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11. Bildung  

 

  I  

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Wie in den meisten westlichen Industrieländern, befindet sich auch unser Bildungswesen in einem Zustand, den kritische Betrachter als trostlos bezeichnen. In der Tat, vieles, womit Bildungspolitiker sich bislang getröstet haben, verflüchtigt sich. Die Möglichkeiten der Schule, eine in der Gesellschaft nicht vorgegebene Chancengleichheit zu erzwingen, sind begrenzt, weil die Schule nie ersetzen kann, was das Elternhaus, besonders in den ersten drei Lebensjahren des Kindes, leistet oder versäumt.85

Ein Erziehungssystem, dem man die Verteilung von Lebenschancen zumutet, gerät zunehmend unter einen Leistungsdruck, der jede fruchtbare pädagogische Arbeit erstickt.

Daß der Konkurrenzdruck auf den Kindern unserer Tage schwerer lastet als auf anderen Jahrgängen, hat auch mit dem Altersaufbau unserer Gesellschaft zu tun. Die ursprünglich starken und durch beide Kriege unterdurchschnittlich dezimierten Jahrgänge 1900 bis 1910 sind in den letzten zehn Jahren aus dem Berufsleben ausgeschieden. Da die Jahrgänge 1911 bis 1927 durch den Zweiten Weltkrieg auf eine verheerende Weise ausgedünnt wurden, sind im Lauf der letzten Jahre wichtige Positionen von Angehörigen der Jahrgänge 1928 bis 1945 besetzt worden. Dies gilt besonders für die Führungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Bildungswesen und Verwaltung. Der Löwenanteil ging dabei an die starken Jahrgänge der mittleren dreißiger Jahre, die noch etwa 25 Jahre im Berufsleben stehen werden. 

Manche Position ist damit für 30 oder 25 Jahre besetzt. Hier kamen zwei Vorteile zusammen:

Schwieriger wird es schon für die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen. Sie haben meist noch die erstrebte Beschäftigung gefunden in Industrie, Handwerk und Dienstleistungen, in Verwaltung, Schule oder Gesundheitswesen. Diesen Jahrgängen bleiben meist nur Spitzenpositionen versperrt, diese allerdings für lange Zeit.

Kritisch wird es mit den stärker werdenden Jahrgängen 1950 bis 1965. Hier treffen nahezu alle Nachteile zusammen:

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Die Expansion ist in fast allen Bereichen zu Ende, überall wird Personal eingespart, die Führungspositionen sind auf lange Sicht in festen Händen, und nun drängen Jahrgänge ins Arbeitsleben, die wesentlich stärker sind als die vom Kriege geschwächten, die ausscheiden.

Der römische Brunnen beginnt zu sprudeln. Nehmen wir die oberste Schale. Während bis in die fünfziger Jahre 14 Prozent aller Universitätsassistenten Professoren wurden, waren es in den Jahren 1967 bis 1974 76 Prozent: von vier Assistenten konnten also drei Professoren werden. Für die nächsten Jahre haben noch vier Prozent die Chance, also einer von 25, und wenn die vorgesehenen Stellenstreichungen wirksam werden, dürfte es bestenfalls noch einer von hundert sein. Das heißt: Wer 1950 geboren wurde, hat, verglichen mit einem Angehörigen des Jahrgangs 1935, ein Hundertstel der Chance, einen Lehrstuhl zu bekommen.

Also wird der weitaus größte Teil des wissenschaftlich befähigten und ausgebildeten Nachwuchses sich anderswo umsehen: in der privaten Forschung, in der Wirtschaft, bei Banken und Versicherungen, im Verlagswesen, in der Publizistik, in der Verwaltung und in der Schule. Aber da sieht es nicht grundsätzlich anders aus. Die Zahl der Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen nimmt rasch ab, die der Verlage zumindest nicht zu. Die Verwaltung im engeren Sinne — und dafür gibt es zwingende politische Gründe — muß einfacher und billiger werden, braucht also nicht mehr, sondern weniger Personal. Der Abbau von 60.000 Stellen bei der Bundesbahn bis 1979 dürfte dort ähnliche Verhältnisse schaffen, und zwar auch beim einfachen und mittleren Dienst.

