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13. Von der Machbarkeit des Notwendigen

(Schluß) 

 

  I  

140-161

Der zweite Teil dieses Buches handelt von dem Versuch, für einige wichtige Sachgebiete Kurskorrekturen zu skizzieren, die eine mittelfristige Krisen­bewältigung zumindest erleichtern können: bei den Einkommen, der Vermögensbildung, den öffentlichen Haushalten, den Steuern, den Arbeitsplätzen, bei Roh­stoffen, Energie und Nahrungsmitteln, im Gesundheits- und Erziehungswesen, schließlich in unseren Beziehungen zur übrigen Welt.

Daß dabei nicht mehr als eine Auswahl möglich und beabsichtigt sein konnte, muß wohl nicht ausführlich begründet werden. Allerdings ist die Auswahl nicht zu­fällig: die einzelnen Vorschläge sind aufeinander bezogen. Das Instrumentarium der indirekten Steuern kann nur sinnvoll eingesetzt werden, wenn die Ein­kom­mens­unterschiede verringert werden können. Dasselbe gilt für eine Agrarpolitik, die sich an den Bedürfnissen des Weltmarkts orientiert, oder ein Erziehungs­system, das nicht vom Konkurrenzdruck der Gesellschaft erdrückt werden soll. 

Umgekehrt: Ohne eine Sanierung der öffentlichen Haushalte durch flexible indirekte Steuern verliert die Regierung auch noch den bescheidenen Handlungsspielraum, der noch verblieben ist. Ohne diesen Spielraum gibt es keine konstruktive Rohstoff- oder Energiepolitik, aber auch keinen neuen Anlauf im Bereich der Bildung. Und ohne eine Wendung in der Gesundheitspolitik gibt es zu wenig Spielraum für die Fiskalpolitik.

Daß nicht in jedem Einzelfall ausdrücklich auf Analysen, Maßstäbe und Grundwerte Bezug genommen wurde, die Gegenstand des ersten Teils waren, kann nicht so gedeutet werden, als wären diese Erwägungen vergessen worden. Das Gegenteil ist der Fall, wie sich leicht nachprüfen läßt.

Trotzdem sind die praktischen Vorschläge keineswegs revolutionär. Wer dagegen einwendet, sie blieben hinter dem Notwendigen zurück, hat gute Argumente für sich. Hier ging es nicht darum zu sagen, was wünschbar wäre, sondern zu zeigen, was schon jetzt angepackt werden kann, wenn wir es mit den Krisen unserer Zeit aufnehmen wollen. Insofern sind diese Vorschläge in der Methode pragmatisch.

Was hier vorgeschlagen wird, bedarf keiner Verfassungsänderung. Es läßt sich, wenn man will, innerhalb dessen verwirklichen, was man unser »System« zu nennen pflegt, auch wenn dabei die Elastizität des Systems auf die Probe gestellt wird.

Was über Einkommenspolitik, Haushalt oder Steuern gesagt wurde, verlangt weder die Einschränkung der Tarifhoheit noch ein neues Haushaltsrecht. Was zur Strukturpolitik verlangt wird, macht keine neuen bürokratischen Apparate nötig. Um das Gesundheitswesen aus seiner Sackgasse herauszuführen, muß man nicht die Krankenversicherung abschaffen. Will man die Agrarpolitik der Europäischen Gemeinschaft stärker an globalen Notwendigkeiten orientieren, so lassen sich dazu die — keineswegs unumstrittenen — Instrumente nutzen, die in den letzten zwei Jahrzehnten für die gemeinsame Agrarpolitik geschaffen wurden. Eine konstruktive Rohstoffpolitik verlangt nicht die Aufhebung der Gesetze des Marktes.

