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12. Westen — Osten — Süden 

 

 

  I  

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Noch nie in der Geschichte waren Innen- und Außenpolitik so vielfältig verflochten wie heute. Jede Aufwertung der Mark, jede Auslands­investition einer deutschen Firma, jede Subvention für unsere Bauern, jede Maßnahme zur Dämpfung oder Belebung der Konjunktur sind ein Stück Außen­politik. 

Wenn wir ausländischen Arbeitnehmern nicht dasselbe Kindergeld zukommen lassen wie deutschen, ist dies — schlechte — Außenpolitik, die durch keine diplomatischen Bemühungen wettzumachen ist. Das Verhalten der deutschen Zuschauer bei der Olympiade war — gute — Außenpolitik. Gleichzeitig machte das Massaker von München klar, daß auch unsere innere Sicherheit davon abhängt, ob es zu einem für alle annehmbaren Frieden im Nahen Osten kommt. 

Ob in der Bundesrepublik ein Polizeistaat entsteht, liegt nicht nur am guten oder bösen Willen unserer Politiker. Wenn die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen in der Dritten Welt in demselben Tempo weiter ansteigt wie in den letzten Jahren, dürften wir einen Terrorismus erleben, der die Liberalität unseres demokrat­ischen Rechtsstaates rasch unterspült. 

Es ist durchaus möglich, daß wir die Realität von Weltinnenpolitik in der Form eines Weltbürgerkrieges erfahren.

Konstruktive Ostpolitik läßt sich sehr wohl vereinbaren mit einer scharfen Abgrenzung gegen den Kommunismus im Innern — sie setzt diese sogar voraus —, nicht aber mit einem hysterischen Antikommunismus. Das atlantische Bündnis kann durchaus bestehen, wenn wir die Gesellschaft der USA distanziert-kritisch betrachten, nicht, wenn undifferenzierter Anti-Amerikanismus bei uns überhand nimmt. Erfolgreiche Afrikapolitik verlangt nicht, daß unsere Zeitungen über Amin oder Bokassa zartfühlender berichten, als dies tansanische oder senegalesische Blätter tun. Aber sie wird unmöglich, wenn eine wirtschaftlich mächtige Südafrika-Lobby mit Hilfe eines guten Teils unserer veröffentlichten Meinung sichtbar auf unsere Politik gegenüber Afrika einwirkt.

Am unbarmherzigsten zeigt sich die Verflechtung von Außenbeziehungen und inneren Strukturen bei der Entwicklungspolitik. Wie sich an Quantität und Qualität schwedischer oder niederländischer Entwicklungshilfe das weltoffene Klima und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse dieser Länder ablesen lassen, so spiegeln Zahlen und Zweckbestimmung der US-Auslandshilfe die Krise der US-Gesellschaft wider. Daß der entwicklungspolitische Spielraum in der Bundesrepublik seit Mitte 1973 zunehmend enger wurde, entspricht genau den Prozessen, die sich in anderen Bereichen unserer Gesellschaft vollzogen.

 

  II  

 

Die Bundesrepublik hat durch die Politik Willy Brandts in den Ost-West-Beziehungen eine optimale Position gefunden. In den sechziger Jahren nahm das politische Gewicht der Bundesrepublik im Westen in dem Maße ab, wie unsere NATO-Partner Kooperation mit dem Ostblock suchten. Unsere Weigerung, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges hinzunehmen, hätten wir nach Osten noch einige Zeit durchhalten können, nach Westen nicht. Die Friedenspolitik nach Osten war für die frühen siebziger Jahre die einzig erfolgreiche Westpolitik. Und die wachsende Unterstützung im Westen machte die Bundesrepublik zum begehrten Partner im Osten. Wenn es gelingt, diese optimale Position zu halten, so ist damit etwas erreicht, was sich in den sechziger Jahren niemand hätte träumen lassen.

Zu den denkbaren Bruchstellen, die diese Position gefährden könnten, gehört die Europäische Gemeinschaft. Eine Sowjetunion, die sich mit der Realität Westeuropas abgefunden hat, wird nicht dieselbe Westpolitik betreiben wie eine, die hoffen kann, geschwächte westeuropäische Nationalstaaten gegeneinander auszuspielen. Dies ist beileibe nicht der einzige, nicht einmal der wichtigste Grund, für die Einigung Westeuropas zu streiten, aber er würde für sich allein ausreichen.

