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2.  Krise der Hoffnung

Eppler-1975         I   II   III   IV   V   VI   VII   


  I  

22-33

Die historische Zäsur, von der die Rede war, hat die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik Deutschland beunruhigt und verwirrt. Manche sahen in den Ereignissen seit Oktober 1973 einen Betriebsunfall, dessen Folgen sich rasch bereinigen ließen. Schuldig waren die Ölscheiche, die — wider alle Vernunft — die Ölpreise erhöht hatten. Dies schloß die Hoffnung ein, alles käme wieder ins Lot, könnte man eine Senkung der Ölpreise erzwingen.

Unter der dünnen Oberfläche solcher Argumente spielt sich etwas Elementares ab: 

Während die Bundesrepublik ökonomisch bislang weniger als andere Industriestaaten getroffen wurde, scheint sie psychologisch eher stärker betroffen zu sein. Während wir uns zu Recht rühmen können, unter den großen Industrie­nationen die geringste Inflationsrate, die höchsten Devisenreserven und Export­überschüsse, die wirksamste soziale Sicherung zu haben, sind die Menschen eher tiefer verstört als anderswo. Ausgerechnet in dem Land, das bislang keine Realein­kommensverluste hinnehmen mußte, wühlt die Krise mehr auf als in andern, sind die politischen Auswirkungen spürbarer.

Das hängt wohl zusammen mit dem erregenden politischen Aufbruch des Jahres 1972. Mehr als Willy Brandt je ahnen oder gar wünschen konnte, war sein Wahlsieg im November 1972 ein emotionaler Höhepunkt für viele Millionen Bürger innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie.

Die Hoffnung, daß »es« nun besser werde, was immer der einzelne dabei empfunden haben mag, hat mehr in Bewegung gebracht, als der Wahlsieger sich wünschen konnte. Er schien zu wissen, wie es weitergehen sollte, und eine Mehrheit vertraute ihm, traute ihm zu, daß er auf eine — seine — menschliche Weise in eine menschliche Zukunft führen würde. Dann kam die Ölpreiskrise, ein Jahr nach der Wahl. 

Die Regierung wußte sowenig wie jede andere, wie es nun weitergehen sollte. Sie war so wenig vorbereitet wie die japanische oder die britische. Was der Wirtschaftsminister zu Beginn jeder Kabinettsitzung berichten mußte (für die nächsten zwei Wochen kann ich mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, daß ..., eine Prognose für mehr als sechs Wochen ist nicht möglich), spiegelte die ganze Hilflosigkeit der demokratisch verfaßten Industrienationen gegenüber denen wider, die Öl produzieren oder — als multinationale Konzerne — über seine Verteilung entscheiden. Die Hoffnung, daß »es« besser werde, wich der Unsicherheit, wie »es« weitergehen werde, und da es darauf keine überzeugende Antwort gab, wurde aus Unsicherheit Angst, aus der Angst das Heimweh nach dem, was einmal war.

So haben wir es in der Bundesrepublik nicht nur mit einer Krise des Wachstums, der Beschäftigung, des Geldwerts, der öffentlichen Haushalte zu tun, sondern auch mit einer Krise der Hoffnung. 

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  II  

Der private Konsum in der Bundesrepublik Deutschland ist nach wie vor höher als in den meisten Ländern der Erde. Es war das erklärte Ziel der Regierung, ihn - allen Krisenerscheinungen zum Trotz - nicht nur zu halten, sondern zu steigern. Sie war entschlossen, dieses Ziel anzusteuern auf Kosten

Was immer konjunkturpolitisch für eine solche Politik sprechen mochte, jedermann 'weiß, daß sie nicht lange durchzuhalten ist. Eine Stimulierung des Konsums durch Steuererleichterungen ist nicht wiederholbar, auch nicht eine öffentliche Verschuldung im Stil der Jahre 1975 und 1976. Auch die Demonstration, wir seien schließlich nicht der Welt Zahlmeister, mag innenpolitisch des Beifalls sicher sein, außenpolitisch trägt sie nicht weit.