Aber dies alles verlangt einen zähen Willen zur Reform, der weit jenseits dessen angesiedelt sein muß, was von 1969 bis 1973 an naiver Reformbegeisterung und seit 1973 an verstockter Reformfeindlichkeit spürbar wurde. Daß die erste große Reformperiode in der Bundesrepublik zusammenfiel mit raschem wirtschaftlichem Wachstum, hat zu dem Mißverständnis beigetragen, Reformen bestünden im Verteilen der Früchte wirtschaftlichen Wachstums; daher könne man sich in schlechten Zeiten Reformen nicht leisten. Wir müssen begreifen, daß es genau umgekehrt ist: Zeiten raschen Wachstums kommen eher ohne Reformen aus als Zeiten, in denen Grenzen sichtbar werden. Ohne das Ventil beträchtlicher Zuwachsraten werden Veränderungen unausweichlich. Wo die Fortschreibung des Bestehenden keine Zukunft mehr ergibt, stehen wir unter Reformzwang. Wenn es ein Experiment gibt, das mit absoluter Sicherheit mißlingen wird, so ist es der Versuch, wieder nach dem Motto »Keine Experimente« zu handeln.

An Widerstand gegen Reformkonzepte wird es nicht fehlen. Abgesehen davon, daß einzelne Interessengruppen auf den Plan gerufen werden dürften, werden hier Machtpositionen tangiert, die anzutasten immer gefährlich ist. 

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Auch wenn es in den Chefetagen unserer Großindustrie Einsichtige geben mag, die manches von dem hier Angeregten als unausweichlich hinzunehmen bereit wären, der Strukturkonservatismus wird sich herausgefordert fühlen, ganz einfach, weil hier Strukturen dem sachlich Notwendigen angepaßt und nicht von den Erfordernissen des ökonomischen Systems her die sachlichen Notwendigkeiten definiert werden.

Es wird auch nicht an dem Hinweis fehlen, in einer kapitalistischen Gesellschaft hätten die staatlichen Organe nicht den ausreichenden Handlungsspielraum um auch nur ein vergleichsweise bescheidenes Konzept mittelfristiger Krisenbewältigung durchzusetzen. Es soll nicht bestritten werden, daß gerade die letzten Jahre bewiesen haben, wie eng der Reformspielraum in unserer Gesellschaft ist. Es gibt Vorgänge — etwa im Zusammenhang mit der Reform der Berufsbildung — die man, hätten sie nicht tatsächlich stattgefunden, der krankhaften Phantasie verklemmter Stamokapanhänger hätte zuschreiben wollen. Wer selbst sechs Jahre lang immer von neuem die Grenzen des Handlungsspielraums einer parlamentarisch-demokratischen Regierung zu ertasten versucht hat, dürfte gegen übertriebene Hoffnungen gefeit sein.

Nur: Wer die Reformunfähigkeit unserer Gesellschaft aus der These ableitet, der Staat sei nun einmal nicht mehr als der Agent des Monopolkapitals, läßt nur die Alternative zwischen Revolution und Resignation. Und da Revolution in dieser Gesellschaft unmöglich, Resignation aber bequem und billig zu haben ist, bleibt es schließlich bei der Resignation.

Es ist nicht wahr, daß in der ersten Hälfte der siebziger Jahre nur Reformen stattgefunden hätten, die »das Monopolkapital«, weil in seinem Interesse liegend, gewünscht oder hingenommen hätte. Das Betriebsverfassungsgesetz hat zum Beispiel Machtverschiebungen gebracht, und die Mitbestimmung zielt noch sehr viel eindeutiger darauf ab. Und es sind auch anderswo Privilegien abgebaut worden. Richtig ist, daß die erste Welle der Reformen auszulaufen beginnt. Dies liegt zweifellos an dem erbitterten Widerstand und an der ungebrochenen Macht derer, die ihre Machtposition bedroht sahen. Es liegt aber auch daran, daß die Reformer den Klimawechsel nicht einkalkuliert haben — und wohl auch nicht einkalkulieren konnten —, den die Zäsur der Jahre 1973 und 1974 mit sich gebracht hat. Manches in dieser ersten Reformperiode war wohl auch zu sehr quantitativ angelegt: mehr Krankenhäuser, größere Universitäten, höhere Sozialleistungen. 

