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Die Verantwortung naturwissenschaftlichen Erkennens

 

 

   1. Einleitende Bemerkungen  

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Ich werde das Thema im Sinne einer <Verantwortung des Wissenden> und speziell einer <Verantwortung des nach natur­wissen­schaftlicher Erkenntnis Strebenden> oder, einfacher, einer <Verantwortung des Natur­wissenschaftlers> auffassen und diskutieren.

In der öffentlichen Diskussion haben wir uns daran gewöhnen müssen, daß das Wort <Verantwortung> allzu schnell und leicht in den Mund genommen wird. Hier und jetzt wird oft behauptet, "daß man sich der Verant­wortung bewußt sei", oder "für dieses oder jenes die Verantwortung übernehmen würde". Wir müssen uns dabei im klaren sein, daß, wenn wir von Verantwortung sprechen, wir eigentlich immer genauer fragen müssen: Wer hat Verantwortung vor wem und für was? 

Hierbei drückt die Übernahme von Verantwortung eine Bereitschaft aus — gewöhnlich gegenüber den Mitmenschen, manchmal gegenüber der ganzen Menschheit oder sogar der ganzen Schöpfung —, für die durch eigenes Handeln verursachten Folgen persönlich einzustehen und auf eine geeignete Weise zu bürgen. In dieser Formulierung wird deutlich, daß für einen Menschen umfassende Verantwortung zu tragen kaum möglich sein wird und deshalb dies auch von ihm nicht gefordert werden kann. 

Die Antwort auf die Frage, ob ein Mensch im allgemeinen oder ein Naturwissenschaftler im besonderen die Folgen für sein Tun tragen muß und kann, kann deshalb nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden. Die Antwortet darauf bedarf einer genaueren Spezifizierung und Differenzierung. Die Frage, inwieweit ein Mensch für das, was er tut, verantwortlich ist, also gegeben­enfalls zur Rechenschaft gezogen werden kann, hat die Menschen — und hier vor allem auch die Theologen — zu allen Zeiten stark beschäftigt und beschäftigt sie auch heute noch.

Ich möchte und kann dieser Frage in meinem Vortrag selbstverständlich nicht in seiner vollen philosophischen Breite nachgehen. Ich möchte mich auf einige wenige Betrachtungen beschränken, die mir heute von großer Wichtigkeit erscheinen, und die sich direkt oder indirekt auf die Natur­wissen­schaft oder die naturwissenschaftliche Erkenntnis beziehen, wobei ich bei meiner Argumentation vor allem Einsichten der Naturwissenschaften selbst verwenden möchte. Ich will dies auch nicht in rein abstrakter Form tun, sondern in direktem bezug auf das, was uns heute als wache Menschen bedrückt und bedrängt. 

Offensichtlich war es doch nicht eine rein intellektuelle Übung, welche die Organisatoren dieser Ringvorlesung zu dem Thema <Verantwortung des Wissens> greifen ließ, und es ist wohl auch kein Zufall, daß sie beim <Wissen> mit dem <naturwissen­schaftlichen Erkennen> beginnen wollten. Sind es doch die Folgen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, welche die menschliche Zivilisation heute in eine ernste Existenzkrise zu stürzen drohen. Durch die rasante Entwicklung der Technik, die aus der Naturwissenschaft hervorgegangen ist, ist die Naturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer mehr aus ihrem philosophischen Elfenbeinturm herausgedrängt worden. 

Wissen ist Macht hatte schon im 16. Jahrhundert der englische Staatsmann und Philosoph Francis Bacon, Begründer des Empirismus, verkündet. Natur­wissen­schaft ist heute nur noch zu einem verschwindend kleinen Teil auf Erkenntnis und Wissen im eigentlichen Sinne orientiert. Ihr Hauptinteresse gilt der Anwendung, dem know-how, der Manipulation natürlicher Prozesse zur Erreichung bestimmter, gewollter Zwecke. Dies beinhaltet nicht nur, was wir gewöhnlich als Forschung in ‚angewandter Wissenschaft' bezeichnen, sondern schließt auch den größten Teil der Grundlagen­forschung ein, welche vorbereitende Untersuchungen für solche Anwendungen durchführt.