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Es gehört zu den Merkmalen des Staatsmannes, daß er im entscheidenden Augenblick ökonomische Erwägungen und Interessen seinen politischen Zielen unterordnet. Konrad Adenauer hat dies ebenso getan wie Willy Brandt. Beide haben recht behalten. Wird die ökonomische Großmacht Bundesrepublik vor die Frage gestellt, ob sie ökonomische Potenz in politische Münze, in die Realisierung des politisch Nötigen und Wünschbaren umsetzen oder ob sie auf politisch Realisierbares verzichten will, um ihre ökonomische Potenz weiter zu stärken, muß sie sich im Zweifelsfall für ersteres entscheiden. Wer dies nicht einsieht, hat die Fakten der politischen Geographie ebenso vergessen wie die der europäischen Geschichte.

Dies gilt zuerst für den europäischen Zusammenschluß. Es mag taktisch immer wieder nötig sein, auf die Grenzen unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu verweisen; die Felder europäischer Politik aus fiskalischen Gründen zu beschränken oder gar zu reduzieren liegt nicht in unserem Interesse.

Eine andere denkbare Bruchstelle liegt im Verhältnis zu Polen. So richtig es war, mit der Ostpolitik in Moskau zu beginnen, so unerläßlich es sein mag, auch künftig vor allem die Beziehungen zur Sowjetunion intakt zu halten, so fatal wäre es, wenn in Polen der Eindruck entstünde, wir hätten es nun nicht mehr nötig, uns um Polen zu kümmern. Wir dürfen in Moskau nie den Eindruck erwecken, wir wollten an der Sowjetunion vorbei mit ihren Verbündeten politische Geschäfte machen. Aber wir dürfen auch nicht in Warschau Erinnerungen wecken an Zeiten, wo Deutsche und Russen sich auf Kosten der Polen verständigten. Hier ist uns weniger ein Balanceakt abverlangt als eine politische Reifeprüfung, ein Maß an politischem Takt, das bei den Bundeskanzlern der letzten Jahre stärker ausgeprägt war als bei manchen Berufsdiplomaten.

 

  III 

 

Was sich in den sechziger Jahren in unserem Verhältnis zum Osten abzeichnete, droht heute in unserem Verhältnis zum Süden. War damals unsere Stellung im Westen dadurch belastet, daß wir als einziges Land in der östlichen Schußlinie blieben, so könnte es jetzt geschehen, daß wir in der Auseinandersetzung zwischen Nord und Süd das europäische Land werden, auf das sich Kritik und Zorn der südlichen Halbkugel konzentriert. Und eben dies kann nicht ohne Auswirkung bleiben auf unsere Stellung in den Ost-West-Beziehungen. Was Adenauer nach Westen und Brandt nach Osten zuwege gebracht haben, muß nach Süden erst noch geleistet werden.

Tatsache ist, daß die Sprecher vieler Entwicklungsländer bei ihren Angriffen gegen die westlichen Industrieländer die Bundesrepublik — nach den USA — am häufigsten ins Visier nehmen. Das war schon so, ehe die Delegation der Bundesrepublik auf der Welthandelskonferenz in Nairobi 1976 die Deklamation marktwirtschaftlicher Dogmen mit Politik verwechselte und damit für eine eigene Version des häßlichen Deutschen sorgte: des Deutschen, der, wieder reich geworden, anstatt zu helfen, sich selbst zur Nachahmung empfiehlt. Nun mag man nachweisen, daß viele Angriffe auf zweifelhaften Informationen beruhen, daß allein schon unsere wirtschaftliche Macht uns Argwohn zuzieht, daß manche sich von der DDR aufhetzen lassen. Man mag es auch für Realismus halten, solche Angriffe nicht ernst zu nehmen, denn wieviel Bataillone haben Julius Nyerere oder Frau Bandaranaike? Man mag auch wehleidig reagieren, wie ungerecht dies doch sei, wieviel wir doch für diese Länder schon getan hätten, wie wenig Dankbarkeit wir erführen.

