teil der Natur fortwährend verkleinerte, bis schließlich, als der Himmel endgültig und vollständig zur Domäne der Astronomen geworden war, das zynische Wort von der "Wohnungsnot Gottes" geprägt werden konnte.

Uns Heutigen fällt es nachträglich schwer, die Erbitterung zu verstehen, mit der diese Kontroverse über Jahrhunderte hinweg ausgetragen wurde. Uns erscheint sie rückblickend als die Folge eines bloßen Mißverständnisses. Denn welcher Grund ließe sich für die Voraussetzung des Streits anführen, für die Annahme also, daß Gott nur in dem Teil der Natur wirksam sein könnte, der uns rational unzugänglich bleibt? Es fällt uns schwer zu verstehen, wie Theologen auf den Gedanken verfallen konnten, den Geltungsbereich göttlichen Wirkens in der Natur von den Fortschritten etwa der biologischen Forschung abhängig zu machen.

Glücklicherweise gilt das für die heutige Theologengeneration nicht mehr, wenn das genannte Vorurteil auch in manchen Abwandlungen in "gebildeten Kreisen" noch immer anzutreffen ist. Die Kirche jedenfalls sieht heute kein Problem mehr darin, die Welt insgesamt als göttliche Schöpfung zu begreifen, und zwar expressis verbis einschließlich der Bereiche, die wissenschaftlich analysiert und verstanden sind. Damit aber ist andererseits im Verlauf einer langen Geschichte, die ich hier nur kurz zu skizzieren versucht habe, jene Situation entstanden, von der ich ausgegangen bin und von der ich glaube, daß sie für unsere Epoche kennzeichnend ist: Wir leben heute in zwei Welten zugleich oder, wie ich vor dem Hintergrund des bisher gesagten jetzt präziser formulieren kann: Wir leben in einer Welt, die von zwei verschiedenen Instanzen zugleich auf gänzlich unterschiedliche Weise gedeutet und erklärt wird, nämlich einmal vor der Naturwissenschaft als das Produkt einer naturgesetzlich begreifbaren, den ganzen Kosmos umfassenden Evolution und zum anderen von der Theologie als das Ergebnis einer göttlichen, alle Naturgesetze und damit auch den menschlichen Verstand überschreitenden Schöpfung.

Dabei fühlt sich, um das gleich klarzustellen, der Naturwissenschaftler durch diese Doppelgleisigkeit einer unterschiedlicher Beschreibung des gleichen Objekts grundsätzlich keineswegs irritiert. Im Anschluß an eine inzwischen mehrere Generationen zurückliegende kritiklos-euphorische Phase der Selbstüberschätzung ist die Naturwissenschaft sich heute nach einer selbstkritischen Überprüfung ihrer Voraussetzungen und Methoden längs darüber klargeworden, daß sie die Welt nicht, und zwar prinzipiel nicht, vollständig beschreiben und erfassen kann. Damit aber bleibt Raum genug für eine außerwissenschaftlich, und damit auch für eine religiöse Deutung und Interpretation eber dieses selben Kosmos.

Die Äußerung, die Gagarin während sernei ersten Erdumkreisung 1961 im Weltraum gemacht haben soll "Genossen, ich sehe keinen Gott", ist für einen modernen Natur wissenschaftler längst kein Argument mehr, sondern nur noch ein törichte Bemerkung. Sie entspricht, wie so vieles anderes in der sich als Wissenschaft ausgebenden marxistischen Lehre, längst nicht mehr dem augenblicklichen Stande der Wissenschaft. Dieser Stand bringt es andererseits aber mit sich, daß wissenschaftliche und religiöse Beschreibung an immer mehr Stellen im Detail miteinander zu kollidieren beginnen. Die ursprüngliche konfliktlose Trennung in sublunare und himmlische Zuständigkeitsbereiche ist heute durch eine einst unvorstellbare wissenschaftliche Durchdringung aller Bereiche der Natur aufgehoben. Als Folge davon nimmt die Zahl der Fälle zu, in denen wissenschaftliche unc religiöse Aussagen angesichts des gleichen Sachverhalts aufeinanderstoßen und dabei, wie sich herausstellt, einander nicht selten widersprechen.

Das ist jetzt endlich die konkrete Beschreibung der Situation, die ich meine. Sie ist neu und damit aktuell. Und sie bedarf der Aufarbeitung, und zwar im Interesse beider Seiten, der Wissenschaftund der Theologie. Ohne diese Aufarbeitung drohen intellektuelle Unredlichkeit und Heuchelei. Ich möchte hier Kardinal Hermann Volk zitieren, den Vorsitzenden der Glaubenskommission der deutschen katholischen Bischöfe, der Anfang 1977 feststellte: "Die Theologie steht in verschiedener Hinsicht in anspruchsvollen Auseinandersetzungen. Die erste Auseinandersetzung ist die mit den Naturwissenschaften. Sie dauert schon Jahrzehnte, ist weitgehend abgeschlossen in dem Sinne, daß die Ergebnisse der Naturwissenschaften in die theologische Aussage einbezogen werden können, ohne daß der Glaube damit angegriffen würde. Das ist keine leichte Aufgabe, das erfordert die intensive Aufarbeitung durch die Theologie."