Juristen werden meist nur noch mit weit überdurchschnittlichen Examina in den Staatsdienst übernommen, das schließt vier Fünftel aus, die nun in die Anwaltspraxen drängen oder, da auch hier der Bedarf seine Grenzen hat, als Sachbearbeiter bei Versicherungen Nicht-Akademikern die Arbeitsplätze streitig machen. Wenn Banken Lehrlinge einstellen, so verlangen sie häufig das Abitur, wo bislang die mittlere Reife oder der Hauptschulabschluß ausreichte, und die Realschülerin muß froh sein, wenn sie als Schreibhilfe ankommt.

Wir können von Glück sagen, daß der Bedarf an Ingenieuren noch für einige Zeit steigt, daß die steigende Nachfrage nach Technikern wohl erst in einigen Jahren durch die noch rascher steigende Zahl der Anwärter ausgeglichen sein wird, daß Facharbeiter gesucht sind, etwa im weiten Bereich der Metallberufe, daß in anderen Bereichen, wo der Bedarf rückläufig ist, wie bei den Papiermachern, den Holzberufen, den Bauberufen, auch der Zustrom nachläßt, daß bei dem besonders begehrten Elektrikerberuf erst in einigen Jahren mit einem Überhang gerechnet werden muß.

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Die letzten aber, die keine Lehrstelle gefunden, keine Lehre abgeschlossen haben, die Hauptschüler ohne Abschluß oder die Sonderschüler, beißen die Hunde. Für sie bleibt nur noch die ungelernte Arbeit und damit die Aussicht auf immer wiederkehrende Perioden der Arbeitslosigkeit, da ihre Tätigkeiten von Jahr zu Jahr mehr aus unserem Lande auswandern in Länder, deren Löhne nur einen Bruchteil der unseren ausmachen.

Was sich hier an extremer Chancenungleichheit zwischen den Generationen anbahnt, was manche als Aussperrung einer ganzen Generation empfinden, belastet unser Schulsystem und unsere Kinder um so mehr, je länger wir zögern, neue Arbeitsplätze auch und gerade da vorzusehen, wo der wachsende Bedarf an Humandienstleistungen dies verlangt.

Die Jugendlichen unseres Landes reagieren bislang eher verhalten. Sie entwickeln sich nach Professor Lempp zu angepaßten Neurotikern. Sie werden dies solange tun, wie sie noch hoffen, durch konsequentes Konkurrenzverhalten die Nase doch so weit nach vorn zu bringen, daß sie vielleicht zu den Ausnahmen gehören werden, die sich ihren Platz erkämpfen. 

Was geschieht, wenn sie begreifen müssen, daß dadurch kein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz entsteht, sondern nur die Anforderungen für die noch vorhandenen noch ein bißchen in die Höhe geschraubt werden? Was geschieht, wenn sich Anpassung und Konkurrenz­kampf schließlich als eine hoffnungslose Tretmühle erweisen?

Wir können es nur ahnen.

 

  II  

 

Im Februar 1975 erklärte der Vorsitzende der deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie, Professor Lempp, weil die Schule immer mehr zu einem »Selektions­instrument für weiterführende Institute« werde, führe eine neue »Streberwelle« zu immer mehr psychischen und psychogenen Erkrankungen. Junge Mütter, berichtet Lempp, bekämen schon Angst, daß ihr Kind nicht intelligent genug sei, »wenn es nur 14 Tage nach dem Kind der Nachbarin sprechen lernt«.86 Diese Angst werde auf das Kind übertragen und beeinträchtigte es, noch bevor es zum erstenmal die Schulbank gedrückt habe.

 wikipedia  Reinhart_Lempp  1923-2012   DNB Lempp Bücher 

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Weil der Notendurchschnitt, der für das Studium einzelner Fächer verlangt wird, sich nach dem Andrang auf das Fach richtet, dieser wiederum nach den Verdienst­chancen im angestrebten Beruf, werden die verzerrten Einkommenshierarchien der Gesellschaft ins letzte Klassenzimmer projiziert.