Vernünftiger ist es wohl, über die Ursachen nachzudenken. Wie sieht diese Republik aus, wenn man sie von Algier oder Delhi aus betrachtet? Wann immer ein Land der Dritten Welt aus der Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit entlassen wurde, tauchten in der Dritten Welt unsere Diplomaten auf. Sie hatten die Weisung, mit nahezu jedem Mittel eine Anerkennung der DDR zu verhindern. Sicher, sie waren auch bereit, sich die Sorgen ihrer Gastländer anzuhören, hier eine Straße, dort eine technische Schule zu finanzieren. Aber ihr ganzes Denken drehte sich um einen einzigen Punkt: Die DDR darf nicht Fuß fassen. Und das wurde mit der Zeit lästig. Zunehmend kamen deutsche Geschäftsleute ins Land, solide und solche, die nach dem »hit and run«-Prinzip ihre Geschäfte machten ohne Rücksicht darauf, ob die Ölmühle an der richtigen Stelle stand, die Düngemittelfabrik rentabel produzieren konnte oder die rücksichtslos kahlgeschlagenen Waldflächen erodierten und verkarsteten.

Wenn es um die Bekämpfung des Rassismus ging, waren die Deutschen verbal immer dabei, wenigstens soweit sie die Bundesregierung vertraten. Aber in Südafrika und Namibia erwiesen sich Deutsche — mit deutschem Paß und ohne — als die verbohrtesten Rassisten. In Cabora Bassa waren deutsche Firmen vorn, nicht, weil sie an die rasche Unabhängigkeit Mozambiques, sondern allen Ernstes den Diplomatenberichten glaubten, die ein Sicherheitsrisiko ausschlössen. Schließlich ging es um deutsche Interessen. (Daß daraus ein Bürgschaftsfall für den Steuerzahler werden könnte, da die Frelimo keineswegs alle finanziellen Verpflichtungen der Portugiesen übernimmt, könnte der Sache noch eine ironische Pointe geben.)

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Als der ökumenische Rat der Kirchen einen Sonderfonds für Befreiungsbewegungen gründete, begann in Deutschland eine gründliche theologische Diskussion über die Gewalt, an die niemand gedacht hatte, als es um die Unterstützung des aufständischen Biafra gegen die Zentralregierung in Lagos ging. In großen Teilen der Presse wurden die Freiheitskämpfer in den portugiesischen Kolonien nicht besser — und auch nicht klüger — behandelt als 15 Jahre vorher die in Algerien. Sie waren Rebellen gegen die Obrigkeit, und das genügte in Deutschland für feindselige Ablehnung.

Fast überall, wo der Süden sich gegen den industrialisierten Norden auflehnte, in Algerien, in Vietnam, im südlichen Afrika, teilweise auch im Nahen Osten, sahen die meisten Deutschen nur Schauplätze des ihnen geläufigen Ost-West-Konflikts, Machenschaften der Kommunisten, und sie wußten daher auch, auf welcher Seite sie zu stehen hatten.

Ereignisse, die andern die Tiefe der historischen Zäsur vor Augen führten, daß nämlich zum erstenmal seit der Renaissance der Süden dem Norden einen Preis, den Ölpreis, aufzwingen oder in Vietnam ein kleines Bauernvolk des Südens die Vormacht des Nordens schlagen und demütigen konnte, wurden in Deutschland eher als lästige Zwischenfälle abgetan.

Kein Land außer den USA verficht so penetrant jene These, die für die meisten Entwicklungsländer aufgrund von zwei Jahrzehnten Erfahrung nur als Verhöhnung ihres Elends empfunden werden kann: daß es nämlich vor allem darauf ankomme, das Wachstum in den Industrieländern in Gang zu halten oder wieder in Gang zu bringen, dann werde auch für die Armen etwas davon abfallen98 — eine These, der z.B. die schwedische Entwicklungspolitik seit Beginn der siebziger Jahre energisch widerspricht."

Mochte man Engländern und Franzosen ihre Kolonialmethoden — und deren Fortsetzung mit anderen Mitteln — übelnehmen, so engstirnig provinziell wie die Deutschen empfand man sie nicht.

Und hier sind wir ziemlich nahe an der Wurzel des Unbehagens: Ein Volk, das — ohnehin kontinental orientiert — durch seine Teilung mehr als andere in den Kategorien des Ost-West-Konfliktes denken gelernt hat, wirkt aufreizend provinziell, wenn es um die Nord-Süd-Problematik geht.100) Und dieses Volk wächst aufgrund seiner wirtschaftlichen Kraft in eine Verantwortung hinein, die es nie wollte und mit der es nicht viel anzufangen weiß.