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Nachdem wir überall auf quantitative Grenzen stoßen, werden Reformen mehr im Qualitativen zu suchen sein. Und die Reformer werden sich mehr als zu Beginn der sechziger Jahre mit den Strukturkonservativen herumzuschlagen haben, die eine weltgeschichtliche Zäsur zu einer innenpolitischen Tendenzwende schrumpfen lassen wollen, aus der sie dann eine Rückkehr zu den Rezepten und ideologischen Alternativen der fünfziger Jahre herleiten wollen, eine Rückkehr übrigens, die kein anderes Volk in Europa in dieser Weise versucht und die uns daher rasch in die Isolierung treiben könnte.

 

  II  

 

Der Schah von Persien, der sich die liberale Kritik an seinem Regierungssystem lange genug hat gefallen lassen müssen, stellt nun fest, die Länder des Westens würden überhaupt nicht regiert. In einem hat er recht: Es ist keineswegs sicher, ob die staatlichen Organe einer demokratisch verfaßten Gesellschaft in der Lage sein werden, das Notwendige rechtzeitig machbar zu machen. Es ist keineswegs auszuschließen, daß diese Gesellschaften mit den Aufgaben der nächsten Jahrzehnte nicht fertig werden.

Da hilft auch nicht der Ruf nach dem »starken Staat«. Worin soll die Stärke bestehen? In einer starken Bürokratie? Diese ist möglicherweise schon zu stark, setzt eigene Interessen durch und wird zunehmend zu einem eigenen Machtfaktor. Im übrigen: Wer die Fäden kennt, die zwangsläufig zwischen Bürokratie und Interessengruppen spielen, wird von einer stärkeren Bürokratie nicht schon die Durchsetzung des Allgemeininteresses erwarten.

Soll die Stärke des Staates in einer autoritären Führung bestehen? Alle Erfahrung beweist, daß autoritäre Regime nicht weniger, sondern einseitiger interessenabhängig sind. Sie schaffen sich nur die Mittel, es besser zu verbergen. Es gibt nicht den leisesten Anlaß zu der Hoffnung, die Rückkehr zu autoritären Regierungsformen könne humanes Überleben erleichtern.

Bedeutet ein starker Staat härtere Gesetzgebung? Sie mag wohl an einigen Punkten nötig sein, etwa wo die Gesundheit der Menschen geschützt und der Vergeudung von Ressourcen gesteuert werden soll. Nur: Wie unsere Gesetze aussehen, entscheidet sich meist in der öffentlichen Diskussion darüber, also im Kräftefeld der Gesellschaft. 

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Die Versuchung autoritärer Staatsideologien nimmt sicherlich zu.

Während Wolfgang Harich in einem kommunistischen Staat nach dem Muster von Babeuf Askese mit Gewalt erzwingen will,105 sucht Herbert Gruhl Zuflucht bei Ernst Forsthoff, dessen Staatsideologie der Freiheit des Bürgers weniger zutraut als seiner Gehorsamsbereitschaft.106 Trotzdem: Es bleibt uns nichts anderes übrig, als mehr Demokratie zu wagen. 

So richtig es sein mag, daß nicht alles, was aus der Initiative von Bürgern entsteht, notwendig vernünftiger sein müßte als die Planungen von Technokraten, so wenig sich ausschließen läßt, daß auch massive Einzelinteressen sich moderner Formen demokratischer Willensbildung bedienen, so gibt es doch keine Alternative zur Mobilisierung des Allgemeininteresses.

Gerade in einer Epoche, in der die Demokratie überfordert scheint, in der die Flucht in autoritäre Ordnungssysteme sich als plausible Lösung anbietet, bleibt das Fazit Christian von Krockows richtig: »Diszipliniertes, zukunftsbezogenes und selbstverantwortliches Handeln läßt sich ... nur dort erwarten, wo im Horizont einer offenen Gesellschaft und politischer Freiheit den Bürgern Verantwortung und Freiheit auch zugestanden und zugemutet werden.«107 

Man wende nicht ein, hier sei ein allzu optimistisches Menschenbild im Spiel. Hier geht es nur um die Einsicht, daß auch und gerade autoritäre Herrschafts­eliten sich mehr auf die Zukunft ihrer Herrschaft als auf die Zukunft der Menschheit zu konzentrieren pflegen. Wie immer man die Chancen humanen Überlebens einschätzen mag: Wo Demokratie demontiert wird, werden sie geringer, wo Demokratie lebendiger, dichter, spannender wird, werden sie größer.