Ich möchte den zweiten Teil meines Vortrags nunmehr benutzen, um ein Beispiel für konkrete Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Theologie zu nennen und anhand dessen den Versuch zu machen, etwas darüber zu sagen, wie die Aufarbeitung aus der Sicht des Naturwissenschaftlers aussehen könnte. Meine exemplarische These lautet: "Gott ist kein Primat." Das ist eine Feststellung, über die eine Einigung ziemlich unproblematisch und einfach herbeizuführen sein dürfte. Mancher wird mir vielleicht sogar vorhalten, daß ich mit ihr ohnehin nur noch offene Türen einrenne.

Das mag richtig sein. Trotzdem möchte ich auf die hier angesprochene Problematik kurz eingehen, weil die Art und Weise, in der Fortschritte der naturwissenschaftlichen Erkenntnis Konsequenzen für theologische Aussagen haben können, sich gerade an einem solchen unproblematischen Fall besonders anschaulich zeigen läßt. Was mit der Formulierung "Gott ist kein Primat" gemeint ist, ist klar: Es ist unzulässig, sich Gott als menschenähnliches Wesen vorzustellen. Welche Bedeutung der einzelne mit dem Begriff "Gott" auch immer verbinden mag, sicher ist, daß es sich in keinem Fall um ein Wesen mit Armen und Beinen, mit einem menschenähnlichen Gesicht und all den übrigen körperlichen Merkmalen handeln kann, die in der biologischen Systematik ein Lebewesen aus der Ordnung der Primaten oder "höheren Tiere" kennzeichnen.

Das Verbot ist seit den Zeiten des Alten Testaments ein Bestandte der theologischen Überlieferung: Du sollst dir kein Bildnis oder Gleichnis machen. Das Christentum hat dieses Verbot jedoch, wie durch die Kunstgeschichte, wie speziell durch die religiöse und die kirchliche Kunst belegt wird, nie wirklich beachtet (im Gegensatz etwa zu seiner konsequenten Verfolgung im Islam). Die Darstellung Gottes als eines alten, meist bärtigen Mannes, taucht schon in frühchristlicher Zeit auf und hat seitdem eine fast ununterbrochene Tradition bis hin zu der bekannten Bilderbibel von Doré oder den Werken der "Nazarener". Ich glaube nun, so seltsam das im ersten Augenblick auch klingen mag, daß der Naturwissenschaftler zum Verständnis der Unbkümmertheit ein wenig beitragen kann, mit der über Jahrhundert hinweg gegen dieses Verbot verstoßen worden ist. Ohne Zweifel ist die Menschenähnlichkeit Gottes in der kirchlichen Kunst ja da Ergebnis eines logischen Umkehrschlusses aus der Angabe der Schöpfungsgeschichte, daß Gott den Menschen "nach seiner Ebenbilde" erschaffen habe.

Die künstlerische Darstellung dieser Ähnlichkeit läßt sich dahc als der Versuch deuten, auf diese Weise die besondere Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, die transzendentale Verwandtschaft zwischen Gott und dem von ihm geschaffenen und abhängigen Menschen, sinnfällig auszudrücken. Dagegen ist grundsätzlich mchts zu sagen. Auch die Tatsache, daß diese übernatürliche Verwandtschaft durch die Identität körperlicher Merkmale ausgedrückt wird, erscheint bis in die jüngste Zeit hinein entschuldbar. Sie ist so lange verzeihlich, wie die Ansicht zulässig war, daß der Mensch von der übrigen diesseitigen Welt, einschließlich der belebten Natur, radikal verschieden und in sie als ein ganz anderer wie in eine Kulissenlandschaft ("von außen her") von Gott hineingesetzt worden sei. So lange mochten Künstler Gott unbekümmert mit menschlichen Zügen ausstatten. Vor dem Hintergrund dieser Weltanschauun konnte niemand auf den Gedanken kommen, daß sich in diese Ahnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf etwas anderes al eine Erhöhung des Menschen dokumentiere.

Diese Unbekümmertheit kann aber heute auch der naivste Künstler nicht mehr für sich in Anspruch nehmen. In den vergangenen hundert Jahren haben wir nämlich entdeckt, daß die Besonderheiten des menschlichen Körperbaus bis in das letzte Detail hinein das Resultat einer biologischen Stammesgeschichte sind, der Evolution, die uns, wie neuere Untersuchungen inzwischen über allen Zweifel hinaus bewiesen haben, mit allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten verwandtschaftlich verbindet. Wir haben dabei Ähnlichkeiten ebenfalls als Ausdruck von Verwandtschaft zu deuten gelernt, in diesem Fall jedoch einer durchaus natürlichen, konkret biologisch zu verstehenden verwandtschaftlichen Beziehung. Das hat uns instand gesetzt, die Stammesgeschichte über die Jahrmilliarden der Vergangenheit hinweg zurückzuverfolgen und zu rekonstruieren.