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Im Jahr 1974 hat sich dieses Unbehagen aus mehreren Gründen wesentlich verschärft. Die Bundesrepublik begann genau in dem Augenblick auf der Bühne der Vereinten Nationen zu agieren, als das Selbstbewußtsein und die Empfindlichkeit der Entwicklungsländer nach der Erhöhung der ölpreise gewachsen war. Um so gereizter stellten die Vertreter aus der südlichen Erdhälfte fest, daß die praktische Politik der Bundesrepublik nicht ganz den Grundsätzen entsprach, die der deutsche Bundeskanzler und sein Außenminister in ihren Antrittsreden verkündet hatten. Dazu kam der Rücktritt Willy Brandts, dessen Ansehen vieles überdeckt hatte, was an Groll längst vorhanden war.

Daß das wirtschaftlich gesündeste und durch die Ölkrise am wenigsten erschütterte Industrieland unmittelbar danach seine —im internationalen Vergleich ohnehin nicht üppige — Finanzplanung für Entwicklungshilfe zusammenstrich, weil es die Steuern drastisch senken wollte, hätte auch dann ein übriges getan, wenn dies nicht zum Rücktritt des Entwicklungsministers geführt hätte.

Und daß dieses Land anschließend jeder anderen Form von Ressourcen-Transfer, sei es die Verbindung von Sonderziehungsrechten mit Entwicklungshilfe, sei es eine Neuordnung des Rohstoffmarktes, am unerbittlichsten widersprach, hat die Bundesrepublik im Nord-Süd-Verhältnis inzwischen genau in die Position manövriert, in der sie sich Mitte der sechziger Jahre im Ost-West-Verhältnis vorgefunden hatte.

 

  IV  

 

Die Frage für die zweite Hälfte der siebziger Jahre lautet: Wie kann die Bundesrepublik als Teil des Westens in der Südpolitik eine Aufgabe erfüllen, die ihrer Funktion in der Ostpolitik entspricht? Wie wird dieser mächtige Industriestaat mit der Verantwortung fertig, die ihm ohne oder gegen seinen Willen zugewachsen ist? So deutlich die Analogie zur Ostpolitik in die Augen springt — haben wir in den sechziger Jahren nicht auch Politik mit der Deklamation hehrer Grundsätze verwechselt? —, so wenig Analogien wird es in der Methode geben können, die uns aus der Sackgasse herausbringt. Zähes Feilschen um Interessenausgleich konnte das Stichwort sein für zwei mächtige, gleichwertige Gegenspieler, nicht für zwei Erdhälften, von denen die eine der andern an militärischer, wirtschaftlicher und technologischer Macht unendlich überlegen ist.

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Unsere Südpolitik wird außenpolitisch vor allem auf drei Feldern konstruktive Antworten finden müssen: in unserer Haltung gegenüber dem südlichen Afrika, dem Nahost-Konflikt und der UNO; schließlich in einer Entwicklungspolitik, die in alle Bereiche der Innenpolitik hineinwirkt, bis hin zu unserem persönlichen Lebensstil.101)

Daß die Tage der weißen Herrschaft im südlichen Afrika gezählt sind, daß die Diktatur von Minderheiten noch in diesem Jahrzehnt entweder durch politische Absprache oder — wahrscheinlicher — durch den blutigen Ausbruch angestauten Hasses ein Ende nehmen dürfte, dämmert inzwischen auch denen, die noch vor kurzem mit weit hergeholten militär-strategischen Argumenten den Status quo in diesem Raum glaubten verteidigen zu müssen. Kenner der Szene, gleich welcher Hautfarbe, 1971 befragt, gaben dem portugiesischen Kolonialregime bestenfalls noch fünf Jahre. Es dauert keine drei Jahre. 1975 gaben sie dem Smith-Regime in Rhodesien keine zwei Jahre, der weißen Herrschaft in Südafrika keine sechs Jahre mehr. Sobald die winzige weiße Minderheit in Rhodesien ihren halsbrecherischen Versuch der Machterhaltung aufgeben muß, tritt die Auseinandersetzung um Südafrika in eine dramatische, möglicherweise schon blutige Phase. Daran läßt sich mit kleinen Zugeständnissen — Aufgabe der »petty Apartheid« — kaum mehr etwas ändern. Daß sich solche Einsichten in Deutschland erst durchzusetzen begannen, als der US-Außenminister 1976, wie ein afrikanischer Staatspräsident formulierte, »Afrika entdeckt« hatte, hat dem Ansehen der Bundesrepublik sicher nicht genützt.