 

  III  

 

Es gibt Millionen von Menschen in der Bundesrepublik, die sich über die Struktur von Verwaltung und öffentlichem Dienst ärgern. Sollte es unmöglich sein, diesem Ärger eine positive, auch vielen öffentlich Bediensteten willkommene Richtung zu geben? Es gibt Millionen von Menschen, die ihre Hilflosigkeit gegenüber der Maschinerie unseres Gesundheitswesens beklagen. Manche finden sich bereits zusammen in Patientenschutzvereinen. Sollte es unmöglich sein, aus diesem Unwillen einen Willen zu formen, der es auch mit so mächtigen Interessen wie denen der pharmazeutischen Industrie aufnehmen kann? 

* (d-2015:)  W.Harich bei detopia   H.Gruhl bei detopia 

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Es gibt genügend Menschen, die es schwer erträglich finden, daß sie — auf dem Umweg über tierisches Eiweiß — das Fünf- oder Sechsfache dessen verzehren, was einem Menschen in Asien das Überleben ermöglichen kann. Es muß möglich sein, dieses schlechte Gewissen in agrarpolitische Willensbildung umzusetzen. Es gibt unzählige Menschen, die das Gefühl haben, ihr Lebensstil entspreche nicht mehr den Notwendigkeiten unserer Zeit. Jetzt beginnen sie sich zu sammeln und zu Wort zu melden.

Es gibt heute schon Bürgerinitiativen, die sich überörtlich und überregional organisieren. Es gibt auch solche, die sich nicht mit dem Kampf gegen etwas, gegen Atomkraftwerke oder gegen die Anlage neuer Flugplätze, begnügen. Was wir brauchen, sind überregionale, bundesweite Zusammenschlüsse, die ein begrenztes, aber klar umrissenes und positiv formulierbares Ziel verfolgen. Wir brauchen Bürgerinitiativen, die sich auf einem begrenzten Feld vornehmen, das im Allgemeininteresse Notwendige machbar zu machen.

Wer dies will, muß zum einen das Selbstbewußtsein des Bürgers gegenüber den Apparaten der Verwaltung und der Interessenverbände stärken. Wer in den letzten Jahren verfolgt hat, in welchem Tempo sogenannte Experten ihre Meinungen und Maßstäbe ändern, kann die Forderung von Klaus Müller verstehen, man müsse das Expertentum aller Laien proklamieren. Nur wenig von dem, was uns Experten der Stadtplanung vor Jahren eingeredet haben, wird heute von ihnen selbst noch ernsthaft verteidigt. Wer Experten der Verkehrsplanung mit Nicht-Experten diskutieren hört, wird sich gelegentlich fragen, ob die ausschließliche Beschäftigung mit einer Materie nicht auch zu Betriebsblindheit führen kann.

Zum andern ist es notwendig, daß sich bei derartigen Bürgerinitiativen auch solche Bürger engagieren, deren Name nicht nur für die Seriosität des Unterfangens bürgt, sondern es auch den Massenmedien schwer macht, die Fragestellungen und Forderungen solcher Initiativen zu ignorieren.

Bürgerinitiativen bedürfen ausgefeilter Methoden der Öffentlichkeitsarbeit, wenn Mehrheiten oder doch nicht mehr ignorierbare Minderheiten wachgerüttelt werden sollen. Aktionen, Bilder und Symbole sind dabei nicht weniger wichtig als Programme, Reden und Diskussionen. Gerade in den letzten Jahren sind auf diesem Gebiet Erkenntnisse gesammelt und Verfahrungsweisen erarbeitet worden, die es zu nützen gilt.

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Schließlich haben solche Initiativen nur dann eine Chance, wenn sie mit den Großgruppen unserer Gesellschaft rückgekoppelt sind. Wer z.B. für das Gesundheitswesen etwas erreichen will, wird ohne aktive Gewerkschaftler oder engagierte Glieder der großen Kirchen nicht weit kommen. Und er muß auch versuchen, Mitglieder der großen Parteien zu gewinnen, die in ihre Parteien hineinwirken, aber auch mit ihrer politischen Erfahrung verhindern können, daß sich eine Aktion durch Übertreibungen oder Ungeschicklichkeiten diskreditiert.