Was auch immer die Zuwachsraten — positiv oder negativ —unseres Konsums sein mögen, eines ist bereits sicher: Die Regel, daß der gehobene Konsum von heute der Massenkonsum von morgen sein müsse, gilt nicht mehr. Kühlschrank, Waschmaschine oder Auto waren 1950 einer kleinen Schicht vorbehalten, heute sind sie es nicht mehr. Der gehobene Konsum von gestern ist der Massenkonsum von heute. Aber der gehobene Konsum von heute wird nicht der Massenkonsum von morgen sein.

Das Ferienhäuschen am Luganersee, den Urlaub auf Bali, die eigene Jagd, das Reitpferd, das beheizte Schwimmbad in der eigenen Villa, Dienstpersonal, das Golfspiel, den Zweitwagen wird es nicht für jede Familie geben, unabhängig davon, ob die Statistik Wachstumsraten ausweist oder nicht. Daß für das Ferienhäuschen in der freien Landschaft der Platz, für das Schwimmbad die Energie nicht ausreicht, liegt auf der Hand. Aber auch die Ferienreise nach Bangkok oder Nairobi wird die Ausnahme bleiben: Solcher Massentourismus scheitert am Energiemangel und an den Energiekosten, und wäre dem nicht so, wer wollte — gegen den Widerstand der Anwohner — einige Dutzend neuer Flugplätze dafür schaffen?

Und selbst wenn es schließlich gelänge, unsere Republik in Flugplätze, Parkplätze, Müllplätze und allenfalls Golfplätze einzuteilen, so würden die Meteorologen Einspruch erheben, weil schon die heute fliegenden Düsen­maschinen die Atmosphäre auf eine für das Klima gefährliche Weise verschmutzen.

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Galbraith markiert noch eine andere Grenze für den Konsum:

»Von einem gewissen Punkt an werden Besitz und Verbrauch von Gütern zu einer Last, falls man die damit verbundenen Aufgaben nicht delegieren kann. So hat man nur dann etwas von immer raffinierteren und ausgefalleneren Speisen, wenn ein anderer sie zubereitet. Sonst wird jeder normale Mensch bald den Eindruck gewinnen, daß der erforderliche Zeitraum in keinem Verhältnis zum Lustgewinn durch den Genuß der Speisen steht. Immer größere und vollkommenere Wohnungen stellen in Pflege und Verwaltung eine immer größere Belastung dar. Dasselbe gilt für Kleidung, Fahrzeuge, den Garten, Sportgeräte und andere Konsumartikel. Dem Konsum sind keine Grenzen gesetzt, wenn es Leute gibt, auf die man die Verantwortung der Verwaltung abwälzen kann und die wiederum imstande sind, eine entsprechende Dienerschaft zu besorgen und zu beaufsichtigen. Ansonsten ist Konsum streng begrenzt.«9

Da die meisten Menschen immer ihre eigenen Diener, Verwalter, Gärtner oder Zubereiter sein werden, zeichnen sich auch hier Grenzen des Konsums ab.

Es mag ein realistisches Ziel sein, den Konsumstandard des Facharbeiters auch denen zu ermöglichen, die ihn heute noch nicht haben. Es muß möglich sein, jedem, der dies wünscht, seinen Farbfernseher oder seine Waschmaschine und eine anständige Wohnung zu verschaffen. Es ist aber nicht möglich, den gehobenen Konsum von heute zum Massenkonsum von morgen zu machen. Also verfängt auch die Vertröstung nicht mehr, bei stetigem Wachstum kämen alle einmal dran.10) 

Aus dieser simplen, aber doch wohl neuen Einsicht ergibt sich:

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  III 

 

Die öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland sind gekennzeichnet

 

Deficit-spending ist ein anerkanntes Mittel jeder Konjunkturpolitik und wird es auch bleiben, obwohl die Zweifel an der Wirksamkeit Keynesscher Rezepte nicht geringer geworden sind. Darüber hinaus wird öffentliche Verschuldung damit gerechtfertigt, daß die künftige Generation durchaus in der Lage sei, mit ihrem größeren Wohlstand die finanziellen Lasten der Investitionen mitzutragen, die heute — auch in ihrem Interesse —getätigt würden. Wachsende Verschuldung wird damit gerechtfertigt, daß zusätzlicher öffentlicher Kredit auch zusätzliches Wachstum schaffe, aus dem die Kredite bedient werden könnten.12 Dies mag richtig sein, wenn die Produktionskapazitäten aus konjunkturellen Gründen nicht ausgelastet sind. Aber was geschieht, wenn aus ganz anderen Gründen Wachstum in nennenswertem Ausmaß unwahrscheinlich wird?