Es gibt Deutsche, die Rassendiskriminierung im südlichen Afrika verrechnen wollen gegen andere Diskriminierungen, etwa in kommunistischen Staaten. Niemand dürfte bestreiten, daß z.B. Christen in der DDR diskriminiert werden, wenn es um öffentliche Ämter oder auch um Ausbildungschancen geht. Sie erleiden Nachteile, weil sie nicht bereit sind, sich einer Staatsideologie zu unterwerfen. Dies berührt weder ihre Selbstachtung noch die Achtung durch die Mitbürger, oft nicht einmal durch die Träger des Systems. Etwas anderes ist die stündliche Demütigung, die den Alltag der Schwarzafrikaner in Südafrika bestimmt. 

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Daß Menschen ihrer Hautfarbe wegen als minderwertig behandelt werden, trifft sie und zumindest den größeren Teil der Menschen auf dieser Erde im Kern ihrer Selbstachtung. Nur so ist zu verstehen, warum geschriebene und ungeschriebene Regeln zwischenstaatlicher Beziehungen unbeachtet bleiben, sobald es um Fragen der Rassendiskriminierung geht.

Daher hat unsere Haltung gegenüber dem südlichen Afrika Auswirkungen auf die gesamte südliche Halbkugel. Manche Fehlgriffe und Versäumnisse sind nicht zu reparieren. Trotzdem müßte eine neue Anstrengung gemacht werden durch

 

  V  

 

Seit dem arabischen Ölembargo gerät jeder, der in Europa den arabischen Standpunkt im Nahost-Konflikt nicht völlig abwegig findet, in den Verdacht, er beuge sich Drohungen oder Erpressungen. Und gerade für Deutsche gibt es mehr als einen Grund, dies nicht zu tun.

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Das Schicksal des Staates Israel ist bis hin zu den Unbegreiflichkeiten israelischer Außenpolitik mit unserer eigenen Geschichte verknüpft: Ein Volk, das wie kein anderes die totale Wehrlosigkeit gegen einen unmenschlichen Feind erfahren hat, das sich wie kein anderes seinen Schlächtern hilflos ausgeliefert sah, neigt verständlicherweise dazu, sich nun zuerst und zuletzt auf seine eigenen Waffen zu verlassen. Die Existenz des Staates Israel kann für keinen deutschen Politiker ein Verhandlungsgegenstand sein.

Aber eben weil dies so ist, müssen wir nüchtern fragen, wie die Völker im Nahen Osten zum Frieden finden können. Israel kann sich keinen Krieg mehr leisten, auch keinen gewonnenen. Bei einem verlorenen — und der wäre früher oder später unvermeidlich — stünde die Existenz Israels auf dem Spiel.

Es ist kein Friede im Vorderen Orient vorstellbar, der nicht drei Elemente enthielte: 

Es ist durchaus möglich, daß Friede für Israel 1973 noch unter günstigeren Bedingungen erreichbar war. Längeres Zögern wird sie nicht wiederbringen, sondern die gegenwärtigen weiter verschärfen. Die arabischen Länder sehen keinen rechtlichen oder machtpolitischen Grund, weshalb sie auf die Rückgabe ihres Territoriums verzichten sollten. Sie werden sich mit der Anwesenheit israelischer Truppen auf den Golanhöhen nicht abfinden, vielleicht über die Abwesenheit syrischer Truppen mit sich reden lassen, aber eben erst dann, wenn die Souveränität Syriens über dieses Gebiet außer Zweifel steht.

Es dürfte auf längere Sicht nicht möglich sein, die Grenzen im Nahen Osten ohne Truppen der Weltmächte zu sichern. So verständlich der israelische Argwohn gegen internationale Garantien sein mag, andere gibt es nicht für ein Land in der geographischen Lage Israels. Wenn es um die Garantie der Grenzen und der Sicherheit im Nahen Osten geht, wird die Europäische Gemeinschaft nicht abseits stehen können.

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Westeuropa wird sich in der Nahost-Politik, je länger der Konflikt schwelt, desto deutlicher auf die französische Linie zubewegen. Auf die Dauer wird es nicht möglich sein, auf dem schmalen Grat zwischen der englischen und der französischen Fassung der Sicherheitsratsresolution 242 zu balancieren. Das Argument, daß militärische Eroberung keine territorialen Veränderungen mehr legitimieren könne, ist zu einfach und zu eingängig, als daß man dagegen argumentieren könnte — zumal nicht in dem Teil der Welt, wo Israel als Teil des industrialisierten Nordens, die Araber als Repräsentanten des Südens verstanden werden.