Natürlich kann es nicht darum gehen, Parteien und Parlamente aus ihrer Verantwortung zu entlassen oder gar herauszudrängen. Aber die Parteien, Parlamente oder Regierungen, die aus eigener Intuition Gesellschaft formen, gibt es wohl nur im staatsbürgerkundlichen Bilderbuch. Sicher gehen von der Meinungsbildung in den Parteien Willensströme in die Gesellschaft aus. Aber noch wichtiger ist der umgekehrte Vorgang: Die Parteien sind auch Resonanzböden für die Schwingungen, die in der Gesellschaft entstehen, wobei je nach Schwingungszahl der eine oder andere Resonanzboden zum Klingen kommt. Parteien geben nicht nur Impulse, sie brauchen sie auch. Dies gilt vor allem dann, wenn zwei große politische Lager um wenige Stimmenprozente kämpfen und deshalb dazu neigen, nur Themen aufzugreifen, die bereits mehrheitsfähig sind. Wer sorgt dafür, daß sie mehrheitsfähig werden?

Parteien haben gesellschaftliche Bedürfnisse in staatliches Handeln zu übersetzen, insofern sind sie Transmissionsriemen. Lange Zeit waren sie sogar ausreichende. Der Zeitdruck einer Übergangsepoche verlangt zusätzliche Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Parteien, weil sonst im unvermeidlichen taktischen Spiel um die Macht die entscheidenden Probleme so lange umgangen und kaschiert werden, bis sie uns endgültig über den Kopf gewachsen sind.

Die Willensbildung in Parteien und Parlamenten soll nicht ersetzt, sie soll ergänzt, belebt, vorangetrieben und beschleunigt werden.

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  IV  

 

Wir tun gut daran, von Interessenverbänden nicht sehr viel mehr zu erwarten, als daß sie die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Dies gilt um so mehr, je kleiner die Gruppe ist. Was die Fluglotsen versucht haben, würde sich eine große Gewerkschaft dreimal überlegen.

Soll ein Konzept mittelfristiger Krisenbewältigung Chancen haben, so muß es wenigstens im Grundsatz von den Gewerkschaften mitgetragen werden. Dies ist zumindest nicht unmöglich. Wer verfolgt hat, was etwa die IG Textil in dem schmerzhaften Prozeß der Umstrukturierung und Schrumpfung unserer Textilindustrie geleistet hat, wer sich an die Einberufung des Kongresses von Oberhausen durch Otto Brenner erinnert, wird hier vorschnellem Pessimismus widersprechen, zumal wenn er selbst die Erfahrung gemacht hat, daß Gewerkschaftler sehr wohl auch über Themen zu sprechen bereit sind, die manche ihnen nicht zuzumuten wagen. Vielleicht sind viele unserer Arbeitnehmer schon weiter, als die Politiker es ihnen zutrauen.

Die Gewerkschaften haben sich nie als reine Lohnmaschine verstanden, sie werden es in Zukunft noch 'weniger sein können als je zuvor. Sogar wenn sie es nicht wollten, sie würden gezwungen, die Interessen ihrer Mitglieder um so mehr in der politischen Diskussion zu vertreten, je weniger sie es am Verhandlungstisch tun können. Und selbst am Verhandlungstisch wird zunehmend über Fragen gesprochen, die mit Lohntarifen nur sehr indirekt zu tun haben.

Völlig unverzichtbar ist die Mitarbeit der Gewerkschaften, wo es um die Einkommenspolitik geht. Die Zeiten, in denen die Gewerkschaften ihre Aufgabe darin sehen mußten, dem Arbeitnehmer den maximalen Anteil eines rasch größer werdenden Kuchens zu sichern, gehen zu Ende. Die Gewerkschaften werden wohl nicht umhinkommen, jetzt auch über die Relation der Einkommen zueinander nachzudenken, nicht nur, aber auch im Bereich der abhängig Beschäftigten. Dabei geht es schlicht um die Frage, ob in einer Zeit rascher Preissteigerungen und geringen — falls vorhandenen — Konsumwachstums Löhne und Gehälter weiterhin nur linear angehoben werden können.