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Durch die extensiven und intensiven Forschungen der letzten Jahrzehnte wurde die Vielfalt der Manipulationsmöglichkeiten ganz beträchtlich erweitert, vor allem aber wurde auch die Stärke unserer Einflußnahme um viele Größenordnungen erhöht.

Mit der Erschließung der Atomkernenergie haben wir durch Kernspaltung die Energie­potentiale millionenfach gegenüber dem chemischen Energiepotential vergrößert, und die Kernfusion, die uns zunächst allerdings nur in der destruktiven Form der Wasserstoffbombe zugänglich ist, erlaubt eine weitere Vergrößerung. Wir haben mit diesen Energieumsetzungen eine Dimension erreicht, welche in Konkurrenz zu den natürlichen, auf unserer Erdoberfläche wirkenden Kräften treten. Damit ist uns die Fähigkeit zugewachsen, direkt in das empfindliche Kräftespiel einzugreifen, das die Stabilität unserer natürlichen Umwelt gewährleistet. Mit der modernen Naturwissenschaft und ihren technischen Möglichkeiten hat sich der Mensch Werkzeuge geschaffen, die prinzipiell zu seiner eigenen Zerstörung, ja zu seiner Zerstörung als Gattung und darüber hinaus sogar zur Zerstörung des verletzlichen, höher entwickelten Teils der Biosphäre ausreichen. 

Viele zeigen in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Naturwissenschaftler als die eigentlichen Verursacher dieser bedrohlichen Entwicklung. Dieses Unbehagen spitzt sich bei manchen in der Forderung zu, daß den Forschern künftig ihr Handwerk gelegt werden müsse, um der Menschheit eine Überlebens­chance zu geben. Sie sehen den Naturwissenschaftler in der Situation des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr bändigen kann. 

Diese Vorstellung hat einen wahren Kern. Sie charakterisiert aber die Lage der Naturwissenschaftler nur ungenügend, da die meisten von ihnen es gar nicht als ihre Aufgabe ansehen, die von ihnen entfesselten Kräfte selbst zu bändigen. Ihre Aufgabe, so meinen sie in ihrer ‚Bescheidenheit', war ja nur zu rufen, die Bändigung muß den Menschen in ihrer Gesamtheit gelingen und den von ihnen beauftragten Vertretern, den Politikern, überlassen bleiben. Im Gegensatz zur Wissenschaft, die sie betreiben, haben die meisten Wissenschaftler den Elfenbeinturm nicht verlassen und wollen ihn auch gar nicht verlassen.

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Obgleich sie mit ihrem Tun die Welt täglich verändern, sprechen sie in ihrer Mehrzahl immer noch von Erkenntnissuche, von faustischem Drang und von Befriedigung natürlicher Neugierde, sie bezeichnen ihr Tun als 'Wissen'-schaft, was eigentlich schon lange zur 'Machen'-schaft geworden ist. Wissen und Machen, Verstehen und Handeln sind für den Menschen selbstverständlich beide wichtig. Hierüber sollte kein Mißverständnis aufkommen. Es geht nicht darum, das eine vor dem anderen auszuzeichnen. Sie ergänzen und bedingen einander. Doch Machen und Handeln erfordern Verantwortlichkeit von dem, der manipuliert, der Wissen ins Werk setzt, denn unsere Kräfte sind zu groß geworden, als daß die Natur unsere Stöße und Tritte noch abfedern, als daß sie unsere Mißgriffe und Mißhandlungen uns noch verzeihen kann. Die Frage ist allerdings, ob und wie der Naturwissenschaftler diese Verantwortung wahrnehmen kann.