Auch wenn wir in den nächsten Jahrzehnten nicht von einer Katastrophe in die andere stolpern, so ist es doch nicht eben wahrscheinlich, daß es der nächsten Generation materiell wesentlich besser gehen wird als der unseren.

Öffentliche Verschuldung könnte also bedeuten, daß wir heute auf Kosten derer konsumieren, über deren Lebenschancen wir nur wenig Präzises und noch weniger Erfreuliches wissen. Nicht genug, daß wir beim Verbrauch von Öl und Rohstoffen, bei der Verschmutzung und Vergiftung von Wasser und Luft wenig Rücksicht auf unsere Kinder nehmen, wir erwarten auch, daß sie mit ihren Steuergroschen die Staatspapiere verzinsen und tilgen, die wir mit ersparten Steuern gekauft haben. Natürlich werden es Angehörige derselben Generation sein, denen diese Zinsen zufließen, aber sicher nicht diejenigen, für die das Steuerzahlen einschneidenden Konsumverzicht bedeutet.

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Kurz: Die ganze Theorie der öffentlichen Verschuldung muß neu durchdacht werden. Wir müssen in den nächsten Jahren die öffentliche Kreditaufnahme nicht ausweiten, sondern einschränken. Daß dies bei einer Steuerquote von zwischen 22 und 23 Prozent möglich sei, wird niemand im Ernst behaupten.

Da hilft auch nicht die Forderung nach Einschränkung des »Staatsverbrauchs«. Staatsverbrauch kann Aufblähung des Beamtenapparats, dauernde Verbesserung der Stellenkegel bedeuten. Dem muß in der Tat Einhalt geboten werden. Staatsverbrauch kann auch mehr Dienstleistungen für Gesundheitsvorsorge oder Erwachsenenbildung bedeuten. Davon brauchen wir nicht weniger, sondern mehr. Die Formel vom Staatsverbrauch ist eher geeignet, Emotionen zu wecken, als Sachverhalte zu klären.

 

  IV  

 

Was uns vorläufig noch mehr auf den Nägeln brennt als die öffentlichen Haushalte, sind Inflation und Arbeitslosigkeit, zumal es sich inzwischen sogar als schwierig erweist, das eine auf Kosten des anderen zu bekämpfen. So richtig die Feststellung des Finanzministers Helmut Schmidt war, fünf Prozent Preissteigerung seien fünf Prozent Arbeitslosigkeit vorzuziehen, so war doch auch die Empörung darüber vorauszusehen: man wollte nicht eingestehen, daß von zwei entscheidenden Zielen, Vollbeschäftigung und Preisstabilität, meist nur eines auf Kosten des anderen zu haben sei.13)  

Heute sind viele froh, wenn wenigstens dies gelingt, denn die Inflation entzieht sich immer mehr dem Zugriff nationaler Regierungen. Zum einen gibt es in hochindustrialisierten Staaten einen wachsenden Sektor multinationaler Großunternehmen, der sich gegen alle Stabilitätspolitik unempfindlich zeigt, zum anderen kommt zum nationalen Verteilungskampf der internationale zwischen Rohstoffproduzenten und industriellen Verarbeitern. Ein zusätzlicher Inflationsschub ergibt sich aus der Tatsache, daß wir gelegentlich noch so tun, als ob beträchtliches Wachstum zu verteilen wäre. Hier gibt es einen Bremswegeffekt: Das Bewußtsein einer Periode raschen Wachstums bestimmt noch das Handeln in einer Periode, in der Wachstum zumindest nicht mehr selbstverständlich ist.