Weil in der Schule entschieden werden soll, an welcher Stelle der Einkommenshierarchie der junge Mensch seinen Platz finden soll — oder gar, ob er überhaupt einen Platz findet —, wird solidarisches Denken und Handeln schon im Klassenzimmer zum Traum von Romantikern abgewertet. Vernünftige Ansätze, wie etwa die Reform der Oberstufen im Sekundarbereich, werden durch den Numerus clausus in ihr Gegenteil pervertiert: Wo am Beispiel einiger Bereiche das Lernen gelernt werden soll, wird ein halbes Studium vorweggenommen.

Bei vielen Lehrern breitet sich Resignation, Unlust, manchmal auch Zynismus aus. Junge Pädagogen, die voll guten Willens demokratische Erziehung erproben wollten, flüchten sich verstört — und erfolglos — in die Methoden der Großväter.

Bei Schülern mehren sich Verhaltensstörungen, Neurosen, Psychosen und Selbstmorde.87 Die Familien, die sich nicht selten zu einer psychischen Sanitätsstation oder gar zum Lazarett für den schulischen Konkurrenzkampf degradiert sehen, tun mit ihrem Ehrgeiz oft ein übriges, um ihre Kinder zu überfordern. Nicht selten plagt sich auch die Schule mit dem ab, was in den Familien verbogen oder verdorben wird. Während unser Gesundheitssystem nicht ohne eine große Erziehungsleistung ins Lot gebracht werden kann, wird es Zeit, unser Erziehungssystem danach zu befragen, was es an gebrochenen, mutlosen, drogenabhängigen und kranken Menschen hervorbringt.

Die bildungspolitische Diskussion der letzten Jahrzehnte war geprägt durch Fragen der Bildungsorganisation. Es wurde zu Recht darauf verwiesen, daß ein dreigliedriges Schulsystem nicht mehr in unsere Gesellschaft paßt, zumal die Pyramide des 19. Jahrhunderts — unten die Volksschule für das Volk, darüber die Mittelschule für den Mittelstand, schließlich das Gymnasium für eine kleine Oberschicht — heute auf dem Kopf steht. Spätestens wenn die Hauptschule zur Restschule wird, hat das dreigliedrige System seine Daseinsberechtigung verloren. Aber es zeigt sich jetzt, daß auch die Gesamtschule unter den gegenwärtigen Voraussetzungen nicht leisten kann, was sie leisten soll.

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Chancengleichheit kann sie besser, wenn auch keineswegs ausreichend verwirklichen, sie kann auch feinfühliger den Interessen und Begabungsrichtungen der Kinder nachspüren; aber auch die Gesamtschule läßt sich pervertieren, wenn in ihr das Rennen um knapper werdende Berufschancen ausgetragen werden soll.

Die quantitative Ausweitung unseres Bildungssystems war und bleibt eine Leistung, aber hat sie die erhofften Früchte gebracht? Die Zahl der Abiturienten und Studenten ist sprunghaft gestiegen, wir haben mehr Hochschulen, mehr Professoren, mehr Lehrer, kleinere Klassen, längere Ausbildungszeiten, bessere Schulgebäude, höhere Gehälter und mehr Auf Stiegschancen für die Lehrer. Nun stellen die Finanzminister fest, daß dies alles seine Grenze haben müsse.

Vor die Wahl gestellt, ob nun die Flucht nach hinten oder die Flucht nach vorn beginnen soll, haben sich die Beherzteren unserer Bildungspolitiker mit der Abschaffung des Numerus clausus ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Niemand bestreitet, daß diese Flucht nach vorn Härten, Unzuträglichkeiten, für manchen Hochschullehrer auch die Überforderung seiner Kräfte mit sich bringen kann. Es wäre auch unredlich, vergäße man den Studenten zu sagen, daß dies der Abschied ist von jeder Art von Beschäftigungsgarantie für Akademiker. Trotzdem ist der Versuch nötig, einfach um den Druck auf die Schulen, der vom Numerus clausus ausgeht, zu verringern. Und ein gefährlicher, aber mutiger Schritt hat mehr für sich als das resignierte Treibenlassen, an das wir uns in der Bildungspolitik schon gewöhnt hatten.