Die Isolierung Israels in der öffentlichen Weltmeinung ist darauf mindestens so sehr zurückzuführen wie auf jene ölwaffe, die, ähnlich anderen modernen Waffen, politisch nur so lange wirkt, wie sie nicht angewandt wird. Niemand kann ein Interesse daran haben, Israel in eine Lage zu manövrieren, in der es sich aus Schwäche gegen Lösungen sperrt, die es aus einer Position der Stärke heraus nicht für annehmbar gehalten hatte. Daher werden wir, die Deutschen wie die Europäer, deutlich machen müssen, daß unser Drängen auf einen Frieden der Vernunft auch im Interesse des Landes ist, dessen einzige Chance eben dieser Friede bleibt.

 

  VI  

 

Es gehört in Deutschland zum guten Ton, die Vereinten Nationen nicht besonders ernst zu nehmen. In der Tat gibt es mehr Beispiele für ihr Versagen als für ihren Erfolg. Seit 1974 kommt dazu der nicht immer glückliche Versuch der Entwicklungsländer, die Vollversammlung zur Tribüne ihrer Anklagen, ihres Aufbegehrens, ihrer Forderungen zu machen, dort ihr neues Selbstbewußtsein auf recht unbequeme Weise zu demonstrieren. Trotzdem ist es töricht, solche Vorgänge den Vereinten Nationen anzulasten. 

Was sich am East River in New York abspielt, spiegelt genau den Zustand der Welt wider: die Ressentiments, den Zorn, die Bitterkeit und die Träume derer, die lange genug zusehen mußten, wie die Reichen fast ausschließlich damit beschäftigt waren, reicher zu werden. Es spiegelt die Unsicherheit der Sowjetunion und ihrer Verbündeten wider, denen nichts anderes übrig bleibt, als sich jeweils möglichst unauffällig in den Zug der Protestierenden einzureihen, damit sie nicht selbst in die Schußlinie geraten; schließlich wird in den Vereinten Nationen die überhebliche Ratlosigkeit jener westlichen Länder deutlich, die es nicht nötig haben, mitzuspielen, aber auch nicht die Kraft aufbringen, dieser Weltgesellschaft neue Ziele zu setzen.

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Es ist im Ernst nicht zu verlangen, daß es bei den Vereinten Nationen vernünftiger zugehe als auf dem Erdball, dessen Vertreter in den Vereinten Nationen zusammenkommen. Aber gerade deshalb ist ein — besserer — Ersatz für die Vereinten Nationen nicht denkbar. Sie werden nicht unwichtiger, sondern unentbehrlicher. Es gehört schon zum Repertoire der Sonntagsreden in aller Welt, daß es für die meisten Weltprobleme nationale Lösungen nicht mehr gebe: So unerträglich sich dem Beobachter der Ablauf mancher Weltkonferenz über Einzelthemen darstellen mag — auf der Weltbevölkerungskonferenz kam es zu einer Eskalation der Unvernunft —, so sicher ist auch, daß nur so gemeinsame Strategien des Überlebens vorbereitet werden können. Wenn die Vereinten Nationen keinen Anlaß zu großen Hoffnungen geben, dann, weil es dazu insgesamt wenig Anlaß gibt. Trotzdem: Wo sonst als in den Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen sollen Konzepte für die Energieversorgung, gegen die Umweltzerstörung, den Hunger oder die weltweite Arbeitslosigkeit erarbeitet werden? Wer nicht bereit ist, die Vereinten Nationen zu stärken, wo er kann, darf sie nicht tadeln, wenn sie nicht können, was sie sollen.

Welche Position die Bundesrepublik Deutschland im Spannungsfeld Nord-Süd einnimmt, dürfte sich vor allem in der UNO und ihren Sonderorganisationen entscheiden. Dort zeigt sich, ob wir uns den Süden nur vom Leibe halten wollen oder ob wir mit konstruktiven Vorschlägen aufzuwarten haben, ob wir uns hinter dem Rücken des großen amerikanischen Bruders verstecken wollen oder ob wir zusammen mit europäischen Partnern innerhalb und außerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine eigene Position zu beziehen wagen, ob wir uns in eine unfruchtbare Konfrontation mit den Ländern des Südens drängen lassen oder Wege der Kooperation weisen.