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Seit Herbst 1973 ist Konjunkturpolitik noch schwieriger geworden, als sie es durch die Weltwährungskrise bereits geworden war. Ein halbes Jahr, nachdem durch die gemeinsame Freigabe der Wechselkurse die außenwirtschaftliche Flanke der Stabilitätspolitik abgesichert erschien, hat die Verteuerung von öl und einigen anderen Rohstoffen alle Kalkulationen über den Haufen geworfen. Gegen den Inflationsschub, der daraus entstand, hat sich niemand so gut behauptet wie die Bundesrepublik. Aber dann zeigten sich sekundäre Folgen: Verunsicherte Bürger übten Zurückhaltung im Konsum, was zu einer relativ niedrigen Inflationsrate beitrug, aber die Konjunktur noch weiter bremste. 

Die Automobilindustrie war nicht ausgelastet, weil hohe Benzinpreise in aller Welt das Autofahren verteuerten und damit ein ohnehin erkennbarer Sättigungsgrad sich früher als erwartet bemerkbar machte. Die Zahlungsbilanzen einiger wichtiger Partnerländer waren so aus der Balance gekommen, daß der Export keinen dauerhaften Ausweg mehr versprach. Eine veränderte weltwirtschaftliche Arbeitsteilung beschleunigt Umstrukturierungen in unserer Wirtschaft. Strukturelle Schwächen (Automobilindustrie, Bauwirtschaft etc.) verstärkten den konjunkturellen Abschwung, dieser seinerseits vertiefte die Einbrüche in den kritischen Branchen.

Wer in dieser Situation nach Patentrezepten fragt oder gar solche anbieten möchte, bringt sich um den Anspruch, ernst genommen zu werden. Sicher ist, daß das Instrumentarium der Globalsteuerung angesichts einer solchen Verflechtung verschiedenartiger Krisenerscheinungen grobschlächtig erscheint. Für den Rest dieses Jahrzehnts muß sich jede Bundesregierung herumschlagen mit struktureller Arbeitslosigkeit und starkem Inflationsdruck.

Wahrscheinlich wird eine relative Vollbeschäftigung (weniger als eine halbe Million Arbeitslose) nur durch eine Inflationsrate zu erkaufen sein, die, international immer noch gering, für deutsche Verhältnisse beunruhigend erscheint.

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  V 

 

Unsicherheit breitet sich auch da aus, wo eine Mehrheit der Bürger den Reformwillen der Regierung mit getragen hat. Daß unsere Kinder gleiche Chancen in der Schule bekommen sollten, wollten und wollen die meisten von uns. Aber sind wir der Chancengleichheit soviel näher gekommen, wie wir wollten? Ist der Chancengleichheit eine Grenze dadurch gesetzt, daß in den ersten drei Lebensjahren Entscheidungen fallen, die ein Leben lang nicht mehr zu revidieren sind? Wird ein Kind, das in dieser Zeit lieblos von Heim zu Heim geschoben wurde, je dieselben Chancen haben wie eines, dem sich eine Mutter — oder eine andere Bezugsperson — voll und ungestört zuwenden konnte?

Engagierte Bürger wollten, daß mehr junge Menschen höhere Schulen besuchen. Und dieses Ziel ist in einem erstaunlichen Umfang erreicht worden. Aber was wird nun aus ihnen? Junge Menschen müssen heute mehr als je zuvor seit Gründung der Bundesrepublik um ihre Chancen kämpfen und bangen. Das beginnt beim Suchen der Lehrstelle, setzt sich fort mit Jugendarbeitslosigkeit und im Numerus clausus und endet bei stellenlosen Lehramtsbewerbern und der Nachwuchssperre an den Hochschulen. Haben die Dreißig- und Vierzigjährigen, kaum gehemmt durch die Reste der Kriegsgeneration, inzwischen alle wichtigen Positionen für Jahrzehnte besetzt? Kommt es zu jener Aussperrung der jungen Generation, vor der ernsthafte Beobachter warnen?