Die Diskussion darüber ist in den Gewerkschaften im Gang. Ihr Ergebnis wird auch dadurch bestimmt sein, was die Gewerkschaften außerhalb der Lohnpolitik für ihre Mitglieder durchsetzen können: im Bereich von Gesundheit und Bildung, aber auch von Mitwirkung und Mitbestimmung. Wenn abzusehen ist, daß das Konzept einer individuellen Vermögensbildung in Zukunft noch schwieriger realisierbar sein wird als bisher, wird die Frage nach der Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb an Gewicht zunehmen. So wenig Lohnpolitik, Vermögenspolitik und Mitbestimmung von der Sache her austauschbar sind, psychologisch haben sie sehr wohl miteinander zu tun. 

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So wenig man Vermögensbildung durch Lohnpolitik oder gar, wie manche Strukturkonservativen empfehlen, Mitbestimmung durch Vermögensbildung ersetzen kann, so sicher muß sich gewerkschaftliche Aktivität den innerbetrieblichen und überbetrieblichen Machtstrukturen zuwenden, wenn sowohl die Lohnpolitik als auch die Vermögenspolitik unergiebig werden. Wenn der Arbeitnehmer weniger durch stagnierendes Realeinkommen als durch die Angst um den Arbeitsplatz beunruhigt wird, müssen die Gewerkschaften eine aktive, vorausschauende Strukturpolitik nicht nur fordern, sondern auch darauf Einfluß nehmen, wohl wissend, daß dies für sie nicht nur Vorteile bringt.

Es ist keineswegs ausgemacht, daß die Kräfte, die heute unter dem Stichwort »Mittelstand« das Handwerk, das Dienstleistungsgewerbe und die Kleinindustrie vertreten, einem Konzept der mittelfristigen Krisenbewältigung nur ablehnend gegenüberstehen müßten. Man hat in diesen Gruppen inzwischen verstanden, daß Globalsteuerung, die keine Strukturpolitik sein will, für sie sehr wohl Strukturpolitik ist, und zwar eine lebensgefährliche. Die Hochzinspolitik der Bundesbank wird multinationale Konzerne wenig irritieren, sie können sich auch außerhalb der nationalen Grenzen finanzieren, der Schreinermeister oder der kleine Schraubenfabrikant nicht.

Es ist schließlich auch unwichtig, warum jemand gegen das Einkaufszentrum auf der grünen Wiese aufmuckt, ob zum Schutz des »Mittelstandes« oder weil er nicht zusehen will, wie unsere Innenstädte veröden und unsere Landschaft zubetoniert wird. Es kann den Vertretern des Handwerks auch gleichgültig sein, aus welchem Grund ein handwerkliches Gegengewicht zur Massenproduktion verlangt wird, Hauptsache, das Handwerk behält seine Chance.

Die Kirchen wären auch dann ein politischer Faktor, wenn sie beschließen wollten, keiner mehr zu sein. Schließlich bestehen sie nicht nur aus einigen Bischöfen, sondern aus Millionen von Bürgern, die auch in anderen Bereichen unserer Gesellschaft tätig sind, Wertungen und Vorstellungen aus ihrer Kirche in die Gesellschaft einbringen.

Die Kirchen sind wohl am tiefsten von jenem Wertkonservatismus geprägt, der in diesem Buch dem Strukturkonservatismus gegenübergestellt wurde. Natürlich gibt es auch Kräfte in den Kirchen, denen es primär um die Erhaltung von Strukturen, etwa denen der Volkskirche geht. Natürlich gibt es auch Repräsentanten von Kirchen, die mit einem strukturkonservativen Atheisten leichter zu Rande kommen als mit einem Katholiken oder Protestanten, den sie für »links« halten. 

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Aber die Grundstimmung der Kirchen ist nicht struktur-, sondern wertkonservativ. Es ist daher kein Zufall, daß gerade die Studentengemeinden bei der Studentenrevolte in der vordersten Front standen, daß die Bemühungen um Kriterien von Lebensqualität auch die Theologie erfaßt haben, daß die Kirchen sich besonders des Umweltschutzes annehmen. Schließlich gehört zu diesem Wertkonservatismus auch die Unterstützung, die Willy Brandts Ostpolitik aus den Kirchen erfuhr.