Denn noch nie konnte man so ratlose Bildungspolitiker sehen wie in der Mitte der siebziger Jahre. Kein Wunder, daß die These Ivan Illichs von der »Entschulung der Gesellschaft«,88 von keinem Geringeren als Hartmut von Hentig in Deutschland zur Diskussion gestellt, uns den letzten Rest bildungspolitischer Naivität raubte. (Der Autor selbst hat es zweimal abgelehnt, die Verantwortung des Bundeswissenschaftsministers zu übernehmen, letztlich deshalb, weil er zwar die Enttäuschung kommen sah, aber kein praktikables Alternativkonzept zu entdecken oder zu entwerfen vermochte.)

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   III   

 

Was bedeutet die historische Zäsur dieser Jahre für unser Bildungssystem? Was erwartet die ABC-Schützen des Jahres 1976, wenn sie sich, 20 Jahre alt, in der Gesellschaft des Jahres 1990 oder, 40 Jahre alt, in der Gesellschaft des Jahres 2010 bewähren sollen?

Es ist ziemlich leicht vorauszusagen, daß sie mit dem Wissen und Können, über das sie im zwanzigsten Lebensjahr verfügen, im vierzigsten nicht mehr übermäßig viel anfangen können, wenn sie nicht andauernd dazugelernt haben.

Schon schwieriger ist abzuschätzen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten dann verlangt werden. Wenn es wahr ist, daß wir schon heute nicht alles tun dürfen, wozu Wissenschaft und Technik in der Lage wären, dann ist anzunehmen, daß sich der Abstand zwischen dem, was wir können, und dem, was wir für verantwortbar halten, im Laufe des Lebens dieser Kinder erweitert. Die Fähigkeit, verantwortlich mit komplizierten und teuren Apparaturen umzugehen, könnte nicht weniger gefragt sein als die, neue zu erfinden. 

Die Bereitschaft und der Wille, in sachlicher Diskussion mit andern zu einer klaren Entscheidung durchzustoßen, könnte wichtiger werden als der Ehrgeiz, andere durch Leistung zu überflügeln. Der Mut, unpopuläre Erkenntnisse zu vertreten und umzusetzen, könnte mehr zur Mangelware werden als die Fähigkeit, möglicherweise unbrauchbaren Wissensstoff anzuhäufen. Wo unvermehrbare Ressourcen knapp werden, wo winzige Gruppen, wenn sie ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen wollen, die komplexe Apparatur einer Industriegesellschaft lahmlegen können, dürfte solidarisches Handeln zur Voraussetzung für humanes Überleben werden.

Kurz: 
Für unsere Kinder könnte genau das wichtig werden, was sie in unseren Schulen und Universitäten nicht lernen, gelegentlich sogar verlernen, wenn sie es anderswo gelernt haben.

Hartmut von Hentig hat einmal zusammengestellt, welche Erfahrungen unseren Kindern vermittelt werden müßten:

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Es läßt sich kaum bestreiten, daß in diesen Forderungen manches von dem mitschwingt, was in diesem Buch Wertkonservatismus genannt wird. Aber gerade dies läuft nicht auf die Konservierung der Strukturen hinaus. Wenn, wie von Hentig formuliert, Lernbereitschaft — für ihn dasselbe wie die Weigerung, sich einfach treiben zu lassen — angewiesen ist

dann zielt dies offenkundig nicht auf mehr institutionalisierte Autorität, sondern auf »Mitsprache, Mitteilung, Mitbestimmung«.90

 

   IV  

 

Unsere Kinder werden in der Lage sein müssen, neue Tatsachen und neue Erkenntnisse richtig einzuordnen, und dazu bedarf es geistigen Trainings und eines Grundstocks von Wissen. Deshalb werden auch die Schulen auf Leistungswettbewerb nicht verzichten können. Aber ein solcher Wettbewerb muß nicht in einer Atmosphäre des verzweifelten Kampfes um den Platz an der Futterkrippe, er kann sehr wohl auch in einem Klima fröhlichen Spiels geschehen, immer vorausgesetzt, daß es dabei nicht um Weichenstellungen für ein ganzes Leben geht.