Allenthalben in der Bundesrepublik haben die Politiker aller Parteien Verwaltungsgrenzen verschoben, Kreise und Gemeinden zusammengelegt, neue Städte und Gemeinden gegründet. Sie hatten den Bürgern klargemacht, dies sei nötig, wenn sie richtig versorgt werden sollten mit Turnhallen, Bibliotheken oder Krankenhäusern. Den Bürgern hatte dies eingeleuchtet, weil es schließlich auch vernünftig war.

Aber nun stellt sich heraus, daß die Verwaltung dadurch nicht einfacher, sondern oft noch komplizierter geworden ist, und mancher fragt sich, ob das Gefühl, in einer überschaubaren Gemeinde zuhause zu sein, nicht doch ein paar andere Nachteile aufwiege.

Viele hatten sich vorgenommen, mehr Demokratie zu wagen, sei es im Betrieb, in der Gemeinde, an der Schule und Hochschule. Die Rezession machte sichtbar, wer trotz allem im Betrieb das Sagen hat. In der Gemeinde zeigt sich, daß der Gedanke der Bürgerinitiative häufiger, als dies gut ist, von robusten Interessengruppen diskreditiert wird, in Schule und Hochschule gibt es zu wenige, die fähig und engagiert genug sind, um die Chancen zu nutzen, die ihnen die neuen Gesetze bieten. Kurz: Es ist alles viel schwieriger, als wir es uns vorgestellt hatten. Überall stoßen wir an Grenzen.

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  VI  

 

Nicht weniger befremdlich und verwirrend sind die Nachrichten, die von außen zu uns dringen. Da erhält der Chef der palästinensischen Befreiungsbewegung bei der UNO in New York einen jubelnden Empfang und wird schließlich als Beobachter zur Weltorganisation zugelassen. Da übernimmt in Mozambique eine Bewegung die Macht, die bis vor kurzem dem deutschen Bürger als eine Horde blutrünstiger Terroristen dargestellt wurde. Und diese Befreiungsbewegung bittet voll Selbstbewußtsein die Portugiesen, doch ihre Truppen vorläufig im Lande zu lassen, damit kein Machtvakuum entsteht.

In Angola wird eine Gruppe von der Sowjetunion und Kuba, die andere vom Westen, China und Südafrika unterstützt, worauf bei uns die eine unter dem Etikett »pro-westlich«, die andere unter »pro-sowjetisch« läuft. Daß die »pro-westliche« unterliegt, empört gerade die Leute, die durch ihre Unterstützung des faschistischen Portugal die Befreiungs­bewegungen zur Anlehnung an den Osten gezwungen hatten, und beunruhigt eine Öffentlichkeit, die immer noch nicht begreifen will, daß in Afrika jeder von vornherein verloren hat, der sich mit dem Apartheids-Regime in Pretoria einläßt. Daher auch großes Erstaunen, als die Südafrikanische Union einfach von den Verhandlungen jener UNO ausgeschlossen wird, die doch einst die Gründung des weißen Mannes war.

Die Entwicklungsländer, die am erbarmungswürdigsten unter den hohen Ölpreisen leiden, wenden sich in der UNO keineswegs gegen die ölproduzenten, sondern gegen uns, die Industrieländer. Den kommunistischen Chinesen fällt es schwer, den Amerikanern wegen ihrer Kontakte mit den kommunistischen Russen nicht zu mißtrauen. Und schließlich gibt es im eigenen Lande Menschen, die Unschuldige umbringen und sich selbst zum Hungertod zwingen, nur um unser System zu diskreditieren. Und sie werden von Kommunisten als kleinbürgerliche Romantiker verurteilt.

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Der Deutsche, der seit 25 Jahren gewohnt ist, in den Kategorien des Ost-West-Konflikts zu denken, tut sich schwer, dies alles einzuordnen. Die Welt scheint aus den Fugen zu sein, wer renkt sie wieder ein? Woher sollen die Deutschen wissen, wieviele Demütigungen die Vertreter der Dritten Welt noch bei den Welthandelskonferenzen einstecken mußten, wieviel Ressentiment sich angesammelt hat bei denen, die seit zwanzig Jahren um Zugeständnisse betteln müssen und nur wohlgesetzte Reden mit guten Ratschlägen zu hören bekommen, noch 1974 in Bukarest bei der Weltbevölkerungskonferenz, in Rom bei der Welternährungskonferenz und in Nairobi 1976 bei UNCTAD IV?