 

    2. Verantwortung in außergewöhnlichen Situationen   

 

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Anekdote erzählen, die mich als jungen Physiker sehr beeindruckt und tief betroffen hat. Ich habe nach dem Kriege, Anfang der 50iger Jahre, als Atomphysiker an der berühmten Universität von Kalifornien in Berkeley studiert und bei Edward Teller, dem sogenannten <Vater der Wasserstoffbombe>, auf dem Gebiet der theoretischen Kernphysik promoviert. In Berkeley waren zu jener Zeit viele Physiker, die während des Krieges direkt oder indirekt am sogenannten <Manhattan-Projekt> — dem Projekt zum Bau der ersten Atombomben — beteiligt waren. Einer der Physiker erzählte mir damals von den aufregenden Vorbereitungen zur ersten Testexplosion einer Atombombe, einer Plutoniumbombe, im Juli 1945 in einer Wüste zwischen dem Rio Grande und den Bergen der Sierra Oscura nordwestlich von Alamogordo in New-Mexico.

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Man hatte dieser Atombombe frivolerweise den Namen <Trinity>, <Dreifaltigkeit>, gegeben, vielleicht, wie einige meinten, weil sie eine von drei der damals im Bau befindlichen Atombomben war — die anderen beiden wurden später dann auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen — oder, wie Richard Rhodes in seinem neuen Buch <The Making of the Bomb> schreibt, durch einen Einfall Robert Oppenheimers beim Lesen eines Gedichts religiösen Inhalts.

Das Manhattan-Projekt war für die meisten Physiker damals — man muß es leider sagen: verständlicherweise — eine sie alle begeisternde, große wissenschaftlich-technische Herausforderung. Die spannende Frage war: Kann man durch geeignete Einbettung und Anordnung des spaltbaren Materials, des Urans-235 oder des Plutoniums, erreichen, daß die von Otto Hahn 1938 am Uran gefundene energiefreisetzende Spaltung eines einzelnen Atomkerns beim Beschuß von Neutronen, aufgrund der dabei freiwerdenden zwei bis drei weiteren Neutronen, weitere Atomkerne in der Umgebung spaltet und auf diese Weise eine lawinenartig ansteigenden Kettenreaktion in Gang setzt. Hierdurch sollten unvorstellbar hohe Energien freigesetzt werden, nämlich Energien, welche die bisher bekannten Energiefreisetzungen bei chemischen Prozessen, wie etwa bei der Verbrennung von Gas und Kohle, millionenfach übersteigen. 

Die Physiker und Techniker hatten bei dieser Waffenentwicklung kaum moralische Skrupel, da sie annehmen mußten, daß Physiker im feindlichen Deutschland Hitlers unter der kompetenten wissenschaft­lichen Leitung von Werner Heisenberg an einem ähnlichen Projekt arbeiteten — eine Annahme, die, was sie aber zunächst nicht wußten, unbegründet war. Obgleich der Krieg mit Hitler-Deutschland zum Zeitpunkt des Bombentests schon beendet war, wurde der Aufbau des Bombenexperiments — nun vor allem mit Blick auf Japan — mit höchster Eile und größtem Eifer vorangetrieben. 

Alle waren außerordentlich aufgeregt, ob dieser grandiose Test, auf den sie jahrelang hingearbeitet hatten, wohl gelingen würde oder nicht, ob er — wie sie es damals scherzhaft-makaber ausdrückten — ein <Junge> oder ein <Mädchen> werden würde. Plötzlich aufkommendes schlechtes stürmisches Wetter verzögerte jedoch die vorgesehene Zündung der Atombombe um einige Stunden und stellte damit die Geduld der Physiker auf eine schwere Probe.