Da wird es auch möglich, der Förderung wieder Priorität vor der Auslese zu geben. Unser Schulwesen ist immer perfekter geworden, wenn es darum geht, unseren Kindern nachzuweisen, wo sie am schwächsten sind, und immer unzulänglicher, wenn es darum geht, sie zu fördern, wo sie am stärksten sind. Darauf aber kommt es an.

In einen solchen Lernprozeß ließe sich, was sich nach neueren Forschungen, etwa von Bronfenbrenner, als äußerst nützlich erwiesen hat, auch die Familie eher einbeziehen, die bislang nur als unbezahlter Büttel oder Hilfslehrer in Aktion tritt. Es ist erstaunlich, wie wir uns mit der unerträglichen Tatsache abgefunden haben, daß die Eltern meist ebensowenig von der Lebenswelt ihrer Kinder in der Schule wissen wie die Lehrer von der Lebenswelt des Kindes zu Hause. Beide, Eltern und Lehrer, haben bislang nur ein unvollständiges Bild von den Kindern, die sie erziehen sollen. Eltern, die sich in der Schulwelt ihrer Kinder auskennen, werden bessere Eltern, Lehrer, die die Familienverhältnisse des Kindes kennen, bessere Lehrer.

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Um ein beliebtes Mißverständnis gleich auszuscheiden: Hier wird nicht gegen Leistung argumentiert. Ein gesundes Kind will etwas leisten, es will an seiner Leistung wachsen. Nur: Wir verwechseln Leistung mit Erfolg, und Erfolg wird in unserer Gesellschaft meist in Mark und Pfennig gemessen, oder doch in der Anwartschaft darauf.

Ludwig von Friedeburg hat seinen Leistungsbegriff so formuliert: »Daß Lernen, das Spaß macht, leichter fällt, bedeutet nicht, es könne oder solle auf die Anstrengungen des Begriffs verzichtet werden. Das Ergebnis solcher Anstrengung ist Leistung.«

Leistung kann sich auch ausweisen in gelungener Partnerschaft, praktizierter Solidarität, Mut zur Entscheidung, ernst genommener Verantwortung, aktiver Toleranz, Bereitschaft zur Revision der eigenen Ansicht, Annahme unheilbaren Leidens.91

Aus solchen Einsichten ergeben sich als Zielvorstellungen:

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  V  

Im <Bericht '75 der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats> heißt es: 

»Die Möglichkeit, sich nach Abschluß der beruflichen Erstausbildung und einer Zeit der Berufstätigkeit zusätzlich zu qualifizieren, könnte auch die Schulen von Selektionswirkungen entlasten. Der relativ frühe Wechsel ins Beschäftigungssystem wird eher zumutbar, wenn der Übergang ins Berufsleben nicht gleichbedeutend ist mit der Aufgabe jeder Chance zum Erwerb anderer und höherer Qualifikationen.«92

Von solchen Zielvorstellungen aus ist es nicht weit zu dem Bildungskonzept, das im angelsächsischen Bereich unter dem Namen »recurrent education« bekannt geworden ist.

Ins Deutsche wird dieser Begriff übersetzt mit »Ausbildung und Praxis in periodischem Wechsel«. Bei aller Vorsicht und bei allen Vorbehalten, die gegenüber jedem bildungspolitischen Konzept angebracht sind, scheint sich hier doch so etwas wie eine Perspektive zu öffnen. Das ideale Bildungssystem gibt es nicht, aber vielleicht das erträgliche.