Was heute viele Gruppen in den Kirchen lähmt, ist der Abstand zwischen Problembewußtsein und Aktionsmöglichkeit. Viele wissen sehr wohl, daß das, was sie tun oder auch unterlassen, in einem schwer erträglichen Mißverhältnis zu dem steht, was eigentlich zu tun wäre. Aber wo sind die Ansatzpunkte zu sinnvollem Tun? Nirgendwo gibt es mehr Zustimmung für den Satz Kurt Biedenkopfs: »Unser Wohlstand kann sich seiner Rechtfertigung vor dem Elend anderer nicht länger durch räumliche Distanz entziehen.«108 Aber die Christen wollen wissen, was dies praktisch bedeuten soll. Der ethisch motivierte Protest verpufft ebenso wie die karitative Einzelaktion. Gerade in den Kirchen gibt es ein beträchtliches Potential von Menschen, die bereit 'wären, mitzuhelfen, dem Notwendigen zum Durchbruch zu verhelfen, vorausgesetzt, es kann ihnen einsichtig gemacht werden, was notwendig ist und wie es durchgesetzt werden kann.

Dasselbe gilt wohl auch für große Teile der jungen Generation. 

Sicher gibt es da heute mehr reaktionäres Gehabe als zu Beginn der siebziger Jahre. Aber die Mehrheit der jungen Menschen will nicht einfach zurück in eine Vergangenheit — die sie ja auch nicht kennt —, sie will jedoch auch nicht mit abstrakten Systemdiskussionen traktiert werden. Sie hat sich emanzipiert, schließlich auch von manchem überdrehten Emanzipationsgerede. Im Grunde haben sich die Fragen der Jungen nicht geändert. Sie wollen nach wie vor wissen, ob wir eine für sie erstrebenswerte Zukunft vorbereiten oder uns unter Berufung auf Systemzwänge um die Frage drücken, »wie eine kommende Generation weiterleben soll«. Sie wollen wissen, ob wir nach dem Motto »Nach uns die Sintflut« Wahlen gewinnen oder ob wir Ernst machen wollen mit der Einsicht, daß nach uns nicht die Sintflut, sondern die nächste Generation kommt. Die Jungen mögen heute wertkonservativer sein als vor ein paar Jahren, strukturkonservativer sind sie nicht. Wo einleuchtende und erreichbare Ziele sichtbar werden, sind viele nach wie vor zum Engagement bereit.

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  V  

 

Man mag bestreiten, daß unsere Parteienstruktur noch ganz den Aufgaben entspricht, vor denen wir stehen. Wenn heute die beiden großen Parteien neu gegründet würden, verliefen die Grenzlinien sicher anders, als sie tatsächlich verlaufen. Aber dies bedeutet nicht, daß sich unser Parteiensystem neu ordnen müßte. Wahrscheinlich sind der Zwang zur Selbstbehauptung und der gemeinsame Kampf um die Macht ausreichende Bindemittel für den Zusammenhalt der großen Parteien, auch wenn sehr verschiedene Grundhaltungen in ihnen wirksam sind. Dabei dürfte die innerparteiliche Diskussion an Interesse gewinnen.

Es fragt sich, ob die herkömmlichen Formen der Parteienkonkurrenz noch eine Politik gestatten, die diesen Namen verdient. Nichts ist einfacher, nichts aber auch halsbrecherischer, als in dieser Zeit Angst und Vorurteile hochzupeitschen. Sollte sich die jeweilige Opposition damit begnügen, alle Krisenerscheinungen unserer Zeit der jeweiligen Regierung anzulasten, so entsteht ein Klima, in dem ein Durchbruch nach vorn nicht mehr möglich ist. Eine solche Taktik kann sogar in wenigen Jahren zu einer Krise der parlamentarischen Demokratie führen. Sollte sich eine Mehrheit in unserem Volk einreden lassen, man müsse nur zu den Rezepten von gestern zurückkehren, dann lasse sich auch die Sicherheit von gestern wieder erreichen — wobei, wie immer, die Vergangenheit in verklärendem Licht erscheint —, dann wird diese Mehrheit in dem Augenblick vollends verführbar, wo sie feststellen muß, daß keine demokratische Partei dies jemals schaffen kann. Und dieser Augenblick wird sehr rasch kommen.