 

  VII  

 

Ob eine überzeugende Südpolitik gelingt, entscheidet sich auch in unserer Haltung gegenüber ausländischen Arbeitern. Wachsende Arbeitslosigkeit rund um das Mittelmeer wird den Druck auf die Europäische Gemeinschaft, besonders die Bundesrepublik, verstärken, auch in der Form illegaler Einwanderung. Verschärfung des Strafrechts wird nur vorübergehend helfen können, wenn die Zahl der jungen Menschen ständig wächst, die in ihrer Heimat keine Lebenschance haben. Auch hier könnten wir auf eine — von niemandem gewünschte — schiefe Ebene in Richtung auf den Polizeistaat geraten.

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Integration von Gastarbeitern in großem Umfang wird weder von den Entsendeländern gewünscht noch von der Bundesrepublik verkraftet. Es kann nicht unser Ehrgeiz sein, die Werkstatt der Welt mit einem Städtegürtel von Münster bis München zu werden. Auf der anderen Seite sind Gastarbeiter kein Konjunkturpuffer, dessen Einzelteile man nach Belieben »rotieren« lassen könnte. Es kommt darauf an, Anreize für die Heimkehr zu schaffen.

Ausländische Arbeiter werden immer dann gerne in ihre Heimat zurückkehren, wenn sie dort einen Arbeitsplatz finden können, an dem sie in Deutschland gelernte Fertigkeiten nutzen können. Daher sollte ein Versuch weiterverfolgt und ausgebaut werden, der seit einigen Jahren mit dem Türken-Programm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemacht wurde. Hier wird türkischen Arbeitern nach fünfjähriger Tätigkeit in der Bundesrepublik eine zusätzliche Ausbildung geboten, die mit einer Prüfung abgeschlossen werden kann. Ist der Arbeiter bereit, eigene Ersparnisse für einen Arbeitsplatz in der Türkei einzubringen, erhält er Kredite aus einem Fonds, der mit türkischen und deutschen Mitteln gespeist wird. Bislang wurden damit überwiegend handwerkliche Arbeitsplätze (Reparaturwerkstätten etc.) geschaffen. 

Es ist nicht einzusehen, warum nicht in größerem Umfang das in Deutschland gewonnene technische Können und die hier erworbenen Ersparnisse eingesetzt werden sollten zur Errichtung industrieller Arbeitsplätze. In ein solches Konzept ließe sich auch ein deutscher Zuschuß einbauen, der als Ausgleich für Nachteile beim Kindergeld akzeptiert würde. Hier läge eine Aufgabe für verschiedene Ressorts der Bundesregierung, aber auch für private und genossenschaftliche Initiativen.

 

  VIII  

 

Daß Entwicklungspolitik nicht der humanitäre Zuckerguß auf dem Kuchen nationalistischer Interessenpolitik sein kann, dürfte in jedem einzelnen Kapitel dieses Buches deutlich geworden sein. Wie schwierig es ist, Entwicklungspolitik zu einer Dimension der Gesamtpolitik zu machen, weiß niemand besser als der Autor.

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Trotzdem: Erst wenn Entwicklungspolitik eine Dimension unserer Rohstoff-, Energie-, Agrar-, Handels- und Strukturpolitik, ja sogar unserer Forschungspolitik und unserer Einkommenspolitik wird, kann Entwicklungshilfe mehr sein als ein Ablaßpfennig zur Beruhigung des eigenen mehr oder minder schlechten Gewissens.

Aber Entwicklungshilfe wird auch dann noch nötig sein. Die Vorstellung, jetzt seien die Ölländer an der Reihe, wir brauchten das bißchen Geld, das sie uns noch ließen, bei uns zu Hause, ist — wie jede Konzession an den nationalen Egoismus — populär. Aber sie hat bislang nur dazu geführt, daß wir den Ölländern eine billige Ausrede für eigene Zurückhaltung geliefert haben. Inzwischen kürzt auch der Schah, wenn seine Öleinnahmen nicht —weiter steigen, seine Entwicklungshilfe mit dem Argument, Nächstenliebe beginne nun einmal zu Hause. Zu unserem Glück wird nie genau zu errechnen sein, wieviele Millionen Menschen allein in den zwei Jahren nach der Erhöhung der Ölpreise vor die Hunde gingen, weil Industrie- und Ölländer sich gegenseitig über ihre Verantwortung meinten belehren zu müssen.

Dabei gibt es mehr als einen Grund, Entwicklungshilfe nicht den Ölländern zu überlassen. Persien oder Algerien werden sich in den nächsten Jahren industrialisieren, wie Europa dies getan hat: mit derselben kapitalintensiven, arbeitsparenden Technologie, nur mit höheren Wachstumsraten. Länder, die weder über teure Rohstoffe noch über moderne technische Fertigkeiten, auch nicht über eine ausreichende Ernährungsgrundlage verfügen, werden diesen Weg nicht gehen können, sogar wenn sie es wollten. 