Wir haben dabei entdeckt, wie im Verlauf uns unermeßlich erscheinender Zeiträume aus Reptilien Säugetiere hervorgingen, aus primitiven Insektenfressern Halbaffen und aus diesen schließlich die Ordnung der Primaten, zu denen neben den Menschenaffen auch wir selbst gehören. In diese großartige und faszinierende Geschichte dringt die Naturwissenschaft heute mit immer neuen Methoden, auf immer neuen Wegen tiefer und tiefer ein, wobei sie immer neue Gesetzlichkeiten und Einzelheiten rational analysiert, auf kausale Zusammenhänge zurückführt und damit unserem Verstand begreiflich werden läßt. Das Staunen und die Bewunderung angesichts dieser Geschichte des irdischen Lebens werden dabei nun immer größer. Und kein Naturwissenschaftler würde einem Theologen die Möglichkeit bestreiten, die gleiche von der Wissenschaft nach rationalen Kriterien untersuchte Geschichte auf eine ganz andere, nämlich eine religiöse Weise zu interpretieren und zu beschreiben, und zwar als die Geschichte einer göttlichen Schöpfung.

Ich vermute sogar, daß eine große Zahl der heutigen Naturwissenschaftler zu dem Zugeständnis bereit sein würde, daß damit über die von ihnen untersuchten Phänomene hinaus zusätzlich etwas über die Evolution ausgesagt wird. Eine Möglichkeit jedoch scheidet nunmehr endgültig aus: Die bildliche oder auch nur gedankliche Ausstattung Gottes mit menschlichen Zügen kann heute von keinem naturwissenschaftlich auch nur einigermaßen gebildeten Menschen mehr toleriert werden. Ich weiß selbstverständlich, daß diese Möglichkeit auch innerhalb der Theologie selbst seit Jahrhunderten immer von neuer wieder besprochen worden ist.

Es genügt, hier an Luthers Lehre vorn "verborgenen Gott" zu erinnern. Aus den eben genannte Gründen setzte sich dennoch immer wieder die Tendenz durch, mit Hilfe der äußeren Ähnlichkeit die besondere Beziehung des selbst eben auch schon über der Natur stehenden Menschen z Gott zu unterstreichen. In dieser Hinsicht ist nun durch den Fortschritt unserer naturwissenschaftlichen Einsichten eine grundsätzlich neue Situation entstanden, die auch von den Theologen nicht ignoriert werden kann. Wir wissen jetzt, daß der Mensch, daß wir selbst also, nicht über oder außerhalb der Natur stehen, sondern daß wir ein Teil de Natur sind, aus ihr hervorgegangen im Ablauf einer Evolutionsgeschichte, die alles Leben auf dieser Erde verwandtschaftlich zusammenschließt.

Und wir haben gelernt, die Ähnlichkeit des Körperbaus, die zwischen Lebewesen verschiedener Spezies bestehen den morphologischen Übereinstimmungen, die körperbaulichei Homologien, wie sie der Evolutionsforscher nennt, als Folge um damit als konkreten Beweis für diese Verwandtschaft zu erkennen und zu verstehen. Damit aber ist es endgültig unzulässig geworden, die von den Theologen gelehrte besondere Beziehung zwischen Gott und den Menschen durch eben diese Ähnlichkeiten darstellen oder auch nur symbolisieren zu wollen. Wer dieser Versuchung heute noch erliegt, muß sich vom Biologen sagen lassen, daß er damit nicht mehr den Menschen erhöht, sondern Gott erniedrigt.

Denn durch Merkmale dieser Art bezieht er Gott, ob er das nun will oder nicht, in die Evolutionsgeschichte ein, und das sogar an einer konkret angebbaren Stelle: Er macht Gott zum Primaten. Gott aber ist, wenn es ihn denn gibt, ganz sicher nicht ein Ergebnis der Evolution, sondern vielmehr ihre Ursache. Es mag schon sein, daß man mit einer solchen Argumentation bei fast allen Menschen heute nur noch offene Türen einrennt. Zumindest aber liefert sie - gerade anhand eines relativ unproblematischen Beispiels - einen meiner Ansicht nach überzeugenden Beweis dafür, daß Naturwissenschaft und Theologie einem gemeinsamen Gespräch heute schon deshalb nicht länger ausweichen können, weil sie längst in Berührung miteinander gekommen sind. Und schließlich sei mir, eingedenk der Situation in so mancher entlegenen Gemeinde, doch auch der leise Zweifel daran erlaubt, ob eine so direkte, wissenschaftlich-konkrete Beweisführung gegen die Zulässigkeit einer wörtlich verstandenen "Ebenbildlichkeit" heute wirklich schon gänzlich überflüssig geworden ist.

84

#

 

 

www.detopia.de     ^^^^