Kein Wunder, daß die Große Koalition wieder ins Gespräch kommt. Sie wäre kein Ausweg, denn sie verlangt soviel Rücksichtnahme auf soviele disparate Kräfte, daß das Notwendige nicht leichter, sondern eher schwieriger durchzusetzen wäre, ganz abgesehen davon, daß dann sofort extremistische Kräfte auf der politischen Bühne auftauchen und den Handlungsspielraum der Demokraten weiter einengen müßten.

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Unerläßlich ist der Versuch, Inhalt und Form der Parteienkonkurrenz zu modifizieren. Solange um Macht gekämpft wird, wird dies um einen hohen Preis, aber es darf nicht um jeden Preis geschehen. Denn sonst könnte dem Sieger eine Macht in die Hände fallen, an der er selbst, vor allem, wenn er Demokrat bleiben will, zugrunde geht. Die Parteien müssen sich dazu durchringen oder von der öffentlichen Meinung dazu gezwungen werden, in Programm und Praxis den Wettbewerb um eine realistische Krisenbewältigung aufzunehmen. Sie müssen es sich gegenseitig wenigstens gestatten, die Wahrheit zu sagen, ohne daß zum Lynchen des Boten der Wahrheit aufgefordert wird. Solange Demokraten um Macht kämpfen, wird Demagogie nicht auszurotten sein. Aber nach der Zäsur der frühen siebziger Jahre dürfte die parlamentarische Demokratie nicht mehr soviel Demagogie aushalten wie vorher. Zu dem Geflecht der Krisen, mit denen wir uns abplagen, könnte, wenn wir nicht aufpassen, noch die Krise der zweiten deutschen Demokratie kommen.

Daß diese Gefahr näher liegt, als uns lieb ist, zeigt der Bundestagswahlkampf 1976. Eben weil die Parteien den Wettbewerb um Konzepte einer mittelfristigen Krisenbewältigung scheuen, eben weil sie nicht die Sanierung unseres Gesundheitswesens, nicht die Reform des öffentlichen Dienstes, nicht die Umwandlung in die Dienstleistungs­gesellschaft und schon gar nicht unser Verhältnis zu den armen Völkern zum Thema des Wahlkampfes zu machen wagten, drangen in das Vakuum der Sachkonflikte pseudo-ideologische Parolen ein, die den Grundpakt (Walter Dirks) zerstören müssen, auf dem der Staat des Grundgesetzes ruht. Weil wir uns vor den Konflikten der Zukunft drücken, suchen uns die Gespenster der Vergangenheit heim.

 

  VI  

Was auch immer innerhalb und zwischen den Parteien vor sich gehen mag, eine konstruktive Politik nach der Zäsur unserer Tage ist nur noch durch­zusetzen von einem Bündnis zwischen denen, die nicht aufhören wollen, progressiv zu sein, auch wenn dies heute schwieriger ist als vorher, und den Wertkonservativen, die, weil sie humanes Überleben gefährdet sehen, auf Veränderung drängen.

Beide sind sich näher, als sie es wissen oder zugeben, und mancher wird sich, wie der Autor, fragen, welche Komponente in ihm überwiege, ob nicht Progressivität immer ein Stück Wertkonservatismus enthalten müsse.

Die Zäsur, von der in diesem Buch die Rede ist, kann nach Carl Friedrich von Weizsäcker »nicht die Rückkehr zu einer unwiderruflich versunkenen Vergangenheit« bedeuten. 

Im Gegenteil: Sie verlangt »eine weniger oberflächliche und insofern radikalere Form des Fortschritts«.

160-161

 

 

Ende 

 

(d-2015:) Da kann man nicht meckern. Das war sauber.

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  Ende oder Wende 1975  Von der Machbarkeit des Notwendigen  Von Dr. Erhard Eppler