Dem deutschen Bürger wird gesagt, jetzt gebe es einen politischen Ölpreis, festgesetzt von einem Machtkartell der Ölproduzenten. Als ob der frühere, billigere Ölpreis kein politischer Preis gewesen wäre! Nur waren bis dahin wir die Mächtigen, die den Ölländern ihren Willen aufzwingen konnten. Jetzt zwingen sie uns ihren Willen auf.

Wer den Zynismus nicht kennt, mit dem die Industrienationen die ökonomisch Schwächeren in der südlichen Erdhälfte behandelt haben, und, wo sie es sich leisten können, heute noch behandeln, wird fassungslos vor den emotionalen Ausbrüchen stehen, die heute die Weltorganisation durchschütteln und möglicher­weise funktionsunfähig machen. Wer sich nicht klarmacht, wie oft Vertreter der Dritten Welt uns gegenüber ihren ohnmächtigen Zorn hinter einem verlegenen Lächeln verbergen müssen, wird nicht begreifen, daß diese Politiker sich Arafat näher fühlen als uns.

Was heute auf der Welt vor sich geht, ist teilweise vergleichbar mit dem Aufbruch der Arbeiterbewegung vor hundert Jahren. Nachdem man jahrelang um etwas mehr Lohn und Freizeit gebettelt hatte, schloß man sich zusammen, um zu ertrotzen, was die Unternehmer freiwillig nicht zugestehen wollten. Daß da manches Irrationale im Spiel war, daß man den Bourgeois auch erschreckte, wo es weder nötig noch sinnvoll war, gehörte zu diesem Aufbruch. Der Arbeiter wollte gleich­berechtigt am Tisch sitzen, und schließlich saß er auch am Tisch.

Wie der Fabrikant von 1875, so ereifern wir uns heute über die Undankbarkeit jener, denen wir doch so großmütig geholfen hätten. Wie der Kapitalist von 1875, so verstehen auch wir die Welt nicht mehr. Daß dies damals am Fabrikanten lag, ist für uns eine Binsenweisheit. Leider haben wir keine hundert Jahre Zeit, um zu begreifen, an wem es liegt, wenn wir heute die Welt nicht mehr verstehen.

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  VII  

 

Wo Großmächte vor Ölscheichen kuschen, wo frei gewählte Regierungen ihre Hilflosigkeit gegenüber multinationalen Konzernen eingestehen, wo Rebellen von heute auf morgen zur Obrigkeit werden, wo Milliarden Menschen sich nicht mehr damit abfinden wollen, daß wir immer reicher werden, während sie im Elend verkommen, wo — für viele urplötzlich — Energie und Rohstoffe, dann auch noch Nahrungsmittel knapp werden, wo gegen die Inflation kein heilendes Kraut, gegen die Arbeitslosigkeit allenfalls ein linderndes wachsen will, ist mancher Bürger überfordert.

Niemand sollte ihm verübeln, wenn er Schutz sucht, wo keiner zu finden ist: bei denen, die schon immer gegen Experimente waren. Wer auf die angstvolle Frage, wie es denn weitergehen solle, keine überzeugende Antwort erhält, wendet sich denen zu, die doch einmal Ruhe, Ordnung und Sicherheit garantierten. Der Einwand, nur das Vieh suche, aus dem brennenden Stall geholt, wieder im brennenden Stall seine Zuflucht, mag Nachdenkliche noch nachdenklicher machen, an dem Vorgang ändert er nichts.