Daß es in diesen Ländern primär nicht um Raten wirtschaftlichen Wachstums, sondern um die Befriedigung der Grundbedürfnisse geht — auch wenn dies beides auf weiten Strecken parallel laufen kann —, war für die Bundesrepublik zu Beginn der siebziger Jahre ein so ungewohnter Gedanke, daß der obligate Ideologievorwurf nicht ausbleiben konnte. Heute hat sich diese Einsicht durchgesetzt. Ein Beispiel dafür ist die Cocoyoc-Erklärung, zumal deren Inspirator, Präsident Echeverria, bei seiner Amtseinführung 1970 noch ganz anderen Vorstellungen anhing. In der Erklärung heißt es: »Unser erstes Anliegen muß es sein, den Zweck von Entwicklung neu zu definieren. Es geht nicht darum, Dinge zu entwickeln, sondern Menschen. Menschliche Wesen haben Grundbedürfnisse: Nahrung, Behausung, Kleidung, Gesundheit, Erziehung. 

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Jeder Wachstumsprozeß, der nicht zu ihrer Befriedigung führt oder gar, was schlimmer wäre, diese verhindert, ist ein Hohn auf den Gedanken der Entwicklung. Ein Wachstumsprozeß, der nur der wohlhabenden Minderheit dient oder die Disparitäten zwischen und innerhalb von Ländern aufrechterhält oder gar vergrößert, ist nicht Entwicklung. Er ist Ausbeutung.« Die Erklärung fährt fort:

»Wir meinen, dreißig Jahre Erfahrung haben bewiesen, daß die Hoffnung, rasches wirtschaftliches Wachstum, das wenigen zugute kommt, werde schließlich zu den Massen durchsickern, illusorisch ist. Wir weisen daher die Vorstellung zurück, erst komme das Wachstum, später eine gerechte Verteilung seiner Früchte. Wir lehnen das Konzept von Lücken in der Entwicklung ab. Das Ziel ist nicht, irgend jemanden einzuholen, sondern Lebensqualität für alle zu sichern durch eine Produktionsbasis, die auch auf die Bedürfnisse künftiger Generationen Rücksicht nimmt.«102

Die Ölländer werden soviel Kapital haben, daß sie es sich leisten können, anders zu verfahren; Afrika, Süd- und Südostasien und der größere Teil Latein­amerikas können es nicht. Daß der Schah von Persien sich bei Krupp einkauft und beide zusammen eine Investitionsgesellschaft mit Sitz in der Schweiz gründen, dürfte in der Vierten Welt nicht mit reiner Freude aufgenommen werden. Die geballte Macht europäischer Konzerne und orientalischer Ölgelder könnte manches Land vor die Wahl stellen, entweder die dort konzipierte oder gar keine Entwicklung zu bekommen und schließlich in Abhängigkeiten zu geraten, die denen der Kolonialzeit nicht unähnlich wären. 

Kein Wunder, daß die Cocoyoc-Erklärung warnt: »Hände weg. Laßt die Länder ihren eigenen Weg finden zu einem erfüllteren Leben ihrer Bürger.«103 Dieser Weg wird in den meisten Fällen darin bestehen, millionenfach brachliegende Arbeitskraft für die landwirtschaftliche Produktion und die Herstellung einfacher Konsumgüter zu mobilisieren.104

Es liegt im Interesse der Entwicklungsländer, daß die alten und die neuen Reichen sich nicht gegenseitig ruinieren. Aber ein allzu fugenloser Interessenausgleich, eine Allianz zwischen beiden auf Kosten der übrigen Welt, könnte die Entwicklungsländer weltpolitisch vollends an den Rand, auch an den Rand der Überlebensfähigkeit, drängen.

Die deutsche Entwicklungshilfe hat sich früher als andere auf ein Konzept eingestellt, das heute die internationale Diskussion bestimmt und in der Cocoyoc-Erklärung seinen präzisesten Ausdruck findet. Dieses Konzept muß laufend an neue Erfordernisse angepaßt werden. Für den Rest dieses Jahrzehnts erscheint wichtig: 

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  Ende oder Wende 1975  Von der Machbarkeit des Notwendigen  Von Dr. Erhard Eppler

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