Das Zentrum für Bildungsforschung und Bildungsinnovation (CERI), eine Institution der OECD, hat 1973 eine Studie über »recurrent education« vorgelegt als Grundlage für eine Diskussion der 9. Europäischen Erziehungsministerkonferenz im Juni 1975 in Stockholm. Im Vorwort dazu heißt es: 

»Die hochentwickelten Gesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts verhalten sich so, als ob es möglich wäre, Bildung so weit auszubauen und zu streuen, bis jede vorhandene Begabung zur Entfaltung gebracht werden kann. Unter dieser Voraussetzung wäre die Schule einer der Hauptwege zu größerer sozialer Gerechtigkeit.
Diesen Weg zur sozialen Gerechtigkeit auf der Basis allgemeiner Bildung erblickte man in einem bruchlosen, langwierigen Prozeß, der ebenso Vorschulerziehung wie Primarschule, Sekundärschule und Hochschule umfaßt. Es scheint, als ob man 15 bis 20 Jahre ununterbrochenen Eingespanntseins in diverse Erziehungssysteme als den geeignetsten Weg zur Entwicklung des Individuums und zur sozialen Gerechtigkeit betrachtete.«93

Für »recurrent education« spricht nach Meinung der CERI: 

»Erstens hat der Ausbau des Bildungswesens nicht im erwarteten Maße zum sozialen Ausgleich beigetragen, zweitens können Gesellschaften, deren sozialer und ökonomischer Strukturwandel vom einzelnen ständige gesellschaftliche und berufliche Neuorientierung verlangt, nicht ohne irgendeine Form von ständiger Fort- und Weiterbildung auskommen, und drittens macht die für die meisten Schulsysteme so typische Trennung zwischen schulischer Bildung und Lernen durch Erfahrung eine Art Entschulung erforderlich. Schließlich würde Ausbildung und Praxis im periodischen Wechsel auch die Kluft zwischen dem heute für einen Jugendlichen verfügbaren Bildungsangebot und den Bildungsmöglichkeiten der älteren Generation verringern.«

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Das Konzept geht aus von den bestehenden Schwierigkeiten: 

»Solange die Aufnahme eines Hochschulstudiums der einzige Weg zu beruflichem und gesellschaftlichem Erfolg bleibt, bleibt es auch bei dem Ansturm auf die Universitäten, und Sekundärschulen bleiben weiterhin die <Vorzimmer der Hochschulen>. Geboten scheint eine Reform der Oberstufe der Sekundärschulen, um einen glatteren Übergang in die Arbeitswelt zu ermöglichen und der Entscheidung zwischen Universitätsstudium, Arbeit oder sozialen Berufen etwas von ihrer bisherigen Unwiderruflichkeit zu nehmen.
Eine derartige Politik kann aber nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn ein flexibleres postsekundares Bildungssystem periodisch Möglichkeiten der Erwachsenenbildung eröffnet, so daß niemand, der sich für Arbeit oder einen sozialen Beruf entschieden hat, unwiderruflich für diesen Entschluß büßen muß.«94)

Zu den Kernpunkten dieses Konzepts gehört:

Die Autoren sehen in einem solchen Konzept auch ein »Regulationsinstrument in Zeiten der Arbeitslosigkeit«,96) also die Chance, die Spanne zwischen zwei Arbeitsverhältnissen produktiv zu nutzen, sich auf neue Arbeit vorzubereiten.

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Hier liegt ein wichtiger Ansatz. Wir werden uns in einer Zeit rascher Strukturveränderungen, in einer Zeit, in der die Produktion möglicherweise weniger steigt als die Produktivität, also arbeitsfreie Zeit erzeugt wird, ohnehin etwas einfallen lassen müssen, damit sich der vorübergehend Arbeitslose nicht nur sozial gesichert, sondern auch als vollwertiges aktives Glied der Gesellschaft fühlen kann.

Da offenbar alle Bildungssysteme innerhalb der OECD, also der nichtkommunistischen Industrieländer, in demselben Spital krank liegen, gehen die Autoren auch auf die Leistungsbewertung ein: »In einem System periodischen Wechsels zwischen Ausbildung und Praxis müssen Konkurrenzdenken und übertriebener Individualismus als Elemente der Leistungsbewertung aufgegeben werden.«97

 

  VI  

Sicher zielt »recurrent education« auf eine Integration des gesamten Bildungsbereichs nach der Pflichtschulzeit, also der Gymnasialoberstufe, der Berufsbildung, der Hochschule und der Erwachsenenbildung. Der Einwand, dies lasse sich nicht in wenigen Jahren erreichen, ist richtig, aber irrelevant. Es könnte auch für kleine praktische Schritte in den nächsten Jahren entscheidend sein, ob wir uns in dieser Richtung bewegen wollen oder nicht. Möglicherweise haben wir uns schon seit einiger Zeit dahin bewegt: Die Durchlässigkeit zwischen Schularten, der Zwang zur Verkürzung von Studienzeiten, die Aufstufung von Fachhochschulen, die Aufwertung der Berufsbildung, der neue Akzent auf der Erwachsenenbildung weisen in diese Richtung. 