Was sich heute als Reformmüdigkeit, als Nostalgie, als reaktionäre Welle oder gar als Neuauflage eines bornierten Nationalismus äußert, ist letztlich eine Krise der Hoffnung. Es ist nicht wahr, daß der Mensch nur in der Gegenwart lebe, daß es ihm nur darauf ankomme, was er hier und heute in der Lohntüte hat. Er lebt immer auch in der Zukunft. Wo die Zukunft überwiegend als Chance erlebt wird, dominiert Hoffnung. Wo die Zukunft überwiegend als Bedrohung empfunden wird, als etwas Undurchsichtiges, Undurchschaubares, Gefährliches, dominiert die Angst. Wo der Mensch keine Hoffnung hat, »bekommt seine Gegenwart greisenhafte Züge. Ohne Hoffnung kommt die Zukunft bereits alt und schal bei uns an«.14) Mit dieser Vergreisung der Gegenwart aus Mangel an Zukunft haben wir es zu tun. Menschen klammern sich an die Sicherheiten der Vergangenheit, an Vorurteile, die wir längst für überwunden hielten.

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Wenn eine rückwärtsgewandte Welle heute bis in die Schulen hinein wirkt, so nicht nur deshalb, weil die progressive Welle sich gerade im intellektuellen Bereich geräuschvoll überschlagen hat, auch nicht nur, weil »linke« Theorien immer abstruser wurden, je zäher sich das Beharrungsvermögen des Bestehenden zeigte, nicht nur, weil sich daraus jene »Frustration« ergab, von der heute allenthalben die Rede ist, sondern auch, weil langsam, aber sicher die Angst über die Hoffnung die Oberhand bekam.

Daß die Angst von denen geschürt wird, die schon immer davon profitiert haben, ist ebenso richtig wie irrelevant: sie versuchen es immer. Und sie haben auch die Macht dazu. Nur: Warum sie es heute mit Erfolg tun, während sie es noch 1972 ohne Erfolg versuchten, ist des Nachdenkens wert.

Was Autoren wie Schelsky zu bieten haben, ist weder neu noch umwerfend. Daß es Anklang findet, nachgeredet wird, ist nur verständlich, wenn man den Hintergrund sieht: die Krise der Hoffnung.

Wie tief diese Krise inzwischen geht, hat der Bundestagswahlkampf 1976 gezeigt. Er wurde nicht geführt als Wettbewerb um die plausibelsten Konzepte mittelfristiger Krisenbewältigung. Er wurde nicht geführt um einen der vielen dramatischen Sachkonflikte, die auf der Straße liegen. In das Vakuum, das der Mangel an Sachalternativen gelassen hatte, dringen die Ängste, die Vorurteile, die Schlagworte und Parolen der fünfziger, ja der zwanziger und frühen dreißiger Jahre ein und zerstören den Grundkonsens, auf den die Bundesrepublik Deutschland gebaut wurde.

Der Abstand zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein ist in der Bundesrepublik rapide gewachsen. Wächst er weiter, so dürfte es dieser Gesellschaft schwerfallen, sich andern in Europa und darüber hinaus noch ausreichend verständlich zu machen. Der häßliche Deutsche wäre dann ein Mensch, der aus Angst vor der Wirklichkeit von heute und den Gefahren von morgen in die Begriffswelt und die Ressentiments einer Vergangenheit flüchtet, in der die Welt ihn fürchten und hassen lernte. Dagegen ist mit einem naiven Reform-Optimismus nicht anzukommen.

Reformen, zumal wenn sie - ungewollt - die Assoziation zunehmender Glückseligkeit hervorrufen, interessieren den nicht, der sich, unsicher und desorientiert, um seine Existenz ängstigt. Er wird auch Langzeitprogrammen nur dann etwa abgewinnen, wenn er sehen kann, wie sie an die Krisen der Gegenwart anknüpfen.

Wer es mit der Angst aufnehmen und Hoffnung wecken will, darf weder in den Verdacht kommen, er habe sich mit der Sintflut nach ihm schon abgefunden, noch darf er den Eindruck erwecken, er flüchte sich aus der bösen Gegenwart in Träume einer schöneren Zukunft: er muß zuerst und vor allem die Wahrheit sagen. 

Er muß glaubhaft machen, daß er den Willen hat, es mit den Krisen seiner Zeit aufzunehmen, und, ausgehend von einleuchtenden Maßstäben und Grundwerten, keine rosige, aber doch eine menschliche Zukunft vorzubereiten.

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  Ende oder Wende 1975  Von Dr. Erhard Eppler