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Doch dieser Umstand verschaffte den Physikern nach der langen hektischen Vorbereitungszeit zum ersten Mal eine kleine Atempause. Sie nutzten sie — für einige vielleicht zum ersten Mal —, um etwas eingehender über die möglichen Folgen einer solchen gigantischen Explosion nachzudenken. Man tappte bei diesen Überlegungen ziemlich im Dunkeln, da man ja auf keine vergleichbare praktische Erfahrung — nämlich einer kurzzeitigen Entwicklung von Millionen Hitzegraden ähnlich wie im Zentrum der Sonne — zurückgreifen konnte.

So wurde von einigen — insbesondere von Edward Teller und Enrico Fermi — die Frage aufgeworfen, ob sich bei dieser gewaltigen Explosion nicht durch einen physikalisch einsehbaren oder eventuell auch einen bisher unbekannten Mechanismus die Atmosphäre oder der Wüstensand entzünden könnten, wodurch vielleicht ganz New-Mexico oder gar die ganze Erde zerstört würde.  

Einige grobe Überschlagsrechnungen aufgrund bekannter Vorstellungen — man dachte dabei vor allem an eine Kernfusion des Wasserstoffes im Wasserdampf der Atmosphäre zu Helium, ähnlich wie im Inneren der Sonne — die die Physiker darüber in ihrer Wartezeit anstellten, erwiesen jedoch zu ihrer großen Beruhigung eine solche Gefahr als wenig wahrscheinlich. 

Aber keiner konnte selbstverständlich damals mit Gewißheit sagen oder beweisen, daß er bei diesen Überlegungen nichts Wesentliches übersehen oder gar irgendeinen neuartigen Effekt unberücksichtigt gelassen hatte.

General Groves, der militärische Kommandeur des Manhattan-Bombenprojekts, war durch die Gedankenspiele seiner Physiker äußerst irritiert, da er befürchtete, daß sie die Soldaten, die das Testgebiet abschirmten und die nichts von dieser ganzen Physik verstanden, beunruhigen oder gar in Panik versetzen könnten. 

Er soll deshalb die Physiker ernsthaft ermahnt haben, an diesen Überlegungen nicht weiter zu spinnen, und er entschied am Ende mit heroischer Geste: "Gentlemen, I will take the responsibility!" — "Meine Herren, ich übernehme die Verantwortung!". 

Bei diesem General Groves zugeschriebenen Ausspruch wird unmittelbar deutlich, wie leer der Verantwortungs­begriff unter solchen Umständen werden kann.

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Die Pose <Verantwortung zu übernehmen> erscheint in diesem Zusammenhang nurmehr als eine Art Mutprobe, als ein Akt, seine eigene Vernunft erfolgreich verdrängen zu können, eine Fähigkeit, in der wohl ein Militär besser geschult ist als ein reflektierender und damit auch ängstlicherer Wissenschaftler. Daß die Wissenschaftler jedoch damals ohne Ausnahme bereit waren, dieses Risiko einzugehen, zeugt von einer erschreckenden Unbekümmertheit und auch Arroganz, da sie ihr begrenztes Wissen für ausreichend hielten, diesen schwerwiegenden Schritt wagen zu können. An dieser kritischen Einschätzung ändert auch der Umstand nichts, daß ihre Sorglosigkeit und ihre subjektive Vorstellung, alles im Griff zu haben, damals nicht zu einer Katastrophe führte.

Es steht uns nicht an, sie für diese Haltung allzu sehr zu kritisieren. Wahrscheinlich hätten viele von uns in einer ähnlichen Situation auch so gehandelt. Diese Haltung ist wohl vor allem charakteristisch für Experten jeglicher Art, die so auf ihre spezielle Arbeit fixiert sind, daß sie die Einbettung ihres Tuns in einen größeren Zusammenhang nicht mehr sehen und die Beziehung zu ethischen und moralischen Normen vergessen. Einer solchen Einstellung begegnen wir auch heute auf Schritt und Tritt bei anderen ähnlich gefährlichen naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen. Wir brauchen hier nur etwa an die Gentechnologie zu denken.

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