Ein nächster Schritt könnte die Reform der beruflichen Bildung und ihre stärkere Verzahnung mit dem allgemeinbildenden Schulwesen sein, ein anderer könnte darin bestehen, bei der Zulassung zur Hochschule die Schulzeugnisse weniger, Erfahrung und Bewährung im praktischen Berufsleben stärker zu werten. Auch die Forderung nach einem »koordinierten Weiterbildungssystem als viertem Bereich des Bildungswesens«, wie sie im Entwurf eines Orientierungsrahmens von der Langzeitkommission der SPD erhoben wird, hat offenbar dasselbe Ziel im Auge.

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Es ist hier nicht der Ort, alle Vorteile, Schwierigkeiten und Tücken dieses Ansatzes darzustellen. Natürlich stellt sich auch hier die Frage der Kosten, einmal der Finanzierung der Bildungsleistungen im engeren Sinne, zum andern — und dies wird eines der Schlüsselprobleme sein — die Unterstützung des einzelnen oder auch seiner Familie während der Teilnahme an Lehrgängen. Aber es sind durchaus Modelle denkbar, die zumindest nicht dieselbe Kostenexplosion hervorrufen wie das gegenwärtige System. Natürlich wird man darauf achten müssen, daß nicht auch die Bildungsangebote der periodischen Erziehung überwiegend von denen benutzt werden, die ohnehin schon einen hohen Bildungsstand haben. Daher müßte man sich zuerst auf die Erwachsenen mit geringerer Schulbildung konzentrieren und bei Zuschüssen für den Lebensunterhalt Grenzen setzen für die Gesamtdauer der — von der Öffentlichkeit finanzierten — Bildungszeit.

Ernstzunehmen ist auch der Einwand der Illich-Schüler, auch ein solches Bildungssystem werde lediglich wieder die alten Strukturen unserer Gesellschaft reproduzieren, es werde nicht die kritische Distanz zur Gesellschaft haben, die für deren Veränderung nötig sei. Auch wenn dem entgegenzuhalten wäre, daß keine Gesellschaft sich am Schopf ihres Bildungswesens aus dem Sumpf ziehen kann, weil die Gesellschaft immer mindestens ebensosehr auf das Bildungssystem wirkt wie das Bildungssystem auf die Gesellschaft, so wird doch darauf zu achten sein, daß nicht Machtgruppen innerhalb der Gesellschaft sich der Institutionen eines solchen flexiblen und vielgliederigen Systems bemächtigen.

Natürlich wird man verhindern müssen, daß einfach die herkömmlichen Methoden des Schulunterrichts — falls man bei der Vielfalt der Methoden heute davon noch sprechen kann — auf ein völlig anderes System übertragen werden. Sicher wird sich das Verhältnis des Lehrenden zum Lernenden und damit auch des Lernenden zum Lehrenden verändern müssen bis hin zu dem Punkt, wo Erwachsene im gegenseitigen Erfahrungsaustausch lernen.

Wir tun gut daran, von Bildungsreformen keine Wunder zu erwarten, zumal Bildungssysteme den Erfordernissen der Zeit immer hinterherhinken. Aber wir brauchen eine Perspektive, um die Resignation zu überwinden, die sich wie Mehltau über die Bildungspolitik gelegt hat. Wir brauchen eine Perspektive, die vielen vernünftigen Einzelmaßnahmen ein Ziel setzt: ein flexibles Bildungssystem, das, fehlerhaft wie alle Bildungssysteme, den Erfordernissen der Zukunft besser entspricht als das bestehende.

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  Ende oder Wende 1975  Von Dr. Erhard Eppler bei